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Der Leichenwagen der Monarchie

Die alte Macht, das Königtum und seine Hüter, die Aristokraten, sind schlafen gegangen. Aber die Revolution ist jung, sie hat heißes, unbändiges Blut, sie braucht keine Rast, ungeduldig wartet sie auf den Tag und die Tat. Um die Lagerfeuer, mitten in den Straßen, scharen sich die Soldaten des Pariser Aufstandes, die keine Unterkunft gefunden haben; niemand kann erklären, warum sie eigentlich noch in Versailles und nicht zu Hause in ihren Betten sind, da doch der König alles gehorsam zugesagt und versprochen hat. Aber ein unterirdischer Wille hält und beherrscht diesen unruhigen Schwarm. Hinüber und herüber aus den Türen schatten Gestalten, die geheime Aufträge geben, und um fünf Uhr morgens, noch liegt der Palast in Dunkel und Schlaf, schleichen einzelne Gruppen, von wissender Hand geführt, auf Umwegen durch den Hof der Kapelle bis unter die Fenster des Schlosses. Was wollen sie? Und wer führt diese zweifelhaften Gestalten, wer treibt sie heran, wer schiebt sie vor zu einem noch nicht erkennbaren, aber wohl erwogenen Zweck? Die Treiber, sie bleiben im Dunkel; der Herzog von Orléans und der Bruder des Königs, der Graf von Provence, sie haben vorgezogen und wissen vielleicht, warum, in dieser Nacht nicht im Palast bei ihrem rechtmäßigen König zu sein. Jedenfalls: plötzlich kracht ein Schuß, einer jener provokatorischen Schüsse, die immer notwendig sind für einen gewollten Zusammenstoß. Sofort strömen von allen Seiten Aufständische heran, Dutzende, Hunderte, Tausende, bewaffnet mit Piken und Hacken und Flinten, die Regimenter der Frauen und die als Frauen verkleideten Männer. Der Vorstoß hat kerzengerade Richtung: zu den Gemächern der Königin! Doch wieso finden die Fischweiber von Paris, die Frauen der Halle, die Versailles nie betreten haben, so merkwürdig sicher in diesem völlig unübersichtlichen Schlosse mit seinen Dutzenden von Stiegen und Hunderten von Zimmern sofort den richtigen Aufgang? Mit einem Stoß schwemmt die Welle der Weiber und verkleideten Männer die Treppe zu den Gemächern der Königin empor. Ein paar Leibgarden versuchen, den Eintritt zu wehren, zwei werden herabgerissen, barbarisch ermordet, ein großer bärtiger Mann hackt auf dem offenen Platz den Leichen die Köpfe ab, die wenige Minuten später bluttropfend an riesigen Piken tanzen.

Aber die Geopferten haben ihre Pflicht erfüllt. Ihr schriller Todesschrei hat rechtzeitig den Palast geweckt. Einer der drei Leibgardisten hat sich losgerissen, er stürmt verwundet die Treppe hinauf und schreit gell in die hohle Marmormuschel des Hauses: »Rettet die Königin!«

Dieser Schrei rettet sie tatsächlich. Eine Kammerfrau schrickt auf, stürzt ins Gemach, die Königin zu warnen. Schon dröhnen draußen die von den Leibgarden rasch verriegelten Türen unter Hacken und Beilen. Es bleibt keine Zeit mehr, Strümpfe und Schuhe anzuziehen, nur einen Rock wirft sich Marie Antoinette über das Hemd, einen Schal über die Schultern. So, nacktfüßig, die Strümpfe in der Hand, läuft sie klopfenden Herzens durch den Gang, der zum Œil-de-bœuf und durch diesen weitläufigen Raum zu den Gemächern des Königs führt. Aber Entsetzen! Die Tür ist versperrt. Die Königin und ihre Kammerfrauen hämmern verzweifelt mit ihren Fäusten, hämmern und hämmern, aber die unerbittliche Tür bleibt verschlossen. Fünf Minuten lang, fünf fürchterlich lange Minuten, während nebenan jene gedungenen Mörder schon die Zimmer aufbrechen, Betten und Schränke durchwühlen, muß die Königin warten, bis endlich ein Diener jenseits der Tür das Klopfen hört und sie erlöst; jetzt erst kann Marie Antoinette in die Gemächer ihres Gemahls hinüberflüchten, gleichzeitig bringt die Gouvernante den Dauphin und die Tochter der Königin. Die Familie ist vereinigt, das Leben gerettet. Aber nicht mehr als das Leben.

Endlich ist auch der Schläfer erwacht, der Morpheus nicht hätte opfern dürfen in dieser Nacht und dem deshalb verächtlich seit dieser Stunde der Spottname »Général Morphée« anhängt: Lafayette; er sieht, was seine leichtfertige Gutgläubigkeit verschuldet. Nur noch mit Bitten und Beschwörungen, nicht mehr mit der Autorität des Befehlenden kann er die gefangenen Leibgarden vor der Abschlachtung retten, nur mit äußerster Mühe den Pöbel aus den Gemächern wieder hinausdrängen. Jetzt, sobald die Gefahr vorbei ist, erscheinen auch, wohl rasiert und gepudert, der Graf von Provence, der Bruder des Königs, und der Herzog von Orléans; merkwürdigerweise, sehr merkwürdigerweise gönnt beiden die aufgeregte Menge respektvoll Raum. Nun kann der Kronrat beginnen. Doch was ist noch zu beraten? Die Menge der Zehntausend hält das Schloß wie eine kleine, dünne, zerbrechliche Nußschale in ihrer schwarzen und blutbefleckten Faust, aus dieser Umklammerung gibt es kein Entfliehen mehr, kein Entrinnen. Zu Ende ist das Verhandeln und Paktieren des Siegers mit dem Besiegten; mit tausendstimmigem Schrei donnert vor den Fenstern die Masse die Forderung, die ihr gestern und heute von den Agenten der Klubs heimlich zugeflüstert wurde: »Der König nach Paris! Der König nach Paris!« Die Scheiben dröhnen von diesem Anprall der drohenden Stimmen, und die Bilder der königlichen Ahnen schüttern erschreckt an den Wänden des alten Palastes.

 

Bei diesem befehlshaberischen Ruf richtet der König einen fragenden Blick auf Lafayette. Soll er gehorchen, oder vielmehr: Muß er schon gehorchen? Lafayette schlägt die Augen nieder. Seit gestern weiß dieser Gott des Volkes um seine eigene Entgötterung. Noch hofft der König zu verzögern: um diese tobende Menge hinzuhalten, diesem rasenden Hunger nach Triumph wenigstens einen Brocken hinzuwerfen, beschließt er, auf den Balkon hinauszutreten. Kaum daß der brave Mann erscheint, bricht die Menge in lebhaften Beifall aus: immer bejubelt sie den König, wenn sie ihn besiegt hat. Und warum nicht jubeln, wenn ein Herrscher baren Hauptes vor sie hintritt und freundlich hinabnickt in den Hof, wo man eben zweien seiner Verteidiger wie geschlachteten Kälbern den Kopf abgeschlagen und auf Piken gespießt hat? Aber dem phlegmatischen, auch im Punkt der Ehre nicht hitzigen Mann fällt kein moralisches Opfer wirklich schwer; und wäre nach dieser seiner Selbstdemütigung das Volk ruhig nach Hause gegangen, so hätte er sich wahrscheinlich eine Stunde später auf das Pferd gesetzt und gemächlich Jagd abgehalten, um nachzuholen, was er gestern durch die »Ereignisse« versäumen mußte. Jedoch das Volk hat an diesem einen Triumph nicht genug, es will im Rausch seines Selbstgefühls noch heißeren, noch feurigeren Wein. Auch sie, die Königin, die Stolze, die Harte, die Freche, die unbeugsame Österreicherin soll heraus! Auch sie und gerade sie, die Anmaßende, soll ihr Haupt beugen unter das unsichtbare Joch. Immer wilder werden die Schreie, immer toller stampfen die Füße, immer heiserer gellt der Ruf: »Die Königin, die Königin auf den Balkon!« Marie Antoinette, bleich vor Zorn, die Lippen verbissen, rührt keinen Fuß. Was ihr den Schritt lähmt und die Wange entfärbt, ist keineswegs Furcht vor den vielleicht schon zielbereiten Flinten, vor Steinen und Schimpfreden, sondern Stolz, das ererbte, unzerstörbare Hoheitsgefühl dieses Hauptes, dieses Nackens, die sich niemals und vor niemand noch gebeugt haben. Verlegen blicken alle sie an. Endlich, die Fenster klirren schon vom Toben, gleich werden Steine sausen, tritt Lafayette auf sie zu: »Madame, es ist notwendig, um das Volk zu beruhigen.« »Dann zögere ich nicht«, antwortet Marie Antoinette und nimmt ihre beiden Kinder rechts und links an der Hand. Aufrecht den Kopf erhoben, die Lippe scharf angezogen, tritt sie hinaus auf den Balkon. Aber nicht wie eine Bittstellerin, die Gnade will, sondern wie ein Soldat, der zum Angriff marschiert, mit dem entschlossenen Willen, gut und ohne Wimpernzucken zu sterben. Sie zeigt sich, aber sie beugt sich nicht. Doch gerade diese aufrechte Art ihrer Haltung wirkt bezwingend. Zwei Ströme von Kraft begegnen einander in diesen beiden Blicken, jenem der Königin und jenem des Volkes, und so stark schwingt diese Spannung, daß eine Minute lang auf dem riesigen Platz völlige Totenstille herrscht. Niemand weiß, wie sie sich lösen wird, diese erste, zum Zerreißen gespannte Stille des Staunens und Erschreckens; ob in einem Wutgeheul, einem Flintenschuß oder einem Hagel von Steinen. Da tritt Lafayette, immer kühn in großen Augenblicken, an ihre Seite, mit ritterlicher Gebärde beugt er sich vor der Königin und küßt ihre Hand.

Diese Geste zerreißt mit einem Ruck die Spannung. Das Überraschendste geschieht: »Es lebe die Königin! Es lebe die Königin!« braust es mit tausend Stimmen über den Platz. Unwillkürlich bejubelt dasselbe Volk, das sich eben noch an der Schwäche des Königs entzückte, den Stolz, den unnachgiebigen Trotz dieser Frau, die gezeigt hat, daß sie mit keinem erzwungenen Lächeln, keinem feigen Gruß um seine Gunst wirbt.

Im Zimmer umringen alle Marie Antoinette, die vom Balkon zurücktritt, und beglückwünschen sie, als sei sie aus Todesgefahr entronnen. Aber die einmal Enttäuschte läßt sich durch diesen verspäteten Jubelruf des Volkes: »Es lebe die Königin!« nicht täuschen. Tränen stehen in ihren Augen, als sie zu Madame Necker sagt: »Ich weiß, sie werden uns zwingen, den König und mich, nach Paris zu gehen, und sie werden die Köpfe unserer Leibgarden auf ihren Piken vorantragen.«

 

Marie Antoinette hat recht gefühlt. Mit einer Verbeugung gibt sich das Volk nicht mehr zufrieden. Eher wird es Stein für Stein und Glas um Glas dieses Haus zertrümmern, als von seinem Willen abstehen. Nicht umsonst haben die Klubs diese riesige Maschine in Bewegung gesetzt, nicht umsonst sind sie, diese Tausende, sechs Stunden durch den Regen marschiert. Schon schwillt neuerdings das Murren gefährlich an, schon zeigt sich die zum Schutz angerückte Nationalgarde redlich geneigt, gemeinsam mit den Massen das Schloß zu stürmen. Da gibt der Hof endlich nach. Man wirft vom Balkon und aus den Fenstern beschriebene Zettel hinunter, der König sei entschlossen, mit seiner Familie nach Paris zu übersiedeln. Mehr hat das Volk nicht gewollt. Jetzt stellen die Soldaten ihre Gewehre weg, die Offiziere mischen sich unter das Volk, man umarmt einander, man jubelt, man schreit, Fahnen tanzen über der Menge, eilig schickt man die Piken mit den blutigen Köpfen voraus nach Paris. Diese Drohung ist nicht mehr nötig.

Um zwei Uhr nachmittags werden die großen vergoldeten Gittertüren des Schlosses aufgetan. Eine riesige Kalesche mit sechs Pferden schleppt den König, die Königin und die ganze Familie über das holprige Pflaster für immer aus Versailles fort. Ein Kapitel der Weltgeschichte, ein Jahrtausend königlicher Autokratie ist in Frankreich zu Ende.

 

Bei strömendem Regen, von Wind umstürmt, war die Revolution am 5. Oktober zum Kampf aufgebrochen, um sich ihren König zu holen. Ihren Sieg am 6. Oktober grüßt ein strahlender Tag. Herbstlich klar die Luft, blauseiden der Himmel, kein Wind rührt die golden gefärbten Blätter an den Bäumen; es ist, als hielte die Natur neugierig den Atem an, um dieses in Jahrhunderten einzige Schauspiel zu betrachten, wie ein Volk seinen König entführt. Denn welch ein Schauspiel, diese Heimkehr Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes in ihre Hauptstadt! Halb Leichenzug, halb Fastnachtsschwank, Begräbnis der Monarchie und Karneval des Volkes. Und vor allem, welche neue, modisch sonderbare Etikette! Nicht galonierte Läufer rennen wie sonst dem Wagen des Königs voraus, nicht die Falkoniere auf ihren Eisenschimmeln und die Leibgarde mit den verschnürten Röcken sprengen zur Rechten und Linken, nicht der Adel umringt in Prunkgewändern die festliche Karosse, sondern ein schmutziger, unordentlicher Strom schwemmt in seiner Mitte die triste Kalesche wie ein gescheitertes Wrack mit. Voran die Nationalgarde in verlotterten Uniformen, nicht in Reih und Glied, sondern Arm in Arm, die Pfeife im Mund, lachend und singend, jeder einen Laib Brot auf die Spitze seines Bajonetts gespießt. Zwischendurch die Frauen, rittlings auf Kanonen sitzend, den Sattel mit gefälligen Dragonern teilend oder zu Fuß marschierend, Arm in Arm mit Arbeitern und Soldaten, als ginge es zum Tanz. Hinter ihnen rasseln die Wagen mit Mehl aus den königlichen Vorräten, bewacht von Dragonern, und unablässig sprengt die Kavalkade vor und zurück, mit hellem Mund die Schaulustigen anjubelnd, säbelschwingend und fanatisch die Führerin der Amazonen, Théroigne de Méricourt. Inmitten dieses aufschäumenden Gelärms schwimmt staubgrau die armselige düstere Karosse, in der, eng zusammengepreßt, Ludwig XVI., der schwachmütige Nachfahre Ludwigs XIV., und Marie Antoinette, tragische Tochter Maria Theresias, ihre Kinder und die Gouvernante bei halb niedergelassenen Vorhängen sitzen. Ihnen folgen im gleichen Trauertrott die Karossen mit den königlichen Prinzen, dem Hof, den Deputierten und wenigen treugebliebenen Freunden, die alte Macht Frankreichs, mitgerissen von der neuen, die heute ihre Unwiderstehlichkeit zum ersten Male erprobt.

Sechs Stunden lang dauert dieser Leichenzug von Versailles nach Paris. Aus allen Häusern drängen unterwegs Menschen heraus. Aber nicht ehrfürchtig lüften die Zuschauer den Hut vor so schmählich Besiegten, nur neugierig reihen sie sich stumm, jeder will den König und die Königin in ihrer Erniedrigung gesehen haben. Mit Triumphrufen zeigen die Frauen ihre Beute: »Wir bringen sie zurück, den Bäcker, die Bäckerin und den kleinen Bäckerbuben. Jetzt ist es mit dem Hunger zu Ende.« Marie Antoinette hört all diese Rufe des Hasses und des Hohnes und drückt sich tief in die Wölbung des Wagens, um nichts zu sehen und nicht gesehen zu werden. Ihre Augen sind verhangen. Vielleicht erinnert sie sich bei dieser langen sechsstündig-unendlichen Fahrt der unzähligen anderen, der frohmütigen und leichten Fahrten auf dieser gleichen Straße, zu zweit mit der Polignac im Kabriolett zum Maskenball, zur Oper, zu Soupers und zurück im grauenden Morgen. Vielleicht sucht sie auch mit den Blicken unter den Garden den einen, der verkleidet zu Pferde den Zug begleitet, Fersen, den einzigen wirklichen Freund. Vielleicht denkt sie gar nichts und ist nur müde, nur erschöpft, denn langsam, langsam rollen die Räder und unabänderlich, sie weiß es, dem Verhängnis entgegen.

 

Endlich hält der Leichenwagen der Monarchie an den Toren vor Paris: hier wartet des politisch Toten noch die feierliche Einsegnung. Bei flackernden Fackeln empfängt der Bürgermeister Bailly den König und die Königin und preist diesen 6. Oktober, der Ludwig für immer zum Untertanen seiner Untertanen macht, als einen »schönen Tag«. »Welch schöner Tag,« sagt er emphatisch, »da die Pariser in ihrer Stadt Ihre Majestät und die königliche Familie besitzen dürfen.« Selbst der unempfindliche König fühlt diesen Stachel durch seine Elefantenhaut, er wehrt kurz ab: »Ich hoffe, mein Herr, daß mein Aufenthalt den Frieden, die Eintracht und die Unterwerfung unter die Gesetze bringt.« Aber noch immer läßt man die tödlich Erschöpften nicht zur Ruhe kommen. Noch müssen sie ins Stadthaus, damit ganz Paris seine Beute betrachten könne. Bailly übermittelt die Worte des Königs: »Immer sehe ich mich mit Vergnügen und Vertrauen in der Mitte der Bewohner meiner guten Stadt Paris«, aber dabei vergißt er das Wort »Vertrauen« zu wiederholen. Mit überraschender Geistesgegenwart merkt die Königin das Versäumnis. Sie erkennt, wie wichtig es ist, mit diesem Wort »Vertrauen« dem aufständischen Volk auch eine Verpflichtung aufzuerlegen. Laut erinnert sie daran, daß der König auch sein Vertrauen ausgesprochen habe. »Sie hören, meine Herren,« sagt Bailly, rasch gefaßt, »es ist noch besser, als wenn ich selbst es gesagt hätte.«

Zum Schluß holt man die Heimgezwungenen an die Fenster. Fackeln werden von rechts und links nahe an ihre Gesichter gehalten, damit sich das Volk vergewissern könne, daß es keine verkleideten Puppen, sondern wirklich der König und die Königin seien, die man sich aus Versailles geholt hat. Und das Volk ist von seinem unerwarteten Sieg ganz begeistert, ganz trunken: warum jetzt nicht großmütig sein? Der lange verschollene Ruf: »Es lebe der König, es lebe die Königin!« donnert wieder und wieder über den Grèveplatz, und zur Belohnung dürfen Ludwig XVI. und Marie Antoinette jetzt ohne militärischen Schutz in die Tuilerien fahren, um endlich auszuruhen von diesem furchtbaren Tage und um zu ermessen, in welche Tiefe er sie hinabgestürzt hat.

 

Die staubüberdeckten glühenden Wagen halten vor einem dunklen, verwahrlosten Schloß. Seit Ludwig XIV., seit hundertfünfzig Jahren hat der Hof die alte Residenz der Könige, die Tuilerien, nicht mehr bewohnt; öde sind die Zimmer, die Möbel weggeschafft, es fehlen Betten und Lichter, die Türen schließen nicht, kalt fährt die Luft durch die zerbrochenen Fensterscheiben. In Eile versucht man bei geborgten Kerzen ein Nachtlager für die wie ein Meteor aus dem Himmel hereingestürzte königliche Familie halbwegs zu improvisieren. »Wie häßlich hier alles ist, Mama«, sagt beim Eintreten der viereinhalbjährige Dauphin, aufgewachsen im Glanz von Versailles und Trianon, gewohnt an leuchtende Kandelaber und schillernde Spiegel, an Reichtum und Pracht. »Mein Kind,« antwortet die Königin, »hier wohnte Ludwig XIV. und befand sich wohl. Wir dürfen nicht anspruchsvoller sein als er.« Ohne jede Klage aber findet sich Ludwig der Gleichgültige in sein unbequemes Nachtlager. Er gähnt und sagt träge zu den anderen: »Jeder bringe sich unter, wie er gerade kann. Was mich betrifft, ich bin zufrieden.«

Marie Antoinette jedoch ist nicht zufrieden. Nie wird sie dieses Haus, das sie nicht frei gewählt hat, anders denn als Gefängnis betrachten, nie vergessen, auf welche erniedrigende Weise man sie hierher geschleppt hat. »Niemals wird man glauben können,« schreibt sie mit fliegender Hand an den getreuen Mercy, »was in den letzten vierundzwanzig Stunden vorgefallen ist. Was immer man auch sagt, nichts wird übertrieben sein und, im Gegenteil, weit unter dem, was wir gesehen und erlitten haben.«


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