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Der Sommer der Entscheidung

Necker, der Mann, den die Königin in bitterster Seenot an das Steuerruder des Staates gestellt, nimmt geradewegs eine entschlossene Richtung gegen den Sturm. Er zieht nicht ängstlich die Segel ein, er laviert nicht lange, halbe Maßregeln helfen nicht mehr, sondern nur die eine entscheidende und gewaltige: die völlige Umschaltung des Vertrauens. In diesen letzten Jahren ist der Schwerpunkt der nationalen Zuversicht von Versailles abgerückt. Die Nation glaubt nicht mehr den Versprechungen des Königs, nicht seinen Schuldscheinen und Assignaten, sie hofft nichts mehr vom Adelsparlament und der Notablenversammlung; eine neue Autorität muß – wenigstens zeitweilig – geschaffen werden, um den Kredit zu festigen und die Anarchie einzudämmen, denn ein harter Winter hat auch die Fäuste des Volkes hart gemacht; jeden Augenblick kann sich die Verzweiflung der vom Land geflüchteten und jetzt in den Städten hungernden Rotten entladen. So beschließt der König nach üblichem Zögern in zwölfter Stunde, die Nationalstände einzuberufen, seit zwei Jahrhunderten wirklich das ganze Volk. Um denjenigen, in deren Händen noch die Rechte und der Reichtum sind, dem ersten und dem zweiten Stand, dem Adel und der Geistlichkeit, von vornherein das Übergewicht zu nehmen, hat der König auf Neckers Rat den dritten Stand in der Zahl verdoppelt. So halten sich beide Kräfte die Waage, und dem Monarchen ist dadurch die letzte Entscheidungsgewalt gewahrt. Die Einberufung der Nationalversammlung wird die Verantwortung des Königs mindern und seine Autorität stärken: so denkt der Hof.

Aber das Volk denkt anders; zum erstenmal fühlt es sich berufen und weiß: nur in Verzweiflung und niemals aus Güte fordern Könige ihr Volk zum Rat. Eine ungeheure Aufgabe ist damit der Nation gegeben, aber auch eine nicht wiederkehrende Gelegenheit; das Volk ist entschlossen, sie zu nutzen. Ein Rausch von Begeisterung brandet von Stadt zu Dorf, die Wahlen werden zum Fest, die Versammlungen zu Stätten nationalreligiöser Erhebung – wie immer vor großen Orkanen schafft die Natur die farbigsten und täuschendsten Morgenröten. Endlich kann das Werk beginnen: am 5. Mai 1789, dem Tag der Eröffnung der Ständeversammlung, ist Versailles zum erstenmal nicht bloß Residenz eines Königs, sondern Hauptstadt, Hirn, Herz und Seele des ganzen französischen Reiches.

Nie hat die kleine Stadt Versailles so viele Menschen beisammen gesehen wie in diesen schimmernden Frühlingstagen des Jahres 1789. Viertausend Personen umfaßt wie immer der königliche Hofstaat, beinahe zweitausend Abgeordnete hat Frankreich gesandt, dazu kommen die zahllosen Neugierigen aus Paris und hundert andern Orten, die dem welthistorischen Schauspiel beiwohnen wollen. Mit dicken Säckeln Goldes kauft man mühsam ein Zimmer, mit einer Handvoll Dukaten einen Strohsack, Hunderte, die kein Quartier gefunden haben, schlafen unter den Torbogen und Haustoren, viele stellen sich schon nachts, trotz des strömenden Regens, im Spalier auf, um nur nicht das große Schauspiel zu versäumen. Die Lebensmittelpreise steigen auf das Drei- und Vierfache, allmählich wird der Menschenzudrang unerträglich. Schon jetzt zeigt sich symbolisch: diese enge Provinzstadt hat Raum nur für einen Herrscher von Frankreich, nicht für zwei. Auf die Dauer wird einer den Platz räumen müssen: das Königtum oder die Nationalversammlung.

 

Aber die erste Stunde soll nicht dem Streit gelten, sondern der großen Versöhnung zwischen König und Volk. Am vierten Mai läuten seit dem frühen Morgen die Glocken: ehe die Menschen beraten, soll an heiligem Ort der Segen Gottes für das hohe Werk herabbeschworen werden. Ganz Paris ist nach Versailles gepilgert, um Kindern und Kindeskindern von diesem Tage berichten zu können, mit dem ein neues Zeitalter anhebt. An den Fenstern, von denen kostbare Tapisserieen herabhängen, drängt sich Kopf an Kopf, an den Schornsteinen kleben, gleichgültig gegen die Lebensgefahr, dicke Menschentrauben, niemand will eine Einzelheit der großen Prozession versäumen. Und tatsächlich, sie wird großartig, diese Schaustellung der Stände; zum letztenmal entfaltet der Hof von Versailles seine ganze Pracht, um sich eindrucksvoll vor dem Volk als die wahre Majestät, als der eingeborene und beschworene Gebieter zu bekunden. Um zehn Uhr morgens verläßt der königliche Zug den Palast, voran reiten die Pagen in ihren flammenden Livreen, die Falkner, den Falken auf der steil erhobenen Faust, dann rollt, von wundervoll angeschirrten Pferden gezogen, auf deren Häuptern farbige Federbüsche schwanken, der golden-gläserne Prunkwagen des Königs majestätisch langsam heran. Zu seiner Rechten sitzt sein älterer, auf dem Bock sein jüngerer Bruder, auf dem Rücksitz die jungen Herzoge von Angoulême, Berry und Bourbon. Jubelrufe: »Es lebe der König!« grüßen stürmisch diese erste Karosse und schaffen einen peinlichen Gegensatz zu dem harten und verbissenen Schweigen, inmitten dessen die zweite Karosse mit der Königin und den Prinzessinnen vorbeifährt. Deutlich zieht schon in dieser Morgenstunde das öffentliche Urteil eine scharfe Scheidelinie zwischen dem König und der Königin. Gleiches Schweigen empfängt die folgenden Wagen, in denen die übrigen Mitglieder der Familie im langsamen und feierlichen Paßgang zur Kirche Notre-Dame rollen, wo die drei Stände, zweitausend Männer, jeder eine brennende Kerze in der Hand, den Hof erwarten, um in gemeinsamer Prozession die Stadt zu durchschreiten.

Die Karossen halten vor der Kirche. Der König, die Königin und der Hof steigen sämtlich aus, ein ungewohnter Anblick steht ihnen bevor. Die Vertreter der Adelsstände, diese allerdings, sie sind ihnen vertraut von Festen und Bällen, prunkvoll in ihren seidenen, goldverschnürten Mänteln, die Hüte mit den weißen Federn kühn aufgebogen, und ebenso die farbige Pracht der Geistlichkeit, das flammende Rot der Kardinäle, die violetten Soutanen der Bischöfe: diese beiden Stände, der erste und der zweite, sie umstehen seit hundert Jahren getreu den Thron, sie schmücken seit je seine Feste. Wer aber ist jene dunkle Masse, in absichtsvoll-schlichten schwarzen Röcken, über denen nur die Halstücher weiß leuchten, wer sind diese fremden Menschen mit ihren gewöhnlichen dreieckigen Hüten, wer diese Unbekannten, namenlos heute noch jeder einzelne, die vor der Kirche als geschlossener schwarzer Block beisammenstehen? Welche Gedanken bergen diese fremden nie gesehenen Gesichter mit den kühnen, klaren und sogar strengen Blicken? Der König und die Königin mustern ihre Gegner, die, stark durch ihr Beisammensein, sich weder sklavisch verbeugen noch in begeisterte Jubelrufe ausbrechen, sondern nur männlich stumm warten, um gleichberechtigt mit diesen Stolzen und Geschmückten, mit den Privilegierten und Berühmten, an das Werk der Erneuerung zu gehen. Sehen sie nicht in ihrem düstern Schwarz, in ihrem ernsten, undurchdringlichen Wesen mehr Richtern ähnlich als gehorsamen Beratern? Vielleicht hat schon bei dieser ersten Begegnung den König und die Königin eine Ahnung ihres Schicksals erschauernd angerührt.

Aber diese erste Begegnung gilt keinem Waffengang: vor den unvermeidlichen Kampf soll eine Stunde der Eintracht gestellt sein. In riesiger Prozession, ernst und gelassen, jeder eine brennende Kerze in der Hand, schreiten die Zweitausend die kleine Strecke von Kirche zu Kirche, von Notre-Dame de Versailles zur Kathedrale Saint-Louis durch das blitzende Spalier der französischen und Schweizergarden. Über ihnen dröhnen die Glocken, neben ihnen rasseln die Trommeln, flackern die Uniformen, und nur der geistliche Gesang der Priester mindert das militärische Gepräge zu höherer Feierlichkeit.

An der Spitze des langen Zuges marschieren – die Letzten werden die Ersten sein – die Vertreter des dritten Standes, in zwei Parallelreihen, hinter ihnen der Stand des Adels, dann der der Geistlichkeit. Als die letzten Abgeordneten des dritten Standes vorüberkommen, entsteht im Volke eine (nicht zufällige) Bewegung, die Zuschauer brechen in stürmische Jubelrufe aus. Diese Begeisterung gilt dem Herzog von Orléans, dem Abtrünnigen des Hofes, der aus demagogischer Berechnung vorgezogen hat, statt inmitten der königlichen Familie zu gehen, sich den Abgeordneten des dritten Standes anzureihen. Nicht einmal der König, der hinter dem Baldachin mit dem Allerheiligsten – der Erzbischof von Paris in diamantübersätem Meßgewande trägt es – daherschreitet, wird mit ähnlichem Beifall überschüttet wie derjenige, der sich öffentlich vor dem Volke zur Nation und gegen die königliche Autorität bekennt. Um diese geheime Gegnerschaft gegen den Hof noch zu verdeutlichen, wählen einige den Augenblick, da Marie Antoinette naht, um statt »Vive la Reine!« absichtsvoll den Namen ihres Feindes: »Es lebe der Herzog von Orléans!« laut zu rufen. Marie Antoinette spürt die Beleidigung, verwirrt sich und wird blaß; nur mit Mühe gelingt es ihr, ohne Auffälligkeit ihre Haltung zu meistern und den Weg der Erniedrigung aufrecht zu Ende zu gehen. Schon am nächsten Tage aber bei der Eröffnung der Nationalversammlung erwartet sie eine neue. Indes der König mit lebhaftem Beifall bei seinem Eintritt in den Saal bejubelt wird, regt sich bei ihrem Kommen keine Lippe, keine Hand: ein eisiges, ein offensichtliches Schweigen bläst ihr wie ein scharfer Luftzug entgegen. »Voilà la victime«, murmelt Mirabeau zu einem Nachbarn, und selbst ein ganz Unbeteiligter, der amerikanische Gouverneur Morris, bemüht sich, seine französischen Freunde zu ermutigen, dieses beleidigende Schweigen durch einen Zuruf weniger beleidigend zu gestalten. Aber ohne Erfolg. »Die Königin weinte,« schreibt dieser Sohn einer freien Nation in sein Tagebuch, »und nicht eine einzige Stimme erhob sich für sie. Ich würde meine Hand schon erheben, aber ich habe kein Recht hier, meine Gefühle auszudrücken, und vergebens bat ich meine Nachbarn, es zu tun.« Drei Stunden muß wie auf einer Anklagebank die Königin von Frankreich vor den Vertretern des Volkes ohne jede Begrüßung und Beachtung sitzen bleiben; erst als sie sich nach der endlosen Rede Neckers erhebt, um mit dem König den Saal zu verlassen, raffen sich ein paar Abgeordnete aus Mitleid zu einem schüchternen »Vive la Reine!« auf. Gerührt dankt mit einem Kopfnicken Marie Antoinette diesen wenigen, und an dieser Geste entzündet sich endlich der Beifall der ganzen Zuhörerschaft. Aber Marie Antoinette gibt sich, heimkehrend nach ihrem Schloß, keiner Täuschung hin; zu deutlich fühlt sie den Unterschied zwischen diesem zögernd mitleidigen Gruß und dem großen, warmen, strömenden Brausen der Volksliebe, die einstmals ungerufen ihr das noch kindische Herz bei ihrem ersten Kommen umdröhnte. Schon weiß sie, daß sie ausgeschlossen ist von der großen Versöhnung und daß ein Kampf auf Tod und Leben beginnt.

 

Allen den Zuschauern in diesen Tagen fällt das beunruhigte und verstörte Wesen Marie Antoinettes auf. Sogar bei der Eröffnung der Nationalversammlung, da sie in königlicher Pracht in violett-weiß-silbernem Kleide, das Haupt mit einer herrlichen Straußenfeder geschmückt, erscheint, majestätisch und schön, bemerkt Madame de Staël einen Ausdruck von Trauer und Gedrücktheit in ihrer Haltung, der ihr an dieser sonst sorglos heitern und koketten Frau völlig neu und fremd ist. Und tatsächlich, nur mühsam und mit äußerster Willensanstrengung hat sich Marie Antoinette auf diese Estrade gezwungen, ihr Sinn und ihre Sorge sind in diesen Tagen anderswo. Denn sie weiß, während sie in königlicher Pracht und pflichtgemäßer Majestät vor dem Volke stundenlang paradieren muß, leidet und stirbt in seinem kleinen Bett in Meudon ihr ältester Sohn, der sechsjährige Dauphin. Schon im vorigen Jahr hat sie den Schmerz gehabt, eines ihrer vier Kinder zu verlieren, die erst elfmonatige Prinzessin Sophie-Beatrix, nun schleicht zum zweiten Male der Tod um die Kinderstube nach einem Opfer. Die ersten Anzeichen einer rachitischen Veranlagung hatten sich bei ihrem Erstgeborenen schon 1788 gezeigt. »Mein ältester Sohn macht mir viel Sorge«, schrieb sie damals Joseph II. »Er ist ein wenig verwachsen, eine Hüfte ist höher als die andere, und auf dem Rücken sind die Wirbelknochen etwas verschoben und hervorgetreten. Seit einiger Zeit hat er immer Fieber und ist mager und geschwächt.« Dann kamen wieder trügerische Besserungen, bald aber bleibt der geprüften Mutter keine Hoffnung mehr. Die feierliche Prozession bei der Eröffnung der Generalstände, dieses farbige, fremdartige Schauspiel wird die letzte Ergötzung des armen kranken Jungen: in Mäntel gehüllt, auf Kissen gebettet, längst zu schwach, um zu gehen, kann er mit seinen matten fiebrigen Augen vom Balkon der königlichen Stallungen noch seinen Vater, seine Mutter und das funkelnde Spalier vorbeiziehen sehen: einen Monat später wird er begraben. Diesen kommenden, diesen unvermeidlichen Tod ihres Kindes trägt Marie Antoinette während all dieser Tage in ihren Gedanken mit, ihre ganze Sorge gilt ihrem Kinde: nichts Törichteres darum als die immer wieder aufgewärmte Legende, Marie Antoinette hätte in diesen Wochen ihrer schwersten mütterlichen und menschlichen Sorgen von morgens bis abends hinterhältige Intrigen gegen die Versammlung geführt. In jenen Tagen ist ihr Kampfwille von erlebtem Schmerz, von erlittenem Haß völlig gebrochen; erst später, gänzlich allein und wie eine Verzweifelte um das nackte Leben und das Königtum ihres Mannes und ihres zweiten Sohnes kämpfend, wird sie sich wieder zu einem letzten Widerstand aufraffen. Jetzt aber ist ihre Kraft geschwunden, und gerade in jenen Tagen wäre die eines Gottes nötig, nicht die eines verstörten unglücklichen Menschen, um das rollende Schicksal aufzuhalten.

Denn die Ereignisse folgen einander nun mit der Schnelle eines Wildbachs. Nach wenigen Tagen stehen schon die beiden privilegierten Stände, der Adel und die Geistlichkeit, mit dem dritten Stand in erbitterter Eifersüchtelei; zurückgestoßen, erklärt sich der dritte Stand eigenmächtig zur Nationalversammlung und leistet im Ballhaus den Eid, sich nicht früher aufzulösen, als bis der Wille des Volkes, die Konstitution, erfüllt ist. Der Hof erschrickt vor dem Dämon Volk, den er sich selber ins Haus geholt; hin- und hergerissen zwischen allen seinen berufenen und unberufenen Ratgebern, heute dem dritten Stand recht gebend, morgen dem ersten und zweiten, verhängnisvoll schwankend in eben der Stunde, die äußerste Klarheit und Kraft verlangt, neigt sich der König bald zu den militärischen Bramarbassen, die nach alter Hochmutsweise fordern, man möge den Pöbel mit der blanken Klinge nach Hause jagen, bald zu Necker, der immer wieder zur Nachgiebigkeit mahnt. Heute sperrt er dem dritten Stand den Beratungssaal, dann schrickt er wieder ängstlich zurück, sobald Mirabeau erklärt, »die Nationalversammlung werde nur der Macht der Bajonette weichen«. In gleichem Maße aber wie die Unentschlossenheit bei Hofe wächst die Entschlossenheit in der Nation. Über Nacht hat das stumme Wesen »Volk« durch die Preßfreiheit eine Stimme bekommen, in hundert Broschüren schreit es um sein Recht, in flammenden Zeitungsaufsätzen entlädt es seinen aufrührerischen Zorn. Im Palais Royal versammeln sich unter dem Hausschutz des Herzogs von Orléans täglich zehntausend redende, schreiende, agitierende, einander unablässig aufstachelnde Menschen. Unbekannte, denen der Mund zeitlebens verschlossen war, entdecken plötzlich die Lust an der Rede, am Schreiben, Hunderte von Ehrgeizigen und Unbeschäftigten spüren die günstige Stunde, alles politisiert, agitiert, liest, diskutiert, plädiert. »Jede Stunde«, schreibt der Engländer Arthur Young, »bringt ihre Broschüre hervor, dreizehn sind heute erschienen, sechzehn gestern, zweiundzwanzig die letzte Woche, und neunzehn unter zwanzig sind für die Freiheit« – das heißt für die Beseitigung der Privilegien, auch der monarchischen. Jeder Tag, jede Stunde fast schwemmt ein Stück der königlichen Autorität fort, die Worte »Volk« und »Nation« werden innerhalb von zwei oder drei Wochen Hunderttausenden aus kalten Buchstaben zum religiösen Begriff der Allmacht und höchsten Gerechtigkeit. Schon reihen sich die Offiziere, die Soldaten der unwiderstehlichen Bewegung ein, schon merken betroffen die Beamten der Stadt und des Staates, wie ihnen die Zügel bei diesem Aufbäumen der Volkskraft aus den Händen gleiten, selbst die Nationalversammlung gerät ins Kielwasser dieser Strömung, verliert den dynastischen Kurs und beginnt zu schwanken. Immer ängstlicher werden die Ratgeber im königlichen Palast, und wie meist versucht die seelische Unsicherheit, sich aus ihrer Angst in eine auftrumpfende Geste der Kraft zu retten: der König zieht, um zu drohen, die letzten treugebliebenen und verläßlichen Regimenter heran, läßt in der Bastille Bereitschaft halten und wirft schließlich, um sich selber eine Stärke vorzutäuschen, die ihm innerlich fehlt, der Nation den Fehdehandschuh hin, indem er am 11. Juli den einzig populären Minister, Necker, entläßt und wie einen Verbrecher verbannt.

 

Die nächsten Tage sind in unvergänglicher Schrift in die Weltgeschichte eingemeißelt; freilich, in einem einzigen Buch darf man sie nicht nachzulesen versuchen, nämlich in dem handschriftlichen Tagebuch des unselig ahnungslosen Königs. Dort steht am 11. Juli nur: »Nichts. Abreise des Herrn Necker«, und am 14. Juli, dem Tage des Bastillesturms, der seine Macht endgültig zertrümmert, abermals dasselbe tragische Wort »Rien« – das heißt: keine Jagd an diesem Tage, kein erlegter Hirsch, also kein bedeutendes Ereignis. In Paris denkt man anders über diesen Tag, den noch heute eine ganze Nation als den Geburtstag ihres Freiheitsbewußtseins feiert. Am frühen Mittag des 12. Juli dringt Kunde von der Entlassung Neckers nach Paris, der Funke fällt ins Pulverfaß. Im Palais Royal springt Camille Desmoulins, einer der Klubfreunde des Herzogs von Orléans, auf einen Sessel, schwingt eine Pistole, schreit, der König bereite eine Bartholomäusnacht vor, ruft zu den Waffen. In einer Minute ist ein Symbol des Aufstandes, die Kokarde, gefunden, das dreifarbige Banner der Republik; wenige Stunden später wird das Militär überall angegriffen, werden Arsenale beraubt, die Straßen gesperrt. Am 14. Juli marschieren zwanzigtausend Menschen vom Palais Royal gegen die verhaßte Zwingburg von Paris, die Bastille, ein paar Stunden später ist sie gestürmt, und das Haupt des Gouverneurs, der sie verteidigen wollte, tanzt fahl auf der Spitze einer Pike: zum erstenmal leuchtet diese blutige Laterne der Revolution. Niemand wagt gegen diesen elementaren Ausbruch der Volkswut mehr Widerstand, die Truppen, die von Versailles keine klare Ordre erhalten, ziehen sich zurück, am Abend rüstet mit tausend Kerzen Paris zur Siegesfeier.

Zehn Meilen weit von dem Weltgeschehnis aber, in Versailles, ist alles ahnungslos. Man hat den unbequemen Minister weggeschickt, nun wird Friede sein, man wird bald wieder auf die Jagd gehen können, hoffentlich morgen schon. Aber da kommt Bote auf Bote aus der Nationalversammlung: in Paris herrsche Unruhe, man plündere die Arsenale, man rücke gegen die Bastille vor. Der König läßt sich Meldung erstatten, aber er faßt keinen rechten Entschluß; schließlich, wozu hat man diese lästige Nationalversammlung? Sie soll Rat schaffen. Wie immer wird auch an diesem Tage die geheiligte Stundeneinteilung nicht geändert, wie immer legt sich der bequeme, phlegmatische und auf nichts neugierige Mann (man wird morgen schon alles rechtzeitig erfahren) um zehn Uhr zu Bett und schläft seinen dicken, dumpfen, durch kein Weltgeschehen zu erschütternden Schlaf. Aber welche freche, verwegene, welche anarchistische Zeit! Sie ist sogar so respektlos geworden, den Schlaf eines Monarchen zu stören. Der Herzog von Liancourt jagt auf schäumendem Pferd nach Versailles, um Botschaft von den Pariser Vorgängen zu bringen. Man erklärt ihm, der König schlafe schon. Er besteht darauf, daß der König geweckt werde; schließlich läßt man ihn in das geheiligte Schlafzimmer. Er meldet: »Die Bastille gestürmt! Der Gouverneur ermordet! Sein Haupt auf einer Pike durch die ganze Stadt getragen!«

»Aber das ist ja eine Revolte«, stammelt erschreckt der unglückselige Herrscher.

Doch unbarmherzig streng korrigiert der schlimme Bote: »Nein, Sire, das ist eine Revolution.«


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