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Ein armer, armer Schuhflicker draußen im Hungerviertel einer großen Stadt hatte eine Frau und sechs Kinder, und das siebente wurde erwartet. Mit Sorgen und Seufzern wurde es erwartet. Denn, wie die Familie zunahm, so wuchs auch die Not, wenngleich der redliche Meister täglich bis spät in die Nacht emsig den Draht zog. Und Mutter und Kinder warfen sich oft hungernd und frierend aufs harte Lager. Wenn sie aber zu jammern anfingen, entgegnete der strenge Vater ernst: »Lieber hungern und frieren als betteln!«
Die bettelnden Nachbarn hatten darum auch kein Mitleid mit ihnen. Und schon schien es, als ob sie verderben sollten.
Da, horch! Eines Tages, als kein Bissen Brot und kein Heller Geld mehr im Hause war, erscholl auf der Straße ein lautes Tripp trapp, Tripp trapp, wie man es in dieser abgelegenen Wohngegend noch niemals vernommen. Und vor des Schusters Tür hielt ein vergoldeter Wagen, von vier schneeweißen Rossen gezogen. Eine vornehme Dame stieg aus und trat gebückt in die niedere Werkstatt, die zugleich als Wohnstube diente, eigentlich aber mehr einer Jammerhöhle glich.
Sie grüßte gar huldvoll und bat den verdutzten Meister, ihr Maß zu einem Paar seidenen Schuhen zu nehmen. Er gehorchte. Aber wie in aller Welt sollte er zu so teurem Stoff gelangen? Seine Verwirrung und die scheuen Blicke der bleichen Frau und Kinder bemerkend, zog die hohe Gönnerin lächelnd einen goldgefüllten Säckel aus ihrer Tasche hervor und überreichte ihn dem Meister mit der Weisung, vor allem sich und den Seinen bessere Wohnung und Kleidung zu verschaffen. Die Schuhe könnten wohl warten. Sie werde schon gelegentlich einmal darnach fragen. Und damit fuhr sie von dannen.
Bei der Wiederkehr war sie entzückt von seiner vorzüglichen Arbeit. »Wie reizend!« rief sie. »Wie angegossen! Man fühlt sie ja kaum. Sie drücken mich nicht im geringsten. Ich danke Euch, trefflicher Meister!«
Hierauf musterte sie wohlgefällig das neue Heim der Familie. Wie bescheiden es auch war, so erschien es doch sehr freundlich, und wohnlich. Und wie waren alle so hübsch und sauber gekleidet und lächelten ihr so heiter entgegen, besonders die glückliche Mutter, die das gerade geborene siebente Kindlein, ein gesundes Mädchen, im Arme hielt.
»Wollt ihr mir Maria Theresa« – so war die Kleine genannt worden – »recht sorglich erziehen und, wenn sie brav ist, mit fünfzehn Jahren ganz überlassen?«
»Gern,« erwiderten die dankbaren Eltern; »es wird ja gewiß nur ihr Glück sein.«
Wieder hinterließ nun die Fremde einen goldblinkenden Beutel, aber die lieben Menschen, obgleich sie jetzt weit mehr als nötig besaßen, blieben bescheiden, fleißig, fromm und genügsam.
Genau nach fünfzehn Jahren vernahmen sie wieder das bekannte Tripp trapp der vier herrlichen Schimmel. Die vornehme Gönnerin erschien und war erfreut, die ehrenwerte Familie in so guten Verhältnissen zu treffen. Ihr besonderer Schützling aber, die kleine Maria Theresa, war nun schon ein ganz stattliches Fräulein geworden. Der Abschied von den Eltern und Geschwistern wurde ihr freilich gar schwer, aber sie wußte, daß man es gut mit ihr meinte.
In der Tat hätte sie sich auch gar kein feineres Dasein wünschen können, als ihr jetzt zuteil werden sollte. Schon die Fahrt auf den weißen Seidenpolstern des Prachtwagens, in dem sie nun saß, war himmlisch. Aus den schmutzigen Seitengassen gelangte man bald in eine breite Hauptstraße mit schattigen Bäumen und dann an wunderschönen Gärten und Parkanlagen vorüber zu einem schimmernden Marmorpalast, dessen vergoldete Tore sich wie von selbst auftaten. In einem Hofe von Säulenhallen umgeben, durch die man Lorbeer- und Rosenlauben erblickte, hielt endlich der Wagen.
Nachdem sie eine breite Marmortreppe emporgestiegen, betraten sie einen Saal aus eitel Alabaster und Gold, mit schwerseidenen Vorhängen an Fenstern so hoch wie in Kirchen. Von der Decke herab hing ein vielarmiger Kronleuchter aus klarstem Kristall, und durch die Mitteltür schimmerte eine Reihe ebenso prächtiger Säle.
Maria Theresa war stumm vor Bewunderung und Staunen. Ihre Führerin, die nun selbst erst in all ihrer Schönheit und Hoheit erstrahlte, brachte sie endlich in ein kleineres Gemach mit kostbaren Tischen und Stühlen und mit büchergefüllten Schränken. In einer Nische hinter seidenem Vorhang stand ein Bett, und ein Baldachin aus zartgeblümtem Damast war darüber gespannt.
»Hier,« rief sich verabschiedend die fürstliche Frau, »sollst du jetzt wohnen, mein Kind! Bleibe fleißig und artig, und vergiß nicht, woher du gekommen! Deine alten Kleider zieh aus! Im Schranke sind neue für dich!«
Maria Theresa wußte nicht, wie ihr geschehen. War es ein Zauberpalast, in den man sie geführt? Und die gütige Frau wohl gar eine Fee, von deren Wundergaben die Mutter manchmal erzählt hatte? Oder war alles nur ein Traum, aus dem sie bald wieder erwachen würde? Das wäre wohl schade! Um sich zu überzeugen, daß sie nicht träumte, huschte sie schnell in eines der prächtigen Kleider, das eine dienstfertige Zofe ihr reichte und anlegen half. Nun kam sie sich vor wie eine Prinzessin.
Und wie eine Prinzessin wurde sie auch künftig erzogen. Da gab es freilich gar mancherlei noch zu lernen; denn eine Prinzessin muß mehr können, als Lesen und Schreiben. Drei Jahre lang bekam sie bei den berühmtesten Professoren und Meistern den vortrefflichsten Unterricht in fremden Sprachen, in Wissenschaften und Künsten, in den feinsten Handfertigkeiten, im Reiten und Fahren, im Tanzen und fürstlichen Auftreten. Aber das Lernen fiel ihr gar leicht und machte ihr Freude. Sie erlangte bald eine so vollendete Bildung und war dabei so schön geworden, daß jeder, der sie sah und mit ihr sprach, sie für eine wirkliche Prinzessin hielt.
Eines Tages jedoch beschied die hohe Wohltäterin Maria Theresa zu sich und sprach: »Liebes Kind, ich kann dich nicht länger bei mir behalten. Du bist jetzt vollkommen erwachsen und hast alles gelernt, was dir nützlich werden kann. Sieh nun zu, wie du allein in der Welt fortkommst! Leg deine schönen Kleider jetzt wieder ab und nimm dafür diese, die sich besser zur Arbeit geziemen!« Damit gab sie ihr einen alten, schmutzigen Anzug, schwärzte ihr das Gesicht mit Ruß und ließ sie von einem Diener auf die Straße geleiten.
Da stand nun die arme Maria Theresa und wußte zuerst nicht, was sie denken und anfangen sollte. Beinahe hätte sie zu weinen begonnen, aber schnell faßte sie dann wieder Mut und dachte im stillen: so ist es wohl besser für dich. Sie hat doch gewiß nur dein Bestes im Auge.
Es schien jedoch nicht so. Überall, wo sie Arbeit begehrte, wurde sie wegen ihres unsauberen Aussehens mit Mißtrauen betrachtet und abgewiesen, zuweilen so barsch, daß sie bittere Tränen vergoß. Ja manche schalten sie gar eine Landstreicherin, die man einsperren sollte. Vergeblich irrte sie von Ort zu Ort, von Haus zu Haus: niemand wollte ihr trauen, niemand ihr auch nur aus Mitleid Obdach und Nahrung gewähren. Und zu den Eltern heimgehen konnte sie auch nicht; denn sie wußte den Weg nicht und schämte sich auch, in so traurigem Zustande wiederzukehren.
Dem Verhungern nahe, gelangte sie schließlich ans Ende einer Stadt. Da erblickte sie in der Ferne ein Schloß, zu welchem sie sich noch schleppte. In ihrer Angst wagte sie aber nur so leise an ein Hintertor zu klopfen, daß man es gar nicht zu hören schien.
Ein alter Torhüter, der zufällig herausschaute und sie erst ganz barsch weitergehen hieß, brummte endlich, von ihrem Flehen gerührt: »Zum Scheuern der Treppe und zum Putzen der Schuhe könnte der Prinz wohl jemand gebrauchen, nur sähen ihre feinen Finger nicht eben darnach aus.« Auf ihre Zusicherung aber, das Gewünschte bestens ausführen zu wollen, wurde ihr der wichtige Dienst übertragen und ein kleines Gartenhaus als Wohnung überlassen.
Schon am nächsten Morgen ging sie, durch die Nachtruhe gestärkt, an die Arbeit. Sie fühlte sich glücklich, wieder in einem Palaste weilen zu dürfen, wenn auch nur zum Scheuern der Treppen und Säubern der Schuhe. Obwohl keines Blickes gewürdigt, sah sie mit neidloser Freude die hohen und höchsten Herrschaften, König und Königin, Fürsten und Fürstinnen, Kammerherren und Frauen und die stolz auf sie herabschauenden Lakaien und Zofen. Am besten gefiel ihr der stattliche Prinz, der auch manchmal ein freundliches Wort für sie hatte, wenn sie seine Reitstiefel recht blank gewichst hatte.
Bald darauf wurde am Königshofe erzählt, der König und die Königin wünschten den Prinzen zu vermählen. Alle adeligen Nachbarn des Landes wurden mit ihren Töchtern zu Hofe geladen, und die er als Schönste erwählte, würde seine Braut und Gemahlin.
Da begann nun ein Leben und Treiben, wie man sich's bunter und schöner kaum vorstellen kann. Hofbälle, Theatervorstellungen, Konzerte und alle erdenklichen Aufführungen: Lebende Bilder, Schäferspiele und dergleichen wurden veranstaltet, sogar eine Puppenausstellung, wie Spottvögel die Brautschau boshaft benamsten.
Eines Abends, als eben der erste große Ball anfangen sollte, stand unverhofft im dunklen Gartenhaus vor der sehnsüchtig zum hellerleuchteten Schloß hinüberblickenden Maria Theresa die gütige Fee und gab ihr eine Haselnuß, eine Kastanie und eine Walnuß. Die sollte sie der Reihe nach einstecken und am größten, ältesten Baume im Park aufbeißen, um ein Kleid zu erlangen, mit dem sie beim Balle wohl tanzen würde. Auch schärfte sie ihr ein, vorsichtig zu sein und heimlich vor dem Ende des Balles zu verschwinden, um nicht vorzeitig erkannt und vertrieben zu werden. Denn sie könnte ihr nie wieder beistehen; nur auf der eigenen Klugheit beruhe ihr Glück. Damit verschwand sie. –
Jetzt erst wußte die Verlassene, wer ihre Wohltäterin eigentlich gewesen. Rasch eilte sie nach dem ihr wohlbekannten Baume. Und wie sie die Haselnuß aufbiß, siehe, da öffnete sich der gewaltige Stamm, der ganz hohl war, und ein herrliches Kleid nebst kostbarstem Schmuck kam zum Vorschein. Das Kleid, das mit den seltensten Blumen aus aller Herren Ländern geschmückt war, hatte die Farbe der Erde. Gürtel und Armspange waren aus leuchtendem Golde, Brust-, Hals- und Haarschmuck bestand aus goldgefaßten Juwelen. Und alles paßte und stand ihr so trefflich, als wäre es just nur für sie geschaffen.
Kaum hatte Maria Theresa den Saal betreten, so waren auch schon die Blicke aller hohen Herren und Frauen auf sie gerichtet, die einen voll Freude und Bewunderung, die anderen voll Mißgunst und Neid.
Auch der Prinz, der bisher höchst gleichgültig dreingeschaut und sich nur flüchtig mit einigen hochnäsigen Prinzessinnen unterhalten hatte, wurde auf die schöne Unbekannte aufmerksam und tanzte mit ihr Tarantella. Und weil sie sich ebenso leicht und anmutig im Reigen bewegte, wie sie geistvoll zu plaudern und scherzen verstand, tanzte er nur noch mit ihr und schien weder die zornigen Blicke der Vernachlässigten zu bemerken, noch ihre Stichelreden zu hören.
Eine halbe Stunde aber vor Ende des Balles entfernte Maria Theresa sich heimlich und vertauschte am Baume ihr Prachtgewand wieder mit dem Arbeitskittel, um am nächsten Tage unerkannt die gewohnte Tätigkeit zu verrichten.
Am zweiten Ballabend, wo ihr die Kastanie den Baum erschloß, fand sie darin ein Kleid in der Farbe des Meeres mit einem Schmuck unvergleichlicher Korallen und Perlen. Wieder war sie, trotzdem die anderen an Putz nicht gespart hatten, die Schönste und allein vom Prinzen Erwählte. Abermals war sie eine halbe Stunde vor Schluß des Balles verschwunden, hatte am Baume die Kleider gewechselt, und am nächsten Morgen scheuerte sie die Treppen und säuberte das Schuhwerk so eifrig, als hätte sie nie an etwas anderes gedacht.
Am dritten Abend wurde ihr mit Hilfe der Walnuß ein Kleid in der Farbe des Himmels, mit leuchtenden Sternen besetzt, beschert, dazu ein Diadem, daran Diamanten erblitzten.
Wieder konnte sich keine im Saale trotz aller ausgesuchten Verschönerungskünste und verschwenderischem Prunk mit ihrer Schönheit vergleichen. Trotz aller List und Heuchelei, trotz Verleumdung und Schmähsucht, womit man den Prinzen abwendig machen und der Fremden den Aufenthalt verleiden wollte, wich er ihr nicht von der Seite. Da sie ihm aber Namen und Herkunft sagen sollte, hielt sie es für geraten, sich diesmal noch früher zu entfernen.
Wer beschreibt jedoch ihren Schreck, als sie den alten Baumschrank verschlossen und keine Möglichkeit fand, ihn nochmals zu öffnen und ihre alten Kleider wieder anzuziehen.
Vor Angst schloß sie sich in ihr Gartenhaus ein und öffnete nicht, auch wenn sie wegen ihrer Versäumnis gescholten wurde.
Endlich am dritten Tage kam der Prinz selbst, ließ die Tür aufsprengen und fand sie im dunkelsten Winkel des Hauses in einen Mantel gehüllt, den sie in der Eile noch umgeworfen hatte. Da sie auf seinen Befehl nicht hervortrat, griff er zur Peitsche. Als aber schon beim ersten Schlage die verschlissene Hülle zerfiel und Maria Theresa nun mit all ihrer Schönheit im himmelfarbenen Sternenkleide vor ihm stand, erkannte er glückstrahlend die gesuchte Braut.
Bestürzt bat er sie um Verzeihung, und nun wurde fröhliche Hochzeit am Königshofe gefeiert. –
Dieses anmutige, gleichfalls schon in den Grenzboten 1911: mitgeteilte, »Die gütige Fee«, überschriebene M. zeigt mancherlei vertrauliche Züge, deren vergleichende Betrachtung ich dem findigen Leser und Forscher überlassen möchte. –