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1917
Im dritten Jahre des Krieges, einer im tausendfältigen Tode, ist Emile Verhaeren dahingegangen, von den Maschinen, deren Schönheit er gesungen, zerrissen wie Orpheus von den Mänaden. Fern zu sein dieser Stunde und jener anderen seines Heimgangs, hat das Geschick mich gezwungen, das unsinnige und unselige Geschick einer Zeit, da die Sprache mit einemmal zwischen den Völkern eine Grenze ward und die Heimat ein Gefängnis, Anteil ein Verbrechen und Menschen einander Feinde nennen sollten, deren Leben verbunden war mit allen Adern geistiger und freundschaftlicher Vertrautheit. Alle Gefühle außer jenem des Hasses waren staatlich verboten und verpönt, doch die Trauer, sie, die im Tiefsten und Unzugänglichsten der Seele wohnt, wer kann sie verjagen, und die Erinnerung, wer vermag ihre heilige Flut zu dämmen, die das Herz mit warmer Welle überströmt! Die Gegenwart, sie konnte eine sinnlose Welt uns zerstören, die Zukunft vielleicht noch verdüstern und verschatten. Aber die Vergangenheit, sie ist jedem unantastbar, und ihre schönsten Tage strahlen, lichte Kerzen, in das Dunkel unserer Tage und auf diese Blätter, die ich für Verhaeren niederschreibe, ihm zum Gedächtnis und mir selber zum Trost.
Nur mir selbst schreibe ich diese Blätter, und von den Freunden sind nur jene gewählt, die ihn selbst kannten und liebten. Was er für die Welt war als Dichter und literarische Erscheinung, habe ich früher in meinem großen biographischen Werke zu sagen versucht. Es ist jedem zugänglich, der es in deutscher, französischer oder englischer Sprache lesen will. Für diese Erinnerungen aber, die persönliche sind, will ich nicht Anteil fordern von einer Nation, als deren Feind er sich in den entscheidenden Stunden seines Lebens empfand, sondern einzig von jener klaren Gemeinschaft des Geistes, für die Feindschaft ein Gefühl der Verirrung, für die Haß ein unsinniges Empfinden bedeutet. Für mich nur und diese Nächsten erwecke ich heute das Bild eines Menschen, der so innig meinem Leben verbunden ist, daß ich das seine nicht darzustellen vermag, ohne mein eigenes Leben darin mitgestaltet zu fühlen. Und ich weiß: mit der Erinnerung an den großen verlorenen Freund erzähle ich meine eigene Jugend.
Ich war etwa zwanzig Jahre alt, als ich ihn kennenlernte, und er war der erste große Dichter, den ich menschlich erlebte. In mir selbst war damals schon der Anbeginn dichterischen Werkes, aber unsicher noch wie Wetterleuchten auf dem Himmel der Seele: noch war ich nicht gewiß, ob ich selbst ein Berufener des Wortes sei oder bloß es zu werden begehrte, und meine tiefste Sehnsucht verlangte, einem jener wirklichen Dichter endlich zu begegnen, Angesicht zu Angesicht, Seele zu Seele, der mir Beispiel sein könnte und Entscheidung. Ich liebte die Dichter aus den Büchern: sie waren dort schön durch die Ferne und den Tod; ich kannte einige Dichter aus unserer Zeit: sie waren enttäuschend durch ihre Nähe und die oft abstoßende Art ihrer Existenz. Keiner war mir damals nah, dessen Leben mir Lehrbild sein konnte, dessen Erfahrung mich führte, dessen Einklang zwischen Wesen und Werk mir innerlich zur Bindung der noch unsicheren Kräfte verhalf. In Biographien fand ich Vorbilder und Beispiel dichterisch-menschlichen Einklangs, aber schon wußte mein Gefühl, daß jedes Lebensgesetz, jede innere Gestaltung nur vom Lebendigen ausgeht, von erlebter Erfahrung und geschautem Beispiel.
Erfahrung, dafür war ich zu jung, Beispiele, ich suchte sie unbewußt mehr als bewußt. Freilich, es gingen und kamen Dichter unserer Zeit in unsere Stadt, schon damals in mein Leben! Liliencron erlebte ich einen Abend in Wien, umdrängt von Freunden, umrauscht von Beifall und dann an einem Tisch zwischen Menschen und vielen Worten, darin sich das seine verlor, ich haschte Dehmels Hand einmal im Gedränge, fing einen Gruß von diesem und jenem. Niemals aber war ich einem nahe. Manchen freilich hätte ich besser kennenlernen können, aber mich ihnen anzudrängen bewahrte mich eine Scheu, die ich später als geheimes und glückliches Gesetz meiner Existenz erkannte: daß ich nichts suchen dürfe und mir alles zur richtigen Zeit einst gegeben sei. Was mich formte, kam nie aus meinem Wunsch, aus meinem tätigen Willen, sondern immer von Gnade und Geschick: und so auch dieser wundervolle Mensch, der plötzlich und zur rechten Stunde in mein Leben trat und dann das geistige Sternbild meiner Jugend wurde.
Ich weiß heute, wieviel ich ihm danke, und weiß nur nicht, ob ich vermag, diese Dankbarkeit im Worte zu erhärten. Keineswegs meine ich aber mit diesem Gefühl der Verpflichtung den literarischen Einfluß Verhaerens auf meine Verse, sondern diese Dankbarkeit gilt immer nur jenem Meister des Lebens, der meiner Jugend die erste Prägung wahrhaftig menschlicher Werte gab, der mich in jeder Stunde seiner Existenz lehrte, daß nur ein vollkommener Mensch ein großer Dichter sein kann, und so mit dem Enthusiasmus für die Kunst auch einen unverlöschlichen Glauben an die große menschliche Reinheit des Dichters zurückschenkte. Nehme ich die brüderlich geliebte Gestalt Romain Rollands aus, so haben alle meine späteren Tage mir keine schönere Wesenheit des Dichters, keine reinere Einheit von Wesen und Wert gegeben als ihn, den als Lebendigen zu lieben meine innigste Freude und den als Toten zu verehren meine zwingendste Pflicht geblieben ist.
Das Werk Verhaerens war früh in meine Hände gekommen. Durch bloßen Zufall, meinte ich vorerst, weiß aber längst, daß ich diese Begegnung einem jener Zufälle danke, die in allen menschlichen Entscheidungen eines Lebens die wahren und vielleicht eingeborenen Notwendigkeiten sind. Ich war damals noch im Gymnasium, hatte eben mein Französisch gelernt und übte in Übersetzungen zugleich die Sprache und die noch unbeholfene poetische Bildungskraft. Damals hatte ich irgendwo eines der ersten Bücher Verhaerens aufgetrieben, das bei Lacomblez in Brüssel in bloß dreihundert Exemplaren erschienen war, heute längst schon eine Rarität für Bibliophile. Es war eines der ersten Bücher des belgischen Dichters und dieser belgische Dichter selbst ein noch in den weitesten Kreisen Unbekannter. Immer und immer wieder muß ich, um den Zufall, den schöpferischen, jener Zeit ganz würdigen zu können, mich daran erinnern, daß von dem wirklichen Werke Verhaerens damals kaum der Anfang geschaffen war und es gewissermaßen eine mystische, durch nichts Wirkliches begründete Neigung war, die mich diesem unbekannten Dichter entgegentrieb. Einige Gedichte reizten mich an, ich versuchte die noch ungelenke Wortkraft an ihnen und schrieb, ein Siebzehnjähriger, einen Brief um die Erlaubnis der Veröffentlichung an den Dichter. Die zustimmende Antwort, die ich heute noch bewahre, kam von Paris, ihre Postmarke, die längst außer Kurs gesetzte, bezeugt die Ferne der Zeit. Nichts band mich dann mehr an ihn, nur den Namen behielt ich und den Brief, den ich selbst erstaunt nach Jahren wiederfand und der mir bewies, daß, was ich später mit klarer Kraft versuchte, ein halbes Jahrzehnt vorher schon knabenhaft unbewußt angebahnt und begonnen war.
In Wien war damals um die Jahrhundertwende eine große und rege Zeit. Ich war zu jung, um sie schon von der Schulbank aus tätig mitzuerleben, doch ist sie mir unauslöschlich im Gedächtnis als eine Epoche der Erneuerung, wo plötzlich, wie von unsichtbarem Wind hergetragen, Duft und Ahnung fremder großer Kunst, die Botschaft ungesehener Länder in unsere altvaterische Stadt einbrach. Die Sezession hatte ihre großen Jahre der Regsamkeit und blühte, auf ihren Ausstellungen waren es die Belgier, Constantin Meunier, Charles van der Stappen, Fernand Knopff, Laermans, die mit ihren gewaltigen Formen den an engere Maße gewohnten Blick faszinierten. Belgien, das kleine Land zwischen den Sprachen, übte dadurch eine magische Anziehung auf meine Phantasie; ich begann, mich mit seiner Literatur zu beschäftigen, Charles de Coster zu lieben, dessen Uilenspiegel ich vergeblich durch zehn Jahre allen deutschen Verlegern empfahl, und kaum der Schulbank entronnen, die rubenskräftigen, lebensstarken und heute zu Unrecht verschollenen Romane Lemonniers. Meine erste freie Ferienreise brachte mich hin, ich sah das Meer, sah die Städte und wollte womöglich auch die Menschen sehen, für deren Werk ich soviel innere Hingabe bereit hatte. Aber es war Sommer, ein heißer August im Jahre 1902, die Menschen aus Brüssel geflohen, auf dessen Asphalt die Sonne brünstig brannte, keinen traf ich an von all denen, die ich suchte, einzig Lemonnier, den herrlichen hilfsbereiten Menschen, dessen Gedächtnis ich liebend und dankbar bewahre. Nicht genug, mir seine Gegenwart, die strömende und belebende, gegeben zu haben, bot er mir Empfehlungen an all die Künstler an, die mir lieb waren, aber wie diese nutzen, wie sie finden? Von Verhaeren, dessen Nähe ich vor allem begehrte, war wie gewöhnlich der Aufenthalt unbekannt, Maeterlinck hatte längst sich seiner Heimat entwandt, niemand, niemand war zur Stelle! Aber Lemonnier ließ nicht nach; er wollte, daß ich wenigstens Meunier inmitten seines Werkes sähe, seinen väterlichen Freund, und van der Stappen, seinen brüderlichen Genossen. Erst heute weiß ich, wieviel mir sein milder Zwang damals gegeben, denn die Stunde bei Meunier ist unvergänglichster Besitz und die bei van der Stappen eine der bedeutsamsten meines Lebens. Ich werde diesen Tag bei van der Stappen nicht vergessen. Ein Tagebuch von damals ist mir verhängnisvollerweise abhanden gekommen, aber für diese Stunden kann ich es entbehren: sie sind mit jener diamantenen Schärfe in mein Gedächtnis geritzt, wie sie nur das Unvergeßliche besitzt.
An einem Vormittag pilgerte ich hinaus in die Rue de la joyeuse entrée, draußen beim Cinquantenaire, und fand van der Stappen, den kleinen freundlichen Flamen mit seiner großen holländischen Frau, deren natürliche Gastlichkeit ein Freundesbrief Lemonniers womöglich noch gesteigert hatte. Ich wanderte mit dem Meister in den steinernen Wald seiner Werke hinein. Wunderbar groß stand in seiner Mitte das ›Denkmal der ewigen Güte‹, daran er seit Jahren schuf und das er niemals vollenden sollte, und rings darum in starrem Kreise einzelne Gruppen, leuchtender Marmor, dunkles Erz, feuchter Lehm und geschliffenes Elfenbein. Hell war die freundliche Vormittagsstunde, und sie ward immer heiterer und belebter im gesprochenen Wort. Von Kunst und Literatur, von Belgien und Wien ward viel geredet, die lebendige Güte dieser beiden Menschen nahm mir bald jede Scheu. Unverhohlen sagte ich ihnen meinen Schmerz und meine Enttäuschung, daß ich hier in Belgien gerade denjenigen versäumte, den ich von allen französischen Dichtern am meisten verehrte, Verhaeren, und daß ich selbst eine neue Reise nicht scheuen würde, um ihn endlich kennenzulernen. Aber niemand wisse, wo er sich aufhalte, von Paris sei er abgereist, in Brüssel noch nicht angekommen, keiner könne mir sagen, wo er zu finden wäre. Und ich bekannte offen mein Bedauern, wieder heimfahren zu müssen mit meiner Verehrung, die bestimmt sei, weiterhin bloß Wort und Ferne zu bleiben.
Van der Stappen lächelte ein kleines verdecktes Lächeln, als ich dies sagte, seine Frau lächelte auch, und sie sahen einander an. Ich fühlte ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen an meinem Worte erregt. Zuerst war ich ungewiß und ein wenig befangen, vielleicht etwas gesagt zu haben, das sie verstimmte. Aber bald empfand ich, daß sie nicht ungehalten waren; wir sprachen weiter. Wieder floß eine Stunde heiter dahin, kaum daß ich's merkte, und als ich endlich, meines überlangen Weilens gewahr, eilen wollte, Abschied zu nehmen, wehrten sie beide ab, ich solle bleiben, ich müsse zu Tisch bleiben, ich müsse bleiben unter jeder Bedingung. Und wieder ging das seltsame Lächeln von Augenstern zu Augenstern. Ich fühlte, daß, wenn es hier ein Geheimnis gäbe, dies ein mildes war, ließ gerne meine beabsichtigte Fahrt nach Waterloo und blieb im hellen, freundlichen, gastlichen Haus.
Es ward rasch Mittag. Wir saßen schon im Speisezimmer zu ebener Erde lag es wie in allen diesen kleinen belgischen Häusern, und man sah vom Gemach aus durch die farbigen Scheiben auf die Straße –, als plötzlich ein Schatten scharf vor dem Fenster stehen blieb. Ein Finger pochte an das bunte Glas, schroff schlug zugleich die Glocke an. »Voilà lui!« sagte Frau van der Stappen und stand auf. Ich wußte nicht, was sie meinte. Aber schon ging die Tür auf und er trat ein, starken, schweren Schritts, van der Stappen brüderlich umfangend: Verhaeren. Auf den ersten Blick erkannte ich von Bildern und Photographien sein unvergleichliches Gesicht. Nun ihr freundliches Geheimnis offenbar war, lächelten sie beide nicht mehr, van der Stappen und seine Frau, übermütig gaben sie es in herzlicher Heiterkeit preis, wie Kinder sich freuend der gelungenen List. Wie so oft war Verhaeren auch diesmal gerade bei ihnen Hausgast, und als sie hörten, daß ich ihn in der ganzen Gegend vergeblich gesucht, hatten sich beide mit raschem Blick verständigt, mir nichts davon zu sagen, sondern mich mit seiner Gegenwart zu überraschen.
Und nun stand er mir gegenüber, lächelnd über den gelungenen Streich, den er vernahm. Zum erstenmal fühlte ich den festen Griff seiner nervigen Hand, zum erstenmal faßte ich seinen klaren, gütigen Blick. Er kam – wie immer – gleichsam geladen mit Erlebnis und Enthusiasmus ins Haus. Noch während er fest zupackte beim Essen, erzählte er schon. Er war bei Freunden gewesen und in einer Galerie und flammte noch ganz von dieser Stunde. Immer kam er so heim, von überall und von allem gesteigert am zufälligen Erlebnis, und diese Begeisterung war ihm eine heilige Gewohnheit geworden; wie eine Flamme schlug sie immer und immer von den Lippen und wunderbar wußte er mit scharfen Gesten das Wort nachzuzeichnen, das Geschaute in Rhythmus und Gestalt sprechend aufzulösen. Mit dem ersten Wort griff er in die Menschen hinein, weil er ganz auf getan war, zugänglich jedem Neuen, nichts ablehnend, jedem einzelnen bereit. Er warf sich gewissermaßen gleich mit seinem ganzen Wesen aus sich heraus einem entgegen, und wie in dieser ersten Stunde selbst habe ich hundert- und hundertmal diesen stürmischen, überwältigenden Anprall seines Wesens an andern Menschen beglückt miterlebt. Noch wußte er nichts von mir, und schon war er voll Dankbarkeit nur für meinen Willen, schon bot er mir Vertrauen, bloß weil er hörte, daß ich seinem Werke verbunden war. Und unwillkürlich zerbrach vor dem vollen stürmischen Stoß seines Wesens jede Schüchternheit in mir. Ich fühlte mich frei wie noch nie bisher vor diesem fremden, offenen Menschen. Sein Blick, stark, stählern und klar, entriegelte das Herz.
Rasch ging das Essen hin. Noch heute, nach Jahr und Tag, sehe ich die drei Menschen so beisammen, wie mein Blick, aufschauend, sie damals umfing, van der Stappen, klein, rotbackig, üppig, wie ein Bacchus des Jordaens, Madame van der Stappen, groß und mütterlich, froh an der Freude der andern, und dann ihn, mit Wolfshunger einhauend und dazwischen sprechend mit seinen prachtvollen Gestikulationen und dadurch das Lebendige seiner Erzählung noch steigernd; ich sehe diese drei vergangenen Menschen, die sich brüderlich liebten und in deren Wort eine restlose Unbesorgtheit war. Nie hatte ich in Wien vorher eine Sphäre so tief innerlicher und reifer Heiterkeit gekannt wie an diesem kleinen Tisch, und ich fühlte, wie die Begeisterung, die ich niederzwang, mir innen fast schmerzlich wurde. Dann klangen die Gläser noch einmal, man rückte die Sessel weg, scherzend umarmten sich Verhaeren und van der Stappen. Es war vorbei.
Ich wollte mich nun verabschieden, so schön die Stunde war. Aber van der Stappen hielt mich zurück und verriet mir zum ersten Geheimnis das zweite. Er war eben am Werke, sich und Verhaeren einen alten Wunsch zu erfüllen und eine Büste des Dichters zu schaffen. Sie war schon weit gediehen; gerade heute sollte sie vollendet werden: zu dieser Vollendung nun wurde ich von allen aufs herzlichste eingeladen. Meine Gegenwart war van der Stappen, so sagte er, eine freundliche Gabe des Geschicks, denn er benötigte jemanden, der mit Verhaeren, dem allzu Unruhigen, spräche, während er ihm Modell sitze, damit sich die Starre des Gesichts belebe und die rasche Ermüdung gehemmt sei. Ich sollte Verhaeren erzählen von meinen Absichten, von Wien, von Belgien, von – was ich wollte, erzählen und erzählen, bis das Werk vollendet sei. Und dann sollten wir diese Vollendung gemeinsam feiern. Muß ich sagen, daß ich glücklich war, gegenwärtig sein zu dürfen, während ein großer Meister das Bildnis eines großen Menschen schuf?
Die Arbeit begann. Van der Stappen verschwand. Der elegante Redingote, mit dem (und seinem dazugehörigen Embonpoint) er seltsam an den Präsidenten Fallières gemahnte, war fort, als er zurückkam. Vor uns stand im weißen Kittel ein Arbeiter, die Ärmel hoch aufgestrafft, mit Muskeln wie ein Schlächter. Die bourgeoise Heiterkeit war von seinen Zügen abgefallen, wie der Schmiedegott Vulkan, rotleuchtend von der Glut seines Willens, trat er voran, unruhig zur Arbeit drängend, und führte uns ins Atelier. Tief und hell war der Raum, den ich schon früher im Gespräch mit ihm durchschritten. Ernster schienen nun seine Gestalten, und die weißen Marmorfiguren schwiegen wie versteinerte Gedanken in dem Raum. Vorne stand auf einem Sockel ein verhüllter Block. Van der Stappen löste die feuchten Tücher von dem Lehm. Verhaerens Antlitz tauchte heraus, an seinen gewaltsamen, eckigen Formen schon erkenntlich, aber noch fremd im letzten, gleichsam nur aus einer Erinnerung gestaltet. Van der Stappen trat vor, sah sein Werk und dann Verhaeren an, minutenlang wanderte sein Blick von einem zum andern. Dann trat er entschlossen zurück. Sein Auge stählte, seine Muskeln strafften sich. Die Arbeit begann.
Goethe hat einmal zu Zelter gesagt, die großen Kunstwerke kenne man nicht ganz, wenn man sie nicht auch im Werden gesehen. Und so, meine ich, kennt man auch ein menschliches Gesicht nicht gleich vom erstmaligen Begegnen. Man muß es entweder haben wachsen gesehen, aus seiner Kindheit in die Mannesjahre hinein oder wieder zurückfallen in sein Alter. Oder man muß es noch einmal in der Nachbildung sich haben formen gesehen, wo sich das einmal Gefestigte nochmals auflöst in seine Bestandteile, die Formen in ihre Proportionen, muß vergleichend Linie um Linie, Zug um Zug in ihrer wachsenden Existenz, ihren Neubau in der Kunst verfolgt haben. In diesen zwei Stunden bei van der Stappen hat sich das Antlitz Verhaerens mir gleichsam innen hinein in die Seele gemeißelt, und ich habe sein Gesicht so inne seitdem, als hätte ich es aus meinem Blute erschaffen. Von hundert und hundert Begegnungen sehe ich ihn zunächst immer so, wie ich ihn damals sah in dieser schöpferischen Stunde vor vielen Jahren, die hohe Stirn schon siebenfach durchpflügt von Falten böser Jahre, und darüber rostbraun den Sturz des schweren Gelocks. Knochig hart das Gefüge des Gesichts, streng umspannt von bräunlicher, männlicher, windgegerbter Haut, hart und felsig vorstoßend das Kinn, gewaltsam und groß, bedrohlich und fast böse der hängende Vercingetorix-Schnurrbart, die schmale Lippe mit tragischer Melancholie verschattend. Aber all diese harte Männlichkeit, wie wundervoll sanft war sie wieder aufgelöst von dem stahlgrauen Blick – couleur de mer –, der offen und blank vorbrach, wissend und alles Wissens froh, funkelnd im Widerschein des geliebten Lichts! Die Nervosität, sie saß in den Händen, in diesen schmalen, griffigen, feinen und doch kräftigen Händen, wo die Adern stark unter dem dünnen Fleisch pochten. Die ganze Wucht seines Willens aber stemmte sich vor in den breiten bäurischen Schultern, für die der kleine, nervige knochige Kopf fast zu klein schien: erst wenn er ausschritt, sah man seine Kraft. Wenn ich heute die Büste anblicke – nie ist van der Stappen Besseres gelungen als das Werk jener Stunde –, so weiß ich erst, wie wahr sie ist und wie voll sie sein Wesen faßt. Sie hat das Gebeugte dieses Hauptes, das doch nicht Müdigkeit war, sondern ein tiefes Lauschen, eine Gebeugtheit nicht durch Leben, sondern vor dem Leben, im tiefsten Wissen festgehalten. Wenn ich sie anblicke, weiß ich, dies war nicht mehr Bild, sondern schon Denkmal, ist Dokument einer dichterischen Größe, das Monument einer unvergänglichen Kraft. Damals aber, in jener seltsamen Stunde, war dies noch nichts als weicher, feuchter Ton, den die Spachtel schlug und der Finger glättete, war dies Werk nur Ahnung, Einschätzung und Vergleich, damals war er noch der Lebendige, in den Pausen strahlte von ihm der Atem des Gesprächs, und er lauschte mit jener tiefen Kraft seiner unversiegbaren Anteilnahme. Ohne daß wir es wußten, wurde es Abend, aber Meister van der Stappen ermüdete nicht. Immer öfter trat er zurück von seiner Plastik, ließ den Blick wandern von dem Lebendigen zum Gestalteten, das selbst nun ein Lebendiges zu werden begann, immer seltener rührten mehr die Hände an das Geschaffene. Allmählich heiterte sich sein gespannter Blick auf, verlor sein Auge die Unruhe, die flackernde, einmal noch griff er vergleichend hinüber und herüber. Dann band er die Schürze ab, stöhnte tief, und mit einem leichten Bedauern – ein Seufzer mehr als ein Wort – atmete er: » Fini.« Verhaeren stand auf. Er schlug dem kleinen stämmigen Mann, der keuchend und atemlos und doch lächelnd vor seinem Werk stand und nun wieder nicht mehr dem Vulkan in der Schmiede glich, sondern eher dem feisten Bohnenkönig des Jordaëns, beifällig auf die Schulter, sie lachten einander an und umarmten sich. Eine Herzlichkeit wie zwischen Knaben sprang nun auf zwischen diesen Männern, denen beiden schon ein wenig Schnee aus Bart und Haaren glänzte. Zum erstenmal fühlte ich hier eine hellere, freiere Menschlichkeit, als ich sie vordem zwischen Künstlern gekannt, die ich alle nur immer in Besorgtheit und eifernder Geschäftigkeit gesehen, und geheimnisvoll flog mich Sehnsucht an, diese Sicherheit und Freiheit des Lebens inmitten der Kunst mir selbst für mein Leben zu gewinnen. Noch band mir Ehrfurcht die Kehle, noch fühlte ich mich fern. Aber irgendein Teil meines Wesens war diesem Dichter schon gebunden und verfallen, als ich seine Hände, die herzlich gegebenen, zum Abschied und zum Versprechen baldiger erneuter Begegnung nahm. Ich wußte schon, es war Geschenk und große Gabe, solchen Menschen dienen zu dürfen, und wußte auch schon aus dunklem Gefühl, daß Wille und Bestimmung mich seinem Werke zugedacht. Dankbar nahm ich noch van der Stappens Hand und ging.
Es war schon dunkel im hohen Räume. Als ich mich an der Türe zurückwandte, sah ich im Schatten nur mehr weiß und hoch das Denkmal der ewigen Güte und Verhaeren davor, die Hand angeschmiegt an den hellen Stein. Erst später, viel später wußte ich, daß dieses Werk, dem zu seiner Vollendung einzig noch die große tragende Mittelfigur fehlte, in dieser einen Minute wahrhaft vollendet war, als Verhaeren an dem Sockel des Werkes der großen menschlichen Güte lehnte und für meinen Blick gleichsam unbewußt als Symbol mit seinem Sinn verschmolz.
Von dem Werke hatte ich nun zum Dichter gefunden, und des Heimgekehrten erster Wunsch war, sich den Dichter neu in seinem Werke zu entdecken. Sage ich aber: Verhaerens Werk, so muß ich mir selbst zur Erinnerung bewußt machen, wie wenig das Damalige jenem gleich war, das heute eine Welt als seine Leistung bewundert und verehrt. Kaum waren dazu die Fundamente gebaut, bloß jene parnassischen Werke der ›Flamands‹ und ›Moines‹ bekannt und eben erst die feurigen Visionen der ›Villes tentaculaires‹ und ›Villages illusoires‹ gestaltet. Aber noch war alles Dunkelheit, Chaos und feuriges Licht in ihnen und kaum erster Anbeginn jenes Morgenrots von Güte und Klarheit, jener unvergleichliche Aufstieg zu menschlicher Reinheit, der die Größe und der zeitlose Gedanke seiner Kunst geworden ist. Und nun ich mich dessen erinnere, werde ich erst voll des ganzen Glücks klar, daß ich diesen Aufstieg zum Dauernden habe von nahe miterleben dürfen, Buch um Buch, ja sogar Gedicht um Gedicht, oft nur einzeln geformt oder vorgelesen an stillen Abenden, daß ich hier einen Teil Unvergänglichkeit inmitten unserer Zeit habe mit erstehen gesehen. Was heute schon zu Literaturgeschichte vertrocknet ist, habe ich als lebendigen Duft, Atmen und Wachsen der unverwelklichen Blüte von nah gefühlt in diesen fünfzehn Jahren Freundschaft und Vertrautheit, und was heute als Buch verkäuflich und erlangbar von Hand zu Hand geht, gekannt in Qual, Geheimnis und Gestaltung. Und mich dessen erinnernd, werde ich wiederum gewahr, wie gütig mich Ahnung und Fühlung führten, als ich diesem noch ungestalteten Werke mich mit meinem ganzen Willen hingab, wie ins Ungewisse und Namenlose hinein mein Vertrauen zu diesem Menschen sich bewährte, und in welche Leere ich seinen Namen sprach, der nun ein Gemeinplatz und ein literarischer Begriff geworden ist! Und an diesem Erinnern lerne ich meiner Jugend dankbar sein.
Aber ich begann froh das Werk. Ein paar übertragene Gedichte konnte ich bald dem Meister senden, und Briefe sagten mir seine Freude zurück. Langsam begann erst sein Ruhm, langsam meine eigene Werbung, aber ich weiß trotz allem und allem, daß nichts schöner war als jene Zeit, da die kleinen Freuden und Erfolge noch die großen waren und aus dem Aussichtslosen das reinste menschliche Gefühl entwuchs.
Ein paar Jahre gingen hin. Ich war gefangen in meiner Welt, nur Briefe grüßten hinüber und herüber, ein paar waren es zunächst, ehrfürchtig bewahrt in kleiner Enveloppe, dann ward sie zu enge, und Hunderte und Hunderte umschnürt nun ein Band. Gerne wollte ich sie immer wieder lesen, sie ordnen in die Zeit, sie sichten und genießen, und habe es doch niemals vermocht. Und auch jetzt, da ich weiß, daß kein Blatt seiner Hände mir mehr zufliegt und der letztgesandte seiner Briefe für immer der letzte war, will ich dieses Band nicht lösen und nicht etwas verlebendigen, was für immer vergangen ist. Denn mein Gefühl wehrt sich vor der eigenen Erkenntnis des Verlustes, und mit einer ängstlichen und frommen Scheu meide ich den Kirchhof der Worte: die Briefe, in denen vergangene Zeit und verstorbenes Empfinden für immer vergraben sind.
Und wieder ein Jahr und ein Jahr. Ich hatte meine Studien beendet, die Welt lag frei vor mir, und mich verlangte, sie zu kennen. Das erste Jahr meiner Freiheit hatte ich Paris bestimmt. Spät nachts kam ich an, von einem Café auf den Boulevards sandte ich noch ein Wort an ihn. Von den vielen Zielen meines neuen freien Lebens war er mir das erste, das wichtigste. Am nächsten Morgen, ich war kaum erwacht, lag schon ein petit bleu vor meiner Zimmertür, er erwarte mich zu Mittag bei sich in Saint-Cloud.
Von dem Bahnhof Saint-Lazare fuhr ich hinaus, vorbei an Passy, das mit hundert Fabriken dampfte, fuhr hinaus nach dem stillen Vorort im Grünen. Von dem Park Montretout aus sah ich unten die Stadt liegen, Paris, unsichtbar fast in feuchtem Dampf eines nassen Oktobertages, nur der graue Griffel des Eiffelturmes schrieb seinen Namen lesbar in den weichen Himmel hinein. Zwei Straßen nur vom Parke und da war die gesuchte, eine Vorstadtstraße der kleinen Häuschen aus Backstein mit sechs oder zehn Fenstern ein jedes. Pensionisten mochten da wohnen, bessere Arbeiter, Beamte und kleine Leute, Menschen, die Stille wollten und ein Stückchen Grün, Vorstadtbürger, neugierlose, friedfertige Bewohner. Paris, das gewaltsame und elementare, hier spürte man's kaum mehr. Unten war die Woge und hier ein stiller Strand.
Dann hin zum kleinen Haus, zwei hölzerne Treppen hoch, eine schlichte Tür ohne Namen, eine einfache Klingel, die ich ein wenig schüchtern zog, damals zum erstenmal und wie oft seitdem noch! Und da trat er schon selbst aus der Türe, herzlich die Hand dargeboten, mit jener spontanen Freudigkeit des Empfanges, die aus der Fülle seiner offenen Güte kam. Ganz lose lag die Herzlichkeit bei ihm, man mußte nur rühren an seine Gegenwart, und bei der ersten Geste schon sprang sie auf. Beim ersten Druck seiner Hände, an seinem offenen Blick, beim ersten Wort schon spürte man seine Wärme bis ans Herz.
Wie klein war diese Wohnung, wie einfach, wie bürgerlich! Kein Dichter, den ich kannte, hatte solch kärgliches Heim. Ein Vorzimmerchen und drei Zimmer dahinter, winzig jedes einzelne und gefüllt bis zum Rand. Überflüssiges hatte keinen Raum darin, einfach war jedes Gerät, die Wände von Büchern und Bildern bunt, überleuchtet vom Gelb der französischen Bände. Ein Rysselberghe mit zersprengten Farben, ein Carrière mit dunkler Tönung, und zehn, zwanzig andere Bilder von Freunden drängten sich, Rahmen an Rahmen, und mitten im engen Raum war weiß der Tisch gedeckt für den Gast mit einfachem, bäuerlichem Geschirr. Ein roter Wein in der Karaffe funkelte daraus wie eine feurige Blume.
Nebenan das Arbeitszimmer, Bücher, Bücher und Bilder die Wand entlang, zwei niedere schlichte Fauteuils zum Gespräch, ein Holztisch mit bunter Decke, darauf ein Tintenfaß wie das eines Schülers, ein Aschenbecher um zwei Sous, Briefpapier in einer Zigarrenschachtel, das war alles – der Arbeitstisch des Dichters. Kein künstlicher Behelf, keine Schreibmaschine, keine Kassetten, keine Regale, kein Telephon, nichts von all dem Büroartigen, das den Werkraum unserer neueren Schriftsteller dem eines Geschäftes so verzweifelt ähnlich macht. Kein Komfort, kein Luxus, nichts Unnötiges, nichts intensiv Künstlerisches, alles klein und kleinbürgerlich nett, geschmackvoll ohne Aufdringlichkeit, einfach ohne Ablenkung. Eine winzige Welt, um in ihrer Stille die große zu bauen.
Wir saßen bald bei Tisch, man speiste fröhlich. Einfach und schmackhaft das Essen; nach flandrischer Hausväterart teilte, mit Spieß und Messer bewehrt, Verhaeren selber das Fleisch, tranchierte mit Geschick das Geflügel, und Frau Verhaeren lächelte freundlich zu dieser Meisterschaft, auf die er, wie sie sagte, mehr stolz war als auf seine Gedichte. Dann kam der Kaffee, Frau Verhaeren winkte uns zu und verschwand.
Nun saß ich allein mit ihm in seinem kleinen Zimmer, Zigarren- und Pfeifenrauch wob eine kleine Wolke um die Bücher, wir sprachen, er las Gedichte, heimisch war es in dem kleinen Raum. Jedes Wort hatte hier Wärme und Widerhall. Wie auf Flügeln flogen die Stunden, es ward Abend, kaum daß man es merkte. Endlich nahm ich Abschied von diesem ersten Tage in seinem Haus. Bis zur Tür kam er mit, noch einmal fühlte ich die Wärme seines Händedrucks, und vom Fenster winkte er auf die Straße nach: »A bientôt!«
Wundervoll war der Oktoberabend. Noch war ich erfüllt von Gespräch und Glück. Zu voll war ich des Erlebten, um mir in der Eisenbahn das wunderbare, gleichsam schwebende Gefühl des Glücklichseins zerrattern zu lassen. So ging ich hinab zur Seine, um dort mit den kleinen, flinken Booten zurückzufahren zur großen Stadt. Die Sonne war gesunken, an den kleinen Dampfern glühten schon die roten Laternen, die Stadt fiel ins Dunkel und erstrahlte zugleich schon in künstlichem Licht. Rasch trug mich das Boot aus der Landschaft hinein in das dämmernde Meer von Paris. Der Trocadero, der Eiffelturm stiegen mächtig auf, dumpf der Atem der Millionenstadt mit all seinem wirren Getön – wunderbar erglühte die Nacht der einzigen Stadt, und ich empfand an diesem ersten Tage in Paris schon mit maßlosem Glück, daß das eine und andere Ende des Lebens gleich gewaltig ist: die Masse und der einzelne große, gütige Mensch.
Wie oft und wie oft habe ich ihn dann noch dort gesehen, in den kleinen Zimmern, und wann war es anders als damals? In wieviel neue und vertraute Gesichter habe ich dort geblickt an dem engen Tisch, denn selten waren diese bescheidenen Räume ohne Gast, und doch kamen nie viele zugleich. Immer war hier geistige Regsamkeit, Flut von allen Gestaden der Welt. Junge französische Dichter, alte Freunde, Russen, Engländer, Deutsche, Belgier, manche schon mit klingendem Namen, manche nur flüchtige Existenzen, wie viele waren dort zu Gaste, füllten die Stunden mit dem Atem ihrer neuen Gegenwart und konnten doch nichts nehmen von der heimlich tiefmenschlichen Atmosphäre des Raums, so sehr war alles hier beherrscht von Verhaerens lebendiger, gütiger und immer schöpferischer Beredsamkeit. Meist kam man knapp vor Tisch oder vor der Abendmahlzeit, denn der Morgen gehörte dort unverweigerlich der Arbeit. Frühaufsteher seit vielen Jahren, saß Verhaeren um sechs oder sieben Uhr beim raschen Frühstück und dann bis zehn Uhr beim Arbeitstisch. Der lange Rest des Tages war dann dem Leben, der Lektüre, den Fahrten, den Freunden frei. Gegen elf Uhr wanderte er, mit seinem schweren Stock bewehrt, wie ein ländlicher Pilger gegen Paris aus, Bilder zu besehen, mit Freunden zu speisen oder am liebsten, ziellos durch die Stadt zu wandern, sich von der zufälligen Flut der Massen treiben zu lassen, die er so liebte. Seine Arbeit war immer schon getan, und wie ein Raubritter nach Abenteuern aus seiner Burg zog er dann sorglos in die Stadt hinein, sich Beute für seine große schöpferische Neugier zu erraffen. Stundenlang streifte er die Straßen entlang, trat in den kleinen Ausstellungen oder bei Freunden ein, überall ein gern gesehener Gast, durchwanderte zum zehnten und zum zwanzigsten Male jedes Jahr die großen Museen, setzte sich auf die Imperiale der Omnibusse und fuhr mitten in den Schaum und Sprudel der Stadt oder stapfte mit seinem schweren Schritt über den Asphalt der Boulevards.
Einmal traf ich ihn so an, am Seine-Quai vor dem Palais der Akademie. Eine Straße weit schon erkannte ich ihn an seinem vorgeneigten schweren Gang, der zeitlebens etwas von dem des Bauern hatte, der mit dem Sterz in der Hand hinter dem Pfluge schreitet, und es war mir sonderbar neugierige Spannung, ihn nicht gleich zu begrüßen, sondern erst auf seiner Wanderschaft zu belauschen. Bei den Bouquinisten blieb er stehen, blätterte in den Büchern, ging weiter, machte neuerdings halt bei der Landungsbrücke, wo eben ein schwerer Schlepper, mit Obst und Gemüse befrachtet, ausgeladen wurde. Eine halbe Stunde blieb er dort stehen, sah zu, wie man verlud, jedes Detail interessierte ihn: wie der Muskel sich spannte am Rücken eines Packträgers, wie die Kräne mit leisem Kreischen die ächzende Last aus dem Bauch des Schiffes holten und vorsichtig, beinahe zärtlich, auf die steinerne Rampe legten. Er sprach mit den Arbeitern wie einer von ihnen, fragte sie aus, und zwar ganz natürlich, ganz absichtslos, nur aus dieser tiefen Neugierde seines Wesens heraus, die alles zu wissen, jede einzelne Form der Existenz zu kennen begehrte. Eine halbe Stunde stand er da in dieser merkwürdigen Fanatik des Interesses, das er gleicherweise für Belebtes und Unbelebtes hatte, dann stapfte er wieder weiter über die Brücke zu den Boulevards. Jetzt erst sprach ich ihn an. Er lachte, als ich ihm verriet, daß ich ihn beobachtet hatte, und begann gleich zu erzählen, was er eben alles gelernt, und strahlte von Glück, weil er unter den Verladern am Dialekt gleich einen von der Scheide, seiner engeren Heimat, erkannt hatte. Wir gingen zu einem Marchand de vin, einer jener kleinen Boutiquen, wo man einfach und billig speist, und an dieser einen Erinnerung entzündete sich ihm gleich die fertige Vision all der Schiffe, die auf den Kanälen und Flüssen Frankreichs dahingleiten, und als ich ihn verließ, war er schon ganz glühend von Arbeitswillen. Auf diesen Spazierwegen entstanden so ganz absichtslos manche seiner großen Gedichte, und die Unzahl kleiner geschauter Details in seinen Versen wäre unbegreiflich ohne die unbändige Neugier, die ihn immer und immer wieder mitten ins Leben hineintrieb und seine Existenz ewig mit einzelnen Erfahrungen befruchtete, deren Fülle schließlich die wunderbar breite Vision der einheitlichen Welt in seinen Versen war.
Spät abends dann, trunken vom Erlebnis, belebt von Gespräch und Bild, fuhr er heim nach Saint-Cloud, immer dritter Klasse, zwischen Arbeitern und kleinen Beamten, mit denen er so sehr zu plaudern liebte. Daheim wartete auf ihn die Stille des kleinen Raums und der gedeckte Tisch, manchmal noch ein Freund, und bald erlosch die kleine Petroleumlampe in seinem Zimmer. Eine wundervolle Monotonie der äußerlichen Existenz verband sich so der stärksten Vielfalt in der Tätigkeit. Der Tag begann mit Arbeit, sog sich dann mit Leben voll und sank abends in stilles Gespräch oder in schweigsame Zwiesprache mit Büchern zurück. All das, was man das Repräsentative und Gesellschaftliche eines Lebens nennt, hatte keinen Raum in dieser gedrängten, geregelten Existenz, nie ging Verhaeren in Salons, nie zu Soupers, nie zu Premieren, nie in die Redaktionen, und jenes Paris des Saint-Germain, der Generalproben, der Wettrennen und Feste, das für den von Romanen verleiteten Fremden so sehr das Wesentliche scheint, hat er nie gekannt. Die Intensität des Menschlichen, die weit gespannten Kontraste, die Museen, die breitströmenden Straßen, die geheimnisvoll zarten Sonnenuntergänge an der Seine – das war für ihn Paris, nicht die lauten Geselligkeiten und Veranstaltungen, die Welt des Esprit und der Mode. Er suchte den Kern, den geheimnisvoll berauschenden, und nicht die funkelnden Spitzen dieser Stadt. Aus seinem Leben verstand ich zuerst das Geheimnis dieser produktivsten Stadt der Welt, die, flüchtig gesehen, nur dem Genuß und dem Schein zu dienen scheint, und wo doch in den kleinen Mansarden, in den Vorstädten und den bürgerlich bizarren und kleinen Zimmern die entscheidenden Werke entstehen. So fing allabendlich dieses kleine Zimmer in Saint-Cloud, eine Welt in sich, den Rhythmus jener anderen lauten und lärmenden auf und verwandelte ihn in Vers und Musik. Das Gewaltige der Masse nährte hier die einsame Arbeit, und die einsame Arbeit wiederum schuf dem großen Beisammensein sein Bild und seinen Sinn.
Das war seine erwählte Lebenswelt: Paris, die stärkste, intensivste, die scheinbar offenbarste und dennoch unergründlichste Stadt Europas. Sie hatte er sich bestimmt als Wohnstätte für das Weltbürgerliche, Zeitgenössische seines Wesens, denn er liebte die intensiven, ungebrochenen Zustände und wollte als Stadt die städtischeste aller Städte. Das halbe Jahr, vom Herbst bis zum Frühling, lebte er in Paris, scheinbar an seinem Rande, aber doch zentral in seinem Empfinden, dieses halbe Jahr war er immer Weltbürger, moderner, europäischer, zeitgenössischer Mensch. Die andere Hälfte des Jahres war er Flame, Heimatsmensch, Einsiedler, Bauer, gehörte er einzig der Natur. Wer ihm nur in Paris begegnete, wußte bloß um die eine Hälfte seines Lebens, die geistige, die intellektuelle, die europäische. Und nur, wer ihn auch auf seinem Flecken Erde, in seiner Heimat, in seinem Garten, in seinem Häuschen kannte, der wußte ihn wirklich. Wer ihn ganz kennenlernen wollte, beide Enden seines Lebens, mußte ihm auch in der Stille begegnet sein, in seinen heimatlichen Feldern, in Caillou-qui-bique.
Caillou-qui-bique, das ist keine Stadt, kein Dorf, kein Weiler, keine Bahnstation, und selbst die ungeduldigste Neugier konnte dort nicht hinfinden ohne seine freundlich helfende Hand. Die nächste Eisenbahnstation war Angreau und dieses Statiönchen der kleinen Bahn, das der Fahrplan verzeichnet, selbst wieder keine wirkliche, sondern nur ein umgestürzter Eisenbahnlastwagen mit einem eingeklebten Fahrplan, bei dem der Vizinalbahnzug auf dem Weg nach Roisin sich gar nicht aufhält, sondern, wenn nicht gerade ein Bäuerlein aussteigen will, nur den Postsack hinausschleudert. Unendlich weit ist dieser kleine Ort von der Welt durch die Vertracktheit des Fahrplanes und doch nur vier Stunden von Brüssel, London, Köln und Paris: ein Herzpunkt Europas im Unsichtbaren.
Dies Örtchen mit dem seltsamen Namen, den es einem überhängenden Stein in der Gegend verdankt, einem winzigen Naturwunder, das nur im Flachland überhaupt bemerkt werden konnte, dieses Örtchen von vier oder fünf Häusern liegt im äußersten Winkel von Belgien, knapp an der französischen Grenze. Vom Nachbarort Angre geht eine Straße nach Quievrain, eine andere nach Valenciennes, und man kann sich sehr leicht den kleinen Luxus leisten, sich mittags in Belgien aufzumachen, den Nachmittag in Frankreich zu verbringen und abends wieder daheim zu sein. Wie leicht eine solche Grenzüberquerung ist, wissen die Schmuggler gut, die dort mit Tabak und Spitzen allenthalben rege sind und ihre Hunde mit den kleinen Paketen hin und her durch das Dunkel jagen, aber ebenso wissen es auch die Gendarmen, die mit geladenen Gewehren Posten stehen. So friedlich dort das Wallonenland scheint, so romantisch ist sein geheimes Grenztreiben. Hundert und hundert Geschichten hat mir Verhaeren davon erzählt, und unter seinen nachgelassenen Papieren muß sich auch ein Schmugglerdrama in Prosa finden, das er vor Jahren entwarf, als er in die Gegend kam. Er hat es nie vollendet, verschob die Arbeit von Jahr zu Jahr, und nun dürfte dieser erste Versuch einer modernen bäuerlichen Tragödie (etwa im harten, klobigen Stil unseres Schönherr) für immer Fragment geblieben sein.
Ganz verloren liegt dieser Winkel, und ohne den gütigen Kompaß seiner Führung, ohne den Magnetismus seines Wesens fand der Fremde kaum hin. Man muß zuerst von Brüssel nach Mons fahren, am hohen Gefängnis vorbei, wo Verlaine seine zwei Jahre absaß und die unsterblichen Verse seiner ›Sagesse‹ schrieb, in Mons auf eine Vizinalbahn umsteigen und von ihr auf eine zweite, die so langsam fährt, daß ein Fahrrad sie leicht überholt. Aber so langsam und umständlich sie ist, so schön und eindrucksvoll ist diese Fahrt. Plötzlich, kaum hat man Mons verlassen, tauchen im scholligen Lande spitze, kegelige Berge auf, die schlanken Kohlentürme der Kohlengruben, bleiern und schwarz wird der Himmel, und die Luft, die sonst feucht und salzig vom Meer her über Belgien weht, hier schmeckt sie plötzlich bitter und grieslig; wie durch eine Mattscheibe getrübt, breitet sich eine besondere Welt vor dem Blick: die Borinage, das Bergwerksgebiet, die schwarze Erde, deren proletarische Gestalten Constantin Meunier in seinen Plastiken für immer versteinert hat. Schritt für Schritt fast macht die Bahn halt, denn ein Arbeiterstädtchen drängt sich an das andere und hundert schwarze Schornsteine hauchen bei Tag schwarzen Atem aus und stoßen nachts ihre feurigen Zungen in den ewig düstern Himmel hinein. Die ganze tragisch-häßliche und doch grandios moderne Welt tut sich auf in einer Stunde Fahrt. Aber bald ist dies alles vorbei wie ein böser Traum, hell und makellos strahlen die Wolken über einem klaren Himmel, die Häuschen glühen rot aus den gelben Feldern, und mit weichem Grün rauscht junger Wald an die Geleise. Fruchtbar und heiter glänzt das wallonische Land, und in Ungeduld schon liest man die Tafel der winzigen Station Angre und endlich Angreau.
Und da steht er schon wartend, den Gast zu umarmen, die Hand fühlt den herzlichen Druck der seinen und die Wange den Kuß. Wie ein Arbeiter in weichem Samtanzug, mit Pluderhose, ohne Kragen, in Holzpantinen steht er im Wald, einem amerikanischen Farmer oder Landarbeiter ähnlicher als einem bürgerlichen Menschen. Mit seinem Knotenstock stapft er jetzt freudig den engen Saumweg empor, der weiße Hund Mempi, der getreue, springt voran und voraus. Keine Fahrstraße führt zu seiner Wohnung, kein Karrenweg, nur ein schmaler Saumpfad, der immer wieder sich einwühlt in das üppige Gesträuch. Eine halbe Stunde lang geht es so über Wiese und Halde, durch Wald und Hecken, manchmal vorbei an einer Scheune oder an einem Bauernhaus, wo die Burschen ungelenk die Kappen vom strohblonden Haar ziehen und »Monsieur Verhaeren« mit respektvoller Kameradschaftlichkeit grüßen. Rings ist das Land üppig grün, die Wiesen satt von der feuchten Luft, die Kühe, die darin lagern, sind weiß gefleckt wie die Wolken, die hier vom Meer her rastlos über den Himmel ziehen. Ein schütteres Wäldchen noch bergauf, dann lugt ein Haus niedrig hinter einem Gärtchen hervor, ein kleines, umzäuntes Gehöft. Verhaeren klinkt die Gartentüre auf. Wir treten ein. Wir sind in seinem Haus. Jenes Landhaus Verhaerens, das ich hier schildere, blieb während des ganzen Weltkrieges verschont und lag, weil von der deutschen Armee gleich zu Anfang besetzt, beinahe außerhalb der Gefahrenzone. Verhängnisvollerweise fiel es gerade am allerletzten Tage dem Kriege zum Opfer; eine Artillerieschlacht schlug dies idyllische Haus – an diesem letzten Tage! – in Trümmer, und ein Großteil der Manuskripte Verhaerens und seine Korrespondenz wurden von stupiden Granaten zerstört. Aber Haus? Ist es denn wirklich ein Haus? Nicht einmal ein Häuschen, eigentlich nur eine backsteinerne Scheune mit hölzernem Dach, einfach und schmucklos, schön nur durch das aufsteigende Gerank von Rosen und Grün, das sich über das Grellrot der Ziegel flicht. Sechs Fenster oder acht im ganzen, blank und verhängt mit weißem Flor, eine Mansarde unter dem Dach, ein Hof mit gackernden Hühnern, ein Gärtchen mit ein paar prallen Sonnenblumen. Daneben steht freilich ein Haus, ein wirkliches, einstöckiges mit einem kleinen Balkon, aber das gehört Laurent, dem Wirte des Caillou-qui-bique, und ist Gehöft, Wohnung und Wirtshaus zugleich. Sonntags kommen dort auf ihren Wägelchen aus den nahen Flecken die Bürger gefahren, setzen sich auf die Bänke in der Laube, trinken das fade, warme belgische Bier, spielen ein Stündchen Standkegel, schleichen – in den letzten Jahren, als Verhaeren sogar in seinem Lande anfing, berühmt zu werden – neugierig an das kleine Nachbarhäuschen heran, den großen Dichter zu sehen, von dem sie so viel gehört und so wenig gelesen haben. Dann werden die Wägelchen wieder angezäumt, und nach einer Stunde Sonntagslärm fällt das Häuschen wieder in seine idyllische Stille zurück. Wochentags kommt kein Fremder hin, höchstens einmal der Pfarrer und der Postbote, sonst ist nur Laurent dort, der gutmütige breitschulterige Riese, der tagsüber auf den Feldern arbeitet und abends müde heimkehrt und hinter seinem Glas Bier die Zeitung liest oder mit seinem Freunde Verhaeren ein Spielchen macht. Wochentags waltet hier der Gottesfriede vom ersten Schöpfungstag.
Diese Welt, die Heimstätte seiner größten und schönsten Werke, hatte sich Verhaeren durch einen Zufall gefunden. Vor Jahren war er einmal ruhebedürftig im Sommer hierher gekommen und hatte bei Laurent im Gasthof gewohnt. Bald war ihm die Landschaft um ihrer Stille und Abgelegenheit willen lieb geworden. Es lockte ihn, hier zu bleiben, hier ganz abseits von der Welt, in einem Winkel seiner Heimat und doch nahe den Zentren seiner geistigen Existenz, nahe von Paris, Brüssel und dem Meer. Im gemieteten Zimmer zu wohnen, behagte ihm weniger; ein Haus zu bauen, schien ihm Belastung des Lebens und Verpflichtung, er aber liebte die Freiheit über alles, und so kam er mit Laurent überein, die Scheune nebenan, die unbenutzte, ein wenig adaptieren zu lassen. Ein paar Räume im Erdgeschoß wurden zu Zimmern, die Dachmansarde in eine Schlafstube umgestaltet, eine hölzerne Treppe hinaufgebaut, und so wuchs allmählich dieses primitive, vorbildliche Dichterheim, das die Heimat seiner letzten Jahre wurde und eine Stätte lieber Pilgerschaft für die Freunde.
Dort in Caillou, und nur dort, fand man ihn ganz. Hier, wo er im Samtanzug und ohne Kragen und Krawatte, in Holzschuhen bei Wind und Wetter, bei Sturm und Sonnenschein umherstapfte, hier war er auch innerlich frei und ganz aufgetan. Hier fehlten die zufälligen Besuche, Verlockungen und Ablenkungen, hier gehörte er sich ganz, und wer hier empfangen war als Freund und Gast, der rührte nicht flüchtig sein Leben an, sondern wuchs ein in das Haus, teilte den täglichen Tisch, die Stunden und die Stille. Auch hier wie in Paris war alles einfach und behaglich – die edle Einfachheit hat ja wenig Nuancen –, nur daß hier vor den Fenstern immer ein sanftes Grün von flüsterndem Laub Beruhigung wob und der Hahnenschrei statt der Dampfsirenen von Paris die Morgenstunde verkündete. Der Garten, der das Haus umzirkte, war ganz klein und mit fünf Schritten schon durchschritten, aber das Land hinter dem Garten, es gehörte jedem zu, der es wollte. Wiesen und Wälder und die fruchtbaren Äcker, sie waren bis ins Grenzenlose jeder Wanderung frei. Der Gedanke des Besitzes und der Grenze erlosch hier ganz in dem wundervollen Gefühle der selbstherrlichen Einsamkeit.
Wie still, wie voll, wie glücklich natürlich war hier der Tag! Fünf Sommer habe ich, immer gleich dankbar und froh, in Caillou-qui-bique verbringen dürfen, und ich weiß, daß ich in ihnen den Sinn des einfachen Lebens und seine spendende Schönheit zum erstenmal gelernt, zum erstenmal hier an dem Vorbilde dieser stillklingenden Existenz das tiefe Gesetz der Harmonie verstanden habe, in die jeder Mensch sich mit einer Landschaft bringen muß, um ganz einzugehen in Natur und Welt. Hier war alles Gleichmaß und Rast, und inmitten der ungefüllten, ungewerteten, unzerbrochenen Zeit loderte wie in einer wunderbaren Windstille die ruhige, heitere Flamme der Arbeit aus dem Tage hoch in die Unvergänglichkeit! Wie lange weilte hier der Tag und wie schnell verflog er zugleich: wie eine einzige tiefe, selige Sommerstunde sind diese fünf Sommer in meiner Erinnerung, und der Begriff der Idylle, der sonst leicht etwas Künstliches und Literarisches meint, hier ward er mir kristallen klar. Man war in diesen Stunden bei Verhaeren so sicher und nah, so geborgen und verloren, so offen und vertrauensvoll, man ruhte in sich und spannte sich doch aus sich heraus, alles war hier die Einsamkeit und die Welt. Wenn man abends um den Tisch saß und einander aus Büchern vorlas, Gedichte, die der eine liebte oder der andere, schienen sie einem irgendwie göttlich und übernatürlich, wie aus fremder Welt in dieses kleine Zimmer getragen; und doch, in diesen Zimmern wieder, in ebendenselben Zimmern entstanden in jenen Jahren die Werke, die selbst wieder über Europa klangen. O diese Stille, diese Stille um das Werk, wie ich sie nachsinnend doch selbst noch manche Stunde in mir höre, jene leise Musik der Stunden ohne Ärgernis! Nie habe ich hier Zank gehört, nie eine Gehässigkeit, nie eine laute Stimme, nie einen Schatten Mißtrauen gesehen in dem sanft strahlenden Licht von Heiterkeit, das hier um die Stunde wob. Meisterschaft des Lebens bei einem Dichter, hier habe ich sie zum erstenmal erfahren wie nie vordem und nie nachher in meinem Leben.
Wie ein Bach, durchsichtig und klar, mit leiser Musik, rollten hier die Stunden. Frühmorgens krähte der Hahn und rief einen vom Bette, man ging hinüber zum Frühstück in Pantoffeln, oft ohne Rock, dann kam der Briefträger mit den Briefen, die drei Tage wanderten, und den Zeitungen von gestern und vorgestern. Aber hier war das Gestern und das Morgen nicht so eng an den Tag geschraubt, hier lag es nah und fern zugleich, ohne Gewalt an die Stunde gebunden. Auf dem weißgedeckten Tisch wartete ländliches Frühstück, Eier und Milch in allen Formen, häusliches Backwerk und als einzige Frucht der Ferne die braune Zigarre, deren Rauch blauschwingig das Gespräch umflog. Dann ging man zur Arbeit. Sie war das erste Gesetz des Morgens, das selbst der Sonntag und Feiertag selten unterbrach. Aber wie leicht war sie, wie freudig, draußen im kleinen Pavillon, im grünen Schatten unter der Sonne und durchflüstert von den vielfältigen Stimmen des Landes! Um zehn oder elf Uhr machte sich Verhaeren auf zum Spaziergang; meist ging er über die Felder, den Knüppel in der Hand, im Rhythmus des Verses und manchmal die Arme mitflügelnd im inneren Pathos der bildenden Leidenschaft. Wie oft habe ich ihn so gesehen von ferne, den breiten wandernden Mann, ganz wandelnd in seinem Gedicht, mit Worten in den Wind hinein, den er so liebte, und dann heimkehren, gerötet, strahlend heiter, weil er irgendwo einen Vers sich zurechtgefangen oder ein Gedicht zu Ende geknotet! Und rasch war der Mittag da. Alles war einfach, das meiste stellte der Garten bei und der Stall, die saftigen Früchte der Erde, Milch in den künstlichsten und leckersten Formen, ein kräftiges Stück Fleisch, das er selber zerschnitt. Meist war man allein mit ihm, manchmal kam noch ein Gast, gern empfangen und gern gelassen. Der Nachmittag gehörte der Wanderschaft. Man ging in den Wald oder nach Angre in das Dorf hinüber, besuchte die kleinen Bekannten, die er so liebte, setzte sich zum Kupferstecher Bernier und sah zu, wie er mit Nadel und Stift in die Platte grub, ging zum Advokaten, zum Pfarrer, zum Bierbrauer, zum Drucker, zum Schmied, oder fuhr mit der Bahn nach Valenciennes, diskutierte über Politik, Landwirtschaft, aber nie über Literatur. Oder wenn der Regen kam, saß man zu Hause, plauderte, schrieb Briefe, las aus Büchern, und er selbst griff dann tief hinein in das Fach seiner gedruckten Arbeiten und rezitierte sie, selber wieder ganz Glut und Feuer im erneuerten Wort. Oder man stöberte in alten Briefen, jeder einzelne erweckte Erinnerungen an erste Erfolge, erste Widerstände, und in diesen langen rauschenden Regentagen habe ich viel von seinem Leben erfahren. Abends saß man wieder still beisammen, las noch ein wenig oder er ging hinüber, sein Spielchen mit Laurent zu machen, am Schanktisch vor der Petroleumlampe wie ein alter Bauer, der sich vor dem Sturm in eine trockene Unterkunft geflüchtet. Um neun Uhr war dann alles vorbei, alles dunkel, Nacht, Stille und Schlaf.
Kleinbürgerlich, so schien seine Existenz in der Stadt, kleinbäuerlich, so schien sie auf dem Lande. Und doch war diese anspruchslose, unscheinbare Form ihm wesentlich, um die ganzen Kräfte gegen die Stadt, gegen die Zeit oder dort gegen die Natur und die Ewigkeit zu wenden. So wie er in der Stadt sich volltrank mit Ideen, mit Menschen, allenthalben Anteil nehmend, so nährte er sich in diesen sechs Monaten mit Stille und füllte seinen Körper mit Gesundung und Kraft, seine Werke gleichsam mit der Luft und der Atmosphäre des Landes. Dort spannte er seine Nerven aufs äußerste, hier ruhte er sie aufs sorgsamste aus. Aber auch hier waren sie wunderbar wach, seine Sinne, und der Bildner lauschte allem entgegen. Wie in eine ungeheure Mühle strömten alle die fruchtenden Dinge der ländlichen Welt in ihn ein, Korn um Korn, Einzelheit um Einzelheit, um hier gemahlen zu werden zur feinsten und sublimsten dichterischen Form. Nur wer diese Gegend kennt, weiß das ganze Wunder, wie hier eine Landschaft restlos in einen Menschen einging. Jeder Weg und jede Blume des Gartens, die heiligen Jahreszeiten des Landes und die stille Arbeit des Menschen, hier ist alles in einzelne Zeilen sublimiert und zeitlos geworden. Immer, wenn ich in seinen idyllischen Gedichten lese, sehe ich den Weg um den Garten, sehe ich die Rosen um das Fenster blühen, die Bienen an die Scheiben summen und fühle den Wind, den meertrunkenen, der über Flandern weht, und sehe inmitten ihn selbst aus seinem Haus in die Felder schreiten wie in eine Unendlichkeit hinein.
So teilte dieser Weise sein Leben. In Stadt und Land, in Schaffen und Ruhe, in Gegenwart und Zeitlosigkeit, denn er wollte immer alles intensiv, alle Zustände ungebrochen und in ihrer stärksten Stärke. In der letzten Dekade seines Lebens war dieser Umschwung geregelt wie das Jahr selbst, und wunderbar hielten sich Saint-Cloud und Caillou-qui-bique die Waage.
Dazwischen aber lag immer noch ein verlorener Monat: die Heufieberzeit des ersten Frühlings. Da wurde ihm die Landschaft, die so sehr geliebte, zur physischen Qual, eine gesteigerte Sensibilität für die Pollen verwandelte das, was für uns eine unfaßbare und süße Trunkenheit der Sinne ist: den Frühling, in brennenden körperlichen Schmerz. Die Augen begannen zu tränen, ein bleierner Ring umpreßte seinen Kopf, alle Sinne waren zerquält. So gewaltsam brach der Aufruhr der Natur in seinen feinfühligen Körper ein. Kein medizinisches Mittel – er hatte sie alle der Reihe nach versucht – vermochte etwas wider sein Heufieber; die einzige mögliche Gegenwehr war Flucht vor dem Grün, Flucht vor der Landschaft. Jene Frühlingsmonate verbrachte er immer am Meer, das mit seinem starken, fruchtbaren Atem das quellende Blühen der Blumen wegbläst, oder in jenem anderen steinernen Meer, das mit Staub und Gestank den Atem der Blüten frißt: in der Großstadt. Dieser Monat Mai war der verhaßteste, weil der unfruchtbarste seines Lebens. Verhaeren saß entweder in Brüssel, im vierten Stock eines Zinshauses am Boulevard du Midi, ein Gefangener seines Leidens, ohne Kraft zur Arbeit, ungeduldig den Sommer erwartend. Oder er flüchtete ans Meer, das er von Kindheit liebte, aber auch dort arbeitete er nie. »La mer me distrait trop«, sagte er immer, es war zu stark für ihn in einem anderen Sinn, es reizte zu sehr seine Phantasie. Er war dort ganz hingegeben dem Kommen und Gehen der Wellen, den Winden und Stürmen, er liebte es zu sehr, denn es war seine Heimat. Im nördlichen Meere war gewissermaßen alles vereinigt, wessen seine Seele bedurfte, die Kraft und die Düsterkeit, die ziellose und ungeordnete Gewalt, das Überdimensionale, das darzustellen er ewig sich verlockt fühlte, und er liebte dieses graue Meer, liebte all die grauen Gäste des Nordens, den Regen, die Dämmerung, den Sturm, liebte sie mehr als die farbige Pracht des Südens. Nirgends war er so sehr ganz daheim wie hier, und keine Schönheit der Welt konnte ihm, dem Flamen, sie ersetzen. Einmal war er in Italien gewesen, fasziniert und doch gequält von dem ewig strahlenden Himmel, von der gleichmäßigen Seligkeit dieser ihm zu ruhigen Welt, und als auf der Rückkehr am St. Gotthard zum erstenmal Regen an die Scheiben des Wagens niederprasselte, riß er das Fenster auf und ließ die harten Striemen durch seine Mähne fahren und seine Haut gerben. Nirgends fühlte er sich selbst so stark wie am Meer, zu stark, wie er sagte, als daß er noch gestalten könnte. Auch dieser Monat, der verlorene, war ihm nicht verloren, und ebendieses war ja die unvergleichliche Meisterschaft seines Lebens: alles sich schließlich durch Enthusiasmus umzuwandeln in Freude und Besitz.
Diese Flucht in die Natur und ihr städtisches Gegenspiel: in die kleinbürgerliche Einfachheit, sie machte dieses große, vielbewegte und weltumspannende Leben schlicht und einfach wie das eines Bauern oder eines Bürgers. Sie machte ihn frei von materieller Bedrängnis, sie befeuerte andererseits durch Ersparnis von sonst fruchtlos vergeudeter Energie die dichterische und vitale Kraft ins Unendliche. Nie habe ich bei einem Menschen die Gabe der Verteilung seiner wahren Betätigungen wunderbarer gesehen, nie mehr so glücklich das Problem gelöst, sich abzuschließen für die eigene Arbeit und doch gleichzeitig aufgetan zu sein für alle Menschen. Regelmäßig und harmonisch wie das Einatmen und Ausatmen war dieser Wechsel, und er gab er Existenz einen wunderbaren, heiter klingenden Rhythmus. Aber gewissermaßen zur Genialität gesteigert war bei ihm diese richtige Verteilung der Hingabe in der Freundschaft. Er liebte es, seine Freunde (wie alles in der Welt) intensiv zu haben, nicht in Rudeln, nicht in zerfetzten, hastigen Stunden, sondern immer in der stärksten Expansion ihres Wesens. Selten war er in Caillou, seiner Einöde, ganz allein. Die guten Freunde kamen gern auf Pilgerschaft für eine Woche des Jahrs, und nach solch einer Woche wußte man mehr voneinander als nach hundert flüchtigen Begegnungen, weil sie alle ins Haus einwuchsen und in sein Leben. Und so wie die Freunde bei ihm, wohnte er wiederum gerne bei den Freunden. Die Gasthöfe haßte er und die Hotels mit ihren Ansprüchen an Äußerlichkeiten, wo nichts die beseelte Atmosphäre eines Menschen erweckte. War er für ein paar Tage in Brüssel, so fand man ihn meist bei Montald, in Paris hauste er manchmal bei Carrière oder Rysselberghe, in Lüttich bei Nystens, und mein kleines Zimmer in Wien denkt noch dankbar an die Tage, die er, der ewig Genügsame, dort verbrachte. Das Bedürfnis, sich im Vertrauen hinzugeben, war ein unermeßliches bei ihm, es floß über bis ins Körperliche, er liebte, sich einzuhängen in seine Freunde, sie auf die Schultern zu schlagen, und nach jeder Ferne grüßte die Vertrauten Umarmung und Kuß. Verstimmungen und kleine Entfremdungen ließ sein offenes freies Herz nie aufwachsen, und seine Güte machte sich das Übersehen kleiner Fehler gewissermaßen zur Leidenschaft.
Solche Güte konnte natürlich nicht bestehen, ohne mißbraucht zu werden; er wußte es längst und ließ es doch lächelnd zu. Es war eigentlich leicht, sich an ihn heranzudrängen, leicht, ihn zu betrügen. Doch wußte er alles, wußte es immer und wollte es doch nicht wissen. Er durchschaute all die jungen Leute, unter deren Verehrung er die Bitte um Protektion spürte, kannte die Rückseiten des Lobes und die Lüge der Kameraderie, aber er blieb entschlossen, niemals bitter zu werden an Erfahrungen, und mit Absicht stählte und stärkte er sein Vertrauen. Ich erinnere mich an eine solche Episode, die mir charakteristisch scheint für die Unerschütterlichkeit seines Vertrauens. Ich war einmal zufällig bei Verhaerens Verleger Deman, einem seiner Jugendfreunde, gewesen, um zu fragen, ob ich dort nicht eine seltene Erstausgabe erwerben könnte, die mir zur vollständigen Sammlung noch fehlte. Deman besaß sie selbst nicht, aber mein Interesse an Verhaeren erkennend und unwissend, daß ich ihm nahestand, bot er mir die Korrekturbogen seiner letzten Werke mit zahlreichen handschriftlichen Veränderungen, zu zweihundert bis dreihundert Francs das Stück, an. Ich erzählte es Verhaeren, der sich königlich amüsierte. »Oh, er kennt mich, er kennt mich«, rief er lachend aus, »er weiß, daß ich Korrekturbogen nicht sehen kann, ohne nochmals und nochmals an den Gedichten herumzuarbeiten, und jetzt begreife ich, warum er, der sonst so Sparsame, mir acht- oder neunmal von jeder neuen Ausgabe die Fahnen schickt. Das machte tausend Francs Profit und ist ein ausgezeichnetes Geschäft für ihn.« Nun wußte er's. Aber doch, er lachte und – korrigierte das nächstemal gutmütig wieder die Korrekturbogen, sooft sie kamen.
Wunderbar war diese Gabe der Freundschaft bei ihm, und sie hatte jene ganz kostbare selbstlose Steigerung, die sonst auch den besten Menschen geheimnisvollerweise abgeht: er hatte die Leidenschaft, die Freundschaft über sich selbst hinaus zu erweitern, seine einzelnen Freunde untereinander zu binden. Nichts machte ihn glücklicher, als zu sehen, daß Menschen, die er liebte, sich untereinander verstanden und gleichsam neue Elemente sich chemisch zueinander banden. Und wirklich, wir Freunde Verhaerens sind heute irgendwie durch alle Länder des zerrissenen Europa eine Gemeinschaft der Liebe, eine Gemeinde inmitten der Nationen geblieben. Mißtrauen zu Menschen war ihm verhaßt. Er wollte lieber überschätzen, als einzelnen Menschen unrecht tun; jeden hörte er an, keinen mißachtete er, und keine Macht war darum fähig, sein Vertrauen zu erschüttern, wo es einmal tiefer eingewurzelt war. Ständig waren um ihn (um wen sind sie nicht?) Leute am Werke, um einen Keil zwischen ihn und seine großen Gefährten zu treiben, ihm Lemonnier zu entfremden, dem er ein Leben lang in kindlicher und wahrhaft rührender Anhänglichkeit ergeben war, oder zwischen Maeterlinck und ihm zur Zeit, da jener den Nobelpreis bekam, der ihnen ursprünglich gemeinsam bestimmt war, eine Rivalität zu schaffen. Er hörte zu, sprach nicht und bewahrte einen erbitterten Trotz, sich überzeugen zu lassen. Seine feine Natur wehrte sich gegen jeden Widerstreit, und ich erinnere mich noch jener unvergeßlichen Stunde, da er in Brüssel einmal strahlend zu Tisch kam, wie einer, dem ein großes, unverhofftes Glück widerfahren. Wir fragten ihn aus, und lächelnd und gutmütig wie ein Knabe erzählte er, er habe sich mit dem letzten seiner Feinde versöhnt, der seit zwanzig Jahren ihm in erbitterter Weise gegenübergestanden. Zufällig hatte er ihn in Brüssel im Klub getroffen, und der alte grollende Gegner war mit fremdem, befangenem Blick an ihm vorbeigegangen. »Da schien mir«, erzählte Verhaeren, »der Gedanke, daß ein lebender und wertvoller Mensch, mit dem ich einmal in der Jugend befreundet war, mir auswich und gewissermaßen mich negieren wollte, so lächerlich und kindisch, daß ich mich schämte, ein solches Gefühl auch nur scheinbar zu teilen.« Und spontan ging er auf seinen Gegner zu und reichte ihm die Hand. Strahlend kam er damals zurück. Nun war keiner auf der weiten Erde mehr wider ihn, er durfte wieder alle lieben, um allen zuteil zu sein. Nie habe ich ihn heiterer gesehen als an jenem Tage, da er zurückkam und erzählte: »Ich habe keinen Feind mehr.«
So war dieses reiche Leben, dieses große Herz gebaut, daß es Fenster hatte in die Welt, Türen für alle Menschen und doch fest beharrend in sich selbst bestand. Ich weiß nicht, ob ich's nacherzählend zu schildern vermag, wie unerschütterlich dieser Mensch in seinen Fundamenten ruhte, ob ich's vermag, die wunderbare Sicherheit seines Tuns und Lassens darzustellen. Er liebte das Leben, er liebte sich selbst, und es war ihm wohl in seinem eigenen Wesen; denn so wie er den anderen nicht mißtraute, so war er ohne Argwohn wider sich selbst. Was die meisten großen Dichter unterwühlt (in manchen wie Dostojewski oder Hebbel aber die eigentliche Größe schafft), die Frage des Gewissens, ob man recht tue oder unrecht, ob dies erlaubt sei und jenes nicht, diese Frage war stumm in ihm. Er folgte seinem Instinkt, hatte in seiner ursprünglichen Anständigkeit das Bewußtsein, immer das Rechte zu tun. Hatte er sich geirrt, so gab er es ruhig zu, ohne irgendwie zu bereuen (auch jenen letzten größten Irrtum seines Lebens, den Haß, hatte er in seinen letzten Zeugnissen kraftvoll von sich abgetan), aber es war ihm widerwärtig, sich mit irgend etwas zu quälen, etwas vor sich zu beschönigen. Einmal war er auf einem verbotenen Wege mit dem Rad gefahren. Man hielt ihn an, zitierte ihn vor das Amt. Der Richter, der ihn kannte, wollte ihm heraushelfen und legte ihm suggerierend die Entschuldigung nahe, er habe die Tafel des Verbots übersehen. Aber Verhaeren blieb hartnäckig. Er sei dort gefahren, obwohl er die Tafel gesehen, und wolle die Strafe lieber bezahlen, als sich loszulügen. Und er bezahlte willig die zehn Francs. Diese kleine Episode war unendlich charakteristisch für die selbstbewußte Sicherheit, die nichts und niemandem auswich, und darum konnte sein Leben auch so wunderbar geheimnislos werden, weil er sich niemals schämte und nichts zu verbergen hatte. Es lagen irgendwo in seiner Jugend wilde Exzesse, Schulden, Torheiten, versäumte und scheinbar vergeudete Jahre, die der reife Mann in ihm selbst nicht mehr verstand. Aber niemals klagte er sich an oder entschuldigte sich. »Im letzten«, sagte er mir einmal, »wollte ich mein Leben genau so gelebt haben, wie ich es lebte, ich liebe alles, wie es war, wie es ist, und werde es immer lieben.« Dieses Jasagen zu allen Dingen, ohne nach Gut und Böse zu fragen, war seine Kraft und das Fundament seiner unerhörten Sicherheit.
Und diese Sicherheit, sie war das, was ich in all den Jahren am meisten von ihm zu erlernen begehrte, weil ich sah, wieviel Freiheit in diesem unbekümmerten Leben war, wieviel Ersparung von Kraft und Energie in diesem geraden Vorwärtsblicken ohne Schielen nach rechts und links. Er war nicht von Hemmungen des Außen und Innen verzehrt und schwankend, immer ging er gradaus in seinen Willen hinein. Was die Leute über ihn dachten, war ihm gleichgültig. Schon im Äußerlichen unterwarf er sich nicht der Mode, kaufte sich seine Kleider fertig in den großen Magazinen, ging mitten durch Paris manchmal mit einem Arbeiterschal um den Hals wie irgendein Maschinenschlosser, setzte sich ruhig und ohne vor den Kellnern zu zittern in der schlechten Joppe in das beste Restaurant, wenn er gerade Lust hatte. Nie tat er sich Zwang an, alles Gerede war ihm gleichgültig. Auch in literarischen Dingen hatte er diese absolute Souveränität ohne Stolz. Er tat, was er konnte, kümmerte sich nicht um die Wirkung, freute sich an jeder Freude und lachte über jede Dummheit und Gehässigkeit.
Aus dieser Sicherheit und Unbesorgtheit kam jene Unmittelbarkeit, die sein tiefstes Geheimnis war. Nie habe ich einen Menschen freier zu Menschen sprechen gesehen. Das, was man Befangenheit nennt, kannte er nicht, weder nach unten noch nach oben. In Caillou ging er in den Wald, Holzfäller saßen um das Feuer und schnitzten sich aus dem frischen Holz Pantinen. Er setzte sich frohmütig zu ihnen, denn alles interessierte ihn, was Handwerk war, und sie sprachen zu ihm wie zu ihresgleichen, boten Tabak für seine Pfeife und hatten im Gespräch gar nicht das Gefühl, mit einem »Herrn«, mit einem Gebildeten zu sein. Oder er nahm auf einer Bank Platz, eine fremde Frau setzte sich zu ihm, plauderte wie mit dem Pfarrer oder mit dem Knecht; manchmal kamen Leute in sein Haus und baten ihn, er möge ihnen ein Gesuch schreiben oder einen Brief an ihren Sohn (man wußte in der Gegend nicht viel mehr von ihm, als daß er ein »Schreiber« war), und er tat es, ohne dabei überhaupt als Spaß zu empfinden, daß man ihn um eine solche niedrige Arbeit bemühte. Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Leute zu ihm kamen, freute ihn mehr als der größte Erfolg. Im Nachbardorf hatte sein Freund, der Zeichner, einen kleinen Orden bekommen, die ganze Gegend rüstete zum Bankett. Gutmütig und heiter setzte er sich zwischen die kleinen Bürger und hielt eine Rede, er kam zur Kindstaufe und Hochzeit und sprach das gleiche Gespräch der einfachen Leute. Und am nächsten Morgen war er vielleicht zum König Albert ins Schloß von Ostende geladen, sprach mit den Ministern und einflußreichsten Menschen der Zeit über wichtigste Probleme, gleich unbefangen bei diesen und jenen, immer unverstellt er selbst, gerade eingehend mit seinem klaren Blick in das Wesen der Menschen und darum immer frei, immer unbeschwert. Nie habe ich ihn unsicher gesehen in irgendeiner Situation, nie bog sich die gerade Achse seiner Kraft. Selbst in fremden Städten, wo er die Sprache nicht kannte, schlug er sich mit seinem sicheren geraden Willen wunderbar durch. Und aus diesen tausend kleinen anonymen Siegen erwuchs ihm neue Steigerung des Lebensgefühles ...
Neugier, die ihn nicht näher kannte, hat mich oft danach gefragt, ob er arm sei oder reich, unabhängig oder abhängig. Man wußte es nicht. Er lebte einfach und war doch immer gastfrei, er ging so schlicht wie ein kleiner Bürger und gab wieder Geld mit vollen Händen. Er hauste im Sommer in einer winzigen Scheune und weigerte sich doch ein ganzes Leben lang, für irgendeine Summe eine bestellte literarische Arbeit zu tun oder ein Amt zu nehmen. Denn Freiheit des Lebens und des Willens war ihm das Höchste. Er band sich an keinen Beruf, an keine Vereine und Stellungen, er nahm nicht Partei innerhalb einer Partei, sondern nur im spontanen menschlichen Entschluß, und er war frei auch vom letzten Zwange unserer Zeit: vom Geld. Er vermochte unabhängig zu bleiben, ohne je reich zu sein, nahm lieber die Einfachheit auf sich als die mindeste Beschränkung der Freiheit. Einen Teil seines väterlichen Erbes hatte er früh vertan; was ihm zur Zeit seiner Heirat blieb, war nichts als eine bescheidene Rente. Aber lieber sperrte er sich in zwei Zimmer, blieb einfach, als daß er sich Zwang antat, und nie, auch in seinen späteren Jahren, als der Erfolg sich allmählich umzumünzen begann, ließ er sich aus dieser Sicherheit herauslocken. Als junger Mann hatte er noch Leidenschaften gehabt, kostbare Bücher und Bilder gesammelt. Eines Tages verkaufte er sie alle, behielt nur die der Freunde, um frei zu sein, und das Wort »Besitz« hatte hinfort keine Macht mehr über ihn, dem alles durch seinen Enthusiasmus gehörte. Ihm war es gleichgültig bei einem Bilde, das er liebte, ob es in seinem Zimmer hing oder im Louvre, und selbst dieses winzige Häuschen in Caillou, das er so sehr als Eigen empfand und das er in seinen Versen der Welt schenkte, hatte er nur in Pacht. Als dann schließlich die Einnahmen reicher flössen, wußte er nicht mehr recht, was damit anzufangen: seine Wünsche waren befriedigt, seine Existenz in der äußeren Enge freier als in irgendeiner gesteigerten Form des Luxus und der Behaglichkeit. Ruhm und Erfolg blieben ohne Spur in seinem Leben. Nicht von Angst gehemmt, nicht von Sorge bedrückt, nicht von Ehrgeiz geplagt, nicht von Scham und Reue gequält, göttlich frei und unbesorgt lebte er mitten im Kleinbürgerlichen sein großes Leben, und an seiner Gegenwart habe ich gelernt, daß die wahre Freiheit nicht im Genüsse ist, im Überschwang der Wünsche, sondern in jener heiteren Wunschlosigkeit, die in der Tatsache der Freiheit selbst schon die höchste Erfüllung sieht.
So still und frei ging dieses Leben, und er liebte es und liebte diese seine Liebe. Seine Dichtung, was ist sie im letzten anderes als das unablässige Jasagen seiner Existenz zu allen ihren Einzelheiten, das Ja zur Gegenwart, zur Stadt, zur Natur, zu den Menschen und zu sich selbst? In allem sah er das Lebendige gleich liebenswert, und wenn er es in allen seinen Formen bejahte und bewunderte, so geschah dies nicht um ihretwillen allein, sondern um in ihnen sich zu steigern. Er begeisterte sich an seiner eigenen Begeisterung, um sich in dieser Leidenschaft des Seins stärker zu spüren, und manchmal war es geradezu Trunkenheit, die von ihm ausging. Immer, zu jeder Stunde war er bereit, diese Flammen aus sich zu werfen. In Galerien vor Bildern, unter neuen Menschen, im Theater, in der Vorlesung wuchs sein Wesen empor, er wurde plötzlich beredt, der Enthusiasmus hob ihn auf, er sprach dann wie ein Prediger, jeder Nerv belebte und die Brust spannte sich, tönend und breit. Nur wer ihn in einer dieser Ekstasen gesehen hat, hat ihn wirklich gekannt, und diese Ekstasen waren nicht nur flüchtige Augenblicke, sondern wuchsen manchmal wie ein Waldbrand über ganze Wochen und Monate. Als er von Rußland kam, war sein ganzes Wesen ein Rausch. Er erzählte stunden- und stundenlang, konnte sich gar nicht genügen im Erinnern, und man vermochte ihm nicht nahe zu sein in solchen Stunden, ohne selbst zu glühen. Und jede Begeisterung flammte ihn selber an. Einmal kam ich vor Jahren nach Brüssel, geradenwegs aus Straßburg her, am Morgen hatte ich noch auf dem Dom gestanden, denn es war jener denkwürdige Tag, da zum erstenmal ein Zeppelin seine Fernfahrt wagte. Ich erzählte ihm von der Stadt, wie sie aufgeschreckt von den Salutschüssen plötzlich tausendfach auf die Straßen stürmte, aus den Fenstern wuchs, um die Schornsteine sich rankte und wie mit einem einzigen Schrei gleichsam in den Himmel fuhr. Er glühte mit, denn jede neue Erfindung, jede Kühnheit des menschlichen Geistes riß ihn hin, und es gab da keine Grenzen der Nation. Am nächsten Tag kam er in mein Zimmer gestürzt, frühmorgens schon, die Zeitung in der Hand, er hatte die Katastrophe von Echterdingen gelesen und war verzweifelt, fast den Tränen nahe. Schon hatte er die Luft erobert gewähnt, schon glühte in ihm der funkelnde Traum der neuen Menschheit, und ein solches Unglück war ihm wie eine plötzliche Niederlage. Aber nicht die großen Dinge allein waren es, aus denen er solchen Enthusiasmus sog; der Mechanismus einer Uhr, eine Strophe in einem Gedicht, ein Bild, eine Landschaft, alles konnte ihn verzücken. Und da er von allen Dingen – ich sagte es ja früher schon – nur immer das Positive, das Schöpferische sah und sehen wollte, war das Leben für ihn unendlich reich und alles schön, weil es so endlos war. Er liebte über seine Heimat hinaus Europa und die Welt, liebte die Zukunft mehr als die Vergangenheit, weil in ihr noch neue Möglichkeiten des Neuen waren, ungeahnte Möglichkeiten der Ekstase und des Enthusiasmus, und ohne den Tod zu fürchten, liebte er unendlich das Leben, weil es tagtäglich voll so vieler heiliger Überraschungen war. Aber für ihn war die Welt nur insoweit wahr und jedes Ding nur insotief lebendig, als er selbst dazu ja gesagt hatte, und damit die Welt sich weite und damit sein eigenes Leben sich fülle, jubelte er sein Ja und Ja, freute sich an ihr immer mehr und mehr. In diesen Augenblicken der Ekstase wurde der alternde Mann manchmal leidenschaftlich jung und gleichzeitig prophetischer Patriarch, wenn er das stille Zimmer mit seinem Wort durchglühte: im feurigen Strom fühlte man sich aufgerissen, und das eigene Blut ging seinen Rhythmus mit. Man fühlte seine Lehre: »Toute la vie est dans l'essor« als die höchste Möglichkeit der Steigerung und Selbstbeglückung; wirklich, man konnte nicht kleinlich sein, stundenlang, tagelang, wenn man von ihm kam. Oh, diese Stunden der Ekstase, der Begeisterung! Ich habe nie bessere erlebt!
Um dieser Begeisterung und der Erhöhung und Steigerung seiner ganzen Kraft willen war ihm seine Arbeit ein tägliches Bedürfnis. In seiner Arbeit schraubte er sich auf, seine Verse trugen das lässige Gefühl in eine hohe Schwebe aus dem Tage, sie war für ihn ein unablässiges Bedürfnis der Erneuerung seiner Vitalität, ein Jungbrunnen seiner Freudigkeit. Er dichtete in den letzten Jahren seines Lebens nicht, wie die Laien es gerne beim Lyriker vermuten, aus gelegentlichem Bedürfnis, aus einer Gefühlsentladung, sondern aus einer gewissen ständigen Notwendigkeit der Selbststeigerung. Keinen Tag fast ließ er von der Arbeit. Sie war ihm nötig, nicht wie so vielen anderen aus Ehrgeiz oder Geldgier, sondern einzig als Tonikum des Bluts, als Hebel seiner seelischen Kräfte. Was für manche Menschen das morgendliche Turnen ist, ein Sport, eine Kräftigung, eine Bildung des ganzen körperlichen Wesens, war für ihn die Arbeit – irgendein Prozeß der Durchblutung seiner geistigen Persönlichkeit, ein Bedürfnis der Berauschung und Erhöhung durch Entzündung des Enthusiasmus. Seine Arbeit war mehr als Fleiß oder Inspiration: sie war schon Funktion seines Wesens. Ich erinnere mich, wie er mir vor Jahren einmal sagte, mit sechzig Jahren wolle er nichts mehr schreiben. Man sei dann müde, man hätte keine Möglichkeit der Erneuerung in sich, man wiederhole sich nur, man kompromittiere sein geschaffenes Werk. Ein paar Jahre vergingen, und im letzten Jahr, da ich ihn sah, in seinem achtundfünfzigsten, sagte er im Gespräch wieder zufällig, er wolle nach seinem siebzigsten Lebensjahre keinen Vers mehr schreiben. Ich konnte es mir nicht versagen, ihn lächelnd daran zu erinnern, daß er mir noch vor so kurzer Frist das sechzigste Jahr als Grenze der lyrischen Leistung geschildert, und sagte ihm meine Freude, daß er auf diesem ersten Entschluß nicht beharren wolle. Verhaeren sah mich an, erstaunt zuerst, dann lächelte er leise. »Es wird schon so sein, daß nach sechzig meine Verse nichts mehr wert sind, aber was soll ich tun? Man ist daran gewöhnt, es ist schon ein Zwang. Was hat man dann noch vom Leben? Die andern Dinge der Erhöhung sind fortgefallen, die Frauen, die Neugier, die Reisen, die Rüstigkeit, da bleibt die Arbeit, der Schreibtisch als einzige Regsamkeit. Es ist vielleicht nichts wert mehr für die andern, aber noch für einen selbst, denn wenn ich aufstehe von meinem Tisch, fühle ich mich immer leicht wie nach einem Flug.« Oh, er wußte alles, auch seine Fehler und Gefahren!
Und mit Arbeit begann er jeden Tag. Gleich vom Schlafe auf warf er sich in die feurige geistige Welt des lyrischen Aufschwungs. Längst war freilich sein Gedicht in diesen Jahren kein reiner Lyrismus mehr, unbewußte kristallinische Gestaltung, sondern arbeitsame, fast methodische Bewältigung dichterischer Form. Wie der Bauer, ehe er ackert, zuerst sich das Feld umspannt, das er zu durchpflügen hat, so teilte er innerlich seine Welt in Zyklen ein. Er arbeitete programmatisch, zäh, ruhig und bewußt, sein starker Wille umgrenzte den Kreis seiner Tätigkeit im voraus. Er arbeitete manchmal an mehreren Gedichten zugleich, aber immer waren sie zyklisch und stofflich gebunden, und sobald ein Teil des Pensums erschöpft war, rührte er nicht mehr daran. Ich weiß, daß ich vielleicht, wenn ich dies öffentlich sagte, manchem die Vorstellung des lyrischen Dichters Verhaeren herabmindern werde (all denjenigen, die einzig an die dumpfe, mystische Geburt des Gedichtes glauben), und ich könnte sie noch mehr enttäuschen, wenn ich verrate, daß auf seinem Arbeitstisch immer ein Reimlexikon lag und ein Dictionnaire, um für eng verwandte Worte noch engere Beziehungen zu finden, daß Verhaeren sogar seltsame Worte und besonders reimende Eigennamen in Heften und auf Blättern gelegentlich notierte, um sie in seinen Versen zu verwerten. Ja sogar, daß er, ehe er in einem Gedichte die Vision der Welt beschwor, ab und zu erst die Landkarte zu Rate zog. Verhaeren war allmählich auch ein großer Techniker des Gedichtes geworden und längst nicht der spontane Lyriker mehr, aber was wichtiger zählt: bis zum letzten Tag war sein Wesen selbst Lyrismus und Leidenschaft, sein Aufschwung vom Rhythmus des Blutes durchschüttert. Er hat kalt seine Gedichte vollendet und doch als glühender Mensch sie geschaffen. Nicht in brennendem Griff mehr, sondern wie ein harter Bauer Furche um Furche vom ewigen Acker der Welt, so erzwang er Tag um Tag einige Zeilen von seinen kosmischen Gedichten. Und diese Arbeit war seine Leidenschaft, sein Glück und seine ewige Verjüngung.
Seine liebste Arbeit in der Arbeit aber war die Vollendung. Leidenschaftlich gern bosselte und hämmerte er an den Versen herum, und seine Korrekturen zeigen die Unerbittlichkeit seines Willens zur Vollendung. Schlachtfelder sind seine Manuskripte, wo überquer die Leichen der gefallenen Worte liegen, darüber neue hinklettern, um wieder vom Unerbittlichen hingemäht zu werden, und durch diesen Tumult zwängt sich endlich die neue dauerhafte Form. Von einer Auflage zur andern goß er (nicht immer glücklich für mein Gefühl) die alten Verse um. Mit Vorsicht und Pietät suchten seine Freunde ihn davon abzuhalten, an diese Gedichte zu rühren, die für sie schon irgend etwas Persönliches und Einheitliches geworden waren. Aber er gab nicht nach, solange ein Buch noch nicht ausgedruckt war; immer und immer wieder stürzte er sich kopfüber in die Arbeit hinein, stach Silben und ersetzte Worte, und so stark war diese seine Furcht vor seiner eigenen Änderungswut, daß er die eigenen Bücher, wenn sie vollendet waren, fast nie mehr aufschlug. Ging er auf die Reise, so trug er wie ein Siouxhäuptling die große Tasche mit seinen Manuskripten um den Leib geschnallt, nachts lagen sie unter seinem Kopfkissen, so sehr fürchtete er für sie. War aber die Glut einmal vergangen, so war auch das Werk für ihn vergessen. Und tatsächlich, viele Gedichte verlor er selbst aus dem Gedächtnis. Wenn wir in alten Zeitschriften kramten oder an grauen Regentagen in vergilbten Manuskripten blätterten, war er selbst erstaunt, eigene Gedichte zu finden, von denen er nicht mehr wußte, wann und ob er sie geschrieben, und sein Urteil über jedes war klar und ohne Eitelkeit wie das eines Fremden.
Aber eine Feierstunde war dann immer, wenn irgendein großes Gedicht vollendet war, wenn er sich zurücklehnte in den Fauteuil, die frisch beschriebenen Blätter in der Hand, den Kneifer an die kurzsichtigen Augen gepreßt, und begann mit seiner sonoren, ein wenig harten Stimme vorzulesen. Allmählich spannten sich alle seine Muskeln, beschwörend hoben sich die Hände, bis in die letzte Locke seiner Mähne, das feinste Haar seines hängenden Schnurrbarts bebte den Rhythmus der Verse mit, und immer metallener klangen die Sätze, die Strophen in den Raum. Er faßte die Sätze, schwang sie auf, daß sie vibrierten an ihren Enden, immer klirrender, stärker und wuchtiger wurde die Rede, bis schließlich alles rings Rhythmus war und er und wir selbst davon erfüllt bis ins Blut. Wie eine Welle hoch steigend und tief fallend hob und senkte sich der Atem, manchmal sprühte wie Schaum darüber ein spitzes Wort, und der Sturm, der von ihm ausging, peitschte die breit fließenden Verse wild ineinander. Seine Gestalt, die sonst kleine, wurde groß in diesen Momenten des gesteigerten Enthusiasmus, und ich kann all diese Gedichte, die ich damals zum erstenmal hörte, nicht wieder lesen, ohne seine Stimme aus ihnen zu fühlen, die ihnen ihr tiefstes und wahrhaftiges Leben schenkte. Es waren die Feierstunden hinter der Arbeit, die kleinen Feste im stillen Tag, unvergeßlich uns allen, die wir sie erlebten, und umflort nur von dem tragischen Gedanken, daß sie unwiederbringliche sind.
Er war kein verborgener Mensch, ging ein und aus in den Straßen und Städten, und wer ihn suchte, fand ihn leicht. Kein Geheimnis war um sein Wesen, ganz offen stand er im klaren Licht des Lebens, und seine Züge, die ich hier aus Erinnerung nachzubilden versuche, waren vielen Menschen vertraut. Aber dahinter, gleichsam im Privaten seines Lebens, unsichtbar für die meisten und doch unablösbar wie der Schatten, der einer Form erst ihre Tiefe im Räume gibt, stand die stille Gestalt seiner Frau, fast unbemerkt und fast unbekannt. Man kann von seinem Leben nicht sprechen, ohne ihrer zu gedenken, die gleichsam die innere stetige Flamme, die Leuchtkraft seines Lebens war. Nur wer ins Haus kam, hat sie gekannt, und von diesen wirklich nur die Vertrauten, so bescheiden, so schattenhaft trat sie hinter ihm selbst zurück. Nie war sie abgebildet in den Journalen, nie sichtbar in den großen Gesellschaften oder Theatern, selbst zu Hause hat sie der gelegentliche Besucher kaum anders gesehen als bei Tisch oder flüchtig durch die Zimmer streifend wie ein Lächeln über ein ernstes Gesicht. Denn so hatte diese vornehme Frau den Sinn ihres Lebens gewandt, daß es ihr einziger Ehrgeiz war, unsichtbar in diesem Werk, in dieser Existenz unterzugehen, um wohltätig wirkend die dichterische Kraft ihres Gatten sich ganz entfalten zu lassen. Als Mädchen war sie Malerin gewesen und eine von seltener Begabung, aber von dem Tage ihrer Ehe hatte sie alle öffentliche Betätigung abgetan, einzig Gemahlin, einzig Gattin nur. Hie und da bloß in stillen Stunden malte sie ein kleines Bild, ein Porträt Verhaerens, ein Stück des Gartens, einen Blick in den Raum, und niemals gingen diese gleichsam biographischen Bilder auf Ausstellungen oder in die Öffentlichkeit. Wie schwer war es selbst den Freunden, diese Werke der Allzubescheidenen zu sehen! Nicht an sie, sondern an Verhaeren selbst mußte man sich wenden, um einmal heimlich in die kleine Scheune einzudringen, die als Atelier diente.
Diese Frau, Marthe Verhaeren, war das letzte Geheimnis seiner ganzen vorbildlichen Lebenskunst. Nur, die ihm nahestanden, wußten, woher diese wunderbare Stille und Sicherheit, die Beruhigtheit kam, die ihn umfing, nur wir ahnten, wer jener St. Georg seines Gedichtes war, der ihn aus der Umschlingung der Nervenschlangen, aus dem Tumult der Leidenschaften gerettet. Nur die Nächsten wußten, was für eine kluge, ernste Beraterin sie ihm in allen Dingen war, wieviel Mütterlichkeit sich in die Zärtlichkeit der Kinderlosen mengte und wie sie nie an den innersten Willen seiner Natur, an seine Freiheit, rührte. Man saß bei Tisch im Gespräch, zu zweit, zu dritt, der schwarze Kaffee wurde serviert, und mit einemmal, ohne Abschied, war sie verschwunden. Sie wollte die Männer im Gespräch mit ihm lassen, sie wußte, daß, wer nach Saint-Cloud oder zum Caillou gepilgert war, zu ihm, zum Dichter wollte, und wie überflüssig, wie drückend im Niveau die meisten Künstlerfrauen sind. Selbst zu den Generalproben seiner Dramen begleitete sie ihn nicht, der Gedanke war ihr unerträglich, daß Höflichkeit den Erfolg ihr mitdarbieten sollte, und auch auf Reisen ließ sie ihn gerne den Freunden zur Obhut. Unterirdisch war ihre Wirksamkeit, doch wunderbar wohltuend durch die stumme und gar nicht entsagende, sondern immer wieder neubeglückte Fähigkeit der aufopfernden Anonymität. Ihr ganzes Wesen wollte nichts als seine Freude und seinen Dank.
Und wahrhaft und wirklich, dies war ein Lohn, aller Mühen wert, denn wer wußte zu danken wie Verhaeren?! Die drei Bücher, die er ihr gewidmet, scheinen mir trotz der Weite seiner Werke vielleicht das Unvergänglichste, weil Persönlichste seiner Dichtung. Hier füllt für den, der ihn kennt, jedes einzelne Wort der Tonfall seiner Stimme. Der Raum, der kleine Garten, das Zimmer mit der Stille des Abends, das ganze Leben, sie sind erhoben darin wie gefaltete Hände. Und selbst in seinem Kriegsbuche, dem verzerrten Schrei seines Schmerzes, glänzt wie eine einsame Blume in einer Kraterlandschaft vulkanischen Gefühls das eine Gedicht an sie, wie sie im Gespräch draußen, von der Höhe von Saint-Cloud die Aeroplane kreisen sehen und wie sich in den Schauer des Krieges tragisch und schön ihr Fühlen des Mitleids mengt. Wunderbar hat er gedankt, solang noch Atem in seiner Seele war und ein Wort in seinem Munde. Nun das seine verklungen ist, ist es unsere, der Freunde, Pflicht, diesen Dank als Vermächtnis zu bewahren.
Klein war das Haus, klein war der Tisch. Jahre und Jahre lang saß man zu zweit, zu dritt zusammen, und außen war die Welt. Freunde gingen, Freunde kamen, gleichsam das ganze Leben, Völker und Zeiten strömten vorbei im Gemach, kamen und gingen. Aber da kam einmal ein neuer Gast, ein neuer Freund, kam öfter und öfter, um schließlich nicht mehr fortzugehen: der Ruhm. Tagtäglich ist er nun im Hause, ein geschäftiger, wohlmeinender, ungebetener und doch nicht ungern gesehener Gast. Frühmorgens schon wirft er ein Schock Briefe auf den Frühstückstisch, er schleppt Telegramme und Einladungen, er bringt Bilder, Münzen und Scheine, Bücher und Widmungen der Bewunderung aus allen Ländern auf den Tisch. Er zieht an seiner stürmischen Hand neue Gesichter herein: junge Dichter, die den Meister sehen wollen, Neugierige, Bittsteller und Reporter. Täglich macht er sich breiter, wird geschäftiger und heimischer, unablässig spürt man seine Gegenwart. Aber doch, der sonst so Lästige und Gefährliche, der leicht die Arbeit und das Werk des Gastgebers würgt und sich selbst breit an seine Stelle setzt, in diesem Hause wird er nicht frech und laut. Hier ist zu viel Sicherheit, zu viel Kraft. Hier vermag er nichts mit seiner Unruhe wider den inneren Frieden, er, der Ruhm, der große europäische Ruhm.
Ein wenig verwundert hatte man ihn zuerst betrachtet, als er kam und sich ins Haus drängte, etwa zu Verhaerens fünfzigstem Jahr. Längst hatte man ihn nicht mehr erwartet und ohne Neid an fremden Tischen sitzen gesehen. Man wies ihm in Caillou und Saint-Cloud nicht die Tür, allein der Ehrenplatz gehörte ihm nie. Nie durfte er in Verhaerens wirkliches Leben hinein. Und nie habe ich Verhaerens innere menschliche Größe sichtlicher und gewaltiger empfunden als an jener letzten Probe seines Ruhms. Ich war zu seinem Werk getreten in einer Zeit, als kaum die kleinsten Kreise ihn kannten und er bloß als einer der Décadents und Symbolistes galt. Seine Bücher, wer wußte damals wirklich um sie? Von meinen eigenen ersten Gedichten, den längst verworfenen, waren damals schon mehr Exemplare verkauft als von den seinen, in Paris zählte er überhaupt nicht mit, und nannte man den Namen Verhaeren, so sagten die Leute alle: »Ach ja, Verlaine!« Nie hatte ich ihn damals klagen gehört, nie rührte es ihn innerlich an, daß Maeterlinck, der um zehn Jahre Jüngere, mit seinem Ruhm in die Welt wuchs, daß kleinere, aber unsäglich geschäftigere Talente für die Großen der Zeit galten, indessen seine eigene Mühe verschattet war. Er arbeitete, tat sein Werk, ohne zu fragen, ohne zu hoffen, obwohl er sich der inneren Sicherheit seines Wesens, seines Werkes stets bewußt war. Keinen Schritt ist er dem Ruhm entgegengegangen, nie hat er sich den Rezensionsbettlern und zuvorkommenden Schmeichlern gesellt, an der Brücke zwischen seinem inneren Werk und dem äußeren Erfolg nicht einen einzigen Spatenschlag getan. Als aber der Ruhm dann kam und ihm in die losen Hände fiel, da nahm er ihn, der Fünfzigjährige, wie ein Geschenk, nahm ihn wie alle Dinge der Existenz als Steigerung, als Erneuerung des Lebens. Allmählich erwachte in seinen Versen ein gewisses nationales Pathos, nicht mehr aus Flandern sprach er, einer für ein Land, sondern als Flandern selbst, als Stimme seines Volkes, und die großen festlichen Ansprachen, die er auf der Weltausstellung hielt, waren schon beseelt von überpersönlichem Selbstbewußtsein, von der Resonanz des Ruhms. War ihm früher die Dichtung bloß persönliche Leidenschaft, so wurde sie ihm in den letzten Jahren gleichsam zum Apostolat, er fühlte in seinem lyrischen Wort, daß er Botschaft der Zeit zu verkünden hatte und den Ruhm seines Volkes. Nicht als einen Kranz, eitel um das Haupt geschlungen, hat er seinen Ruhm genommen, aber auch nicht unter die Füße getreten wie ein Verächtliches. Wie einen Kothurn nahm er ihn, der seine Gestalt erhöhte, seinen Blick über die Zeit hob und seine Stimme über die Menge. Nie habe ich einen Dichter – nehme ich die brüderlich geliebte Gestalt Romain Rollands aus – einen Dichter unserer Zeit seinen Weltruhm schöner und verantwortungsvoller tragen gesehen als Emile Verhaeren.
Mir aber war das seltsame und menschlich unendlich wichtige Erlebnis beschieden, diesen Ruhm, freundschaftlich nahe und ihn fördernd, Jahr um Jahr, Monat um Monat, wachsen zu sehen. Mitlebend und erlebend habe ich alle seine Phasen durchschritten, das erste Knistern in der dunklen, unsichtbaren Masse der Gleichgültigkeit und dann, wie ein Wort gleichsam das andere mit sich reißt und eines Tages plötzlich die Lawine niederstürzt, prächtig rauschend und gefährlich zugleich. Ich habe den großen Weltruhm täglich nahe gesehen, in Menschen und Briefe gekleidet, in Lockung und Verführung vermummt, in all seinen Masken von Eitelkeit und Gefahr; ich weiß heute um ihn, als hätte ich ihn selber erlebt. Und daß ich ihn so mitfühlen durfte, Tag um Tag, hat mich ohne Sehnsucht gemacht, ihn selber zu erreichen, es sei denn, daß ich mich stark und würdig wüßte ihn zu tragen wie dieser vorbildliche Mensch und so frei zu bleiben wie Verhaeren gegen diesen letzten und gefährlichsten Feind der Kunst und des aufrichtigen Lebens.
Erinnerungen jener Zeit, der guten und großen Zeit, kaum habe ich sie gerufen und schon drängen hundertfältig sie sich an, Tage und Stunden, Episoden und Worte, unendlicher, stürmischer Schwarm vor dem erinnernden Blick! Wie sie scheiden, wie sie schichten, Nutzloses wegraffen aus der Fülle beglückten Erlebens, Gespräche zu unbesorgt und froh, zu selig miterlebt, als daß ich mich mühte, sie treulich im Worte festzuhalten, einzelne Stunden vereinter Vertraulichkeit! Von euch allen ist in mir jetzt ein süßer Rauch von Wehmut, ein dunkelwogiges Gefühl der Dankbarkeit, formlos und verrinnend wie gedächtnisferne sommerliche Nächte. Als Ganzes fühle ich euch, sosehr mir das einzelne gewärtig ist, als selige Lehrjahre des Herzens, als erste Erkenntnis menschlicher Meisterschaft.
Erinnerungen, Erinnerungen, ihr mächtig anströmenden, wie euch dämmen? Städte, wo seid ihr, ihr gemeinsam durchwanderten? Lüttich, heute eine erstürmte Festung und damals eine friedliche Stadt, als wir mit Albert Mockel und den Freunden den Fluß hinauffuhren an einem hellen Sommertag, um den wunderlichsten aller Heiligen, Saint Antoine le Guérisseur, zu besuchen! O Gelächter und Ehrfurcht und Gespräche in der kleinen Klause, Gefühl der Gesundheit inmitten der Pilgerschar der Kranken! In Valenciennes dann, wo wir vor dem Museum standen! Brüssel, bei den Freunden, im Theater, auf den Straßen, in den Cafés, in den Bibliotheken, Berlin, die Stunde mit Reinhardt und das stille Gespräch oben nachmittags bei Eduard Stucken, diese Oase der Stille in Berlin! Wien, wo damals kein einziger Dichter kam, ihn zu sehen, und wir glücklich allein waren, die Stadt wie eine fremde zu beschauen, Hamburg, die Fahrt auf dem kleinen Dampfer durch den Hafen und dann draußen in Blankenese bei Dehmel, dessen offene Art und dessen Augen eines »klugen Schäfers« er so brüderlich liebte. Dresden und München zur Nacht, Salzburg im Herbstglanz, Leipzig bei Kippenbergs mit van der Velde, dem alten Freunde, Tage in Ostende, ihr Abende am Meer! O ihr vielen, vielen Fahrten im Gespräch, im Waggon, auf der Wanderschaft, was drängt ihr euch vor, ihr vergangenen! Nicht bedarf ich eures Drängens zur Liebe, nicht eurer Mahnung zum Gedächtnis!
Und Paris! Die kleinen Diners zu dritt und zu viert, die Stunden in meinem Zimmer, Stunden mit Rilke und Rolland und Bazalgette, wo ich die besten Menschen meines Lebens mit einemmal beisammen hatte um meinen Tisch! Jener Nachmittag bei Rodin, zwischen den Steinen und den Gestalten und er selbst schon steinern in seinem Ruhm darin! Die Wanderung durch das Louvre, durch die Museen, die vielfältigen bunten und immer heiteren Stunden, und dann wieder eine düstere dazwischen, jener Nachmittag im Balkankriege, da unten wie toll die Zeitungsausträger kläfften, Skutari sei gefallen, und wir schauernd saßen und sprachen, erschrocken, ob nicht morgen schon oder übermorgen der Wahnsinn eines Weltkrieges auf uns niederspringen könnte. Und dann die prophetische Stunde, da wir draußen standen und die Aeroplane kreisen sahen und sich sein Wort in Ekstase hochschwang über die Errungenschaft der Menschheit und dann wieder niederstürzte im Entsetzen, ob diese schöne Kraft nicht wieder der Zerstörung, dem Wahn des Militärs pflichtig gemacht würde! O Gestalten und Menschen im stillen Haus von Saint-Cloud, in meinem kleinen Zimmer in Paris, wie oft und wie oft noch lebt ihr in mir, umflort nun von dem Bewußtsein, für immer verloren zu sein!
Dann wieder in Caillou-qui-bique, die lieben Wege hinein ins Land, die bürgerlichen Gespräche mit dem Pfarrer, dem Advokaten, dem Nachbarn, Freunden von nah und fern! Stunden der Heiterkeit, der hellen, schalkischen Episoden wie jene, als ein kleiner Provinzadvokat Verhaeren Vorträge über die Dichtung hielt und ihm Anweisungen gab, wie er sich bessern möge, und Verhaeren ihm geduldig und ernst zuhörte und zwinkernd uns das laute Lachen verbot. Oder wie er seine ›Helena‹ vorlas und beschwörend in der Rezitation den Namen der Königin sprach und plötzlich die Tür aufsprang, die kleine wallonische Magd dastand und behauptete, man habe sie gerufen, bis sich zur gemeinsamen Heiterkeit erwies, daß sie die Beschwörung der Königin mit ihrem eigenen Namen bis in die Küche gehört und eilig ins Reich der Schatten gekommen sei.
Wie rasch flössen sie vorbei, diese Tage, und wie stark noch ist ihre Strömung mir heute unveränderlich im Herzen! O wie viel noch vermöchte ich zu erzählen, denn unvergeßlich sind ihre Einzelheiten, und manchmal im Traum selbst funkeln die Bilder in mir auf und haben dann den sonderbaren, kostbaren Glanz, wie wenn man durch Tränen sieht.
Eine Stunde nur, eine einzige, will ich noch lösen aus dem funkelnden Reigen, eine einzige mit all ihrer Schönheit der Wehmut. Wieder bin ich in Caillou-qui-bique, es ist Sommer, es ist Nachmittag. Prall liegt die Sonne auf dem roten Dach, die Rosen hängen schon müde, die Fliedergarben schwer, bald wird es Herbst sein. Ich sitze im kleinen Boskett vor dem Haus, das ein buntes Gewirr von Efeu und Winden in blaue Schatten verflicht. Ich habe ein paar Verse aus einem neuen Gedicht übersetzt, dann gelesen, nun sitze ich da und sehe die goldenen Bienen um die letzten Blüten schwärmen. Da, ein Schritt fest und schwer: Verhaeren kommt herein zu mir. Er legt mir die Hände auf die Schulter. »Je veux faire une petite promenade avec ma femme, il fait si beau.«
Ich bleibe. Ich weiß, er geht gerne am Nachmittag allein; und dann, es ist so schön, hier im Schatten zu sitzen und auf die reifenden Felder zu schauen. Nun tritt er aus dem Haus, ich sehe ihm nach, wie er, seine Frau am Arm, den Hut in der freien Hand, durch die kleine Pforte in die Wiese hinausschreitet, die schon Atem hat vom ersten Herbst. Wie geht er langsam, wie geht er gebückt! Vorgeneigt der Körper, grau das einstmals so feurige Haar, den Mantel hat ihm die Frau vorsichtig um die Schultern gelegt am heißen Tage. Langsam geht er, bedächtig und schwer, es ist nicht mehr sein Gang von früher, aufrecht und stark, und ich fühlte zum erstenmal: er schreitet ins Alter hinein. Auch Madame Verhaeren ihm zur Seite, auch sie scheint mir heute ermüdet; mit kleinen Schritten gehen sie hin, bedächtig, großväterlich, wie alte Bauern zur Kirche gehen. Ich weiß, nun kommt das Alter, und wie schön wird es werden, wie gut werden sie es tragen! Philemon und Baucis werden sie sein, gütig und still, abseits vom Leben, noch reifer und besser als bisher vielleicht. Der Tag ist warm, die Sonne scheint grell, aber doch, wie sie so gehen, spüre ich den Glanz von Herbst über dem Land. Jetzt hebt er die Hände in die Sonne hinein, hält sie dann über die Augen und blickt lange hinaus wie ins Unbekannte. Dann gehen sie wieder zu zweit still, still dahin, und lange schaue ich ihnen nach, bis ihre Gestalten im Wald verschwinden wie in einer fernen Zeit.
Diese Stunde wollte ich besinnen und jene andere noch, die ich damals nicht genug fühlte und deren schreckhaften Sinn ich erst später verstand. Im März 1914 war es, im ersten Frühling des fürchterlichen Jahres. Ahnungslos waren wir alle wie die ganze Welt. Ich sitze in Paris in meinem Zimmer, es ist Vormittag, und schreibe Briefe den Freunden daheim. Plötzlich höre ich Schritte die Treppe hinauf, den schweren bedächtigen Schritt Verhaerens, den ich so gut kenne, so freudig grüße. Ich springe auf, und wirklich, er ist es: nur für einen Augenblick war er gekommen, mir zu sagen, er reise nach Rouen. Ein junger belgischer Komponist hatte eines seiner Gedichte zu einem Melodrama umkomponiert und ihn flehentlich gebeten, er möge doch der Erstaufführung beiwohnen. Als der gütige Mensch, der er war, vermochte er nie, jungen Künstlern etwas zu verweigern. Morgen wollte er hinfahren und war nur gekommen, mich zu fragen, ob ich Rouen kenne und ob ich nicht mitfahren wolle. Denn er reiste so gerne mit Freunden, so ungern allein, und ich darf es wohl ohne Unbescheidenheit sagen: er reiste gerne mit mir. Für mich war es eine Freude, gerne sagte ich zu, im Nu war mein Koffer gepackt, und am nächsten Morgen schon trafen wir uns am Gare Saint-Lazare.
Seltsam: wie wir da fuhren von Paris nach Rouen, die ganzen vier Stunden sprachen wir von nichts anderem als von Deutschland und Frankreich. Nie hatte er so frei zu mir gesprochen wie damals, nie rückhaltloser seine Stellung zu Deutschland gesagt. Er liebte unendlich die große deutsche Kraft, die deutsche Idee, aber was er haßte und wem er mißtraute, war die deutsche Regierung, das Kastenwesen des Aristokratentums. Für ihn, dem Freiheit im Persönlichen auch der Sinn des Lebens war, konnte ein Land, das sich unterwarf, nie wahrhaft lebenswert sein, und Rußland zum Vergleich heranziehend, sagte er mir noch dieses, daß er jeden Menschen in Rußland als frei inmitten der allgemeinen Knechtschaft gefunden habe, während in Deutschland bei größerer Freiheit der einzelne doch stets zu viel Staatsgehorsam in sich fühle. Es war damals in diesem vorletzten Gespräch gleichsam Zusammenfassung alles dessen, was wir in hundert und hundert Einzelgesprächen erörtert, und ich besinne jedes Wort eben darum, weil es unwiderruflich geworden ist. Mit Erstaunen sah ich den Flug der Zeit, als wir plötzlich in Rouen waren, wir gingen durch die Straßen und standen nachts vor der Kathedrale, deren Schnörkel im Mondenschein wie weißes Spitzengewebe schimmerten. Wie seltsam war dieser Abend! Wir gingen dann nach der Geselligkeit des kleines Festes noch in ein winziges Café am Ufer, ein paar Verschlafene saßen dort, aber plötzlich stand ein alter schmutziger Mensch auf, ging auf Verhaeren zu und begrüßte ihn. Es war ein verkommener Jugendfreund, ein kleiner Maler, dreißig Jahre hatte Verhaeren von ihm nichts gehört und doch begrüßte er ihn wie einen Bruder. Viel von seiner ganzen Jugend war damals im Gespräche wach.
Am nächsten Tag fuhren wir zurück, wir hatten nur kleine Kofferchen und trugen sie in der Hand zum Bahnhof. Und gleichsam, als ob das Schwarze des Vergessens in mir mit einem Messer zerrissen sei, so sehe ich klar mitten im Dunkel der Erinnerungen den Bahnhof, den kleinen, hoch über der Stadt, sehe die blanken Gleise vor dem Tunnel, den einbrausenden Zug, sehe meine eigenen Hände, die ihm beim Aufsteigen in den Wagen helfen. Und ich weiß: es ist die Stelle, die Unglücksstelle, wo zwei Jahre später der Tod auf ihn sprang, und ich kenne die Schienen und Maschinen, deren Lob er gesungen und die ihn zerrissen wie die Tiere Orpheus, ihren Sänger.
Im Frühling war dies. Im Frühling 1914. Das furchtbare Jahr hatte begonnen. Still und friedlich wuchs es sich aus und reifte langsam in den Sommer hinein. Unserer Vereinbarung gemäß sollte ich den August wieder bei Verhaeren verbringen, war aber schon im Juli nach Belgien gekommen, um zuvor drei Wochen am Meere zu bleiben. Unterwegs hielt ich einen Tag in Brüssel Rast, und mein erstes war es, Verhaeren dort bei seinem Freunde Montald zu besuchen. Eine kleine Trambahn geht dahin, durch die breite Avenue zuerst und dann an Feldern vorbei in das Dorf Woluwe, und ich fand ihn dort bei seinem Freunde Montald, der gerade ein neues Bild von ihm, das letzte, vollendete. Oh, wie gut war es, ihn dort zu sehen! Wir sprachen von seiner Arbeit, dem neuen Buche ›Les flammes hautes‹, aus dem er mir die letzten Gedichte vorlas. von seinem Stück ›Les Aubes‹, das er für Reinhardt neu bearbeitete, von Freunden und vom Sommer, für den wir wieder viel gemeinsame Freude erhofften. Drei, vier Stunden saßen wir dort, der Garten glänzte hell und grün, die Garben wiegten sich im Winde, und die Welt atmete Frieden und Frucht. Ein kleiner Abschied war es darum nur, den wir nahmen, denn wir sollten uns ja bald wiedersehen im stillen Haus, und noch einmal umarmte er mich zum Abschied. Am zweiten August sollte ich kommen, noch einmal rief er mir es nach, am zweiten August! Ach, wir wußten nicht, welches Datum wir damals so leichtfertig bestimmten! Die Trambahn fuhr durch die sommerlichen Felder zurück. Lang sah ich ihn noch winkend mit Montald stehen, bis er für immer entschwand.
Ein paar stille Tage hatte ich jetzt noch in Le Coq. Aber dann zog es plötzlich gewitternd auf von der eigenen Heimat. Täglich fuhr ich hinüber nach Ostende, den Zeitungen näher zu sein, näher der Gewißheit. Dann kam das Ultimatum: nun wußte ich genug und übersiedelte nach Ostende, um bereit zu sein. Noch waren wir brüderlich beisammen, die belgischen Freunde Ramah und Crommelynck, wir gingen zu James Ensor (den die deutschen Soldaten ein Halbjahr später als Spion erschießen wollten), aber die Heiterkeit der Welt, sie schmolz hin in diesen furchtbaren Julitagen. Am letzten des Monats saßen wir noch in alter Gesinnung des Vertrauens beisammen in einem Café. Es trommelte fern, Soldaten zogen vorbei: Belgien mobilisierte. Mir schien es unverständlich, daß Belgien, das friedfertigste Land Europas, sich rüstete, und ich scherzte noch über die Maschinengewehre, die von Hunden gezogen wurden, spottete über den kleinen Trupp Soldaten, die mit wichtigen Mienen vorbeikamen. Aber die belgischen Freunde lachten nicht mit. Sie waren besorgt. »On ne sait pas, on dit, que les Allemands veulent forcer le passage.« Ich lachte nur. Schien es denn nicht wirklich das Unmöglichste aller Dinge, daß die Deutschen, die zu Tausenden mit friedlichen Gesichtern dort am Strand badeten, jemals mit Waffengewalt in Belgien einbrechen könnten! Und aus meiner tiefsten Überzeugung beruhigte ich sie: »Ihr könnt mich an diesem Laternenpfahl hängen, wenn Deutschland jemals in Belgien einmarschiert.«
Aber immer düsterer wurden die Nachrichten. Schon hatte Österreich den Krieg erklärt. Ich sah, das Verhängnis war unaufhaltsam, schrieb Verhaeren in einer Zeile meinen Entschluß heimzureisen und kam gerade noch zurecht, einen Platz im überfüllten Zug zu finden. Wie sonderbar war diese Reise! Verstörte Menschen, Angst und Unruhe im fiebernden Gesicht, sich gegenseitig noch steigernd im erregten Gespräch, keinem flog der Expreß schnell genug. Immer bog man sich zum Fenster hinaus, die Station zu erspähen; endlich Brüssel, wo man Zeitungen mit wirren, widersprechenden Nachrichten empfing, dann Lüttich, das noch ahnungslose, dann endlich die belgische Grenzstation Verviers. Erst als die Räder sich in Bewegung setzten, die Waggons langsam hinüberrollten vom belgischen ins deutsche Gebiet, war in uns allen ein unbeschreiblich wohltuendes Gefühl der Sicherheit und des Geborgenseins. Aber da, plötzlich, mitten auf freiem Felde blieb der Zug stehen, blieb stehen, fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Wir waren aus Belgien auf deutsches Gebiet gekommen, standen knapp vor Herbestal und konnten nicht in die Station! Wir warteten, warteten, länger, immer länger. Und irgendein Grauen, das noch keinen Sinn hatte, fiel mich plötzlich an, eine Furcht, deren Sinn ich mir selber verschwieg. Draußen rollten schwere Züge im Dunkel vorbei, hochbeladene Güterwagen, geheimnisvoll verschnürt mit Segeltuch, daß man ihren Inhalt nicht sehen konnte, aber einer neben mir flüsterte: Kanonen! Zum erstenmal stand er uns Blick in Blick gegenüber, der Krieg. Und ich spürte plötzlich die Angst meiner belgischen Freunde, den widersinnigen und grauenhaft unwahrscheinlichen Gedanken, daß Deutschland gegen Belgien sich rüste. Endlich war sie vorbei, die lange halbe Stunde, langsam fuhr der Zug in die Station ein. Ich stürzte auf den Perron nach Zeitungen. Es waren keine da. Ich wollte in den Wartesaal, welche aufzutreiben. Seltsam, der Wartesaal war versperrt, der Portier stand weißbärtig davor wie Petrus vor der Himmelstür. In seiner Würde war ein ernstes Geheimnis. Und innen hörte man Stimmen, und mir war es wie Klirren von Waffen. Auf einmal wußte ich, daß ich am nächsten Morgen nicht erst die Zeitung aufschlagen müsse, denn ich hatte das Grauenhafte kommen gesehen, den Einbruch Deutschlands in Belgien, den Krieg, den unaufhaltsamen europäischen Krieg. Vorne gellte die Lokomotive, ich mußte einsteigen und fuhr weiter hinein in das Reich, in den ersten August, in den Krieg.
Der feurige Vorhang war zwischen uns gefallen. Von Land zu Land gab es keine Brücke mehr. Was einstmals in allen Nerven und Gedanken freundschaftlich verbunden war, sollte sich nun Feind nennen (nie, nicht eine Stunde habe ich es vermocht!), die Stimmen der Vertrauten erreichten einander nicht mehr, nichts wußte man voneinander in den ersten Zeiten, in den ersten Monaten dieses apokalyptischen Jahres, alle Stimmen waren zerbrochen im Getöse der niederstürzenden Welt. Endlich vernahm ich seine, vernahm die Stimme Verhaerens durch den Qualm, und kaum erkannte ich sie mehr, so fremd, so gellend schien sie mir im Haß, die ich immer nur in Güte und reiner Leidenschaft gekannt.
Ich habe damals geschwiegen, öffentlich und im stillen. Zu ihm selbst war der Weg mir versperrt, aber auch zu jenen habe ich nicht gesprochen, die in Deutschland aus einem höchst mißverständlichen Rechtsgefühl plumpe Schmähung gegen sein ganzes vorhandenes Werk und seine Gesinnung warfen. Manche haben mich damals gedrängt, Zeugnis und Gegenzeugnis vorzuholen, aber in diesem Jahre habe ich es gelernt, in einer Welt von Gedrückten und Geknechteten mit verbissenen Zähnen zu schweigen. Nie hat mich und nie wird mich jemand dazu vermögen, den Richter oder den Tadler zu spielen über einen, der mir Meister war und dessen Schmerz ich selbst in seinem wildesten und widerwärtigsten Ausbruch als einen gerechten und aufrichtigen verehren mußte. Ich wußte, daß er, dessen Heimatsort bei Antwerpen vernichtet war, dessen Landgut von deutschen Soldaten besetzt, daß er, der Vertriebene seines Landes, wieder heimfinden werde zu dieser Welt, ich wußte, daß er stark genug war, sich selbst wieder zu bezwingen. Ich wußte, daß der Haß in diesem Menschen, dessen höchster Sinn die Versöhnung war, nicht dauerhaft sein könne, und schon im zweiten Jahre fand ich in der ergreifenden Einleitung zu seinem Buche des Hasses die alte Stimme. Schon fühlte ich ihn näher, und wieder ein Jahr später, 1916, als ich einen Aufsatz im europäischen Sinne: ›Der Turm zu Babel‹ im ›Carmel‹, einer westschweizerischen Monatsschrift, veröffentlichte, darin ich die Einigkeit des Geistes als höchstes Bekenntnis in der Zeit forderte, erhielt ich plötzlich durch einen gemeinsamen Schweizer Bekannten die Botschaft seiner innigen Zustimmung. Ich sage es frei, daß es ein glücklicher Tag für mich war, da ich diese Botschaft von ihm empfing, denn ich wußte, daß nun der Schleier zerrissen sei, der seinen Blick getrübt, und ich wußte, wie notwendig er uns sein würde in der späteren Zeit, leidenschaftlich in seiner Größe und vereinenden Kraft, wie er furchtbar in seinem Haß und Zorn gewesen war.
Aber anders kam es, anders! Ein Freund stürmt in mein Zimmer, die feuchte Zeitung noch in der Hand, und zeigt mir mit dem Finger ein Telegramm, er sei tot, zerrissen von den Maschinen. Sosehr ich gewohnt war an die Lüge der Zeitung im Kriege, an die Unwahrheit alles Gerüchtes, ich wußte diese Botschaft in der ersten Sekunde als wahr und unabänderlich. Irgendein ganz Ferner und Unerreichbarer war es, der da starb, einer, dem ich keine Botschaft senden durfte, dessen Hände zu drücken mir durch ein Gesetz verweigert war, den noch bei uns zu lieben allen anderen als Frevel und Verbrechen galt. Aber doch: mir war in dieser Stunde als müßte ich mit der Faust gegen die unsichtbare Mauer des Widersinns schlagen, die uns trennte und die mich wegriß, ihm auf seinem letzten Wege zu folgen. Kaum war einer, dem ich sagen konnte, was ich empfand. Denn dieser Schmerz und diese Trauer, galten sie denn nicht als Verbrechen in solchen Zeiten? Es war ein dunkler Tag.
Ein dunkler Tag, ich weiß ihn noch und werde ihn nie vergessen. Ich nahm die Briefe, die vielen, wieder hervor, um sie zu lesen und allein zu sein mit ihnen, um abzuschließen, was nun abgeschlossen war, denn ich wußte: nun kommt keiner mehr. Und doch, ich vermochte es nicht; etwas in mir weigerte sich noch, Abschied zu nehmen von einem, der in mir lebt als blutgewordenes Beispiel meiner Existenz, meines irdischen Glaubens. Und je mehr ich mir sagte, daß er tot sei, um so mehr fühlte ich, wieviel von ihm noch in mir atmet und lebt, und gerade diese Worte, die ich schreibe, von ihm Abschied zu nehmen für immer, haben mir ihn selbst wieder lebendig gemacht. Denn erst die Erkenntnis großen Verlustes weist des Vergänglichen wahren Besitz. Und nur die unvergeßlichen Toten sind uns ganz lebendig!