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Dies weiß man nun und weiß es unwiderleglich, daß Hans Axel von Fersen nicht, wie man endlos lange vermeinte, Nebengestalt, sondern die Hauptfigur im Seelenroman Marie Antoinettes gewesen ist; man weiß, seine Beziehung zur Königin war durchaus nicht nur galante Tändelei, romantischer Flirt, eine chevalereske Troubadourallüre, sondern eine in zwanzig Jahren gehärtete und bewährte Liebe mit allen Insignien ihrer Macht, dem feuerfarbenen Mantel der Leidenschaft, der zepterlichen Hoheit des Muts, der verschwenderischen Größe des Gefühls. Eine letzte Unsicherheit umschwebt nur noch die Form dieser Liebe. War sie – wie man im vorigen Jahrhundert literarisch zu sagen beliebte – eine »reine« Liebe, womit niederträchtigerweise immer jene gemeint war, bei der eine leidenschaftlich liebende und leidenschaftlich geliebte Frau dem liebenden und geliebten Mann die letzte Hingabe prüde verweigert? Oder war sie eine in jenem Sinn »sträfliche«, das heißt: in unserem Sinne eine ganze, freie, großzügig und kühn sich schenkende, alles schenkende Liebe? War Hans Axel von Fersen bloß der cavaliere servente, der romantische Anbeter Marie Antoinettes oder wirklich und körperlich ihr Geliebter – war er es, war er es nicht?
»Nein!« »Keinesfalls!« schreien sofort – mit einer merkwürdigen Gereiztheit und verdächtigen Voreiligkeit gewisse royalistisch-reaktionäre Biographen, die um jeden Preis die Königin, »ihre« Königin, »rein« und vor jeder »Herabwürdigung« geschützt wissen wollen. »Er liebte die Königin leidenschaftlich,« behauptet Werner von Heidenstam mit beneidenswerter Sicherheit, »ohne daß je ein fleischlicher Gedanke diese Liebe verunreinigt hätte, die der Troubadoure und Ritter der Tafelrunde würdig gewesen wäre. Marie Antoinette hat ihn geliebt, ohne einen Augenblick ihre Pflichten als Gattin, ihre Würde als Königin zu vergessen.« Für diese Art Ehrfurchtsfanatiker ist es undenkbar – das heißt: sie protestieren, daß jemand es denke –, »die letzte Königin von Frankreich könnte das ›dépôt d'honneur‹ verraten haben, das alle oder fast alle Mütter unserer Könige ihr vermachten«. Um Gottes willen also keine Nachforschungen, überhaupt keine Diskussion über diese »affreuse calomnie« (Goncourt), kein »acharnement sournois ou cynique« zur Aufdeckung des wahrhaften Tatbestands! Sofort geben die unbedingten Verteidiger der »Reinheit« Marie Antoinettes nervös das Klingelzeichen, wenn man sich der Frage auch nur nähert.
Muß man sich wirklich diesem Befehl fügen und mit schweigender Lippe an der Frage vorübergehen, ob Fersen Marie Antoinette zeitlebens nur »mit der Aureole auf der Stirn« gesehen oder auch mit männlich-menschlichem Blick? Geht nicht vielmehr, wer dieser Frage keusch ausweicht, an dem eigentlichen Problem vorbei? Denn man kennt einen Menschen nicht, solange man nicht sein letztes Geheimnis weiß, und am wenigsten den Charakter einer Frau, solange man nicht die Wesensform ihrer Liebe verstanden hat. In einer welthistorischen Beziehung wie dieser, wo jahrelang niedergehaltene Leidenschaft nicht etwa bloß zufällig an ein Leben streift, sondern schicksalhaft den seelischen Raum füllt und überfüllt, ist die Frage nach der Grenzform dieser Liebe nicht müßig und nicht zynisch, sondern entscheidend für das seelische Bildnis einer Frau. Um richtig zu zeichnen, muß man richtig die Augen auftun. Also: Treten wir heran, überprüfen wir die Situation und die Dokumente. Untersuchen wir, vielleicht gibt die Frage doch Antwort.
Erste Frage: Vorausgesetzt, man betrachtet es im Sinn der bürgerlichen Moral als Schuld, hätte Marie Antoinette sich rückhaltslos Fersen hingegeben – wer beschuldigt sie dieser restlosen Hingabe? Von den Zeitgenossen nur drei, allerdings drei Männer größten Zuschnitts, keine Hintertreppenhorcher, sondern Eingeweihte, denen man unbedingte Kenntnis der Situation zutrauen darf: Napoleon, Talleyrand und der Minister Ludwigs XVI., Saint-Priest, dieser tägliche Augenzeuge aller Geschehnisse. Alle drei behaupten ohne Rückhalt, Marie Antoinette sei die Geliebte Fersens gewesen, und sie tun es in einer Weise, die ihrerseits jeden Zweifel ausschließt. Saint-Priest, als der am meisten mit der Situation Vertraute, ist in den Einzelheiten am genauesten. Ohne Feindseligkeit gegen die Königin, vollkommen sachlich, erzählt er von den geheimen nächtlichen Besuchen Fersens in Trianon, in Saint-Cloud und in den Tuilerien, zu denen Lafayette ihm als Einzigem geheimen Zugang gestattet hatte. Er berichtet über die Mitwisserschaft der Polignac, die sehr einverstanden schien, daß die Gunst der Königin gerade auf einen Ausländer gefallen war, der keinerlei Vorteile aus seiner Günstlingsstellung ziehen wollte. Drei solche Aussagen beiseite zu schieben, wie es die rabiaten Tugendverteidiger tun, Napoleon, Talleyrand Verleumder zu nennen, erfordert eigentlich mehr Mut als eine unbefangene Untersuchung. Aber zweite Frage: Welche von den Zeitgenossen oder Augenzeugen erklären die Anschuldigung, Fersen sei der Geliebte Marie Antoinettes gewesen, als Verleumdung? Kein einziger. Und es fällt auf, daß gerade die Intimen mit einer merkwürdigen Einhelligkeit vermeiden, Fersens Namen überhaupt auszusprechen: Mercy, der doch jede Nadel dreimal betrachtet, die sich die Königin ins Haar steckt, erwähnt nicht ein einziges Mal seinen Namen in seinen offiziellen Depeschen; immer schreiben die Getreuen bei Hof bloß von »einer gewissen Person«, der man Briefe übergeben habe. Aber niemand spricht seinen Namen aus; ein Jahrhundert lang herrscht eine verdächtige Verschwörung des Schweigens, und die ersten offiziellen Biographieen vergessen geflissentlich, ihn überhaupt zu erwähnen. Man kann sich also des Eindrucks nicht erwehren, es sei nachträglich ein »mot d'ordre« ausgegeben worden, diesen Störenfried der romantischen Tugendlegende möglichst gründlich vergessen zu lassen.
So stand die historische Forschung lange Zeit vor einer schwierigen Frage. Überall begegnete sie dringlichen Verdachtsmomenten, und überall war der entscheidende dokumentarische Beweis von beflissenen Händen wegeskamotiert. Auf Grund des vorhandenen Materials – das nicht mehr vorhandene enthielt die eigentlichen Belastungsbeweise – konnte sie ein wirkliches In-flagranti nicht feststellen. Forse che si, forse che no, vielleicht, vielleicht auch nicht, sagte, solange noch die letzten schlüssigsten Beweise fehlten, die historische Wissenschaft im Falle Fersen und klappte das Aktenbündel zu mit dem Seufzer: Wir haben nichts Geschriebenes, nichts Gedrucktes, also nicht den einzig in unserer Sphäre endgültigen Beweis.
Wo aber die an den Augenschein streng gebundene Forschung endet, beginnt die freie und beschwingte Kunst der Seelenschau; wo die Paläographie versagt, muß die Psychologie sich bewähren, deren logisch eroberte Wahrscheinlichkeiten oft wahrer sind als die nackte Wahrheit der Akten und Fakten. Hätten wir nichts als Dokumente der Geschichte, wie eng, wie arm, wie lückenhaft wäre sie! Das Eindeutige, das Offenbare ist die Domäne der Wissenschaft, das Vieldeutige, das erst zu Deutende und zu Klärende die zugeborene Zone der Seelenkunst; wo das Material nicht ausreicht für papiernen Beweis, bleiben noch unermeßliche Möglichkeiten für den Psychologen. Das Gefühl weiß von einem Menschen immer mehr als alle Dokumente.
Aber prüfen wir zuerst noch einmal die Dokumente. Hans Axel von Fersen, obgleich romantischen Herzens, war ein Mann der Ordnung. Mit pedantischer Genauigkeit führt er Tagebuch, jeden Morgen notiert er säuberlich das Wetter, den Luftdruck und neben den atmosphärischen die politischen und persönlichen Ereignisse. Er hält ferner – höchst ordentlicher Mann – ein Postbuch, in dem er die eingegangenen und abgesandten Briefe unter ihrem Datum verzeichnet. Er macht sich außerdem Notizen für seine Aufzeichnungen, bewahrt seine Korrespondenz methodisch auf – ein idealer Mann also für Geschichtsforscher; denn als er 1810 stirbt, hinterläßt er eine tadellos geordnete Registratur seines ganzen Lebens, einen dokumentarischen Schatz ohnegleichen.
Was geschieht nun mit diesem Schatz? Nichts. Schon dies mutet sonderbar an. Sein Vorhandensein wird von den Erben sorgfältig – oder sagen wir besser: ängstlich – verschwiegen, niemand erhält Zutritt zu den Archiven, niemand erfährt von ihrem Vorhandensein. Endlich, ein halbes Jahrhundert nach Fersens Tod, gibt ein Nachfahre, ein Baron Klinkowström, die Korrespondenz und einen Teil der Tagebücher heraus. Aber merkwürdig sie ist nicht mehr vollständig. Eine Reihe von Briefen Marie Antoinettes, die das Postbuch als Briefe »Josephinens« vermerkt, sind verschwunden, ebenso das Tagebuch Fersens aus den entscheidenden Jahren, und – am allermerkwürdigsten – in den Briefen sind wiederum ganze Zeilen durch punktierte Stellen ersetzt. Irgendeine Hand hat da gewaltsam im Nachlaß geschaltet. Und immer, wo ein vorhandenes, einstmals vollzähliges Briefmaterial von Nachfahren verstümmelt oder vernichtet wird, dort werden wir den Verdacht nicht los, es sollten zum Zweck blasser Idealisierung Tatsachen verdunkelt werden. Aber hüten wir uns vor vorgefaßten Meinungen. Bleiben wir kühl und gerecht.
Es fehlen also Stellen in den Briefen und sind durch Punkte ersetzt. Warum? Sie sind im Original unleserlich gemacht, behauptet Klinkowström. Von wem? Wahrscheinlich von Fersen selbst. »Wahrscheinlich!« Aber weshalb? Darauf antwortet Klinkowström (in einem Briefe) recht verlegen, wahrscheinlich hätten jene Zeilen politische Geheimnisse enthalten oder mißliebige Bemerkungen Marie Antoinettes über König Gustav von Schweden. Und da Fersen diese Briefe alle – alle? – dem Könige zeigte, habe er wahrscheinlich – wahrscheinlich! – jene Stellen daraus getilgt. Sonderbar! Die Briefe waren zum großen Teil chiffriert, so konnte Fersen doch nur Abschriften dem Könige vorlegen. Wozu da die Originale verstümmeln und unleserlich machen? Schon dies wirkt verdächtig. Aber wie gesagt, keine Voreingenommenheit.
Untersuchen wir! Sehen wir uns einmal die unleserlich gemachten und durch Punkte ersetzten Stellen näher an. Was fällt auf? Zunächst dies: Die verdächtigen Punkte erscheinen beinahe immer nur dort, wo der Brief beginnt oder endet, bei der Anrede oder nach dem Worte »Adieu«. – »Je vais finir«, heißt es zum Beispiel, also: ich bin mit dem Geschäftlich-Politischen zu Ende, jetzt kommt ... nein, nichts kommt jetzt in der verstümmelten Ausgabe als Punkte, Punkte, Punkte. Sind aber die Auslassungen in der Mitte eines Briefes, so findet man sie merkwürdigerweise immer an jenen Stellen, die mit Politik nichts zu tun haben. Abermals ein Beispiel: »Comment va votre santé? Je parie que vous ne vous soignez pas et vous avez tort ... pour moi je me soutiens mieux que je ne devrais« – wird irgendein Mensch mit geraden Sinnen da ein Politikum dazwischen dichten können? Oder wenn die Königin von ihren Kindern schreibt: »Cette occupation fait mon seul bonheur ... et quand je suis bien triste, je prends mon petit garçon«, so würden hier von tausend Menschen neunhundertneunundneunzig als selbstverständlich in die Lücke einsetzen: »seit du von hier fort bist«, und nicht eine ironische Bemerkung über den Schwedenkönig. Die verlegenen Behauptungen Klinkowströms sind also nicht ernst zu nehmen; hier ist etwas anderes unterdrückt als politische Geheimnisse: ein menschliches Geheimnis. Dieses aufzudecken, gibt es glücklicherweise ein Mittel: die Mikrophotographie kann mit Leichtigkeit solche überschmierte Briefzeilen wieder sichtbar machen. Also her mit den Originalen!
Aber – Überraschung! Die Originale sind nicht mehr vorhanden: bis etwa 1900, also mehr als ein Jahrhundert, lagen die Briefe wohlerhalten und geordnet im Erbschlosse Fersens. Plötzlich sind sie fort und vernichtet. Denn die technische Möglichkeit, seine übertünchten Stellen aufzudecken, muß für den sittsamen Baron Klinkowström ein Angsttraum gewesen sein; so hat er kurzerhand die Briefe Marie Antoinettes an Fersen vor seinem Tode verbrannt – ein herostratischer Akt ohnegleichen, unsinnig und, wie man sehen wird, überdies sinnlos. Aber Klinkowström wollte um jeden Preis im Falle Fersen das Zwielicht statt des Lichts erhalten, die Legende statt der klaren und unwidersprechlichen Wahrheit. Nun meinte er, könne er beruhigt sterben, denn die »Ehre« Fersens, die Ehre der Königin seien durch die Wegschaffung der Briefbeweise gerettet.
Aber dies Autodafé war nach dem alten Wort mehr als Verbrechen: es war eine Dummheit. Erstlich bildet Vernichtung von Beweisen in sich selbst schon einen Beweis für Schuldgefühl, und dann: ein unheimliches Gesetz der Kriminalogie will, daß bei jedem hastigen Wegschaffen von Beweismaterial doch immer ein Beweis übrig bleibt. Und so hat Alma Sjöderhelm, die ausgezeichnete Forscherin, bei der Durchsicht der übrig gebliebenen Papiere eine eigenhändige Abschrift Fersens eines jener Briefe Marie Antoinettes gefunden, den die Herausgeber seinerzeit übersehen hatten, weil er eben nur in Abschrift Fersens vorlag (und die »unbekannte Hand« wahrscheinlich das Original verbrannte). Dank dieses Fundes haben wir zum erstenmal ein intimes Billett der Königin in extenso und damit den Schlüssel oder vielmehr die erotische Stimmgabel aller anderen Briefe in unserer Hand. Jetzt können wir ahnen, was der zimperliche Herausgeber in den anderen wegpunktierte. Denn auch in diesem Briefe steht am Ende ein »Adieu«, ein Lebwohl; aber dann kommen nicht Rasuren und punktierte Stellen, sondern es heißt: »Adieu, le plus aimant et le plus aimé des hommes«, zu deutsch also: »Leb wohl, liebendster und geliebtester aller Männer.«
Wie anders wirkt dies Zeichen auf uns ein! Versteht man nun, warum die Klinkowströms, die Heidenstams und all die anderen Eidesleister der »Reinheit«, die wahrscheinlich mehr Dokumente dieser Art in Händen gehabt haben, als die Nachwelt je erfahren wird, so auffällig nervös wurden und werden, sobald man den Fall Fersen vorurteilslos untersuchen will? Denn für den, der sich auf Herztöne versteht, kann kein Zweifel sein, daß eine Königin, die einen Mann so mutig und über alle Konvention erhaben anspricht, ihm den letzten Beweis der Zärtlichkeit längst gegeben hat: diese eine gerettete Zeile ersetzt alle anderen vernichteten. Wäre das Vernichten in sich selbst nicht schon Beweis – mit diesem einen geretteten Wort ist er dem Einsichtigen erbracht.
Aber weiter und mehr! Es gibt nebst diesem geretteten Brief auch im Leben Fersens eine Szene, die charakterologisch entscheidend wirkt. Sie spielt sechs Jahre nach dem Tode der Königin. Fersen soll auf dem Kongreß von Rastatt die schwedische Regierung vertreten. Da erklärt Bonaparte brüsk dem Baron Edelsheim, er verhandle nicht mit Fersen, dessen royalistische Gesinnung er kenne und der überdies mit der Königin geschlafen habe. Er sagt nicht: in Beziehungen gestanden sei. Sondern er sagt herausfordernd das beinahe unflätige Wort »mit der Königin geschlafen habe«. Baron Edelsheim fällt es nicht ein, Fersen zu verteidigen; auch ihm scheint die Tatsache völlig selbstverständlich. So antwortet er nur lachend, er habe geglaubt, diese Geschichten aus dem »ancien régime« seien längst abgetan, das habe doch nichts mit Politik zu schaffen. Und dann geht er hin und erzählt Fersen die ganze Unterhaltung. Und Fersen, was tut er? Oder vielmehr, was müßte er tun, wenn das Wort Bonapartes eine Unwahrheit gewesen wäre? Müßte er nicht die tote Königin sofort gegen die Beschuldigung (falls sie eine ungerechte wäre) verteidigen? Nicht aufschreien: Verleumdung! Nicht diesen neugebackenen kleinen korsischen General, der für seine Anschuldigung noch das grobsachlichste Wort wählt, sofort vor die Klinge fordern? Darf ein ehrenhafter aufrechter Charakter eine Frau beschuldigen lassen, seine Geliebte gewesen zu sein, wenn sie es nicht wirklich war? Jetzt oder nie hat Fersen Gelegenheit und sogar die Pflicht, eine Behauptung, die längst heimlich umgeht, mit der blanken Klinge niederzuschlagen, ein für allemal das Gerücht zu zerstreuen.
Aber was tut Fersen? O weh, er schweigt. Er nimmt die Feder und trägt die ganze Unterhaltung Edelsheims mit Bonaparte einschließlich der Anschuldigung, daß er mit der Königin »geschlafen« habe, säuberlich in sein Tagebuch ein. Mit keinem Wort entkräftet er selbst in der tiefsten Intimität mit sich selbst die Behauptung, die nach der Meinung seiner Biographen »infame und zynische« Beschuldigung. Er senkt den Kopf und sagt damit: ja. Als einige Tage später die englischen Gazetten sich über diesen Zwischenfall verbreiten und »dabei über ihn und die unglückliche Königin sprachen«, fügt er bei »ce qui me choqua«, zu deutsch »was mir ärgerlich war«. Das ist Fersens ganzer Protest oder vielmehr Nichtprotest. Abermals sagt ein Schweigen mehr als alle Worte.
Man sieht also: Was ängstliche Nachfahren so krampfhaft zu verstecken suchten, nämlich, daß Fersen der Geliebte Marie Antoinettes gewesen, hat der Liebende selbst nie geleugnet. Zu Dutzenden ergeben sich aus einer Fülle von Tatsachen und Dokumenten weitere beweisende Einzelheiten: daß seine Schwester ihn beschwört, als er in Brüssel sich mit einer anderen Geliebten öffentlich zeigt, er möge doch dafür sorgen, daß sie (»elle«) nichts davon erfahre, sie würde sich kränken (mit welchem Recht, muß man fragen, wäre sie nicht seine Geliebte gewesen); daß im Tagebuch die Stelle ausgetilgt ist, wo Fersen vermerkt, die Nacht in den Tuilerien in den Gemächern der Königin verbracht zu haben; daß vor dem Revolutionstribunal ein Kammermädchen aussagt, jemand habe öfters nachts das Zimmer der Königin heimlich verlassen. Das sind Einzelheiten, schwerwiegend allerdings nur dadurch, daß sie alle so unheimlich einhellig zusammenstimmen, – dennoch wäre der Beweis aus so auseinanderliegenden Elementen nicht überzeugend, fehlte ihm die letzte, die entscheidende Bindung mit dem Charakter. Nur aus der Gesamtheit einer Individualität wird immer ihre Handlungsweise erklärbar, denn jeder einzelne Willensakt eines Menschen liegt in der geschlossenen Ursächlichkeit seiner Natur. Die Frage der Wahrscheinlichkeit einer leidenschaftlich-intimen oder einer bloß respektvoll-konventionellen Beziehung zwischen Fersen und Marie Antoinette ist darum im Letzten in der seelischen Gesamthaltung der Frau beschlossen, und man muß nach allen belastenden Einzelheiten vor allem fragen: Welches Verhalten, das frei hingebungsvolle oder das ängstlich sich versagende, entsprach logisch und charakterologisch dem Charakter der Königin? Wer aus dieser Perspektive sieht, der zögert nicht lange. Denn allen ihren Schwächen steht bei Marie Antoinette eine große Kraft gegenüber: ihr hemmungsloser, unbedenklicher, ihr wahrhaft souveräner Mut. Aufrichtig im Tiefsten, jeder Verstellung unfähig, hat diese Frau hunderte Male bei viel unwichtigeren Anlässen sich über alle Schranken der Konvention hinweggesetzt, gleichgültig gegen das Gerede hinter ihrem Rücken. Wenn sie wirkliche Größe auch nur in den entscheidenden Steigerungsaugenblicken ihres Schicksals erreicht, nie ist Marie Antoinette jemals kleinlich, nie ängstlich gewesen, nie hat sie eine andere Form der Ehre und Sittlichkeit, der gesellschaftlichen oder höfischen Moral über ihren eigenen Willen gestellt. Und gerade bei dem Einzigen, den sie wahrhaft liebt, sollte diese tapfere Frau plötzlich die Prüde gespielt haben, die ängstliche, die ehrsame Gattin ihres Ludwigs, dem sie doch nur durch Staatsräson und niemals durch Liebe verbunden war? Sie sollte gesellschaftlichem Vorurteil eine Leidenschaft geopfert haben mitten in einer apokalyptischen Zeit, da alle Bande der Zucht und Ordnung sich lösen, in der rauschhaft wilden Verzückung der Todesnähe, inmitten aller Schauer des Untergangs? Sie sollte, sie, die niemand hemmen und bändigen konnte, sich selbst zurückgezwungen haben von der natürlichsten, weiblichsten Form des Gefühls um eines Phantoms willen, einer Ehe, die immer nur Hohnbild einer wirklichen war, um eines Mannes willen, den sie nie als Mann empfunden, um einer Sitte willen, die sie mit allem Freiheitsinstinkt ihrer unbeherrschten Natur von je gehaßt? Wer dies Unglaubhafte glauben will, dem kann es nicht versagt werden. Aber nicht die verunstalten ihr Bild, die Marie Antoinette Kühnheit und Unbedenklichkeit in ihrem einzigen leidenschaftlichen Liebeserlebnis voll und frei zusprechen, sondern jene, die dieser furchtlosen Frau eine matte, eine feige, eine von Rücksicht und Vorsicht verängstete Seele zumuten wollen, eine, die das Letzte nicht wagt und das Natürliche in sich niederzwingt. Jedem aber, der einen Charakter nur als Einheit zu begreifen vermag, ist es völlig unbezweifelbar, daß Marie Antoinette, wie mit ihrer ganzen enttäuschten Seele, auch mit ihrem lange mißbrauchten und enttäuschten Leib die Geliebte Hans Axel von Fersens gewesen ist.
Aber der König? Bei jedem Ehebruch bildet der betrogene Dritte die heikle, die peinliche, die lächerliche Figur, und im Interesse Ludwigs XVI. mag ein gutes Teil der nachträglichen Abdunklungen jener Dreiecksbeziehung erfolgt sein. In Wirklichkeit war Ludwig XVI. keineswegs der lächerliche Hahnrei, denn er hat von dieser intimen Beziehung Fersens zu seiner Frau zweifellos gewußt. Saint-Priest sagt ausdrücklich: »Sie hatte Mittel und Wege gefunden, ihn dahin zu bringen, daß er ihre Beziehung mit dem Grafen Fersen zur Kenntnis nahm.«
Diese Auffassung fügt sich vollkommen in das Bild der Situation. Nichts war Marie Antoinette fremder als Heuchelei und Verstellung; ein hinterhältiger Betrug an ihrem Gatten entspricht nicht ihrer seelischen Haltung, und auch die so häufig übliche unsaubere Vermischung, diese häßliche gleichzeitige Gemeinschaft zwischen Gatten und Liebhaber, kommt bei ihrem Charakter nicht in Frage. Es ist zweifellos, daß sobald – verhältnismäßig spät, wahrscheinlich erst zwischen dem fünfzehnten und zwanzigsten Ehejahre – endlich ihre intime Beziehung zu Fersen einsetzte, Marie Antoinette die körperliche zu ihrem Gatten gelöst hat; diese bloß charakterologische Vermutung wird überraschend ergänzt durch einen Brief ihres kaiserlichen Bruders, der in Wien irgendwie vernommen hat, daß seine Schwester nach der Geburt des vierten Kindes sich von Ludwig XVI. zurückziehen wolle: der Zeitpunkt stimmt genau überein mit dem Beginn intimerer Beziehungen zu Fersen. Wer klar zu sehen liebt, sieht also die Situation klar. Marie Antoinette, durch Staatsräson verheiratet mit einem völlig ungeliebten und keineswegs einnehmenden Mann, unterdrückt jahrelang ihr seelisches Liebesbedürfnis zugunsten dieses ehelichen Zwanges. Aber sobald sie zwei Söhne geboren hat, also Thronfolger unzweifelhaft bourbonischen Bluts der Dynastie gegeben, fühlt sie ihre moralische Pflicht an den Staat, an das Gesetz, an ihre Familie als beendet und sich endlich frei. Nach zwanzig der Politik aufgeopferten Jahren nimmt in letzter und tragisch erschütterter Stunde die vielgeprüfte Frau sich ihr reines und natürliches Recht zurück, sich dem lange schon geliebten Manne nicht länger zu versagen, der ihr alles in einem ist, Freund und Geliebter, Vertrauter und Gefährte, mutig wie sie selbst und bereit, an Opfermut den ihren zu entgelten. Wie arm sind all die künstlichen Hypothesen von der süßlich tugendhaften Königin gegenüber der klaren Wirklichkeit ihres Verhaltens, und wie sehr setzen eben jene, die unbedingt die königliche »Ehre« dieser Frau verteidigen wollen, ihren menschlichen Mut und ihre seelische Würde herab! Denn nie ist eine Frau ehrlicher und edler, als wenn sie ganz und frei ihren untrüglichen, jahrelang geprüften Gefühlen folgt, nie eine Königin königlicher, als wenn sie am menschlichsten handelt.