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Dem harten Fall des Beils folgt eine gewisse betretene Stille. Mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. wollte der Konvent nur eine blutrote Scheidelinie ziehen zwischen dem Königtum und der Republik. Kein einziger unter den Abgeordneten, von denen die meisten nur mit heimlichem Bedauern diesen schwachen, gutmütigen Mann unter das Fallbeil schoben, denkt zunächst daran, auch Marie Antoinette anzuklagen. Ohne Beratung bewilligt die Kommune der Witwe die angeforderten Trauerkleider, die Überwachung lockert sich merklich, und wenn man die Habsburgerin und ihre Kinder überhaupt noch zurückbehält, so geschieht es in dem Gedanken, mit ihrer Person ein wertvolles Pfand in Händen zu haben, das Österreich fügsam machen soll.
Aber die Rechnung stimmt nicht; der französische Konvent überschätzt das habsburgische Familiengefühl ungeheuer. Kaiser Franz, völlig stumpf und gefühlsunfähig, habgierig und ohne jede innere Größe, denkt nicht daran, aus der kaiserlichen Schatulle, in der neben dem Florentiner noch unzählige andere Kostbarkeiten und Juwelen liegen, auch nur einen einzigen Edelstein zu holen, um seine Blutsverwandte freizukaufen; außerdem setzt die österreichische Militärpartei alle Hebel in Bewegung, um die Unterhandlungen zunichte zu machen. Zwar hat Wien anfangs feierlich erklärt, man beginne diesen Krieg nur um einer Idee und keineswegs um Eroberungen und Entschädigungen willen, aber – die Französische Revolution wird bald ebenso ihr Wort verleugnen – es liegt im Wesen jedes Krieges, daß er unaufhaltsam zum Annexionskrieg wird. Zu allen Zeiten lassen sich die Generale nicht gern im Kriegführen stören; zu selten für ihren Geschmack erweisen ihnen die Völker diese gute Gelegenheit, darum je länger, je lieber. Es hilft nichts, daß der alte Mercy, von Fersen immer wieder gedrängt, den Wiener Hof erinnert, Marie Antoinette sei dadurch, daß man ihr den Titel der Königin von Frankreich genommen habe, wieder Erzherzogin von Österreich und Mitglied der kaiserlichen Familie geworden, der Kaiser habe also die moralische Pflicht, sie zurückzufordern. Aber wie belanglos ist eine gefangene Frau in einem Weltkrieg, ein lebendiger Mensch im zynischen Spiel der Politik! Überall bleiben die Herzen kalt und die Türen verschlossen. Jeder der Monarchen behauptet tief ergriffen zu sein; keiner rührt eine Hand. Und Marie Antoinette könnte das Wort wiederholen, das Ludwig XVI. zu Fersen gesagt: »Die ganze Welt hat mich verlassen.«
Die ganze Welt hat sie verlassen, Marie Antoinette fühlt es bis in ihr einsames verriegeltes Gemach. Aber noch ist der Lebenswille dieser Frau ungebrochen, und aus diesem Willen wächst die Entschlossenheit, sich selber zu helfen. Die Krone hat man ihr nehmen können, aber eines hat diese Frau, obwohl schon müden und gealterten Angesichts, sich bewahrt: die merkwürdige Macht und Magie, Menschen ihrer Umgebung zu gewinnen. Alle Vorsichtsmaßregeln, die Hébert und die andern Mitglieder der Stadtverwaltung getroffen haben, erweisen sich als wirkungslos gegen die geheimnisvolle magnetische Kraft, die für alle diese kleinbürgerlichen Wächter und Beamten noch immer von der Nähe und dem Nimbus einer wirklichen Königin ausstrahlt. Schon nach wenigen Wochen sind alle oder fast alle die geschworenen Sansculotten, die sie bewachen sollten, aus Wächtern zu heimlichen Helfern geworden, und trotz der strengen Verordnungen der Kommune wird die unsichtbare Wand durchbrochen, die Marie Antoinette von der Welt trennt. Dank der Hilfe der gewonnenen Wächter werden unablässig Botschaften und Nachrichten aus dem Haus und in das Haus geschmuggelt, teils mit Zitronensaft oder mit unsichtbarer Tinte auf kleine Zettel geschrieben, welche dann als Kork der Wasserflasche oder im Luftschacht des Ofens weiterbefördert werden. Eine Hand- und Gebärdensprache wird erfunden, um, den wachsamen Kommissaren zum Trotz, die Königin die täglichen Geschehnisse der Politik und des Krieges wissen zu lassen; außerdem wird vereinbart, daß ein eigens bestellter Kolporteur besonders laut die wichtigsten Nachrichten vor dem Temple ausruft. Allmählich erweitert sich dieser heimliche Kreis der Mithelfer unter den Wächtern. Und nun, da Ludwig XVI., der durch seine ewige Unentschlossenheit jede wirkliche Tat lähmte, nicht mehr an ihrer Seite ist, wagt Marie Antoinette, von allen verlassen, selbst entschlossen den Versuch ihrer Befreiung.
Gefahr ist ein Scheidewasser. Was in mittleren und lauen Lebenszuständen sich undeutlich vermengt – Kühnheit und Feigheit der Menschen –, das sondert sich in dieser Probe. Die Mutlosen der alten Gesellschaft, die Selbstsüchtigen unter dem Adel sind alle, sobald der König nach Paris übergeführt wurde, als Emigranten geflohen. Nur die wirklich Getreuen sind geblieben, und jeder von den Nichtgeflüchteten darf als unbedingt verläßlich gelten, denn für jeden ehemaligen Diener des Königs ist der Aufenthalt in Paris tödliche Gefahr. Zu diesen Tapferen gehört in erster Reihe der frühere General Jarjayes, dessen Frau Hofdame Marie Antoinettes gewesen war. Um der Königin jederzeit zur Seite zu stehen, ist er eigens aus dem sicheren Koblenz zurückgekommen und hat wissen lassen, er sei zu jedem Opfer bereit. Am 2. Februar 1793, vierzehn Tage nach der Hinrichtung des Königs, erscheint nun bei Jarjayes ein völlig fremder Mann und macht ihm den überraschenden Vorschlag, Marie Antoinette aus dem Temple zu befreien. Jarjayes wirft einen mißtrauischen Blick auf den Unbekannten, der aussieht wie ein echter und rechter Sansculotte. Sofort vermutet er einen Spitzel. Aber da überreicht ihm der Fremde ein winziges, unverkennbar von der Hand der Königin geschriebenes Zettelchen: »Sie können Zutrauen zu dem Manne haben, der zu Ihnen in meinem Namen spricht und Ihnen dies Billett übermittelt. Seine Gefühle sind mir bekannt, seit fünf Monaten haben sie sich nicht gewandelt.« Es ist Toulan, einer der ständigen Wächter des Temple, ein merkwürdiger psychologischer Fall. Am 10. August, als es galt, das Königtum zu zerschmettern, war er einer der ersten Freiwilligen bei dem Sturm auf die Tuilerien gewesen; die Belobungsmedaille für diese Tat schmückt stolz seine Brust. Dieser offen bewiesenen republikanischen Gesinnung dankt es Toulan, daß der Stadtrat ihm, als einem besonders Verläßlichen und Unverführbaren, die Bewachung der Königin anvertraut. Aber aus Saulus wird ein Paulus; gerührt von dem Unglück der Frau, die er bewachen soll, wird Toulan der allerergebenste Freund derjenigen, gegen die er die Waffe zum Sturme getragen, und so viel aufopfernde Hingebung erweist er der Königin, daß Marie Antoinette in ihren geheimen Mitteilungen ihn immer mit dem Decknamen »fidèle«, »der Getreue«, bezeichnet. Von all denen, die in die Befreiungsverschwörung verwickelt sind, ist dieser sonderbare Toulan der einzige, der nicht aus Geldgier seinen Kopf wagt, sondern aus einer Art humaner Leidenschaft, vielleicht auch aus Lust an verwegenem Abenteurertum: immer lieben ja die Tapferen die Gefahr, und es liegt ganz in der Logik der Tatsachen, daß die andern, die nur ihren Vorteil suchten, sich, sobald die Sache aufflog, geschickt zu retten wußten, während einzig Toulan seine Tollkühnheit mit dem Leben gezahlt hat.
Jarjayes vertraut dem Fremden, aber er vertraut ihm nicht ganz. Ein Brief kann immerhin gefälscht sein, jede Korrespondenz bedeutet Gefahr. So verlangt Jarjayes von Toulan, er solle ihm ermöglichen, in den Temple einzudringen, um mit der Königin persönlich alles zu besprechen. Das scheint zunächst unausführbar, einen fremden Mann, einen Edelmann, in diesen engumstellten Turm einzuführen. Aber inzwischen hat die Königin unter der Wachmannschaft durch Geldversprechungen bereits neue Helfer gewonnen, und wenige Tage später schon überbringt ihm Toulan ein neues Zettelchen: »Jetzt, da Sie entschlossen sind, hierherzukommen, wäre es besser, wenn es bald geschähe; aber um Gottes willen geben Sie acht, nicht erkannt zu werden, besonders nicht von der Frau, die hier mit uns eingeschlossen ist.« Diese Frau heißt Tison, und der Instinkt der Königin, daß sie eine Spionin sei, ist richtig: an ihrer durchtriebenen Achtsamkeit wird alles mißlingen. Aber zunächst gelingt noch alles: Jarjayes wird in den Temple geschmuggelt, und zwar auf eine Weise, die an eine Detektivkomödie erinnert. Jeden Abend kommt nämlich ein Laternenanzünder in das Geviert des Gefängnisses; auf Befehl der Stadtverordneten muß der ganze Umkreis besonders gut erhellt werden, denn Dunkel könnte eine Flucht begünstigen. Diesem Laternenanzünder nun hat Toulan eingeredet, ein Freund von ihm möchte sich einmal den Temple zum Spaß ansehen, er solle ihm seine Kleider und seine Ausrüstung für einen Abend borgen. Der Laternenanzünder lacht und geht gern mit dem gegebenen Geld Wein trinken. So vermummt, gelangt Jarjayes glücklich bis zur Königin und vereinbart mit ihr einen kühnen Fluchtplan: sie und Madame Elisabeth sollten, als Männer verkleidet, in Uniformen von Stadtverordneten und mit gestohlenen Legitimationen versehen, den Turm verlassen, als ob sie Magistratspersonen wären, die gerade eine Inspektion abgehalten hätten. Schwieriger hält es, die Kinder durchzubringen. Doch da will ein guter Zufall, daß jener Laternenanzünder sich oft auf seinem Gang von seinen halbwüchsigen Kindern begleiten läßt. Man wird also seine Rolle von einem entschlossenen Edelmann spielen lassen, der die beiden Kinder, als ob es die sonst mitgenommenen wären, in ärmlicher Tracht nach dem Lichtanzünden gemächlich durch die Sperre führt. In der Nähe sollen dann drei leichte Wagen warten, der eine für die Königin, ihren Sohn und Jarjayes, der zweite für ihre Tochter und den zweiten Verschworenen, Lepître, der dritte für Madame Elisabeth und Toulan. Mit fünf Stunden Vorsprung vor der Entdeckung hoffen sie in diesen leichten Wagen jeder Verfolgung zu entgehen. Die Königin schreckt die Verwegenheit des Planes nicht. Sie stimmt zu, und Jarjayes erklärt sich bereit, mit dem zweiten Verschworenen, Lepître, in Verbindung zu treten.
Dieser zweite Verschworene, Lepître, ein ehemaliger Schulmeister, geschwätzig, klein und hinkend – die Königin schreibt selber: »Sie werden den neuen Mann sehen, sein Äußeres nimmt nicht für ihn ein, aber er ist unbedingt nötig, und wir müssen ihn gewinnen« –, spielt in dieser Verschwörung eine sonderbare Rolle. Ihn bestimmt nicht Menschlichkeit und noch weniger Abenteuerlust zur Teilnahme, sondern die große Summe, die ihm Jarjayes verspricht, – leider ohne sie bereit zu haben, denn mit dem eigentlichen Geldmann der Gegenrevolution in Paris, dem Baron de Batz, hat merkwürdigerweise der Chevalier Jarjayes keine Verbindung; ihre beiden Komplotte laufen beinahe gleichzeitig nebeneinander, ohne sich zu berühren, und keiner weiß vom andern. So wird Zeit verloren, wichtige Zeit, weil man erst den früheren Bankier der Königin ins Vertrauen ziehen muß. Schließlich, nach langem Hin und Her, ist das Geld beschafft und bereit. Aber inzwischen hat Lepître, der als Mitglied des Stadtrats bereits die gewünschten falschen Pässe besorgt hatte, der Mut verlassen. Ein Gerücht hat sich verbreitet, daß die Schranken von Paris geschlossen und alle Wagen auf das genaueste durchsucht werden sollen: der vorsichtige Mann bekommt Angst. Vielleicht hat er aus irgendeinem Anzeichen auch bemerkt, daß die Spionin Tison auf der Lauer liegt; jedenfalls verweigert er seine Hilfe, und damit ist es unmöglich, alle vier Personen gleichzeitig aus dem Temple herauszubekommen. Einzig die Königin wäre zu retten. Jarjayes und Toulan suchen sie zu überreden. Aber mit wirklicher Vornehmheit weist Marie Antoinette den Vorschlag zurück, sich allein befreien zu lassen. Lieber verzichten, als ihre Kinder verlassen! Mit fühlbarer Bewegtheit begründet sie Jarjayes diesen unumstößlichen Entschluß: »Wir haben einen schönen Traum gehegt, das ist alles. Aber es war ein großer Gewinn, bei diesem Anlaß abermals einen neuen Beweis Ihrer Hingabe an mich zu erfahren. Mein Vertrauen in Sie ist unbeschränkt. Sie werden bei jeder Gelegenheit Charakter und Mut in mir finden, aber das Interesse meines Sohnes ist das einzige, das mich lenken muß, und soviel Glück es auch für mich bedeutete, hier herauszukommen, so kann ich doch nicht zustimmen, mich von ihm zu trennen. Ich erkenne nur zu gut Ihre Anhänglichkeit in dem, was Sie mir gestern sagten, und glauben Sie, daß ich sowohl fühle, wie sehr Ihre Gründe meinem eigenen Vorteil dienen, als auch, daß eine solche Gelegenheit sich niemals mehr bieten wird. Aber ich könnte an nichts Genuß haben, wenn ich meine Kinder hier zurücklassen müßte.«
Jarjayes hat seine ritterliche Pflicht getan; jetzt kann er der Königin in Paris nicht weiter behilflich sein. Aber noch einen Dienst vermag der Getreue ihr zu erweisen: durch ihn ergibt sich die sichere Möglichkeit, an die Freunde und Verwandten im Ausland ein letztes Liebes- und Lebenszeichen zu bringen. Kurz vor seiner Hinrichtung hatte Ludwig XVI. seiner Familie seinen Siegelring und ein kleines Büschel von Haaren durch seinen Kammerdiener als Andenken übermitteln lassen wollen, die Stadtverordneten aber, die hinter dieser Gabe eines Todgeweihten noch immer ein geheimnisvolles Verschwörungszeichen vermuteten, hatten diese Reliquien beschlagnahmt und versiegeln lassen. Dieses Siegel löst der für die Königin immer tollkühne Toulan und bringt die Andenken Marie Antoinette. Aber sie fühlt, bei ihr sind sie nicht lange mehr sicher geborgen, und da sie nun endlich einen verläßlichen Boten besitzt, übersendet sie den Ring und die Haare an die Brüder des Königs zu sicherer Hut. Dazu schreibt sie an den Grafen von Provence: »Da ich einen treuen Menschen besitze, auf den wir zählen können, nehme ich die Gelegenheit wahr, um Ihnen, meinem Bruder und Freund, dieses Vermächtnis zu senden, das wohl in Ihrer Hand am besten aufbewahrt werden kann. Der Überbringer wird Ihnen sagen, auf welche wunderbare Art wir in den Besitz dieser kostbaren Erinnerung kommen konnten. Ich behalte mir vor, Ihnen den Namen dessen zu nennen, der uns jetzt so nützlich ist. Die Unmöglichkeit, in der ich mich bisher befunden habe, Ihnen Nachrichten von uns zu geben, und das Übermaß unseres Unglücks lassen uns noch stärker die grausame Trennung fühlen. Möge sie nicht mehr lange dauern! Bis dahin umarme ich Sie und liebe Sie, und Sie wissen, es geschieht von ganzem Herzen.« Einen ähnlichen Brief richtet sie an den Grafen von Artois. Jarjayes aber zögert immer noch, Paris zu verlassen, noch immer hofft der Tapfere, durch seine Gegenwart Marie Antoinette nützlich sein zu können. Endlich jedoch wird sein Bleiben zur sinnlosen Gefahr. Kurz vor der Abreise empfängt er durch Toulan noch ein letztes Schreiben der Königin: »Leben Sie wohl; da Sie jetzt entschlossen sind, abzureisen, halte ich es für besser, daß es sofort geschieht. Mein Gott, wie ich Ihre arme Frau beklage! Und wie glücklich werde ich sein, wenn wir bald vereint sein können. Niemals werde ich Ihnen dankbar genug sein können für alles, was Sie für uns getan haben. Adieu! Wie grausam ist dieses Wort!«
Marie Antoinette, sie ahnt, sie weiß es, dies ist das letzte Mal, daß sie vertraute Botschaft in die Ferne senden kann: eine einzige, eine allerletzte Gelegenheit ist ihr geboten. Hat sie niemandem anderen noch ein Wort zu sagen, ein Liebeszeichen zu übermitteln als diesen beiden, den Grafen von Provence und Artois, denen sie wenig zu danken hat und die nur das Blut zu Hütern des brüderlichen Vermächtnisses bestimmt? Hat sie wirklich gar keinen Gruß für den, der ihr das Teuerste auf Erden außer ihren Kindern gewesen, für ihn, für Fersen, von dem sie gesagt, daß sie ohne Nachricht von ihm »nicht leben kann«, dem sie noch aus dem Höllenkreis der belagerten Tuilerien jenen Ring gesandt, damit er sich ihrer ewig erinnere? Und nun, bei dieser letzten, allerletzten Gelegenheit sollte sich nicht noch einmal ihr Herz ihm entgegenheben? Aber nein: die Memoiren Goguelats, die jenen Abschied Jarjayes dokumentarisch genau mit den Nachbildungen der Briefe veröffentlichen, enthalten kein Wort von Fersen, keinen Gruß; unser Gefühl, das hier aus einem inneren Seelenzwange eine letzte Botschaft erwartete, bleibt enttäuscht.
Aber doch, das Gefühl behält immer im letzten recht. Tatsächlich hat Marie Antoinette – wie könnte es anders sein! – den Geliebten auch in ihrer letzten Einsamkeit nicht vergessen, und jene Botschaft der Pflicht an die Brüder war vielleicht nur Vorwand, um die eigentliche zu verdecken, die Jarjayes treulichst ausgeführt hat. Nur hatte 1823, als jene Memoiren erschienen, schon jene Verschwörung des Schweigens um Fersen begonnen, welche die intime Beziehung vor der Nachwelt verbergen sollte. Auch hier war die für uns wichtigste Briefstelle (wie gewöhnlich im Falle Marie Antoinettes) von byzantinischen Herausgebern unterdrückt worden. Erst nach einem Jahrhundert tritt sie zutage, und sie zeigt: niemals war das leidenschaftliche Gefühl der Königin stärker als in diesen Augenblicken vor dem Untergang. Um ständig der tröstenden Erinnerung an den Geliebten im Blute verbunden zu sein, hatte Marie Antoinette sich einen Ring anfertigen lassen, der statt der königlichen Lilienzeichen (einen solchen Ring hatte sie Fersen gesandt) das Wappen Fersens trug: wie er an seinem Finger die Devise der Königin, trug sie an dem ihren in jenen Tagen des Fernseins das Wappen des schwedischen Edelmanns; jeder Blick auf die eigene Hand muß die Königin von Frankreich an den Entfernten erinnern. Und da sich jetzt endlich die Möglichkeit ergibt, ihm noch ein – sie ahnt es, das letzte – Liebeszeichen zu senden, will sie ihm zeigen, daß sie mit diesem Ring auch das Gefühl bewahrt, das sie ihm geweiht. Sie drückt das Wappen mit der Umschrift in heißes Wachs und sendet den Abdruck durch Jarjayes an Fersen: kein Wort braucht es mehr, in diesem Zeichen ist alles gesagt. »Den Abdruck, den ich hier beischließe,« schreibt sie an Jarjayes, »wollen Sie, bitte, der bewußten Persönlichkeit übermitteln, die im vergangenen Winter aus Brüssel zu mir kam. Sagen Sie dem Betreffenden, daß diese Devise niemals gültiger war als jetzt.«
Was aber kündet jene Inschrift auf dem Siegelring, den sich Marie Antoinette eigens hatte anfertigen lassen und die »niemals gültiger war als jetzt«? Jenem Siegelring, in den sich eine Königin von Frankreich das Wappen eines kleinen schwedischen Adeligen hatte einschneiden lassen und den sie als einzigen aus ihrem einstigen Millionenschmuck noch im Gefängnis an ihrem Finger bewahrt?
Fünf italienische Worte formen die Devise, und sie lauten, diese Worte, die zwei Zoll vor dem Tode noch wahrer sind als jemals: »Tutto a te mi guida«, »Alles führt mich zu dir.«
Alle Inbrunst des Todes, alle Glut des »Nie wieder« schlägt aus diesem stummen Gruß einer Todgeweihten noch einmal mächtig empor, ehe der lebendige Leib zu Staub zerfällt, und der Entfernte, er weiß, daß dies Herz in Liebe für ihn bis zur letzten Stunde schlägt. In diesem Gruß des Abschieds ist der Gedanke der Ewigkeit angerufen, die Unvergänglichkeit des Gefühls im Vergänglichen neu beschworen. Das letzte Wort dieser großen und unvergleichlichen Liebestragödie im Schatten der Guillotine ist gesagt: nun kann der Vorhang fallen.