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Die Nacht vom 9. zum 10. August kündigt einen heißen Tag an. Keine Wolke am Himmel, den tausend Sterne durchleuchten, kein Windhauch; vollkommen still liegen die Straßen, die Dächer glitzern im weißen Licht des sommerlichen Mondes.
Aber diese Stille täuscht niemanden. Und wenn die Straßen so außergewöhnlich verlassen sind, so bestätigt dies nur, daß etwas Außerordentliches und Sonderbares sich vorbereitet. Die Revolution schläft nicht. In den Sektionen, in den Klubs, in ihren Wohnhäusern sitzen die Führer beisammen, Boten mit Befehlen eilen verdächtig lautlos von einem Bezirk zum andern, die Generalstäbler des Aufstands, Danton, Robespierre und die Girondisten, rüsten, selber unsichtbar bleibend, die illegale Armee, das Volk von Paris, zum Angriff.
Aber auch im Schlosse schläft niemand. Seit Tagen erwartet man einen Aufstand. Man weiß: nicht umsonst sind die Marseiller nach Paris gekommen, und die letzten Nachrichten lauten, daß am nächsten Morgen ihr Anmarsch zu erwarten sei. Die Fenster stehen offen in der erstickend heißen Sommernacht, die Königin und Madame Elisabeth lauschen hinaus. Aber noch ist nichts zu hören. Ruhige Stille atmet her vom verschlossenen Tuilerienpark, nur den Schritt der Wachen vernimmt man in den Höfen, und manchmal klirrt ein Säbel oder stampft ein Pferd, denn mehr als zweitausend Soldaten kampieren im Schloß, die Galerieen sind voll von Offizieren und bewaffneten Edelleuten.
Endlich, um dreiviertel ein Uhr morgens – alles stürzt zu den Fenstern – eine Glocke, die fern in der Vorstadt Sturm läutet, jetzt eine zweite, eine dritte, eine vierte. Und weit, weit her Trommelwirbel. Nun gibt es keinen Zweifel mehr, der Aufstand sammelt sich. Ein paar Stunden noch, und die Entscheidung wird fallen. Erregt eilt die Königin immer wieder ans Fenster, um zu lauschen, ob die drohenden Anzeichen sich verstärken. Diese Nacht kennt keinen Schlaf. Endlich, um vier Uhr morgens erhebt sich blutrot die Sonne aus dem wolkenlosen Himmel. Es wird ein heißer Tag werden.
Im Schlosse ist alles vorbereitet. In letzter Stunde ist, neunhundert Mann stark, das verläßlichste Regiment der Krone eingerückt, die Schweizer, harte, unerschütterliche Männer, in eiserner Zucht erzogen, ehern der Pflicht getreu. Seit sechs Uhr abends bewachen außerdem noch sechzehn ausgewählte Bataillone der Nationalgarde und Kavallerie die Tuilerien, die Zugbrücken sind niedergelassen, die Posten verdreifacht, und ein Dutzend Kanonen sperren mit stumm drohendem Mund den Eingang. Außerdem hat man zweitausend Adeligen Botschaft gesandt, bis Mitternacht die Tore offen gelassen, allerdings vergeblich; nur eine kleine Schar von etwa hundertfünfzig ist gekommen, meist ältere, ergraute Edelleute. Für Disziplin sorgt Mandat, ein tapferer, energischer Offizier, entschlossen, vor keiner Drohung zurückzuweichen. Aber das wissen auch die Revolutionäre, und um vier Uhr morgens wird er plötzlich abberufen, er solle in das Rathaus kommen. Unsinnigerweise läßt ihn der König gehen, und obwohl Mandat weiß, was ihm droht und ihn erwartet, folgt er der Ladung. Eine neue revolutionäre Kommune, die sich ohne Auftrag des Stadthauses bemächtigt hat, empfängt ihn und macht kurzen Prozeß; zwei Stunden später schwimmt er, heimtückisch ermordet, als Leichnam, mit zerschmettertem Schädel, in der Seine. Der Führer ist den Schutztruppen genommen, das entschlossene Herz, die energische Hand.
Denn der König ist kein Führer. Unentschlossen stolpert der verstörte Mann im violetten Rock, die Perücke vom Schlaf zerdrückt, mit seinen armen leeren Blicken von einem Zimmer zum andern und wartet und wartet. Gestern noch hatte man vereinbart, die Tuilerien bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, und mit herausfordernder Energie hatte man sie umgestaltet zu einer Festung, zu einem Heerlager. Aber schon jetzt, noch ehe der Feind sich gezeigt hat, beginnt man wieder unsicher zu werden, und diese Unsicherheit geht von Ludwig XVI. aus. Immer, wenn ein Entschluß zu fassen ist, fühlt sich dieser für sich selbst eigentlich nicht feige, aber vor jeder Verantwortung bestürzte Mann wie krank, und wie kann man Mut erwarten von den Soldaten, wenn sie ihren Führer zittern sehen? Das Schweizer Regiment, straff von den Offizieren gehalten, steht fest, aber verdächtige Anzeichen beginnen sich bei den Nationalgarden bemerkbar zu machen, seit sie immer wieder die Frage hören: »Wird man kämpfen? Wird man nicht kämpfen?«
Die Königin kann ihre Erbitterung über die Schwächlichkeit ihres Gatten kaum mehr verhehlen. Marie Antoinette will jetzt eine letzte Entscheidung. Ihre übermüdeten Nerven ertragen nicht länger diese ewige Spannung, ihr Stolz nicht das Immerbedrohtsein und unwürdige Sichducken. In diesen zwei Jahren hat sie zur Genüge erfahren, daß Nachgiebigkeit und Zurückweichen die Forderungen einer Revolution nicht abschwächen, sondern nur ihre Selbstsicherheit stärken. Jetzt aber steht das Königtum auf der letzten, der untersten Stufe, hinter der nur der Abgrund droht; ein Schritt noch, und alles ist verloren, auch die Ehre. Am liebsten ginge die in ihrem Stolz bebende Frau selbst hinunter zu den mutlosen Nationalgarden, um ihnen Entschlossenheit von ihrer Entschlossenheit mitzuteilen und sie zu mahnen, ihre Pflicht zu tun. Unbewußt ist in dieser Stunde in ihr vielleicht die Erinnerung an ihre Mutter erwacht, wie sie in höchster Not, den Thronerben im Arm, vor die gleichfalls zögernden ungarischen Adeligen trat und sie mit dieser einen Geste begeistert zu sich herüberriß. Aber sie weiß auch, daß in einer solchen Stunde eine Frau nicht ihren Mann, eine Königin nicht den König vertreten darf. So beredet sie Ludwig XVI., noch eine letzte Parade vor dem Kampf abzuhalten und mit einer Ansprache den Wankelmut der Verteidiger zu brechen.
Der Gedanke war richtig: immer ist bei Marie Antoinette der Instinkt unfehlbar. Ein paar feurige Worte, wie sie Napoleon in gefährlichen Augenblicken aus innerster Überzeugung fand, ein Gelöbnis des Königs, mit seinen Soldaten zu sterben, eine energische zwingende Geste, und diese noch schwankenden Bataillone hätten sich zur ehernen Mauer zusammengeschlossen. Aber da stolpert, kurzsichtig und linkisch, ein schwerfälliger, unkriegerischer Mann, den Hut unter den Arm geschoben, die große Treppe hinunter und stammelt ein paar abgerissene, ungeschickte Worte: »Man sagt, sie kommen ... Meine Sache ist die aller guten Bürger ... nicht wahr, wir werden uns tapfer schlagen? ...« Der schwanke Ton, die verlegene Haltung vermehren die Unsicherheit, statt sie zu mindern. Verächtlich sehen die Nationalgarden diesen Schwächling sich mit unsichern Schritten ihren Reihen nähern; statt der erwarteten Rufe: »Es lebe der König!« antwortet erst Schweigen, dann zweideutiger Ruf: »Es lebe die Nation!«, und als sich dann der König bis an das Gitter wagt, wo die Truppen sich bereits mit dem Volke verbrüdern, hört er offene Revolterufe: »Nieder das Veto! Nieder das dicke Schwein!« Die eigenen Anhänger und Minister umringen jetzt entsetzt den König und führen ihn wieder in den Palast zurück. »Um Gottes willen, man höhnt den König«, ruft vom ersten Stock der Marineminister, und Marie Antoinette, die mit rot umränderten, von Tränen und Schlaflosigkeit entzündeten Augen auf das jämmerliche Schauspiel niedergestarrt hat, wendet sich mit Erbitterung ab. »Alles ist verloren«, sagt sie erschüttert zu ihrer Kammerfrau. »Der König hat keine Energie gezeigt, und diese Parade hat mehr Böses angerichtet als Gutes.« Ehe der Kampf begonnen hat, ist er schon zu Ende.
An diesem Morgen des endgültigen Entscheidungskampfes zwischen Monarchie und Republik steht unter der Menge vor den Tuilerien auch ein junger Leutnant, ein stellenloser Offizier aus Korsika, Napoleon Bonaparte, der jeden als Narren höhnen würde, der ihm sagte, er würde einmal dieses Schloß als Nachfolger Ludwig XVI. bewohnen. Er hat gerade keinen Dienst, und so mißt er mit seinem unfehlbaren soldatischen Blick die Aussichten eines Angriffs und die der Verteidigung aus. Ein paar Kanonenschüsse, ein scharfer Vorstoß, und diese Canaille (wie er später auf St. Helena verächtlich die Vorstadttruppen nennt) wäre mit eisernem Besen weggefegt. Hätte der König diesen kleinen Artillerieleutnant zur Stelle, er würde sich gegen ganz Paris behaupten. Aber nicht einer in diesem Schlosse hat das eiserne Herz und den rasch zugreifenden Blick dieses kleinen Leutnants. »Nicht angreifen, gute Haltung, starke Verteidigung«, das ist der ganze Befehl, den man den Soldaten gibt, – eine halbe Maßnahme und darum schon die ganze Niederlage. Unterdessen, es wird sieben Uhr früh, ist der Vortrab der Aufständischen herangerückt, ein ungeordneter, schlecht bewaffneter Schwärm, bedrohlich nicht durch seine Kriegstüchtigkeit, sondern nur durch seine unbeugsame Entschlossenheit. Schon sammeln sich einzelne vor der Zugbrücke. Die Entscheidung kann nicht länger hinausgeschoben werden. Roederer, der Generalprokurator, spürt seine Verantwortung. Schon vor einer Stunde hat er dem König geraten, sich hinüber in die Nationalversammlung zu begeben und sich unter ihren Schutz zu stellen. Aber da war Marie Antoinette aufgefahren: »Mein Herr, wir haben hier Kräfte genug, und es ist endlich Zeit, festzustellen, wer die Oberhand behalten soll, der König oder die Aufständischen, die Konstitution oder die Revolutionäre.« Doch der König selbst findet jetzt kein energisches Wort. Schweratmend, mit verstörten Blicken sitzt er in seinem Lehnstuhl und wartet und wartet, er weiß nicht, worauf; nur hinausschieben will er noch, nur sich nicht entschließen. Da kommt Roederer noch einmal mit seiner Schärpe, die ihm überall Durchlaß schafft, einige Stadträte begleiten ihn. »Sire,« sagt er energisch zu Ludwig XVI. »Ihre Majestät haben nicht mehr fünf Minuten zu verlieren, es gibt keine andere Sicherheit für Sie als in der Nationalversammlung.« »Aber ich sehe noch nicht viel Leute auf dem Carrouselplatz«, antwortet Ludwig XVI., der immer nur Zeit gewinnen will, ängstlich. »Sire, eine ungeheure Menge mit zwölf Kanonen rückt von den Vorstädten heran.«
Ein Stadtbeamter, er ist Spitzenhändler, und die Königin hat früher bei ihm oft gekauft, schließt sich Roederers Mahnung an. Aber »Schweigen Sie, mein Herr,« duscht ihn Marie Antoinette sofort ab (immer der gleiche Zorn, wenn jemand, den sie nicht achtet, sie retten will), »lassen Sie den Generalprokurator sprechen!« Jetzt wendet sie sich selbst zu Roederer: »Aber mein Herr, wir haben doch eine bewaffnete Macht.« »Madame, ganz Paris ist im Anmarsch, jeder Widerstand ist unmöglich.«
Marie Antoinette kann ihre Erregung nicht mehr verhalten, das Blut strömt ihr in die Wangen, sie muß sich bezwingen, um in all ihrer Schwäche nicht loszufahren gegen diese Männer, von denen kein einziger mannhaft denkt. Aber die Verantwortung ist ungeheuer; in Gegenwart eines Königs von Frankreich darf eine Frau nicht den Befehl zum Kampf geben. So wartet sie auf die Entscheidung des ewig Unentschiedenen. Der hebt endlich seinen schweren Kopf auf, sieht Roederer einige Sekunden an, dann seufzt er und sagt, glücklich, sich entschlossen zu haben: »Gehen wir!«
Und durch das Spalier der Edelleute, die ihn ohne jede Achtung anblicken, an den Schweizer Soldaten vorbei, denen man vergißt, irgendein Wort zu sagen, ob sie kämpfen sollen oder nicht, durch die immer dichtere Menge des Volkes, die den König, seine Frau und die wenigen Getreuen offen verhöhnt und sogar bedroht, begibt sich Ludwig XVI. ohne Kampf, ja, ohne den Versuch eines Widerstands aus dem Schlosse, das seine Urahnen gebaut haben und das er nie wieder betreten soll. Sie durchwandern den Garten, voran der König mit Roederer, hinter ihm die Königin am Arm des Marineministers, ihr Knabe an ihrer Seite. Sie eilen mit unwürdiger Hast zur gedeckten Reitschule, wo einst der Hof sich heiter und sorglos an Kavalkaden ergötzte und wo jetzt die Nationalversammlung des Volkes stolz erlebt, daß ihr König, um sein Leben zitternd, kampflos bei ihr Schutz sucht. Es sind etwa zweihundert Schritte. Aber mit diesen zweihundert Schritten sind Marie Antoinette und Ludwig XVI. von ihrer Macht unwiederbringlich niedergestiegen. Das Königtum ist zu Ende.
Die Nationalversammlung sieht mit gemischten Gefühlen den einstmaligen Herrn, dem sie noch immer durch Eid und Ehre verbunden ist, bei ihr Gastrecht fordern. In der Großmut der ersten Überraschung erklärt Vergniaud als Präsident: »Sie können, Sire, auf die Entschlossenheit der Nationalversammlung rechnen. Ihre Mitglieder haben geschworen, für die Wahrung der Rechte des Volkes und der eingesetzten Autorität zu sterben.« Das ist ein großes Versprechen, denn noch ist der König gemäß der Konstitution eine der beiden gesetzlich eingesetzten Autoritäten, und inmitten des Chaos tut die Nationalversammlung so, als ob noch gesetzliche Ordnung bestünde. Sie bezieht sich pedantisch auf den Paragraphen der Konstitution, der dem König während der Beratung der Nationalversammlung die Anwesenheit im Saal verbietet. Da man aber weiterberaten will, wird ihm die anstoßende Loge, in der sonst die Schnellnachschreiber sitzen, als Asyl bestimmt. Diese Loge ist ein niedriger Raum, so niedrig, daß man darin nicht aufrecht stehen kann, vorn ein paar Sessel, rückwärts eine Strohbank: ein eisernes Gitter trennte sie bisher von dem eigentlichen Versammlungsraum. Dieses Gitter wird jetzt unter persönlicher Mithilfe der Abgeordneten mit Feilen und Hämmern hastig beseitigt, denn man rechnet noch immer mit der Möglichkeit, daß der Straßenpöbel versuchen könne, die königliche Familie gewaltsam herauszuholen; für diesen äußersten Fall ist vorgesehen, daß die Abgeordneten alle Verhandlungen unterbrechen und die königliche Familie in ihre Mitte nehmen. In diesem Käfig, der an dem glühenden Augusttage zum Ersticken heiß ist, müssen jetzt Marie Antoinette und Ludwig XVI. achtzehn Stunden lang mit den Kindern verweilen, den neugierigen, böswilligen und mitleidigen Blicken der Versammlung ausgesetzt. Aber was ihre Erniedrigung noch grausamer macht als jede betonte oder laute Gehässigkeit, ist die völlige Gleichgültigkeit, mit der während dieser achtzehn Stunden die Nationalversammlung die Gegenwart der königlichen Familie übersieht. Man beachtet sie so wenig, als ob sie Türsteher wären oder Tribünenzuschauer; kein Abgeordneter steht auf und kommt, sie zu begrüßen, niemand denkt daran, ihnen durch irgendeine Bequemlichkeit den Aufenthalt in diesem Pferch erträglicher zu machen. Sie dürfen nur zuhören, wie man über sie hinwegspricht: gespenstische Szene, wie wenn jemand sein eigenes Begräbnis von einem Fenster aus betrachtete.
Plötzlich geht eine Erregung durch die Versammlung. Einige Abgeordnete springen auf und horchen, die Tür wird aufgerissen, und schon hört man von den Tuilerien nebenan Flintenschüsse und jetzt, die Fenster beben vom dumpfen Schlag: Kanonendonner. Die Aufständischen sind beim Eindringen in das Schloß auf die Schweizer Garde gestoßen. In der jämmerlichen Überstürztheit seiner Flucht hatte der König ganz vergessen, einen Auftrag zu geben, oder er hatte, wie immer, nicht die Kraft gehabt, sich zu einem klaren Ja oder Nein aufzuraffen. Getreu dem früheren, nicht widerrufenen Befehl, in der Abwehr zu bleiben, verteidigen die Schweizer Garden das leere Gehäuse des Königtums, die Tuilerien, und geben auf Befehl ihrer Offiziere ein paar Salven ab. Schon haben sie den Hof geräumt, die herbeigeschleppten Kanonen erbeutet und damit erwiesen, daß ein entschlossener Herrscher sich in der Mitte seiner Getreuen ehrenhaft hätte verteidigen können. Jetzt aber erinnert sich der König, der kopflose Herrscher – bald wird er wirklich keinen Kopf mehr haben –, an seine Pflicht, nicht von andern Mut und Blut zu fordern, wo er selbst sich mutlos gezeigt, und sendet Befehl an die Schweizer, jede Verteidigung des Schlosses einzustellen. Aber ewiges Schicksalswort seines Herrschertums: zu spät! Schon hat seine Entschlußlosigkeit oder Vergeßlichkeit mehr als tausend Menschen das Leben gekostet. Ungehindert bricht die erbitterte Masse in das wehrlose Schloß. Wieder leuchtet die blutige Laterne der Revolution: auf Piken werden die Häupter ermordeter Royalisten getragen, erst um elf Uhr vormittags ist die Schlächterei zu Ende. Kein Haupt fällt mehr an diesem Tage, nur eine Krone.
In der dunstigen Loge zusammengedrängt, muß die königliche Familie, ohne ein Wort äußern zu dürfen, alles mit erleben, was in dieser Versammlung geschieht. Erst sieht sie ihre getreuen Schweizer, pulvergeschwärzt, blutüberströmt, hereinstürzen, hinter ihnen die siegreichen Aufständischen, die sie mit Gewalt dem Schutz der Versammlung entreißen möchten. Dann werden die aus dem Palast geraubten Gegenstände auf den Präsidententisch gelegt: Silberzeug, Schmuck, Briefe, Kassetten und Assignaten. Marie Antoinette muß mit verschlossenem Munde zuhören, wie die Führer des Aufstands belobt werden. Sie muß anhören, wehrlos, wortlos, wie jetzt die Abgeordneten der einzelnen Sektionen an die Schranken treten und mit heftigsten Worten die Absetzung des Königs fordern, wie die offenkundigsten Tatsachen in den Berichten umgefälscht werden, etwa, daß auf Befehl des Schlosses die Sturmglocke geläutet worden sei, daß das Schloß die Nation belagert habe und nicht die Nation das Schloß. Und sie kann abermals das ewige und immer wiederkehrende Schauspiel erfahren, daß Politiker immer feige werden, sobald sie den Wind umspringen fühlen. Derselbe Vergniaud, der noch vor zwei Stunden im Namen der Versammlung versprochen, lieber zu sterben, als die Rechte der eingesetzten Autorität antasten zu lassen, kapituliert jetzt eilig und stellt den Antrag auf sofortige Ausschaltung des Trägers der ausübenden Macht, das heißt des Königs, und fordert die Übersiedlung der königlichen Familie in den Luxembourg-Palast »unter dem Schutz der Bürger und des Gesetzes«, das heißt: Gefangenschaft. Um den royalistisch gesinnten Abgeordneten den Übergang etwas linder zu machen, wird zum Schein die Ernennung eines Erziehers für den Kronprinzen gefordert, aber in Wirklichkeit denkt niemand mehr an die Krone oder an einen König. Sein Veto, sein einziges Recht, wird ihm genommen, ebendieselben Gesetze, die er verworfen, setzt die Nationalversammlung selbstherrlich in Kraft, kein einziger Blick fragt um die Zustimmung jenes hilflosen, müde in seinem Sessel sitzenden und schwitzenden Mannes in der Berichterstatterloge, der vielleicht im Innersten froh ist, nicht mehr gefragt zu werden. Von jetzt an braucht Ludwig XVI. keine Entscheidungen mehr zu treffen. Von jetzt an wird über ihn entschieden.
Acht Stunden, zwölf Stunden, vierzehn Stunden dauert die Sitzung. Und die fünf zusammengepferchten Menschen in der Loge, sie haben in dieser Nacht des Grauens nicht geschlafen und seit diesem Morgen eine ganze Ewigkeit durchlebt. Die Kinder, die nichts von alledem verstehen, sind müde eingeschlummert, dem König und der Königin dampft der Schweiß auf der Stirn, immer wieder muß sich Marie Antoinette das Taschentuch mit Wasser netzen lassen, ein- oder zweimal trinkt sie ein Glas Eiswasser, das ihnen eine mitleidige Hand herüberreicht. Mit brennenden Augen, müde und fürchterlich wach zugleich, starrt sie in diesen überhitzten Kesselraum, wo sich die Maschine der Worte seit Stunden und Stunden um ihr Schicksal dreht. Keinen Bissen rührt sie an, sehr im Gegensatz zu ihrem Gatten. Unbekümmert um die Zuschauer, läßt sich Ludwig XVI. mehrere Mahlzeiten bringen und kaut und kaut in dieser Loge mit seinen schweren langsamen Kinnbacken genau so gemächlich wie an der silbergedeckten Tafel in Versailles. Auch die äußerste Gefahr kann in diesem unköniglichen Körper Hunger und Schlafsucht nicht ausschalten; die schweren Liddeckel fallen allmählich nieder, und mitten im Kampfe, der ihn seine Krone kostet, nickt Ludwig XVI. für ein Stündchen ein. Marie Antoinette ist von seiner Seite weggerückt, ins Dunkel hinein. In solchen Stunden schämt sie sich immer der schrecklich unwürdigen Schwäche dieses Mannes, der mehr um seinen Magen besorgt ist als um seine Ehre, der selbst inmitten der fürchterlichsten Erniedrigung gemächlich Speisen hineinstopfen und schlummern kann. Mit heißen Augen blickt sie weg, um ihre Erbitterung nicht zu verraten; auch von der Versammlung wendet sich die Königin ab und möchte am liebsten die Fäuste gegen die Ohren pressen. Sie allein spürt alle Erniedrigung dieses Tages und in der gewürgten Kehle bereits den galligen Geschmack alles dessen, was noch kommen muß; aber nicht einen Augenblick verliert sie die Haltung, immer groß in den Stunden, da sie sich herausgefordert fühlt; keine Träne sollen diese Empörer sehen, keinen Seufzer hören, und nur tiefer und immer tiefer drückt sie sich ins Dunkel der Loge zurück.
Endlich, nach achtzehn grausamen Stunden in diesem glühenden Käfig, dürfen der König und die Königin sich in das ehemalige Kloster der Feuillants begeben, wo ihnen in einer der nackten, verlassenen Zellen hastig eine Bettstatt hergerichtet wird. Fremde Frauen borgen der Königin von Frankreich ein Hemd und etwas Wäsche, von einem ihrer eigenen Dienstmädchen muß sie sich, da sie ihr Geld verloren oder im Tumult vergessen hat, ein paar Goldstücke ausleihen. Jetzt endlich, da sie allein ist, nimmt Marie Antoinette einige Bissen zu sich. Vor den vergitterten Fenstern aber wird es noch nicht still, noch immer ziehen – denn die Stadt fiebert – unablässig Rotten vorbei, und von den Tuilerien her hört man dumpfes Rollen von Wagen. Es sind die Karren, welche die Leichen der tausend Gefallenen wegräumen: häßliche Arbeit der Nacht. Den Kadaver des Königtums wird man am lichten Tage beseitigen.
Am nächsten Morgen und am übernächsten muß die königliche Familie abermals den Verhandlungen der Nationalversammlung in demselben fürchterlichen Pferch beiwohnen; von Stunde zu Stunde können sie spüren, wie ihre Macht in diesem feurigen Ofen schmilzt. Gestern sprach man noch vom König, heute redet Danton schon von den »Volksunterdrückern« und Cloots von den »Könige genannten Individuen«. Gestern wählte man noch das Luxembourg-Schloß als »Aufenthalt« für den Hof und beantragte, einen Erzieher für den Dauphin zu bestellen, heute lautet die Formel schon schärfer: den König unter die »sauvegarde de la nation« zu stellen, ein schöneres Wort für Gefangenschaft; außerdem verweigert die Kommune, die neue revolutionäre Stadtverwaltung, die sich in der Nacht des zehnten August gebildet hat, ihre Zustimmung zum Luxembourg oder zum Justizministerium als zukünftiger Residenz und sagt klar den Grund: weil es zu leicht wäre, aus diesen beiden Gebäuden zu entkommen. Nur im »Temple« könnte sie für die Sicherheit der »détenus« – immer nackter formt sich der Begriff für die Gefangenschaft – bürgen. Die Nationalversammlung, heimlich froh, die Entscheidung von sich abzuwälzen, übergibt die Sorge für den König der Kommune. Diese verspricht, die königliche Familie »mit allem Respekt, der dem Unglück gebühre,« in den Temple zu führen; damit ist alles erledigt, und weiter und weiter den ganzen Tag bis zwei Uhr nachts dreht sich die Mühle der Worte, aber kein einziges spricht zugunsten der Gedemütigten, die gebückt im Dunkel der Loge wie im Schatten des Schicksals sitzen.
Endlich, am 13. August, ist der Temple bereit. Ein ungeheurer Weg ist in diesen drei Tagen zurückgelegt. Vom absoluten Königtum bis zur Nationalversammlung hatte es Jahrhunderte gedauert, von der Nationalversammlung zur Konstitution zwei Jahre, von der Konstitution zum Tuileriensturm ein paar Monate, vom Tuileriensturm bis zur Gefangensetzung nur drei Tage. Jetzt sind es nur noch ein paar Wochen Frist bis zum Schafott und dann bloß ein einziger Ruck hinab in den Sarg.
Um sechs Uhr abends, am 13. August, wird die königliche Familie unter der Führung Pétions in den Temple gebracht – um sechs Uhr abends, ehe die Dämmerung hereinbricht, und nicht etwa in der Nacht, denn man will, daß das siegreiche Volk seinen einstigen Herrn und vor allem sie, die hochmütige Königin, auf der Fahrt in den Kerker betrachten könne. Zwei Stunden, mit Absicht langsam, läßt man den Wagen durch die halbe Stadt rollen; man macht eigens den Umweg über die Place Vendôme, damit Ludwig XVI. die auf Befehl der Nationalversammlung zerschmetterte und von ihrem Sockel herabgerissene Statue seines Urgroßvaters, Ludwigs XIV., betrachten könne und nicht länger innerlich zweifle, es sei nicht allein seine Herrschaft, sondern auch die seines ganzen Geschlechts zu Ende.
Am gleichen Abend aber, da der bisherige Herr von Frankreich sein Ahnenschloß mit einem Gefängnis tauscht, wechselt auch der neue Herr in Paris seinen Aufenthalt. In derselben Nacht wird die Guillotine aus dem Hof der Conciergerie geholt und drohend auf dem Carrouselplatz aufgestellt. Frankreich soll wissen: seit dem 13. August gebietet nicht mehr Ludwig XVI. über Frankreich, sondern der Terror.