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Uraltes Rezept: wenn Staaten und Regierungen innere Krisen nicht mehr zu bewältigen wissen, suchen sie die Spannung nach außen abzulenken; gemäß diesem ewigen Gesetz verlangen die Wortführer der Revolution, um dem fast unvermeidlichen Bürgerkrieg zu entgehen, seit Monaten den Krieg gegen Österreich. Durch die Annahme der Konstitution hat Ludwig XVI. seinen königlichen Rang zwar vermindert, aber gesichert. Für immer sollte – und die Arglosen wie Lafayette glaubten es auch – die Revolution jetzt zu Ende sein. Die Partei der Girondisten aber, welche die neugewählte Nationalversammlung beherrscht, ist im Herzen republikanisch. Sie will das Königtum beseitigen, und dazu gibt es kein besseres Mittel als einen Krieg, weil er unvermeidlich die königliche Familie in Konflikt mit der Nation bringen muß. Denn die Vorhut der ausländischen Armeen bilden ja die beiden lärmenden Brüder des Königs, und die feindlichen Generalstäbe unterstehen dem Bruder der Königin.
Daß ein offener Krieg ihrer Sache nicht helfen, sondern nur schaden kann, weiß Marie Antoinette. Wie immer die militärische Entscheidung fällt, muß sie zu ihren Ungunsten sein. Siegen die Armeen der Revolution gegen die Emigranten und die Kaiser und Könige, so ist es gewiß, daß Frankreich nicht weiter einen »Tyrannen« dulden wird. Werden wiederum die nationalen Truppen von den Verwandten des Königs und der Königin geschlagen, so wird zweifellos der aufgeregte oder von andern erregte Pariser Pöbel die Gefangenen in den Tuilerien verantwortlich machen. Siegt Frankreich, so verlieren sie den Thron; siegen die auswärtigen Mächte, so verlieren sie ihr Leben. Aus diesem Grunde hat Marie Antoinette in unzähligen Briefen ihren Bruder Leopold und die Emigranten beschworen, still zu halten, und dieser vorsichtige, zögernde, kühl berechnende und innerlich kriegsfeindliche Herrscher hatte tatsächlich die säbelklirrenden Prinzen und Emigranten von sich abgeschüttelt und alles vermieden, was als Herausforderung gedeutet werden könnte.
Aber der Glücksstern Marie Antoinettes ist längst verdunkelt. Alles, was das Schicksal an Überraschungen bereit hält, wendet sich gegen sie. Gerade jetzt, am 1. März, rafft eine plötzliche Krankheit ihren Bruder Leopold, den Friedenserhalter, hinweg, und vierzehn Tage später tötet der Pistolenschuß eines Verschwörers den besten Verteidiger des royalistischen Gedankens, den sie unter den Monarchen Europas hat, Gustav von Schweden. Damit ist der Krieg unvermeidlich geworden. Denn der Nachfolger Gustavs denkt nicht mehr daran, die Sache der Monarchen zu stützen, und der Nachfolger Leopold II. kümmert sich nicht um seine Blutsverwandte, sondern erwägt ausschließlich seine eigenen Interessen. Bei diesem vierundzwanzigjährigen, einfältigen, kalten, völlig gefühllosen Kaiser Franz, in dessen Seele kein Funke mehr vom Geist Maria Theresias glüht, findet Marie Antoinette weder Verständnis noch Willen zum Verstehen. Frostig empfängt er ihre Boten, gleichgültig ihre Briefe; ob seine Blutsverwandte in den fürchterlichsten seelischen Zwiespalt gerät, ob ihr Leben durch seine Maßnahmen gefährdet wird, kümmert ihn nicht. Er sieht nur die gute Gelegenheit, seine Macht zu vergrößern, und lehnt alle Wünsche und Forderungen der Nationalversammlung kalt und aufreizend ab.
Nun haben die Girondisten glücklich Oberwasser. Am 20. April wird Ludwig XVI. genötigt, nach langem Widerstand und – wie man behauptet – mit Tränen in den Augen, dem »König von Ungarn« den Krieg zu erklären. Die Armeen setzen sich in Bewegung, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Auf welcher Seite steht die Königin mit ihrem Herzen in diesem Kriege? Bei ihrem alten oder bei ihrem neuen Vaterland? Bei den französischen oder ausländischen Heeren? Um diese entscheidende Frage haben die royalistischen Darsteller, ihre unbedingten Verteidiger und Lobpreiser, sich ängstlich herumgedrückt, sie haben sogar in die Memoiren und Briefe ganze Absätze hineingefälscht, um die klare und eindeutige Tatsache zu verschatten, daß in diesem Krieg Marie Antoinette mit ganzer Seele den Triumph der verbündeten Herrschertruppen und die Niederlage der französischen ersehnte. Diese Stellungnahme ist unverkennbar; wer sie verschweigt, der fälscht. Wer sie leugnet, der lügt. Denn mehr noch: Marie Antoinette, die sich vor allem als Königin fühlt und dann erst als Königin von Frankreich, steht nicht nur gegen jene, die ihr die Königsmacht eingeschränkt haben, und bei jenen, die sie im dynastischen Sinne stärken wollen, sondern sie tut sogar alles Erlaubte und Unerlaubte, um die Niederlage Frankreichs zu beschleunigen, den Sieg des Auslands zu fördern. »Gott wolle, daß man einmal alle die Herausforderungen räche, die wir von diesem Land empfangen haben«, schreibt sie an Fersen, und obwohl sie längst ihre Muttersprache vergessen hat und genötigt ist, sich deutsche Briefe übersetzen zu lassen, schreibt sie: »Niemals habe ich größeren Stolz gefühlt denn jetzt, als eine Deutsche geboren zu sein.« Vier Tage, ehe der Krieg erklärt wird, übermittelt sie – oder deutlicher: verrät sie – den Feldzugsplan der Revolutionsarmeen, soweit sie ihn kannte, dem österreichischen Botschafter. Ihre Einstellung ist vollkommen eindeutig: für Marie Antoinette sind die österreichischen, die preußischen Fahnen die befreundeten und die heimische Trikolore das Banner des Feindes.
Zweifellos – man hat sofort das Wort auf den Lippen ist das offener Landesverrat, und das Gericht eines jeden Landes würde heute ein solches Verhalten Verbrechen nennen. Aber man darf nicht vergessen, daß der Begriff des Nationalen und der Nation im achtzehnten Jahrhundert noch nicht entdeckt war; erst die Französische Revolution geht daran, ihn für Europa zu formen. Das achtzehnte Jahrhundert, in dessen Anschauungen Marie Antoinette unlösbar verankert ist, kennt noch keinen andern als den rein dynastischen Standpunkt, das Land gehört dem König; wo der König steht, dort steht das Recht; wer für den König und das Königtum kämpft, streitet unbedingt für die gerechte Sache. Wer gegen das Königtum steht, der ist Aufständischer und Rebell, auch wenn er das eigene Land verteidigt. Die völlige Unausgeformtheit des patriotischen Gedankens ergibt überraschenderweise in diesem Krieg eine unvaterländische Einstellung des Gefühls auf der Gegenseite: die besten Deutschen, Klopstock, Schiller, Fichte, Hölderlin, ersehnen um der Idee der Freiheit willen die Niederlage der deutschen Truppen, die eben noch nicht Volkstruppen sind, sondern die Armeen der despotischen Sache. Sie freuen sich über den Rückzug der preußischen Streitkräfte, während in Frankreich wieder der König und die Königin die Niederlage ihrer eigenen Truppen als persönlichen Vorteil begrüßen. Hüben und drüben geht der Krieg nicht um die Interessen des Landes, sondern um eine geistige Idee, diejenige der Souveränität oder jene der Freiheit. Und nichts bezeichnet das merkwürdige Zwielicht zwischen der Auffassung des alten und neuen Jahrhunderts besser, als daß der Anführer der vereinigten deutschen Armeen, der Herzog von Braunschweig, einen Monat zuvor noch ernstlich überlegte, ob er nicht lieber das Kommando der französischen gegen die deutschen übernehmen solle. Man sieht: der Begriff Vaterland und Nation ist 1791 noch nicht geklärt in den Seelen des achtzehnten Jahrhunderts. Erst dieser Krieg, der die Volksheere, das Volksbewußtsein und damit den furchtbaren Bruderkampf ganzer Nationen erschafft, wird die Idee des Nationalpatriotismus hervorbringen und dem nächsten Jahrhundert vererben.
Dafür, daß Marie Antoinette den Sieg der auswärtigen Mächte wünscht, sowie für die Tatsache ihres Landesverrats hat man in Paris keinen Beweis. Aber wenn das Volk als Masse auch niemals logisch und planhaft denkt, so hat es doch eine elementarere, tierhaftere Witterungsfähigkeit als das Einzelwesen; statt mit Überlegungen arbeitet es mit Instinkten, und diese Instinkte sind fast immer unfehlbar. Von allem Anfang an fühlt das französische Volk atmosphärisch jene Feindseligkeit in den Tuilerien; ohne äußeren Anhaltspunkt wittert es den tatsächlich geschehenen militärischen Verrat Marie Antoinettes an seiner Armee und seiner Sache; und hundert Schritte von dem königlichen Palast schreit in der Nationalversammlung einer der Girondisten, Vergniaud, die Anschuldigung offen in den Saal: »Von dieser Tribüne, wo ich zu Ihnen spreche, kann man den Palast erblicken, wo entartete Ratgeber den König verführen und täuschen, der uns die Konstitution gegeben hat, wo sie die Ketten schmieden, in die sie uns schließen wollen, und die Schliche vorbereiten, die uns an das Haus Österreich ausliefern sollen. Ich sehe die Fenster des Palastes, wo man die Gegenrevolution vorbereitet und alle Mittel durchdenkt, um uns zurückzuschleudern in die Schranken der Knechtschaft.« Und damit man ganz deutlich Marie Antoinette als die wahre Anstifterin dieser angeblichen Verschwörungen erkenne, fügt er drohend hinzu: »Mögen alle wissen, die diesen Palast bewohnen, daß unsere Verfassung die Unverletzlichkeit ausschließlich dem Könige zubilligt. Mögen sie wissen, daß das Gesetz ohne Ausnahme alle Schuldigen erfassen wird und daß kein einziges Haupt, das der Schuld überwiesen ist, dem Schwerte entgehen soll.« Die Revolution beginnt zu begreifen, daß sie den äußern Feind nur schlagen kann, wenn sie sich auch des inneren entledigt. Damit sie die große Partie vor der Welt gewinnen kann, muß daheim der König in seinem Einfluß schachmatt gesetzt werden. Energisch drängen jetzt alle wirklich Revolutionären zum Konflikt; wieder marschieren die Zeitungen voran und fordern die Absetzung des Königs; neue Auflagen der berüchtigten Schrift: »La vie scandaleuse de Marie-Antoinette« werden in den Straßen verteilt, um den alten Haß mit neuer Tatkraft zu beleben. In der Nationalversammlung werden mit Absicht Anträge gestellt, bei denen man hofft, daß der König von seinem verfassungsmäßigen Recht, ein Veto zu sprechen, Gebrauch machen müsse, vor allem jener, dem Ludwig XVI. als gläubiger Katholik niemals zustimmen kann, nämlich die Priester, die den Eid auf die Verfassung verweigern, mit Gewalt auszuweisen: man sucht, man provoziert den offenen Bruch. Tatsächlich rafft sich der König zum ersten Mal zusammen und legt sein Veto ein. Solange er stark war, hat er von keinem seiner Rechte Gebrauch gemacht; jetzt, eine Spanne vor dem Untergang, versucht dieser unselige Mann im unseligsten Augenblick zum ersten Mal Mut zu bezeugen. Aber das Volk ist nicht mehr willens, von dieser Wachspuppe Einspruch zu dulden. Dieses Veto soll das letzte Wort des Königs gegen und an sein Volk gewesen sein.
Um dem König und vor allem ihr, dieser unbeugsamen, hochmütigen Österreicherin, eine gründliche Lektion zu erteilen, wählen die Jakobiner, die Stoßtruppe der Revolution, einen symbolischen Tag, den 20. Juni. An diesem Tage haben vor drei Jahren sich im Ballsaal von Versailles zum erstenmal die Abgeordneten des Volkes zu feierlichem Eid zusammengetan, nicht der Macht der Bajonette zu weichen und aus eigener Kraft Frankreich Form und Gesetz zu geben. An diesem Tage ist vor einem Jahr der König, als Lakai verkleidet, durch die kleine Pforte seines Palastes nachts hinausgeschlichen, um dem Diktat des Volkes zu entgehen. An diesem Jahrestag soll er nun für immer erinnert werden, daß er nichts ist und das Volk alles. Wie 1789 der Sturm auf Versailles, wird 1792 der Sturm auf die Tuilerien methodisch vorbereitet. Aber damals mußte man noch unterirdisch und ungesetzmäßig jene Amazonenarmee unter dem Schutz der Dunkelheit ausheben; heute marschieren am hell-lichten Tag, unter dem Geläut der Sturmglocken, von dem Brauer Santerre befehligt, fünfzehntausend Mann, die Stadtverwaltung steht dabei mit fliegenden Fahnen, die Nationalversammlung öffnet ihnen die Tore, und der Bürgermeister Pétion, der für die Ordnung zu sorgen hätte, stellt sich blind und taub, um das klare Gelingen dieser Demütigung des Königs zu fördern.
Der Aufmarsch der revolutionären Kolonne beginnt als bloßer Festzug vor der Nationalversammlung. In Reih und Glied marschieren die fünfzehntausend Mann mit großen Plakaten »Nieder das Veto!« und »Die Freiheit oder der Tod!« im Takte des »Ça ira« an der Reitschule vorbei, in der die Nationalversammlung tagt; um halb vier Uhr scheint das große Schauspiel zu Ende, der Abmarsch beginnt. Aber jetzt erst setzt die eigentliche Kundgebung ein. Denn statt friedlich abzuziehen, wirft sich, ohne Befehl und doch unsichtbar geführt, die ganze riesige Volksmasse gegen den Eingang des Palastes. Dort stehen zwar die Nationalgarden und Gendarmen mit blank vorgestreckten Bajonetten, aber der Hof hat in seiner gewohnten Unschlüssigkeit für diesen doch klar vorauszusehenden Fall keine Befehle erteilt, die Soldaten leisten keinen Widerstand, und mit einem Guß strömen die Massen durch den engen Trichter der Türe. So stark ist der Druck dieser Menge, daß er gleichsam von selbst die Treppe hinauf bis zum ersten Stock dringt. Und nun ist kein Halten mehr, die Türen werden eingedrückt oder die Schlösser zerschlagen, und ehe man irgendeine Schutzmaßnahme treffen kann, stehen die ersten Eindringlinge vor dem König, den nur unzulänglich eine Gruppe von Nationalgarden vor dem Ärgsten schützt. Nun muß Ludwig XVI. in seinem eigenen Hause die Parade des aufständischen Volkes abnehmen, und nur sein unerschütterlicher phlegmatischer Gleichmut verhindert einen Zusammenstoß. Geduldig gibt er auf alle Herausforderungen höfliche Antworten, gehorsam setzt er die rote Mütze auf, die einer der Sansculotten sich vom Kopfe nimmt. Dreieinhalb Stunden duldet er in glühender Hitze ohne Weigerung, ohne Widerstand die Schaulust und den Hohn dieser feindseligen Gäste.
Gleichzeitig ist ein anderer Trupp der Insurgenten in die Gemächer der Königin eingedrungen; die Schreckensszene des 5. Oktober in Versailles scheint sich wiederholen zu wollen. Da aber die Königin gefährdeter ist als der König, haben die Offiziere rasch Soldaten herbeigerufen, Marie Antoinette in eine Ecke gedrängt und zu ihrem Schutz einen großen Tisch vorgeschoben, damit sie wenigstens vor körperlichen Mißhandlungen gesichert sei; außerdem stehen in dreifacher Reihe die Nationalgarden vor diesem Tische Wache. Die wild hereinstürmenden Frauen und Männer können Marie Antoinette nicht an den Leib, aber doch nahe genug heran, um das »Monstrum« herausfordernd wie ein Schaustück zu betrachten, nahe genug, daß Marie Antoinette jede einzelne Beschimpfung und Drohung hören muß. Santerre, der mit seiner Unternehmung nur eine ausgiebige Demütigung und gründliche Einschüchterung der Königin will, aber wirkliche Gewaltakte zu verhüten bemüht ist, befiehlt den Grenadieren, zur Seite zu treten, damit das Volk seinen Willen habe und sein Opfer, die besiegte Königin, betrachten könne; gleichzeitig sucht er Marie Antoinette zu beruhigen: »Madame, man täuscht Sie, das Volk hat nichts Böses gegen Sie vor. Wenn Sie nur wollten, würde jeder Sie lieben wie dieses Kind« (dabei zeigt er auf den Dauphin, der sich erschreckt und zitternd an seine Mutter preßt). »Übrigens, haben Sie keine Angst, man wird Ihnen nichts tun.« Aber immer, wenn einer der »factieux« der Königin seine Hilfe anbietet, strafft sich ihr Stolz. »Man hat mich weder getäuscht noch irregeführt,« antwortet die Königin hart, »und ich habe keine Furcht. Unter anständigen Leuten braucht man niemals Furcht zu haben.« Kalt und stolz hält die Königin den feindseligen Blicken und den frechsten Ansprachen stand. Nur als man sie zwingen will, ihrem Kind die rote Mütze aufzusetzen, wendet sie sich ab und sagt zu den Offizieren: »Das ist zu viel, das geht über die menschliche Geduld.« Aber sie hält stand, ohne eine Sekunde Angst oder Unsicherheit zu verraten. Erst nachdem sie von den Eindringlingen nicht mehr wirklich bedroht ist, erscheint der Bürgermeister Pétion und ersucht die Menge, nach Hause zu gehen, »um nicht Gelegenheit zu geben, die ehrenwerte Absicht des Volkes zu verdächtigen«. Aber es dauert noch bis spät in den Abend, ehe das Schloß geräumt ist, und jetzt erst spürt die Königin, die gedemütigte Frau, die ganze Qual ihrer Wehrlosigkeit. Jetzt weiß sie, daß alles verloren ist. »Ich lebe noch, aber es ist ein Wunder«, schreibt sie hastig ihrem Vertrauten, Hans Axel von Fersen. »Dieser Tag war furchtbar.«