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Der Bruder besucht seine Schwester

Im Jahre 1776 und im Karneval 1777 erreicht der Vergnügungstaumel Marie Antoinettes den höchsten Punkt der scharf ansteigenden Kurve. Die mondäne Königin fehlt bei keinem Rennen, keinem Opernball, keiner Redoute, nie kommt sie vor Morgengrauen nach Hause, ständig meidet sie das eheliche Bett. Bis vier Uhr früh sitzt sie vor dem Spieltisch, ihre Verluste und Schulden erregen bereits öffentliches Ärgernis. Verzweifelt schmettert der Botschafter Mercy Bericht auf Bericht nach Wien: »Ihre Königliche Majestät vergißt vollkommen ihre äußere Würde«, es sei kaum möglich, sie zu belehren, denn »die verschiedenen Arten des Vergnügens folgen einander mit solcher Geschwindigkeit, daß man nur mit größter Mühe einige Augenblicke findet, mit ihr von ernsten Dingen zu sprechen«. Seit langem habe man Versailles nicht so verlassen gesehen wie in diesem Winter; im Laufe des letzten Monats hätten sich die Beschäftigungen der Königin oder, besser gesagt, ihre Vergnügungen nicht geändert oder vermindert. Es ist, als ob ein Dämon sich dieser jungen Frau bemächtigt habe: nie war ihre Unruhe, ihre Unrast unsinniger als in diesem entscheidenden Jahr.

Dazu tritt nun zum erstenmal eine neue Gefahr. Marie Antoinette ist 1777 nicht mehr das fünfzehnjährige naive Kind, als das sie nach Frankreich gekommen, sondern eine zweiundzwanzigjährige, zu üppiger Schönheit aufgeblühte, eine verlockende und selbst schon verlockte Frau; es wäre eher unnatürlich, bliebe sie völlig teilnahmlos kühl inmitten der erotischen, der überreizt sinnlichen Atmosphäre des Versailler Hofes. Alle ihre gleichaltrigen Verwandten, all ihre Freundinnen haben längst schon Kinder, jede einen wirklichen Mann oder wenigstens Liebhaber; nur sie allein ist durch das Ungeschick ihres unglücklichen Gatten ausgeschlossen, nur sie, schöner als alle, begehrlicher und begehrter als jede in ihrem Kreise, hat noch niemandem ihr Gefühl hingegeben. Vergeblich hat sie ihr starkes Zärtlichkeitsbedürfnis abgelenkt auf ihre Freundinnen, die innere Leere mit unablässigen Gesellschaftlichkeiten überlärmt – es hilft nichts, die Natur will bei jeder, also auch bei dieser durchaus natürlichen und normalen Frau allmählich ihr Recht. Immer mehr verliert im Zusammensein mit den jungen Kavalieren Marie Antoinette die ursprüngliche unbekümmerte Sicherheit. Zwar fürchtet sie sich noch vor dem Gefährlichsten. Aber sie läßt nicht ab, mit der Gefahr zu spielen, und vermag dabei nicht, ihrem Blut zu befehlen, das sie verrät; sie errötet, sie erblaßt, sie beginnt in der Nähe dieser unbewußt begehrten jungen Menschen zu erzittern, sie verwirrt sich, bekommt Tränen in die Augen und fordert doch immer wieder von neuem die galanten Komplimente dieser Kavaliere heraus; die Memoiren Lauzuns mit jener merkwürdigen Szene, da die eben noch zornig irritierte Königin ihn plötzlich in flüchtiger Umarmung umpreßt und, über sich selbst erschrocken, sofort beschämt entflieht, hat durchaus den Akzent der Wahrheit, denn der Bericht des schwedischen Gesandten über ihre offenkundige Passion für den jungen Grafen Fersen spiegelt den gleichen erregten Zustand. Es ist unverkennbar: die gequälte, von ihrem tölpischen Gatten aufgesparte und aufgeopferte zweiundzwanzigjährige Frau steht am Rande ihrer Selbstbeherrschung. Ihre Nerven halten nicht mehr der unsichtbaren Spannung stand, obwohl sich Marie Antoinette verteidigt, und vielleicht eben deshalb. Tatsächlich berichtet, als wollte er das klinische Bild ergänzen, der Botschafter Mercy über plötzlich auftretende »affectations nerveuses«, über sogenannte »vapeurs«. Vorläufig rettet Marie Antoinette noch die ängstliche Rücksicht ihrer eigenen Kavaliere vor einem wirklichen Verstoß gegen die eheliche Ehre – beide, Lauzun und Fersen, verlassen hastig den Hof, sobald sie das allzu offenbare Interesse der Königin für sich merken –; aber es ist kein Zweifel, wenn einer von den jungen Günstlingen, mit denen sie kokett spielt, in günstigem Augenblick kühn Zugriffe, könnte er sich leicht dieser innerlich nur noch matt bewahrten Tugend bemächtigen. Bisher ist es Marie Antoinette glücklicherweise gelungen, noch einen Schritt vor dem Fall sich aufzufangen. Aber mit der inneren Unruhe wächst die Gefahr: immer näher, immer flattriger kreist der Schmetterling um das lockende Licht; ein ungeschickter Flügelschlag, und die Spielende stürzt unrettbar in das zerstörende Element.

Weiß der mütterliche Wächter auch von dieser Gefahr? Man darf es annehmen, denn seine Warnungen vor Lauzun, vor Dillon, vor Esterhazy deuten an, daß der alte erfahrene Junggeselle die gespannte Lage besser in ihrer letzten Ursache erfaßt als die Königin, die nicht ahnt, wie verräterisch ihre springenden Erregtheiten, ihre wilde und unstillbare Fahrigkeit sind. Er begreift im ganzen Ausmaß die Katastrophe, die es bedeuten würde, wenn die Königin von Frankreich, ehe sie ihrem Gatten einen echten Erben geboren, irgendeinem fremden Liebhaber zur Beute fiele: das muß verhindert werden um jeden Preis. So sendet er Brief um Brief nach Wien, Kaiser Joseph möge endlich nach Versailles kommen, um nach dem Rechten zu sehen. Denn er weiß, der stille, ruhige Beobachter: es ist höchste Zeit, die Königin vor sich selbst zu retten.

 

Die Reise Josephs II. nach Paris hat einen dreifachen Zweck. Er soll, Mann zu Mann, mit dem König, seinem Schwager, über die heikle Angelegenheit der noch immer nicht vollzogenen ehelichen Pflichten reden. Er soll mit der Autorität des ältern Bruders seiner vergnügungssüchtigen Schwester den Kopf waschen, ihr die politischen und menschlichen Gefahren ihrer Vergnügungssucht vor Augen halten. Drittens soll er das staatliche Bündnis zwischen dem französischen und österreichischen Herrscherhaus menschlich festigen.

Zu diesen drei ihm vorgesetzten Aufgaben fügt Joseph II. freiwillig noch eine vierte hinzu: er will die Gelegenheit dieses auffälligen Besuches wahrnehmen, ihn noch auffälliger zu machen, und für seine eigene Person möglichst viel Bewunderung einheimsen. Dieser im Innersten ehrenhafte, nicht unkluge, wenn auch nicht übermäßig begabte und vor allem eitle Mann, leidet seit Jahren an der typischen Kronprinzenkrankheit; es verärgert ihn, als erwachsener Mann noch immer nicht frei und unbeschränkt herrschen zu dürfen, sondern im Schatten seiner berühmten, gefeierten Mutter auf der politischen Bühne bloß die zweite Rolle zu spielen oder, wie er sich ärgerlich ausdrückt, »das fünfte Rad am Wagen zu sein«. Gerade weil er weiß, daß er die große Kaiserin, die ihm im Lichte steht, weder an Klugheit noch an moralischer Autorität übertreffen kann, sucht er sich für diese Nebenrolle eine besonders hervorstechende Nuance. Wenn sie vor Europa schon die heroische Auffassung des Herrschertums versinnlicht, will er für seinen Teil den Volkskaiser spielen, den modernen, philanthropischen, vorurteilsfreien, aufgeklärten Landesvater. Er geht als Arbeitsmann hinter dem Pflug, er mischt sich im schlichten Bürgerrock unter die Menge, er schläft im einfachen Soldatenbett, er läßt sich zur Probe auf dem Spielberg einsperren, sorgt aber gleichzeitig dafür, daß die Welt diese ostentative Bescheidenheit im weitesten Maße erfährt. Bisher konnte Joseph II. diese Rolle des leutseligen Kalifen aber nur vor seinen eigenen Untertanen verkörpern; diese Reise nach Paris bietet ihm endlich Gelegenheit, auf der großen Weltbühne aufzutreten. Und schon viele Wochen vorher studiert der Kaiser seine Bescheidenheitsrolle mit allen nur denkbaren Einzelheiten ein.

 

Zur Hälfte ist Kaiser Joseph diese Absicht gelungen. Zwar hat er die Geschichte nicht zu täuschen vermocht, sie verzeichnet in seinem Schuldbuch Fehler über Fehler, verfrühte, ungeschickt eingeführte Reformen, verhängnisvolle Voreiligkeiten, und vielleicht nur sein frühzeitiger Tod hat Österreich vor dem schon damals drohenden Zerfall bewahrt; aber die Legende, gutgläubiger als die Geschichte, sie hat er sich gewonnen. Lange wurde noch das Lied von dem gütigen Volkskaiser gesungen, unzählige Kolportageromane schildern, wie ein edler Unbekannter in schlichten Mantel gehüllt, Wohltaten mit linder Hand übt und die Mädchen aus dem Volke liebt; berühmt ist von diesen Romanen der immer wiederkehrende Schluß: der Unbekannte schlägt den Mantel auf, man erblickt staunend eine prunkvolle Uniform, und der edle Mann wendet sich weiter mit den tiefsinnigen Worten: »Meinen Namen werdet ihr nie erfahren, ich bin der Kaiser Joseph.«

Ein törichtes Scherzwort, aber doch, es ist aus Instinkt klüger, als man denkt: in fast genialer Weise karikiert es jene historische Eigenheit Kaiser Josephs, einerseits den bescheidenen Mann zu spielen und gleichzeitig alles zu tun, daß diese Bescheidenheit auch gehörig bewundert werde. Seine Reise nach Paris gibt davon eine bezeichnende Probe. Denn Kaiser Joseph II. reist selbstverständlich nicht als Kaiser nach Paris, er will kein Aufsehen, sondern als Graf Falkenstein, und stärkstes Gewicht wird darauf gelegt, daß niemand von diesem Inkognito erfahre. In langen Schriftstücken wird festgelegt, daß niemand ihn anders als »Monsieur« ansprechen darf, auch der König von Frankreich nicht, daß er nicht in Schlössern wohnen und nur schlichte Mietwagen benutzen will. Selbstverständlich wissen aber alle Höfe Europas auf Tag und Stunde genau sein Eintreffen; gleich in Stuttgart spielt ihm der Herzog von Württemberg einen schlimmen Streich und befiehlt, sämtliche Schilder von den Gasthäusern zu entfernen, so daß dem Volkskaiser nichts anderes übrig bleibt, als doch im Palais des Herzogs zu schlafen. Aber mit pedantischer Starrheit hält der neue Harun al Raschid bis zum letzten Augenblick an seinem längst weltbekannten Inkognito fest. Im einfachen Fiaker fährt er in Paris ein, steigt im Hotel de Tréville, dem heutigen Hotel Foyot, als unbekannter Graf Falkenstein ab; in Versailles nimmt er ein Zimmer in einem minderen Haus, schläft dort, als wäre er im Biwak, auf einem Feldbett, bloß mit dem Mantel bedeckt. Und er hat richtig gerechnet. Für das Pariser Volk, das seine Könige nur im Luxus kennt, ist ein solcher Herrscher Sensation, ein Kaiser, der in den Hospitälern die Armensuppen kostet, der den Sitzungen der Akademieen, den Verhandlungen im Parlament beiwohnt oder die Schiffer, die Kaufleute, die Taubstummenanstalt, den Botanischen Garten, die Seifenfabrik, die Handwerker besucht; Joseph sieht viel in Paris und freut sich zugleich, gesehen zu werden; er entzückt alle durch seine Leutseligkeit und ist selber noch mehr entzückt über den begeisterten Beifall, den er dafür findet. Mitten in solcher Doppelrolle zwischen Echt und Unecht bleibt dieser geheimnisvolle Charakter sich seines Zwiespalts ständig bewußt, und vor seinem Abschied schreibt er an seinen Bruder: »Du bist mehr wert als ich, aber ich bin mehr Scharlatan, und in diesem Lande muß man es sein. Ich bin mit Vorbedacht und aus Bescheidenheit einfach, aber ich übertreibe das mit Absicht; ich habe hier einen Enthusiasmus erregt, der mir wirklich schon peinlich wird. Ich verlasse dieses Königreich sehr zufrieden, aber ohne Bedauern, denn ich habe schon genug von meiner Rolle.«

 

Neben diesem persönlichen Erfolg erreicht Joseph auch die vorgezeichneten politischen Ziele; vor allem geht die Aussprache mit seinem Schwager über die bewußte heikle Angelegenheit überraschend leicht vonstatten. Ludwig XVI., ehrlich und jovial, empfängt seinen Schwager mit vollem Vertrauen. Es hat Friedrich dem Großen nichts geholfen, daß er seinem Gesandten, Baron Goltz, Anweisung gab, in ganz Paris zu verbreiten, daß Kaiser Joseph zu ihm gesagt habe: »Ich habe drei Schwäger, und alle drei sind jämmerlich: der eine in Versailles ist ein Schwachsinniger, der in Neapel ein Narr und der in Parma ein Dummkopf.« In diesem Falle hat der »schlimme Nachbar« den Kessel vergebens geheizt, denn Ludwig XVI. ist im Punkt der Eitelkeit nicht kitzlig, der Pfeil prallt ab an seiner biedern Gutmütigkeit. Die beiden Schwäger sprechen frei und ehrlich miteinander, und Ludwig XVI. nötigt bei näherer Bekanntschaft auch Joseph II. eine gewisse menschliche Achtung ab. »Dieser Mann ist ein Schwächling, aber kein Dummkopf. Er hat Kenntnisse und Urteil, aber er ist körperlich wie geistig apathisch. Er führt vernünftige Gespräche, hat aber keine rechte Lust, sich tiefer zu bilden, und keine rechte Neugier; das fiat lux ist bei ihm noch nicht gekommen, die Materie noch im Urzustand.« Nach einigen Tagen hat Joseph II. den König ganz in der Hand, sie verstehen sich in allen politischen Fragen, und man kann kaum zweifeln, daß es ihm ohne Mühe gelungen ist, seinen Schwager zu jener diskreten Operation zu bewegen.

Schwieriger, weil verantwortlicher, wird Josephs Stellung zu Marie Antoinette. Mit gemischten Gefühlen hat die Schwester den Besuch des Bruders erwartet, glücklich, sich endlich einmal mit einem Blutsverwandten, und zwar dem vertrautesten, ehrlich aussprechen zu können, aber auch voll Angst vor der schroffen lehrhaften Art, die der Kaiser der jüngeren Schwester gegenüber anzunehmen liebt. Erst vor kurzem hat er sie gerüffelt wie ein Schulmädchen: »In was mengst Du Dich ein?«, hatte er ihr geschrieben, »Du läßt Minister absetzen, einen andern auf seine Güter verbannen, Du schaffst neue kostspielige Ämter bei Hof! Hast Du Dich schon einmal gefragt, mit welchem Rechte Du Dich in die Angelegenheiten des Hofes und der französischen Monarchie mengst? Was für Kenntnisse hast Du Dir erworben, um zu wagen, Dich einzumengen und Dir einzubilden, Deine Meinung könnte in irgendeiner Hinsicht wichtig sein und besonders in jener des Staates, die doch ganz besondere vertiefte Kenntnisse erfordert? Du, eine liebenswürdige junge Person, die den ganzen Tag an nichts als an Frivolitäten, ihre Toiletten und Vergnügungen denkt, die nichts liest, nicht eine Viertelstunde im Monat in vernünftigem Gespräch verbringt oder zuhört, die nicht nachdenkt, nichts zu Ende und nie, ich bin dessen sicher, an die Folgen dessen denkt, was sie sagt oder tut ...« Einen solchen bittern Schulmeisterton ist die verwöhnte, verhätschelte Frau von ihren Höflingen in Trianon nicht gewöhnt, und man versteht ihr Herzklopfen, als plötzlich der Hofmarschall meldet, der Graf von Falkenstein sei in Paris eingetroffen und werde morgen in Versailles erscheinen.

Aber es kommt besser, als sie erwartet hat. Joseph II. ist Diplomat genug, um nicht sofort mit dem Donner ins Haus zu fallen; im Gegenteil, er sagt ihr Artiges über ihr reizendes Aussehen, versichert, wenn er noch einmal heiraten sollte, müßte seine Frau ihr ähnlich sein, er spielt eher den Galan. Maria Theresia hat wieder einmal richtig prophezeit, als sie im voraus ihrem Botschafter ankündigte: »Ich fürchte eigentlich nicht, daß er ein zu strenger Beurteiler ihres Verhaltens sein wird, ich glaube eher, daß, hübsch und anreizend, wie sie ist, und mit ihrer Geschicklichkeit, Geist und gute Haltung im Gespräch zu vermengen, sie seinen Beifall finden wird, was wiederum ihm schmeicheln wird.« In der Tat, die Liebenswürdigkeit der entzückend hübschen Schwester, ihre aufrichtige Freude, ihn wiederzusehen, die Achtung, mit der sie ihm zuhört, anderseits die familiäre Gutmütigkeit des Schwagers und der große Triumph, den er mit seiner Bescheidenheitskomödie in Paris erringt, machen den gefürchteten Pedanten stumm; der strenge Brummbär läßt sich beruhigen, seit man ihm so reichlich Honig gibt. Sein erster Eindruck ist eher freundlich: »Sie ist eine liebenswürdige und anständige Frau, noch etwas jung und etwas zu wenig nachdenkend, aber sie hat doch einen guten Fond von Anständigkeit und Tugend und dazu noch eine gewisse richtige Gabe der Auffassung, die mich oft überrascht hat. Die erste Regung ist immer richtig, und würde sie sich ihr hingeben und ein bißchen mehr nachdenken, statt der Legion Zubläser, die sie umringen, nachzugeben, so wäre sie vollendet. Die Vergnügungslust ist bei ihr sehr mächtig, und da man diese Schwäche kennt, hält man sich daran, und sie hört immer wieder am meisten auf jene, die ihr darin zu dienen wissen.«

Während sich Joseph II. aber scheinbar lässig bei all den Festen vergnügt, die ihm seine Schwester darbietet, beobachtet dieser merkwürdige Zwielichtgeist gleichzeitig scharf und genau. Vor allem muß er feststellen, daß Marie Antoinette »gar keine Liebe für ihren Gatten empfindet«, daß sie ihn nachlässig, gleichgültig und mit einem ungebührlichen Vonobenherab behandelt. Er hat ferner nicht viel Mühe, die üble Gesellschaft des »Windkopfs«, vor allem jene der Polignacs, zu durchschauen. Nur in einer Hinsicht scheint er beruhigt. Joseph II. atmet sichtlich erleichtert auf – wahrscheinlich hat er Ärgeres befürchtet –, daß trotz aller Koketterieen mit jungen Kavalieren die Tugend seiner Schwester bisher standgehalten hat, daß – sorgfältig fügt er die Klausel bei »wenigstens bis jetzt« – inmitten dieser verluderten Moral ihr Verhalten in sittlicher Hinsicht besser sei als ihr Ruf. Allerdings: sehr sicher für die Zukunft scheint ihn, was er in dieser Beziehung gehört und gesehen, nicht gemacht zu haben; ein paar kräftige Warnungen scheinen ihm nicht überflüssig. Einige Male nimmt er sich seine junge Schwester vor, es kommt zu heftigen Zusammenstößen, zum Beispiel, als er ihr vor Zeugen grob vorhält, daß sie »ihrem Mann zu nichts gut sei«, oder das Spielzimmer ihrer Freundin, der Herzogin von Guémenée, »un vrai tripot«, eine wahre Gaunerhöhle, nennt. Solche öffentlichen Vorhalte erbittern Marie Antoinette: es geht manchmal hart auf hart bei diesen Unterredungen zwischen den Geschwistern. Der kindische Trotz der jungen Frau wehrt sich gegen die angemaßte Bevormundung; aber gleichzeitig spürt ihre innere Aufrichtigkeit, wie sehr ihr Bruder mit allen seinen Vorwürfen im Recht ist, wie notwendig ihrer eigenen Charakterschwäche ein solcher Wächter an ihrer Seite wäre.

Zu einer endgültig zusammenfassenden Aussprache scheint es zwischen den beiden nicht gekommen zu sein. Zwar erinnert später in einem Brief Joseph II. mahnend Marie Antoinette an ein gewisses Gespräch auf einer Steinbank, aber das Eigentlichste und Wichtigste will er ihr offenbar nicht in gelegentlichen Gesprächen anvertrauen. In zwei Monaten hat Joseph II. ganz Frankreich gesehen, er weiß mehr von diesem Land als der eigene König, und mehr von den Gefahren seiner Schwester als sie selbst. Aber auch dies hat er erkannt, daß bei dieser flüchtigen Person jedes gesprochene Wort sich verflüchtigt, daß sie in der nächsten Stunde alles vergißt, besonders das, was sie vergessen will. So verfaßt er in aller Stille eine Instruktion, die alle seine Beobachtungen und Bedenken vereinigt, und übergibt ihr dieses dreißigseitige Dokument absichtlich in der allerletzten Stunde, mit der Bitte, es erst nach seiner Abreise zu lesen. Scripta manent, die geschriebene Mahnung soll ihr in seiner Abwesenheit zur Seite stehen.

Diese »instruction« ist das für den Charakter Marie Antoinettes vielleicht aufschlußreichste Dokument, das wir besitzen, denn Joseph II. schreibt es guten Willens und in völliger Unbestechlichkeit. Ein wenig schwülstig in der Form, für unsern Geschmack etwas zu pathetisch in seinem Moralismus, zeigt es gleichzeitig eine große diplomatische Geschicklichkeit, denn mit Takt vermeidet der Kaiser von Deutschland, einer Königin von Frankreich direkte Verhaltungsmaßregeln für ihr Betragen zu erteilen. Er reiht nur Frage an Frage, eine Art Katechismus, um die Gedankenfaule zum Nachdenken, zur Selbsterkenntnis und Selbstbeantwortung anzuregen; aber ohne es zu wollen, werden die Fragen zur Anklage, ihr scheinbar lockeres Hintereinander zu einem vollständigen Register der Verfehlungen Marie Antoinettes. Joseph II. erinnert seine Schwester vor allem, wieviel Zeit schon unnütz vertan sei. »Du schreitest im Alter vor, Du hast also nicht mehr die Entschuldigung, ein Kind zu sein. Was soll geschehen, was aus Dir werden, wenn Du länger zögerst?« Und er antwortet mit erschreckender Hellsicht selbst: »Eine unglückliche Frau und eine noch unglücklichere Königin.« Einzeln zählt er in Frageform alle ihre Nachlässigkeiten auf: ein scharfes kaltes Blitzlicht fällt vor allem auf ihr Verhalten zum Könige. »Suchst Du wirklich alle Gelegenheiten? Erwiderst Du die Gefühle, die er Dir offenbart? Bist Du nicht kalt und zerstreut, wenn er mit Dir spricht? Scheinst Du nicht manchmal gelangweilt oder abgestoßen? Wie willst Du bei einem solchen Verhalten, daß ein von Natur aus kühler Mann sich Dir nähert und Dich wirklich liebt?« Unbarmherzig hält er ihr – immer scheinbar nur fragend, in Wahrheit aber scharf anklagend – vor, daß sie, statt sich dem König unterzuordnen, seine Ungeschicklichkeit und Schwäche ausnütze, um statt seiner alle Erfolge und alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Verstehst Du, Dich ihm wirklich notwendig zu machen?« fragt er strenger. »Überzeugst Du ihn, daß niemand ihn aufrichtiger liebt und mehr seinen Ruhm und sein Glück im Herzen hegt als Du? Unterdrückst Du jemals Deinen Wunsch, auf seine Rechnung zu glänzen? Beschäftigst Du Dich mit den Dingen, die er vernachlässigt, um den Anschein zu vermeiden, Du hättest Verdienste auf seine Kosten? Bringst Du ihm Opfer? – Und bewahrst Du undurchdringliches Schweigen über seine Fehler und Schwächen? Entschuldigst Du sie, und befiehlst Du sofort denjenigen Schweigen, die wagen, darüber Andeutungen zu machen?«

Blatt um Blatt rollt Kaiser Joseph dann das ganze Register der Vergnügungswut auf: »Hast Du schon einmal darüber nachgedacht, welche schlechte Wirkung Deine gesellschaftlichen Bindungen, Deine Freundschaften, wenn sie sich nicht auf in jeder Hinsicht untadelige Personen erstrecken, auf die öffentliche Meinung haben können und müssen, weil dadurch doch unwillkürlich der Verdacht entsteht, daß Du diese schlechten Sitten entweder billigst oder sogar an ihnen teilnimmst? Hast Du einmal die furchtbaren Folgen ausgewogen, die das Hasardspiel mit sich bringen kann durch die schlechte Gesellschaft und den Ton, den es nach sich zieht? Erinnere Dich doch an die Dinge, die vor Deinen eigenen Augen vor sich gegangen sind, erinnere Dich, daß der König selbst nicht spielt und daß es aufreizend wirkt, wenn Du sozusagen als einzige der ganzen Familie diesen schlechten Brauch unterstützest. Ebenso denke auch wenigstens einen Augenblick an alle die Peinlichkeiten, die sich an die Opernbälle knüpfen, an alle die üblen Abenteuer, die Du mir ja selbst in dieser Hinsicht erzählt hast. Ich kann Dir nicht verschweigen, daß von allen Vergnügungen dieses zweifellos das ungehörigste ist und besonders durch die Art, wie Du auf jene Bälle gehst, denn daß Dich Dein Schwager dorthin begleitet, macht nichts aus. Was hat es für einen Sinn, dort unbekannt sein, eine fremde Maske spielen zu wollen, siehst Du denn nicht ein, daß man Dich trotzdem kennt und manche Dinge zu Dir sagt, von denen es sich nicht paßt, daß Du sie hörst, die man aber mit Absicht sagt, um Dich zu amüsieren und Dich glauben zu machen, man habe sie in aller Unschuld gesagt? Schon der Ort hat einen sehr schlechten Ruf. Was suchst Du denn dort? Die Maske verhindert ein anständiges Gespräch, auch tanzen kannst Du dort nicht, wozu also diese Abenteuer, diese Ungehörigkeiten, wozu sich also mit diesem Pack von zügellosen Burschen und Dirnen und Fremden gemein machen, zweideutige Reden hören und vielleicht welche halten, die ihnen ähnlich sind? Nein, das gehört sich nicht. Ich gestehe Dir, daß das der Punkt ist, über den ich alle Leute, die Dich lieben und die anständig denken, am meisten empört gesehen habe: der König wird ganze Nächte lang in Versailles allein gelassen, und Du bist in Gesellschaft der ganzen Kanaille von Paris!« Dringend wiederholt ihr Joseph die alten Lehren ihrer Mutter, sie solle endlich anfangen, sich ein wenig mit Lektüre zu befassen, zwei Stunden täglich seien nicht viel und würden sie klüger und vernünftiger machen für die übrigen zweiundzwanzig. Und plötzlich springt mitten in der langen Predigt ein seherisches Wort auf, das man nicht ohne Schauer lesen kann. Wenn sie ihm nicht folge in dieser Hinsicht, sagt Joseph II., so sehe er arge Dinge voraus, und wörtlich schreibt er hin: »Ich zittere jetzt für Dich, denn so kann es nicht weitergehen; la révolution sera cruelle si vous ne la préparez.« – »Die Revolution wird grausam sein« – das unheimliche Wort, hier ist es zum erstenmal hingeschrieben. Obwohl in einem andern Sinn gemeint, ist es doch prophetisch ausgesprochen. Aber erst ein ganzes Jahrzehnt später wird Marie Antoinette den Sinn dieses Wortes begreifen.


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