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Die eigentlich tragischen Stunden im Untergang Marie Antoinettes waren niemals jene der großen Gewitter, sondern die der immer dazwischen aufflammenden trügerisch schönen Tage. Wäre die Revolution niedergefahren wie ein Bergsturz, mit einem Ruck die Monarchie zermalmend, hätte sich ihr Fall lawinenhafter vollzogen, ohne Atempausen zum Nachdenken, Hoffen und Widerstand, sie wäre nicht so furchtbar nervenzerstörend für die Königin geworden wie die langsame Agonie. Aber immer kommen zwischen den Stürmen plötzliche Windstillen: fünfmal, zehnmal während der Revolution konnte die königliche Familie glauben, nun sei der Friede endgültig wiederhergestellt, der Kampf ausgekämpft. Aber die Revolution ist ein Naturelement wie das Meer, nicht mit einem Sprung bricht solche Sturmflut ins Land, sondern nach jedem erbitterten Stoß läuft die Welle zurück, scheinbar erschöpft, in Wirklichkeit aber nur, um neu und zu vernichtenderem Anschwung auszuholen. Und niemals wissen die Bedrohten, ob die letzte Welle schon die stärkste, die entscheidende gewesen.
Nach der Annahme der Konstitution scheint die Krise überwunden. Die Revolution ist Gesetz geworden, die Unruhe zu fester Form erstarrt. Einige Tage, einige Wochen trügerischen Wohlbefindens kommen, Wochen einer täuschenden Euphorie; Jubel füllt die Straßen, Begeisterung die Versammlung, die Theater donnern von Beifallsstürmen. Aber Marie Antoinette hat längst die naive, unbefangene Gläubigkeit ihrer Jugend verloren. »Wie schade,« seufzt sie zu der Erzieherin ihrer Kinder, als sie von der festlich beleuchteten Stadt in das Schloß zurückkehrt, »daß etwas so Schönes in unseren Herzen nur ein Gefühl von Trauer und Unruhe auslösen kann.« Nein, zu oft enttäuscht, will sie sich nicht mehr täuschen lassen. »Alles ist für den Augenblick ruhig,« schreibt sie an Fersen, den Freund ihres Herzens, »aber diese Ruhe hängt nur an einem Faden, und das Volk ist genau so, wie es immer war, jeden Augenblick zu allen Schrecken bereit. Man versichert uns, es sei für uns. Ich glaube nichts davon, wenigstens was meine Person betrifft. Ich weiß, wieviel von alledem zu halten ist. In den meisten Fällen ist das bezahlt, und das Volk liebt uns nur, sofern wir tun, was es fordert. Es ist unmöglich, daß dies noch lange so weitergeht. Es besteht noch weniger Sicherheit in Paris als vordem, denn man hat sich daran gewöhnt, uns erniedrigt zu sehen.« In der Tat wird die neugewählte Nationalversammlung zur Enttäuschung, sie ist nach der Ansicht der Königin »tausendmal schlechter als die frühere«, und gleich einer ihrer ersten Beschlüsse beraubt den König der Ansprache »Majestät«. Nach wenigen Wochen ist die Führung an die Girondisten übergegangen, die ihre Sympathieen für die Republik ganz offen bekunden, und der heilige Regenbogen der Versöhnung schwindet rasch hinter neuaufsteigenden Wolken. Abermals beginnt der Kampf.
Die schnelle Verschlechterung ihrer Lage haben der König und die Königin nicht der Revolution zuzuschreiben, sondern in erster Linie ihren eigenen Verwandten. Der Graf von Provence und der Graf von Artois haben in Koblenz ihr Hauptquartier aufgeschlagen, von dort führen sie offenen Krieg gegen die Tuilerien. Daß der König in bitterer Not die Konstitution angenommen, dient ihnen vortrefflich, Marie Antoinette und Ludwig XVI. als Feiglinge durch bezahlte Journalisten verhöhnen zu lassen und sich selbst, die im Sicheren sitzen, als die wahren und einzig würdigen Verteidiger des königlichen Gedankens aufzuspielen: daß ihr Bruder für die Kosten dieses Spiels mit seinem Leben einsteht, ist ihnen gleichgültig. Vergeblich bittet und ersucht Ludwig XVI. seine Brüder, ja, er befiehlt ihnen sogar, sie möchten zurückkommen und damit das berechtigte Mißtrauen des Volkes beseitigen. Die Erbschleicher behaupten hämisch, dies sei nicht der wirkliche Willensausdruck des gefangenen Königs, sie bleiben in Koblenz fern vom Schuß und spielen ungefährdet die Helden. Marie Antoinette bebt vor Wut über die Feigheit der Emigranten, jener »verächtlichen Rasse, die immer erklärten, uns zugetan zu sein, und uns niemals anderes als Böses getan haben«. Offen beschuldigt sie die Verwandten ihres Mannes, daß nur »ihr Verhalten sie in die Stellung hineingebracht habe, in der sie sich jetzt befänden«. – »Aber«, schreibt sie zornig, »was wollen Sie? Sie haben, um sich unseren Wünschen zu entziehen, den Ton und die Art angenommen, zu sagen, daß wir nicht frei seien (was allerdings richtig ist), aber daß wir infolgedessen nicht sagen dürfen, was wir denken, und daß sie immer im Gegensinn zu uns handeln müssen.« Vergebens fleht sie den Kaiser an, er solle die Prinzen und die andern Franzosen, die sich außer Landes befinden, zurückhalten, aber der Graf von Provence überholt ihre Gesandten, stellt alle Befehle der Königin als »erzwungene« dar und findet bei den Kriegsparteien überall Zustimmung. Gustav von Schweden schickt Ludwig XVI. den Brief uneröffnet zurück, in dem dieser die Annahme der Konstitution meldet, noch verächtlicher höhnt Katharina von Rußland Marie Antoinette, es sei traurig, wenn man keine andere Hoffnung mehr hätte als einen Rosenkranz. Der eigene Bruder in Wien läßt Wochen vergehen, ehe er gewundene Antwort gibt; im Grunde warten die Mächte, bis die Gelegenheit für sie günstig wird, aus den anarchischen Verhältnissen Frankreichs irgendeinen Vorteil herauszuholen. Niemand bietet rechte Hilfe, niemand macht einen klaren Vorschlag, und niemand fragt redlich, was die Bedrängten in den Tuilerien wünschen und wollen: immer hitziger spielen alle – auf Kosten der unseligen Gefangenen – ihr doppeltes Spiel.
Was aber will und was wünscht Marie Antoinette selbst, das geschehen möge? Die Französische Revolution, die wie fast jede politische Bewegung bei dem Gegner immer tiefe und geheimnisvolle Pläne vermutet, glaubt, daß Marie Antoinette, daß das »comité autrichien« in den Tuilerien einen großartigen Kreuzzug gegen das französische Volk ausarbeite, und manche Geschichtsschreiber haben es nachgesprochen. In Wirklichkeit hat Marie Antoinette, Diplomatin aus Verzweiflung, niemals eine klare Idee, einen wirklichen Plan gehabt. Sie schreibt mit einer bewundernswerten Aufopferung, mit einem für sie überraschenden Fleiß Briefe auf Briefe nach allen Seiten, sie verfaßt und redigiert Memoranden und Vorschläge, sie verhandelt und beratschlagt, aber je mehr sie schreibt, um so weniger wird eigentlich verständlich, welchen politischen Gedanken sie hegt. Ihr schwebt ungewiß ein bewaffneter Kongreß der Mächte vor, eine halbe Maßnahme, nicht zu heftig, nicht zu zahm, die einerseits die Revolutionäre durch Drohung einschüchtern, anderseits das französische Nationalgefühl nicht herausfordern soll; aber das Wie und Wann ist ihr selbst unklar, sie handelt, sie denkt nicht logisch, sondern ihre brüsken Bewegungen und Schreie erinnern an die eines Ertrinkenden, der sich immer tiefer in das Wasser hineinarbeitet. Einmal erklärt sie, der einzig gangbare Weg für sie sei, das Vertrauen des Volkes zu gewinnen, und im selben Atem, im selben Brief schreibt sie: »Es gibt keine Möglichkeit der Versöhnung mehr.« Sie will keinen Krieg und sieht sehr richtig und klar voraus: »Einerseits wären wir verpflichtet, gegen sie zu kämpfen, das wäre nicht zu vermeiden, und anderseits wären wir hier doch verdächtig, mit den auswärtigen Truppen im Einverständnis zu sein.« Und ein paar Tage später wieder schreibt sie »nur die bewaffnete Macht kann alles wiederherstellen«, und »ohne Hilfe von außen können wir nichts tun«. Einerseits putscht sie ihren Bruder auf, der Kaiser möge doch endlich die Beleidigung fühlen, die ihm angetan wird. »Man möge sich nicht mehr um unsere Sicherheit kümmern, es ist dieses Land hier, das zum Kriege herausfordert.« Aber dann fällt sie ihm wieder in den Arm. »Ein Angriff von außen brächte uns unter das Messer.« Schließlich kennt sich niemand mehr wirklich in ihren Absichten aus. Die diplomatischen Kanzleien, die nicht daran denken, ihr Geld nur für einen »bewaffneten Kongreß« zu vergeuden, die, wenn sie kostspielige Armeen an die Grenze werfen, schon einen vollblütigen Krieg haben wollen mit Annexionen und Entschädigungen, zucken die Achseln über die Zumutung, sie sollten einzig »pour le roi de France« ihre Soldaten Gewehr bei Fuß stehen lassen. »Was soll man«, schreibt Katharina von Rußland »von Leuten denken, die ständig auf zwei ganz gegensätzliche Arten verhandeln«, und selbst Fersen, der Getreueste, der doch die innersten Gedanken Marie Antoinettes zu kennen glaubt, begreift schließlich nicht mehr, was die Königin wirklich wolle, ob Krieg, ob Frieden, ob sie sich innerlich ausgesöhnt habe mit der Konstitution oder nur die Konstitutionellen hinhalte, ob sie die Revolution betrüge oder die Fürsten, während die gequälte Frau in Wahrheit nur eines will: leben, leben, leben und nicht länger erniedrigt sein. Im Innern leidet sie mehr, als alle ahnen, unter diesem ihrer geradlinigen Natur unerträglichen Doppelspiel; immer wieder löst sich dieser Ekel vor der ihr aufgenötigten Rolle in einen tief menschlichen Schrei: »Ich weiß selbst nicht mehr, welche Haltung und welchen Ton einnehmen. Die ganze Welt beschuldigt mich der Verstellung, der Falschheit, und niemand kann glauben – und dies mit Recht –, daß mein Bruder so wenig Interesse für die furchtbare Lage seiner Schwester hat, daß er sie unablässig der Gefahr aussetzt, ohne ihr ein Wort zu sagen. Ja, er setzt mich ihr aus und tausendmal mehr, als wenn er wirklich handeln würde. Der Haß, das Mißtrauen und die Frechheit sind die drei Kräfte, die in diesem Augenblick das Land bewegen. Die Leute sind frech aus einem Übermaß der Furcht und weil sie gleichzeitig glauben, daß man von außen nichts tun werde ... es gibt nichts Schlimmeres, als so zu bleiben, wie wir sind, denn wir haben von der Zeit und vom Innern Frankreichs keine Hilfe mehr zu erwarten.«
Ein Einziger begreift schließlich, daß all dies Hin und Her, dieses Befehl- und Gegenbefehlgeben nur Zeichen ratloser Verzweiflung sind und daß diese Frau allein sich nicht retten kann. Er weiß, sie hat niemanden an ihrer Seite, denn Ludwig XVI. zählt nicht infolge seiner Unentschlossenheit. Auch die Schwägerin, Madame Elisabeth, ist nicht so ganz die himmlische, die treue, die gottergebene Gesinnungsgenossin, als die sie die royalistische Legende preist: »Meine Schwester ist so indiskret, so von Intriganten umgeben und vor allem dermaßen von ihren Brüdern draußen beherrscht, daß man gar nicht miteinander sprechen kann, man müßte sonst den ganzen Tag streiten.« Und noch härter, noch wilder aus der untersten Tiefe der Aufrichtigkeit: »Unser Familienleben ist eine Hölle, selbst mit den besten Absichten der Welt kann man nichts anderes sagen.« Immer deutlicher spürt Fersen in der Ferne, daß nur einer ihr jetzt helfen könnte und daß dieser eine, der ihr Vertrauen besitzt, nicht ihr Gatte, nicht ihr Bruder und keiner der Verwandten ist, sondern er selbst. Vor wenigen Wochen hat sie ihm auf geheimem Wege durch den Grafen Esterhazy Botschaft unverbrüchlicher Liebe gesandt: »Wenn Sie ihm schreiben, so sagen Sie ihm, daß alle Meilen und Länder Herzen nicht voneinander trennen können und daß ich diese Wahrheit jeden Tag mehr fühle«, und ein zweitesmal: »Ich weiß nicht, wo er ist. Es ist für mich eine furchtbare Qual, keine Nachrichten zu haben und nicht einmal zu wissen, wo diejenigen sich aufhalten, die man liebt.« Diese letzten brennenden Liebesworte hatte ein Geschenk begleitet, ein kleiner Goldring, auf dessen Vorderseite drei Lilien eingegraben waren mit der Schrift: »Feige, wer sie verläßt.« Diesen Ring hat Marie Antoinette, sie schreibt es an Esterhazy, eigens nach dem Maß ihres Fingers anfertigen lassen, sie hat ihn zwei Tage an der eigenen Hand getragen, ehe sie ihn absandte, gleichsam damit die Wärme des noch lebendigen Bluts in das kalte Gold eindringen sollte. Fersen trägt diesen Ring der Geliebten am Finger, und dieser Ring mit der Inschrift: »Feige, wer sie verläßt« wird zum täglichen Anruf an sein Gewissen, alles für diese Frau zu wagen; da der Ton der Verzweiflung so übermächtig aus ihren Briefen bricht, da er erkennt, welche wilde Verwirrung sich der geliebten Frau zu bemächtigen beginnt, weil sie sich von allen Menschen verlassen sieht, fühlt er sich aufgepeitscht zu wirklich heroischer Tat: er beschließt, da sie beide sich im geschriebenen Wort nicht entscheidend verständigen können, Marie Antoinette in Paris aufzusuchen, in ebendemselben Paris, wo sein Leben geächtet ist und seine Anwesenheit für ihn soviel wie sichern Tod bedeutet.
Marie Antoinette erschrickt bei dieser Ankündigung. Nein, ein solches übergroßes und wahrhaft heroisches Opfer will sie von ihrem Freunde nicht. Als wahrhaft Liebende liebt sie sein Leben mehr als das eigene und mehr auch als die unsägliche Beruhigung und Beglückung, die ihr seine Nähe geben könnte. Darum antwortet sie hastig am 7. Dezember: »Es ist völlig unmöglich, daß Sie im gegenwärtigen Augenblick hierherkommen. Dies hieße unser Glück auf das Spiel setzen. Wenn ich das sage, so dürfen Sie es mir glauben, denn ich habe äußerstes Verlangen, Sie zu sehen.« Aber Fersen läßt nicht nach. Er weiß: »Es ist unbedingt nötig, Sie dem gegenwärtigen Zustand zu entreißen.« Er hat mit dem König von Schweden einen neuen Fluchtplan ausgearbeitet, er weiß trotz ihrer Abwehr mit der Hellhörigkeit eines aufgerufenen Herzens, wie sehr sie nach ihm verlangt und wie es die Seele dieser völlig Vereinsamten entlasten müßte, einmal, noch einmal nach all den Vorsichts- und Verheimlichungsbriefen, sich wieder frei und ungehemmt aussprechen zu können. Anfang Februar faßt Fersen den Entschluß, nicht länger zu warten und nach Frankreich zu Marie Antoinette zu reisen.
Dieser Entschluß ist eigentlich ein selbstmörderischer. Hundertfache Wahrscheinlichkeit gegen eine spricht dafür, daß er von dieser Fahrt nicht wiederkehren wird, denn kein Kopf steht zur Zeit in Frankreich so hoch im Preis wie der seine. Kein Name ist so viel, so gehässig genannt worden, Fersen ist öffentlich geächtet in Paris, sein Steckbrief in aller Händen, ein einziger, der ihn unterwegs oder in Paris erkennt, und sein Leichnam liegt zerfetzt auf dem Pflaster. Aber Fersen – und dies erhöht noch tausendfach seinen Heroismus – will doch nicht nur nach Paris und dort in einem versteckten Winkel untertauchen, sondern geradeswegs in die unzugängliche Höhle des Minotaurus, in die Tuilerien, die Tag und Nacht von zwölfhundert Nationalgarden bewacht werden, in den Palast, wo jeder Knecht, jede Kammerfrau, jeder Kutscher innerhalb der riesigen Dienerschar ihn persönlich kennt. Aber diesmal oder nie ist diesem Edelmann Gelegenheit geboten, sein liebendes Gelöbnis zu erhärten. »Ich lebe nur, um Ihnen zu dienen.« Am 11. Februar löst er dies Wort ein und macht sich auf zu einer der kühnsten Unternehmungen der ganzen Revolutionsgeschichte. Fersen reist mit Perücke, mit einem falschen Paß, in dem er verwegen die dafür nötige Unterschrift des Königs von Schweden fälscht, angeblich in diplomatischer Mission nach Lissabon, einzig von seinem Ordonnanzoffizier begleitet, als dessen Diener er gilt. Durch ein Wunder werden die Papiere und Personen tatsächlich nicht näher untersucht, unbehelligt gelangt er am 13. Februar um halb sechs Uhr nach Paris. Obwohl er dort eine verläßliche Freundin oder vielmehr Geliebte hat, die unter Lebensgefahr bereit ist, ihn zu verstecken, begibt sich Fersen geradeswegs vom Postwagen in die Tuilerien. In den Wintermonaten bricht das Dunkel früh ein, sein freundlicher Schutz deckt den Verwegenen. Die geheime Tür, zu der er noch den Schlüssel besitzt, sie ist – erstaunlicher Glücksfall – auch diesmal nicht bewacht. Der treubewahrte Schlüssel tut seine Pflicht, Fersen tritt ein: nach acht Monaten grausamster Entfernung und unsagbaren Geschehens – eine Welt hat sich seitdem verändert – ist der Geliebte wieder bei der Geliebten, Fersen abermals und zum letzten Mal bei Marie Antoinette.
Über diesen denkwürdigen Besuch gibt es zweierlei Aufzeichnungen von Fersens Hand, die merklich voneinander abweichen, eine offizielle und eine intime; und gerade ihre Verschiedenheit ist unendlich aufschlußreich für die wirkliche Form der Beziehung, die Fersen und Marie Antoinette verbindet. Denn in dem offiziellen Brief berichtet er seinem Monarchen, er sei am 13. Februar um sechs Uhr abends in Paris eingetroffen und hätte Ihre Majestäten – ausdrücklich die Mehrzahl, also König Ludwig und Marie Antoinette – noch am selben Abend gesehen und gesprochen, und zum zweitenmal am nächsten Abend. Aber dieser Mitteilung, die für den König von Schweden bestimmt war, den Fersen als sehr geschwätzig kennt und dem er die Frauenehre Marie Antoinettes nicht anvertrauen will, widerspricht die vielsagend intime Aufzeichnung seines Tagebuches. Dort heißt es zunächst: »Zu ihr gegangen; meinen gewöhnlichen Weg genommen. Besorgnis wegen der Nationalgarden, ihre Wohnung wundervoll.« Ausdrücklich heißt es also »Zu ihr« und nicht »Zu ihnen« gegangen. Dann folgen im Tagebuch noch zwei Worte, die später von jener berüchtigten, zimperlichen Hand mit Tinte unlesbar gemacht wurden. Aber glücklicherweise gelang es, sie wieder abzudecken, und diese zwei inhaltschweren Worte, sie lauten »resté là«, zu deutsch »dort geblieben«.
Mit diesen zwei Worten ist die ganze Situation jener Tristansnacht klar: Fersen ist an jenem Abend also nicht von beiden Majestäten empfangen worden, wie er den König von Schweden glauben ließ, sondern von Marie Antoinette allein, und er hat – auch dies unterliegt keinem Zweifel – diese Nacht in den Gemächern der Königin verbracht. Ein nächtliches Weggehen, Wiederkommen und abermaliges Verlassen der Tuilerien hätte unsinnigste Vervielfachung der Gefahr bedeutet, denn in den Gängen patrouillierten Tag und Nacht die Nationalgarden. Die Räume Marie Antoinettes aber, zu ebener Erde, sie enthielten bekanntlich nicht mehr als ein Schlafzimmer und einen winzigen Toilettenraum: es gibt also keine andere Erklärung, als die den Tugendverteidigern so peinliche, daß Fersen diese Nacht und den nächsten Tag bis Mitternacht in dem Schlafzimmer der Königin versteckt zugebracht habe, dem einzigen Raum innerhalb des ganzen Schlosses, der vor der Überwachung durch die Nationalgarde und vor dem Blick der Dienerschaft gesichert war.
Über jene Stunden des Alleinseins schweigt Fersen, der immer wunderbar zu schweigen verstanden hat, selbst in seinem intimen Tagebuch: so ziemt auch jedem andern diese edelste Pflicht. Es kann niemandem versagt werden zu glauben, auch diese Nacht habe ausschließlich romantischem Ritterdienst und politischem Gespräch gegolten. Aber wer vom Herzen her fühlt und von klaren Sinnen, wer an die Macht des Blutes als an das ewige Gesetz glaubt, dem ist es gewiß: selbst wenn Fersen nicht schon längst der Geliebte Marie Antoinettes gewesen, er wäre es geworden in dieser Schicksalsnacht, in dieser mit dem äußersten menschlichen Einsatz des Mutes erzwungenen, in dieser unwiderruflich letzten Nacht.
Die erste Nacht gehörte ganz den Liebenden, erst der nächste Abend der Politik. Um sechs Uhr, also genau vierundzwanzig Stunden nach Fersens Eintreffen, betritt der diskrete Gatte das Zimmer der Königin, um mit dem heroischen Boten Zwiesprache zu halten. Den von Fersen vorgelegten Fluchtplan weist Ludwig XVI. zurück, erstlich, weil er ihn praktisch für unmöglich hält, und dann auch aus Ehrgefühl, denn er hat öffentlich der Nationalversammlung versprochen, in Paris zu bleiben, und will nicht Verräter werden an seinem Wort. (Fersen bemerkt dazu in seinem Tagebuch respektvoll: »Denn er ist ein ehrenhafter Mensch.«) Mann zu Mann mit vollem Vertrauen setzt der König dann dem verläßlichen Freunde seine Lage auseinander. »Wir sind unter uns«, sagt er, »und können sprechen. Ich weiß, daß man mich der Schwäche und Entschlußunfähigkeit beschuldigt, aber noch niemand hat sich jemals in einer Lage befunden wie der meinen. Ich weiß, daß ich den richtigen Augenblick (zur Flucht) versäumt habe, am 14. Juli, und seitdem habe ich ihn nicht wiedergefunden. Die ganze Welt hat mich im Stich gelassen.« Sowohl die Königin als der König haben keine Hoffnung mehr, sich selber zu retten. Die Mächte sollten alles Denkbare versuchen, ohne sich um ihre Personen zu kümmern. Nur sollten sie sich nicht wundern, wenn er hier die Zustimmung gäbe zu manchen Dingen; sie müßten in ihrer jetzigen Lage vielleicht tun, was nicht nach ihrem Herzen wäre. Sie könnten für sich nur Zeit retten, die Rettung selbst müsse von außen kommen.
Bis Mitternacht bleibt Fersen im Palast. Alles ist besprochen, was zu besprechen war. Dann kommt das Schwerste dieser dreißig Stunden, sie müssen Abschied nehmen. Beide wollen sie es nicht wahr haben, beide ahnen sie untrüglich: Nie mehr! Nie mehr in diesem Leben! Um die Erschütterte zu trösten, verspricht er ihr, wenn es irgend möglich sein sollte, wiederzukommen, und fühlt beglückt, wie sehr er sie beruhigt hat durch seine Gegenwart. Durch den dunklen, glücklicherweise verlassenen Gang begleitet die Königin Fersen bis zur Tür. Noch haben sie einander die letzten Worte nicht gesagt, noch die letzten Umarmungen nicht getauscht, da naht fremder Schritt: Todesgefahr! Fersen, in den Mantel gehüllt, die Perücke aufgestülpt, schlüpft hinaus, Marie Antoinette flieht in ihr Zimmer zurück; die Liebenden haben einander zum letztenmal gesehen.