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Einer betrügt den Andern

Die Flucht nach Varennes eröffnet einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Revolution; mit diesem Tage ist eine neue Partei, die republikanische, geboren. Bis jetzt, bis zum 21. Juli 1791, war die Nationalversammlung einhellig royalistisch gewesen, weil ausschließlich aus Adeligen und Bürgerlichen zusammengesetzt, aber schon drängt für die kommenden Wahlen hinter dem dritten Stand, dem bürgerlichen, der vierte nach vorn, das Proletariat, die große, stürmische, elementare Masse, vor der das Bürgertum ebenso erschrickt, wie der König vor dem Bürgertum erschrocken war. Voll Angst und mit verspätetem Bedauern erkennt die ganze breite Klasse der Besitzenden, welche dämonischen Urkräfte sie entfesselt hat, und so möchten sie noch rasch mit einer Konstitution die Macht des Königs und jene des Volkes gegeneinander abgrenzen. Um dafür die Zustimmung Ludwigs XVI. zu gewinnen, tut es not, ihn persönlich zu schonen; so setzen die gemäßigten Parteien durch, daß dem König wegen der Flucht von Varennes keinerlei Vorwurf gemacht werde; nicht freiwillig, nicht aus eigenem Willen habe er Paris verlassen, machen sie heuchlerisch geltend, sondern er sei »entführt« worden. Und als dann die Jakobiner dagegen auf dem Marsfeld eine Kundgebung zur Absetzung des Königs veranstalten, lassen die Führer des Bürgertums, Bailly und Lafayette, zum erstenmal energisch die Menge durch Kavallerie und Gewehrsalven auseinander treiben. Aber die Königin, eng umstellt in ihrem eigenen Haus – seit der Flucht nach Varennes darf sie ihre Türen nicht mehr verschließen, und die Nationalgarden bewachen streng jeden Schritt –, täuscht sich innerlich längst nicht mehr über den wirklichen Wert solcher verspäteten Rettungsversuche. Zu oft hört sie vor ihren Fenstern statt des alten »Es lebe der König!« den neuen Ruf »Es lebe die Republik!« Und sie weiß, daß diese Republik nur erstehen kann, wenn zuvor sie, ihr Gatte und ihre Kinder untergehen.

 

Das eigentliche Verhängnis der Nacht von Varennes auch dies erkennt die Königin bald – war nicht so sehr das Mißglücken ihrer eigenen Flucht wie das gleichzeitige Gelingen der von Ludwigs jüngerem Bruder, des Grafen von Provence. Kaum in Brüssel angelangt, wirft er die so lange und so mühsam getragene brüderliche Unterordnung ab, erklärt sich als Regenten, als rechtmäßigen Vertreter des Königtums, solange der wirkliche König Ludwig XVI. Gefangener in Paris sei, und tut heimlich alles, um diese Frist möglichst zu verlängern. »In unpassendster Weise hat man hier über die Gefangennahme des Königs Freude geäußert,« berichtet Fersen aus Brüssel, »der Graf von Artois strahlte geradezu.« Jetzt sitzen sie ja endlich aufrecht im Sattel, die lange demütig im Troß ihres Bruders reiten mußten, jetzt können sie mit dem Säbel klirren und ohne Rücksicht zum Krieg herausfordern; gehen bei dieser Gelegenheit Ludwig XVI., Marie Antoinette und hoffentlich auch Ludwig XVII. zugrunde, um so besser, dann sind zwei Stufen zum Thron mit einem Satz übersprungen, dann endlich kann sich »Monsieur«, der Graf von Provence, Ludwig XVIII. nennen. Verhängnisvollerweise schließen sich auch die auswärtigen Fürsten dieser Anschauung an, es sei für die monarchische Idee völlig gleichgültig, welcher Ludwig auf dem französischen Thron sitze; die Hauptsache bleibe, daß das revolutionäre, das republikanische Gift in Europa ausgerottet, die »französische Epidemie« im Keim erstickt werde. Mit grauenhafter Kühle schreibt Gustav III. von Schweden: »So groß das Interesse auch ist, das ich an dem Geschick der königlichen Familie nehme, so fällt doch die Schwierigkeit der allgemeinen Situation des europäischen Gleichgewichts, der besondern Interessen Schwedens und der Sache der Souveräne noch mehr in die Waagschale. Alles hängt davon ab, ob man das Königtum in Frankreich wiederherstellen kann, und es kann uns gleichgültig sein, ob jetzt Ludwig XVI., Ludwig XVII. oder Karl X. auf diesem Thron sitzt, vorausgesetzt, daß der Thron selbst wiederhergestellt wird und daß das Ungeheuer der Reitschule (die Nationalversammlung) zerschmettert wird.« Klarer und zynischer kann man sich nicht ausdrücken. Für die Monarchen gibt es nur »die Sache der Monarchen«, das heißt, ihre eigene ungeschmälerte Macht, »es kann ihnen gleichgültig sein«, wie Gustav III. sagt, welcher Ludwig den französischen Thron innehabe. In der Tat, es ist und bleibt ihnen gleichgültig. Und diese Gleichgültigkeit kostet Marie Antoinette und Ludwig XVI. das Leben.

 

Gegen diese doppelte Gefahr von innen und außen, gegen den Republikanismus im Lande und die Kriegstreiberei der Prinzen an der Grenze, soll nun Marie Antoinette gleichzeitig kämpfen: übermenschliche Aufgabe dies, und völlig unlösbar für eine einzige schwache, verstörte und von allen Freunden verlassene Frau. Hier wäre ein Genius vonnöten, gleichzeitig Odysseus und Achill, verschlagen und kühn, ein neuer Mirabeau; aber nur kleine Helfer sind nahe in dieser großen Not, und an sie wendet sich die Königin. Auf der Rückfahrt von Varennes hat Marie Antoinette mit ihrem schnellen Blick erkannt, wie leicht der kleine Provinzadvokat Barnave, der in der Versammlung das große Wort führt, sich von schmeichlerischen Worten, sobald sie eine Königin spricht, einfangen läßt; diese Schwäche beschließt sie jetzt auszunützen.

So wendet sie sich in einem geheimen Brief unmittelbar an Barnave, seit ihrer Rückkehr von Varennes hätte sie »sehr über die Intelligenz und den Geist desjenigen nachgedacht, mit dem sie viel gesprochen, und gefühlt, sie könne nun viel gewinnen, wenn sie eine Art brieflicher Unterhaltung mit ihm führe«. Er könne auf ihre Verschwiegenheit wie auf ihren Charakter rechnen, der, wenn es das allgemeine Wohl gälte, sich immer den Notwendigkeiten zu unterwerfen bereit sei. Nach dieser Einleitung wird sie deutlicher: »Man kann nicht in dem gegenwärtigen Zustand verharren. Es ist gewiß, daß etwas geschehen muß. Aber was? Das weiß ich nicht. Ich wende mich an ihn, um es zu erfahren. Er muß aus unseren Gesprächen ersehen haben, wie sehr ich guter Absicht bin. Ich werde es immer sein. Es ist das einzige Gut, das uns bleibt und das man mir niemals wird entreißen können. Ich glaube, bei ihm den Wunsch nach Recht wahrgenommen zu haben, wir hegen ihn gleichfalls und haben ihn, was man auch immer dagegen gesagt hat, jederzeit gehegt. Er möge uns nun in die Lage versetzen, unsere Wünsche gemeinsam zu verwirklichen. Wenn er ein Mittel findet, mir seine Gedanken mitzuteilen, werde ich mit Offenheit antworten, was ich durchsetzen könnte. Ich bin zu jedem Opfer bereit, wenn ich wirklich das allgemeine Wohl sehe.« Barnave zeigt diesen Brief seinen Freunden, die sich gleichzeitig freuen und fürchten, endlich aber beschließen, von nun ab gemeinsam die geheime Beratung der Königin – Ludwig XVI. zählt überhaupt nicht – zu übernehmen. Als erstes verlangen sie von der Königin, sie solle die Prinzen veranlassen, zurückzukehren, und ihren Bruder, den Kaiser, bewegen, die französische Konstitution anzuerkennen. Scheinbar gefügig, geht die Königin auf alle diese Vorschläge ein. Sie sendet an ihren Bruder Briefe nach dem Diktat ihrer Ratgeber, sie handelt nach ihrem Geheiß; nur »in dem Punkt, wo die Ehre und die Dankbarkeit im Spiele sind«, weigert sie sich nachzugeben. Und schon meinen die neuen politischen Lehrmeister, in Marie Antoinette eine aufmerksame und dankbare Schülerin gefunden zu haben.

 

Jedoch wie gewaltig täuschen sich diese braven Leute! In Wirklichkeit denkt Marie Antoinette nicht einen Augenblick daran, sich diesen »factieux« auszuliefern, diese ganzen Verhandlungen sollen nur wieder das alte »temporiser«, das Hinausziehen, erleichtern, bis ihr Bruder jenen ersehnten »bewaffneten Kongreß« einberufen hat. Wie Penelope trennt sie nachts das Gespinst auf, das sie am Tage mit ihren neuen Freunden gewoben. Während sie scheinbar gefügig die vordiktierten Briefe an ihren Bruder, den Kaiser Leopold, absendet, läßt sie gleichzeitig Mercy wissen: »Ich habe Ihnen am 29. einen Brief geschrieben, von dem Sie ohne Mühe bemerkt haben werden, daß er nicht meinem Stil entspricht. Aber ich glaubte, dem Verlangen der hiesigen Partei nachkommen zu müssen, die mir selbst den Entwurf dieses Briefes übermittelt hat. Ich habe einen andern solchen Brief gestern an den Kaiser geschrieben und würde mich erniedrigt fühlen, wenn ich nicht hoffte, mein Bruder werde verstehen, daß ich in meiner jetzigen Lage gezwungen bin, alles zu tun und zu schreiben, was man von mir verlangt.« Sie betont, »es sei wichtig, daß der Kaiser überzeugt sei, kein Wort in diesem Briefe sei von ihr und von ihrer Art, die Dinge zu sehen«. So wird jeder Brief zum Uriasbrief. Obgleich sie »gerechterweise zugeben muß, bei ihren Beratern, trotzdem sie immer bei ihren Ansichten beharren, große Aufrichtigkeit gefunden zu haben, und einen großen ehrlichen Willen, die Ordnung und damit das Königtum und die königliche Autorität wiederherzustellen«, lehnt sie doch ab, ihren Helfern ehrlich Gefolgschaft zu leisten, denn »wenn ich auch an ihre gute Absicht glaube, so sind doch ihre Ideen übertrieben und können uns niemals passen.«

Es ist ein unheimliches Doppelspiel, das Marie Antoinette mit dieser Zwiespältigkeit beginnt, und kein für sie sehr ehrenvolles, denn zum erstenmal, seit sie Politik treibt, oder vielmehr, weil sie Politik treibt, ist sie genötigt, zu lügen, und sie tut es in der allerverwegensten Weise. Während sie ihren Helfern scheinheilig versichert, kein Hintergedanke begleite ihre Schritte, schreibt sie gleichzeitig an Fersen: »Haben Sie keine Angst, ich lasse mich nicht von den ›Enragés‹ einfangen. Wenn ich einige von ihnen sehe oder Beziehungen zu ihnen habe, so ist es nur, um mich ihrer zu bedienen; aber ich habe zuviel Abscheu vor ihnen allen, um jemals mit ihnen gleiche Sache zu machen.« Im letzten ist ihr die Unwürdigkeit dieses Betrugs an gutgesinnten Leuten, die für sie den Kopf aufs Schafott tragen, vollkommen klar, sie spürt deutlich die moralische Schuld, aber entschlossen schiebt sie die Verantwortung auf die Zeit, auf die Verhältnisse, die sie zu solch erbärmlicher Rolle gezwungen haben. »Manchmal«, schreibt sie verzweifelt an den getreuen Fersen, »verstehe ich mich selber nicht mehr und bin genötigt nachzudenken, ob wirklich ich es bin, die spricht. Aber was wollen Sie? Alles das ist notwendig, und glauben Sie mir, wir wären noch viel tiefer herabgesunken, als wir es schon sind, wenn ich nicht sofort zu diesem Mittel gegriffen hätte. Zumindest werden wir damit Zeit gewinnen, und das ist alles, was wir brauchen. Welches Glück, wenn ich eines Tages wieder ich selbst werden könnte und all diesen Bettelkerlen (gueux) beweisen dürfte, daß ich mich nicht von ihnen narren ließ.« Nur dies eine träumt und erträumt ihr unbändiger Stolz, wieder frei sein zu können, nicht mehr gezwungen zu politisieren, zu diplomatisieren, zu lügen. Und da sie als gekrönte Königin diese unbeschränkte Freiheit als ihr gottverliehenes Recht fühlt, meint sie sich im Recht, alle, die ihr diesen Rang einschränken wollen, auf die rücksichtsloseste Art zu betrügen.

 

Aber es ist nicht die Königin allein, die betrügt, sondern in dieser Krise vor der Entscheidung betrügen alle Partner im großen Spiele einer den andern – selten kann man die Unmoralität aller heimlich geführten Politik plastischer erkennen, als wenn man die endlosen Korrespondenzen der damaligen Regierungen, Fürsten, Gesandten und Minister verfolgt. Alle arbeiten unterirdisch gegen alle und jeder nur für sein privates Interesse. Ludwig XVI. belügt die Nationalversammlung, die ihrerseits wieder nur wartet, bis der republikanische Gedanke genug durchgedrungen ist, um den König abzusetzen. Die Konstitutionellen täuschen Marie Antoinette eine Macht vor, die sie längst nicht mehr besitzen, und werden auf die verächtlichste Weise von ihr genarrt, denn sie verhandelt hinterrücks mit ihrem Bruder Leopold. Der wiederum hält seine Schwester hin, denn er ist innerlich entschlossen, nicht einen Soldaten, nicht einen Taler für ihre Sache einzusetzen, und paktiert unterdes mit Rußland und Preußen über eine zweite Teilung Polens. Während aber der König von Preußen mit ihm den »bewaffneten Kongreß« gegen Frankreich von Berlin aus berät, finanziert gleichzeitig in Paris sein eigener Gesandter die Jakobiner und speist mit Pétion an einem Tisch. Die emigrierten Prinzen wieder hetzen zum Krieg, nicht aber, um ihrem Bruder Ludwig XVI. den Thron zu erhalten, sondern um ihn möglichst bald selber zu besteigen, und mitten in diesen papiernen Turnieren gestikuliert der Don Quichotte des Königtums, Gustav von Schweden, den alles im Grunde nichts angeht und der nur Gustav Adolf, den Retter Europas, spielen möchte. Der Herzog von Braunschweig, der die Armee der Koalition gegen Frankreich führen soll, verhandelt gleichzeitig mit den Jakobinern, die ihm den Thron Frankreichs anbieten, Danton wiederum und Dumouriez spielen doppeltes Spiel. Die Fürsten sind ebensowenig einig wie die Revolutionäre, der Bruder betrügt die Schwester, der König sein Volk, die Nationalversammlung den König, ein Monarch den andern, alle lügen sich gegenseitig an, um nur etwas Zeit zu gewinnen für ihre eigene Sache. Jeder möchte aus der Verwirrung etwas herausholen und steigert durch sein Drohen die allgemeine Unsicherheit. Keiner möchte sich die Finger verbrennen, alle spielen sie mit dem Feuer, alle aber, die Kaiser, die Könige, die Prinzen, die Revolutionäre, schaffen durch dieses ständige Paktieren und Irreführen eine Atmosphäre von Mißtrauen (ähnlich jener, die heute die Welt vergiftet) und reißen schließlich, ohne es eigentlich zu wollen, fünfundzwanzig Millionen Menschen in den Katarakt eines fünfundzwanzigjährigen Krieges.

 

Unterdessen läuft, unbekümmert um diese kleinen Schliche, die Zeit stürmisch weiter, das Tempo der Revolution fügt sich nicht dem »Temporisieren« der alten Diplomatie. Eine Entscheidung muß getroffen werden. Die Nationalversammlung hat endlich den Entwurf einer Verfassung fertiggestellt und ihn Ludwig XVI. zur Annahme vorgelegt. Nun muß eine Antwort gegeben werden. Marie Antoinette weiß, daß diese »monstrueuse« Konstitution – wie sie an die Kaiserin Katharina von Rußland schreibt – »einen moralischen Tod bedeutet, der tausendmal schlimmer ist als der körperliche Tod, der von allen Übeln befreit«, sie weiß auch, daß man die Annahme in Koblenz und an den Höfen als Selbstpreisgabe, vielleicht sogar als persönliche Feigheit tadeln wird, aber so tief ist schon die königliche Macht gesunken, daß selbst sie, die Stolzeste, zur Unterwerfung raten muß.

»Wir haben durch die Reise zur Genüge bewiesen,« schreibt sie, »daß wir uns nicht scheuen, unsere Person der Gefahr auszusetzen, wenn es das allgemeine Wohl gilt. Aber im Hinblick auf die gegenwärtige Lage kann der König die Annahme nicht länger verweigern. Glauben Sie mir, daß die Sache wahr ist, wenn ich es sage. Sie kennen meinen Charakter gut genug, um zu wissen, daß er mich eher zu einer vornehmen und mutigen Tat treiben würde. Aber es hat keinen Sinn, sich vollkommen wissend einer Gefahr sinnlos auszusetzen.« Während aber die Feder schon bereitgelegt ist, die Kapitulation zu unterzeichnen, teilt Marie Antoinette gleichzeitig ihren Vertrauten mit, daß der König im innersten Herzen gar nicht daran denke – einer betrügt den andern und wird selbst betrogen –, sein Wort gegenüber dem Volke zu halten. »Mit Bezug auf die Annahme halte ich es für unmöglich, daß jedes denkende Wesen nicht etwa einsehe, daß alles, was wir tun, nur geschieht, weil wir nicht frei sind. Wichtig ist allein, daß wir jetzt keinen Verdacht bei den ›monstres‹ erwecken, die uns umringen. Auf jeden Fall können uns nur die auswärtigen Mächte retten, die Armee ist verloren, das Geld existiert nicht mehr, kein Zügel, kein Damm kann den bewaffneten Pöbel zurückhalten. Selbst die Führer der Revolution werden nicht mehr angehört, wenn sie Ordnung predigen: das ist der traurige Zustand, in dem wir uns befinden. Fügen Sie noch dazu, daß wir keinen einzigen Freund haben, daß alle Welt uns verrät, die einen aus Angst, die andern aus Schwäche oder Ehrgeiz, und daß ich sogar so heruntergekommen bin, den Tag zu fürchten, an dem man uns eine Art Freiheit wieder gewähren wird. Jetzt wenigstens, im Zustand der Machtlosigkeit, in dem wir uns befinden, haben wir uns nichts vorzuwerfen.« Und mit wunderbarer Aufrichtigkeit fährt sie fort: »Sie finden meine ganze Seele in diesem Brief. Vielleicht irre ich mich, aber es ist das einzige Mittel, das ich sehe, um durchzukommen. Ich habe, soviel ich kann, die Leute von beiden Seiten gehört und aus ihren Meinungen die meine geformt; ich weiß nicht, ob sie befolgt wird. Sie kennen die Person, mit der ich zu tun habe; im Augenblick, da man sie zu überreden meint, kann ein Wort oder die Meinung eines andern sie umstimmen, ohne daß sie es selbst bemerkt, und schon deshalb sind tausend Dinge undurchführbar; jedenfalls, was auch geschehe, bewahren Sie mir Ihre Freundschaft und Ihre Anhänglichkeit. Ich habe sie so sehr nötig, und glauben Sie mir, welches Unheil immer über mich kommen möge: es kann sein, daß ich mich den Umständen anpasse, aber niemals, daß ich irgendeiner Maßnahme zustimmen werde, die meiner unwürdig ist. Erst im Unglück fühlt man recht, wer man ist. Mein Blut rollt in den Adern meines Sohnes, und ich hoffe, daß er sich eines Tages würdig erweisen wird, ein Enkel Maria Theresias zu sein.«

Das sind große und ergreifende Worte, aber sie verhüllen die innere Beschämung nicht, welche diese aufrichtig gewillte Frau bei dem aufgezwungenen Täuschespiel empfindet. Im tiefsten Herzen weiß sie, daß sie mit diesem unehrlichen Verhalten unköniglicher handelt, als wenn sie freiwillig auf den Thron verzichtet hätte. Aber es bleibt keine Wahl mehr. »Ablehnen wäre vornehmer gewesen,« schreibt sie an ihren geliebten Fersen, »aber das war unmöglich unter den gegebenen Umständen. Ich hätte gewünscht, daß die Annahme viel knapper gewesen wäre, aber leider ist man ja immer umringt von böswilligen Personen; doch ich versichere Ihnen, es war noch die am wenigsten üble Fassung, die durchgedrungen ist. Auch die Torheit der Prinzen und Emigranten hat unsere Handlungsweise bestimmt. So war es notwendig, in der Annahme, jede Zeile auszuschalten, die dahin hätte gedeutet werden können, als ob wir nicht mit bester Absicht beistimmten.«

 

Durch diese unehrliche und darum unpolitische Scheinannahme der Konstitution hat die königliche Familie einen Atemzug Zeit gewonnen: das ist der ganze und – es wird sich bald zeigen – grausame Gewinn dieses Doppelspiels. Aufatmend tun alle so, als ob jeder die Lüge des anderen wirklich glaubte. Für eine Sekunde zerreißt das Gewölk, das gewitterige, und verflüchtigt sich. Noch einmal leuchtet trügerisch die Sonne der Volksgunst über den Häuptern der Bourbonen. Sofort nachdem der König am 13. September mitgeteilt hat, er werde am nächsten Tage die Verfassung inmitten der Versammlung beschwören, werden die Garden, die bisher das königliche Schloß bewachten, zurückgezogen, die Tuileriengärten dem Publikum freigegeben. Die Gefangenschaft ist zu Ende und – wie die meisten voreilig glauben – auch die Revolution. Zum erstenmal seit undenklichen Wochen und Monaten, aber auch zum letztenmal hört Marie Antoinette zehntausendstimmig den schon ganz verschollenen Ruf: »Es lebe der König! Es lebe die Königin!«

Doch schon längst hat sich alles, Freund und Feind, diesseits und jenseits der Grenzen verschworen, sie nicht mehr lange am Leben zu lassen.


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