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Die süditalienische Tarantella ist offenbar ein uralter Volkstanz. Die gleichnamige Tanzkrankheit im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert und ähnliche Erscheinungen, wie sie mimisch durch die »Tanzdichtung« dargestellt werden, kommen hier nicht in Betracht; ebensowenig die als Tarantella bezeichneten prunkhaften Ballette in der Scala zu Mailand oder in den großen Fremdensälen zu Rom.
Einen ganz eigenen Zauber, für den vor vierzig Jahren selbst ein beredter Italiener im »Piccolo« kaum Worte findet, scheint jedoch die Muse der Tanzkunst der Tarantella von Capri verliehen zu haben. Jedenfalls übertrifft sie jene äußerlich verfeinerten Kunstvorführungen durch natürliche Anmut und Leidenschaft, vor allem aber durch eine gewisse »klassische« Ursprünglichkeit. Stimmen doch verschiedene Stellungen und Bewegungen vollkommen mit entsprechenden Fresken in Pompeji überein! Nach einer auf Capri erzählten Sage haben die Grazien selbst die Tarantella erfunden. Als die von Odysseus überlisteten Sirenen ein stärkeres Betörungsmittel als ihren machtlos gewordenen Zaubersang begehrten, erdachten die Huldgöttinnen diesen Tanz und lehrten ihn, weil die fußlosen Sirenen ihn selbst nicht ausführen konnten, den Schönen der Insel. Über Neapel eroberte er sich dann ganz Süditalien bis nach Tarent und Sizilien, wo er überall, wie auch in Rom und anderwärts, noch heute den Fremden in freilich oft recht fragwürdiger »Aufmachung« als Nationaltanz vorgeführt wird. Sollte aber die Sache sich zufällig umgekehrt verhalten und das schaufreudige Tarent die eigentliche Heimstätte der Tarantella sein, so bleibt eins dabei doch als wahrscheinlich erwiesen: ihr antiker Ursprung. Daher rührt wohl auch das mimisch-symbolische Gepräge des Tanzes, der in seinen acht bis zehn Figuren ein bald neckisches, bald ernstes und schließlich mit Erfolg gekröntes Liebeswerben ausdrückt und darum in Capri auch als » ballo per apertura di sala dello sposalizio« getanzt wird.
Zur musikalischen Begleitung, das heißt zur eigentlich ziemlich unmusikalischen Markierung des Taktes, wird gewöhnlich nur das Tamburin, die bekannte kleine Handschellentrommel, von einer die Gunst der Grazien meist nicht mehr genießenden Alten geschlagen. Früher wurden, und im Hause einer durch ihre Schönheit berühmten Tarantellatänzerin vielleicht auch jetzt noch manchmal, kurze volkstümliche Lieder gesungen, dem Sinne des Tanzes gemäß natürlich Liebeslieder, die aber gleich den mancherlei Vorkommnissen im Liebesleben der Abwechslung durchaus nicht ermangeln. Pittré, der bedeutendste italienische Volkskundler, unterscheidet in seiner umfassenden Sammlung sizilianischer Volkslieder nicht weniger als achtzehn Arten, die er unter entsprechenden Überschriften anführt, wie: Schönheit der Frauen, Verlangen und Hoffnung, Lieben und Küssen, Erklärungen und Versprechungen, Grüße und Geschenke, Eifersucht, Groll und Versöhnung, Trennung und Abschied, Verlassensein, Unglück und Tod, gute Lehren und Sprüche, Spott- und Scherzlieder.
Metrisch betrachtet, stellt diese zur Tarantella gesungene Kanzone meist eine Strophe von acht fünffüßigen Jamben mit vorwiegend weiblichen, gekreuzten, manchmal aber auch gepaarten und umschlingenden Reimen oder Assonanzen dar. Statt Achtzeiler trifft man, namentlich in Schelmenliedchen, häufig auch Vier- und Sechszeiler an, und in ernsteren, kunstreicheren Gesängen, wie in stimmungsvollen Ständchen und Werbeliedern, auch zehn-, zwölf- und mehrzeilige Strophen. Die erste Hälfte oder auch der größte Teil der Kanzone knüpft gewöhnlich an Allgemeines, besonders an bekannte Zustände und örtliche Verhältnisse an, während zum Ende hin eine bestimmte Anwendung hervortritt, der dann eine oft überraschende, witzige Schlußwendung folgt, ähnlich wie im deutschen Minne- und Meisterlied Stollen und Abgesang.
Die für alle Texte gleichlautende Melodie ist reizlos; vielfache Wiederholungen gestalten sie eintönig. Jede erste Verszeile wird zweimal und der größere Teil der dazugehörigen zweiten Zeile dreimal gesungen, wie auch bei jedem folgenden Verspaar. Wer sollte solchen Singsang, zumal in der plärrenden, aufdringlichen Art, wie ich ihn zuerst von einer alten »Zia« in breitestem neapolitanisch-capresischen Dialekt vernahm, beachten oder gar Schönheiten dahinter vermuten? Und doch sind sie, verborgen wie kostbare Perlen in rauher Schale, in reicher Fülle vorhanden. Eine wahre Geduldprobe war freilich das Sammeln, wobei besonders die echte Fassung in der fremden Mundart anfangs Schwierigkeiten bereitete. Da ich mich aber nicht abschrecken ließ, gelang es, nach und nach über hundert alte, vielfach schon halb vergessene, nur durch langes Überlegen wieder im Gedächtnis auftauchende Tanzlieder aufzuzeichnen. Die meisten und schönsten verdanke ich einer Vierzigerin, der »schönen« Carmelina, und einer Siebzigerin, deren besonderes Vertrauen ich gewonnen und die mir auch versicherten, daß die Lieder sehr alt, wohl schon »so alt wie die Welt«, aber gewiß noch niemals aufgeschrieben worden wären. Soweit ich mich in den großen Bibliotheken zu Neapel, Rom, Bologna, Florenz, Siena und Perugia davon überzeugen konnte, liegt noch keine derartige Sammlung aus Capri vor. Nur einige Kanzonen – wahrscheinlich Gemeingut aus den Tagen wandernder Volkssänger – finden sich schon bei Pittré, Imbriani, Fasulo u. a.
Wie ich dazu kam? »Ich ging in Capri so vor mich hin, und nichts zu suchen war mein Sinn«, bis mich zufällig einmal der Anfang einer Tarantellakanzone an ein altfranzösisches Volkslied erinnerte: » All' acqua, l'acqua ri la fontanella«. Und damit bescherte mir der Zufall gleich ein Musterbeispiel, das die folgende kleine Auswahl eröffnen mag. Zwar zeigt die Liebesglück atmende Strophe zum Teil nur mangelhaft assonantische Gleichklänge, dafür aber inhaltlich kunstgerechtes, zum Teil auch capresisches Gepräge. Bloß die auf Capri nicht vorhandene »Fontanella« deutet auf eine mit »Brünnlein« gesegnete Urheimat: wahrscheinlich in der Gegend von Neapel, wo das Liedchen früher auch gesungen wurde.
Am Wasser, Wasser, wo bei weißen Linnen
die Frauen waschend um das Brünnlein stehn,
die Schönste wähl' ich mir der Wäscherinnen,
und immer soll sie mir zur Seite gehn.
Und jeder fragt: Wie konntest du gewinnen
die Königsbeute, wo nur sie erspähn?
Hab' sie erspäht im schönen Capri drinnen,
wo rundum, rundum ihr das Meer könnt sehn.
Wie soll mit dir zu reden mir gelingen?
Ich will mir kaufen einen schönen Garten,
will rund mit einer Mauer ihn umringen
von Edelsteinen und von Diamanten.
Drin pflanz' ich einen Baum, der bald soll bringen
der schönen Maid ersehnte Schattenkühle,
drauf setz' ich einen Stieglitz, ihr zu singen. –
O schöner Baum, und wann willst du dann blühen?
Hier komm ich zum Palast und singe Lieder,
wo ew'ger Schönheit holde Reize lachen,
wo du am Tag beständig schaust hiernieder,
und Frühlingsblumen früh und spät erwachen.
Mein Stern und Mond, der Tag und Nacht strahlt nieder,
o Königstern und Paradieseslachen:
Die Schönheit, die der hohen Frau beschieden,
entführt Verdammte selbst dem Höllenrachen.
Als du in treuer Liebe mir ergeben,
rot wie Granaten glühten deine Wangen;
doch seit wir nun in bittrer Zwietracht leben,
hast blaß und krank zu werden angefangen.
Willst liebend wieder du dich mir ergeben,
wirst du die Schönheit, wo sie blieb, erlangen.
»Nun singe, singe!« sagten alle Leute.
Doch Raffael weilt fern, was nützt mein Klagen?
Nur durch den Wind will ich ihn leise fragen:
»Was trieb dich von der Liebsten in die Weite?«
Doch seh' ich noch, bald soll die Stunde schlagen,
mich auf dem Sessel Raffael zur Seite.
Du schöne Maid, vom Paradies erkoren,
beglückt, wer dir den ersten Kuß gegeben!
Beim Weinen bist und Lachen du geboren,
der heil'ge Thomas schenkte dir das Leben.
Gib einen Kuß mir, wie du mir geschworen;
sonst bleib' ich da, es hilft kein Widerstreben. –
Dir, schönes Napulo, send' ich viel Grüße:
Die Schlüssel hab' ich und kann doch nicht kommen.
Denn mach' ich auch einmal mich auf die Füße,
muß ich das schöne Capri ja verlassen.
O schönes Napulo und sanfte Winde,
vom Liebchen reißt man sich nicht so geschwinde.
Wie schön der Himmel, wenn die Sternlein prangen!
Er läßt Frau Luna ohne Füße gehen.
Noch schöner leuchten meiner Liebsten Wangen,
mich satt zu schauen kann mir niemand wehren:
Der Himmel ist zu hoch, hinaufzulangen – –
die schönen Frauen soll man nicht begehren.
Mein lieber Stern, der hell mir leuchten sollte,
zwei Liebende wirst du zu Tod noch quälen:
Der ist von Silber, jener ist von Golde.
O wüßt' ich doch, wen du wirst lieber wählen!
»Von Golde dem bin ich von Herzen holde,
dem silbernen wird's nicht an andren fehlen.« –
Willst du dich, starke Festung, nicht ergeben,
send' ich dir gleich sechstausend Kanonaden,
und habe ich die Festung dann bezwungen,
trab' ich hinein mit mächtiger Armada,
und halt ein Fest, weil siegreich ich errungen
die stolze Schöne, die sich nennt Nunziata. –
Du, werte Witwe, laß mich endlich wissen,
ob du der Tochter Hand mir wirst versagen.
Wo ich sie treffe, werd' ich dann sie küssen,
die Strafe zahl' ich, solltest du verklagen
mich beim Gerichtshof, wo ich gern erscheine
Für Geld sind Freunde da, die könnt ihr fragen.
Nach Hause gehst du drauf mit der
Geküßten,
und ich will mein Geschick zufrieden tragen.
O Mägdlein, droben an der Fensterlehne,
erweise mir die Huld, nicht wegzueilen!
Wirf mir ein Haar von deiner Lockensträhne,
wirf es herab, dran mich emporzuseilen!
Und bin ich oben an der Fensterlehne,
umarme mich, in süßer Ruh' zu weilen.
Zum Himmel möcht' ich, wenn ich könnte, steigen
auf einer Leiter von dreihundert Stiegen!
Und sollte brechend oben sie sich biegen,
möcht' unten ich in Liebchens Armen liegen!
Hätt' ich als Kaiser alle Welt zu lenken,
für einen Kuß würd' ich das Reich dir schenken.
Und wär' ich Papst, für diese schönen Augen
den Vatikan verließ ich ohn' Bedenken.
Hab' mich nur lieb, und trockne deine Zähren,
ich will dir auch ein Taschentüchlein schenken.
Wird mich die Lehrerin dann sticken lehren,
stick' deinen Namen drein ich zum Gedenken;
und selber will ich waschen es im Bronnen
mit Seif' und Rosenwasser treuer Liebe.
Dann laß ich's trocknen in der Julisonnen:
Das ist das Taschentuch der ersten Liebe. –
Ich ging einmal am Strande viele Stunden:
Verloren hab' ich da mein Herz im Sand.
Die Fischer fragt' ich rings: »Habt ihr's gefunden?«
Man meint, daß es in deiner Brust verschwand.
Du schöne Maid mit deinem Lockenkranze,
schaffst mir, dem armen Liebsten, Todesqualen;
die Sonne hebt sich, froh in deinem Glanze,
den Mond im Osten läßt nur du erstrahlen.
In eine Nachtigall möcht' ich mich wandeln!
Wohl flög' ich dann in deines Gartens Lauben.
Und wärst du mir dann gut, riefst du mich zärtlich,
und ein Jasmin wollt' ich bescheiden rauben.
Dann weckt' ich morgens dich mit meinem Sange,
sanft einzuschlummern würdest abends lauschen,
und wechselnd wollten wir im Liebesdrange
dann Küsse süß beglückt um Küsse tauschen.
Gut Fest zu wünschen, bin ich eingetroffen,
in deinem Dienst zu stehn ist mein Begehren.
Drum laß mich finden alle Türen offen,
und lasse deine Gunst mich nicht entbehren!
Leg' deine Hand in meine, laß uns hoffen;
mög' hundert Jahre unsre Freundschaft währen!
Wer, Bruder oder Schwester, tanzt hier schmucker?
Er deutsch,
sie aus Italiens Geländen.
Sie trägt im Busen wohl ein Herz von Zucker,
der andre hält Konfetti in den Händen.
Zwei Barken gleichend, schaukeln sie im Hafen,
die, ist schön Wetter, in der Sonne schlafen. –