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Der kleine Franziskus war ein halbwüchsiger Bursche, der es nicht begriff, wenn die Leute immer von Furcht redeten. Es verdroß ihn, beständig sagen zu hören: »Ich fürchte mich – mir ist angst!« Endlich ließ es ihm keine Ruhe: Er zog hinaus in die Welt, um diese Furcht kennen zu lernen.
Nach einer langen Wanderung hielt er eines Abends Einkehr in einem großen Gebäude, das offen stand. Im ganzen Hause kein Mensch. In der Mitte der großen Stube nur ein sehr hoher Tisch. Selbst auf den Zehen stehend, reichte der Kleine nicht mit der Nase hinauf. An der Wand standen drei Stühle, auf die er nur mühsam hinaufzuklettern vermochte.
Da treten roh lachend drei Riesen herein, die auf der Lauer gelegen hatten. »Ei, Brüder, dieses Bürschlein ist ein feiner Bissen zum Abendschmaus«, sagte der eine. »He, Kleiner,« fuhr er fort, »wer hat dir erlaubt, unser Haus zu betreten und dich auf meinen Stuhl zu setzen? Wie kamst du hinauf? Komm herunter! Der Sitz ist für dich doch zu unbequem.« – »Nicht doch,« antwortete jener vergnügt, »der Sitz ist so schön breit. Da fällt man nicht runter und kann gleich drauf schlafen.« – »Hast du denn gar keine Furcht vor uns?«
»Wie sollte ich denn Furcht haben, die habe ich ja noch niemals gesehen.«
»Weißt du denn nicht,« erwiderte der Stärkste von ihnen, indem er seine Faust drohend emporhob, »daß ich dich zerdrücken kann wie ein Ei?« – – »Das ist auch was Rechtes«, sprach der Kleine. »Ich kann ein Stück Marmor ausquetschen, daß Milch daraus tropft.« Dabei zog er ein Stück frischen Käse aus der Tasche und drückte ihn so, daß weiße Tropfen daraus hervorquollen. »Sieh, dort liegt ein Stück Marmor auf dem Boden, versuche doch, ob du das auch kannst!« – – Da stutzten die Riesen und waren froh, als der Kleine sich entfernte.
Am folgenden Tage geriet er abends in ein Beinhaus. Aber weder die Schädel, auf die er sich legte, noch die Totengerippe, die eine hohläugige Alte um Mitternacht vor ihn hinstellte, störten ihn im geringsten. Der Totentanz, den sie aufführten, machte ihm nur Vergnügen. Von Furcht keine Spur. Da gab ihm die Alte zum Abschied noch eine Flasche zauberkräftiges Wasser, das besonders Wunden zu heilen vermochte, mit auf den Weg.
So setzte er seine Wanderung fort und gelangte eines Abends, als er sich im Walde verirrt hatte und keinen Ausweg fand, zu einer Höhle, die von einem einäugigen Riesen bewohnt war. »Komm nur herein!« grinste ihm dieser entgegen. »Du bist wohl hungrig und durstig. Wir werden uns laben. Du brauchst keine Furcht zu haben.« – »Ich? Furcht haben, mein Lieber?« lachte der Kleine. »Die ist mir noch immer nicht begegnet, obgleich ich sie lange schon suche.«
»Aber wie kommt es,« fragte plötzlich der Wirt, »daß du zwei Augen hast, und ich habe nur eins?« – »Sehr einfach! Auch ich hatte früher nur ein Auge. Ich habe mich aber operieren Und zweie daraus machen lassen.« – »Könntest du mich nicht auch operieren?«
»Ganz gern, das ist gar nicht so schwer.« – »Wohlauf denn, ich bin bereit!« – »Nun, so setz dich hier auf die Steinbank und lehne den Kopf an den Felsen! Auch muß ich dich, damit du ganz still hältst, festbinden; denn es schmerzt ein klein wenig.« – – Hierauf ließ der kleine Schlaukopf einen starken Pfahl im Feuer erglühen, und stieß ihn dem Riesen ins Auge. Der Geblendete tobte und brüllte, doch bevor er sich loszureißen vermochte, war der Bösewicht schon hinaus aus der Höhle. Nur ein ihm nachgesandter Stein traf ihn am Kopfe, den aber das Wasser der Alten bald wieder heilte.
Hierauf fiel er in die Hände eines alten blinden Schäfers, der Christen verspeiste, und der ihn während der Nacht in den Schafstall einsperrte. Am frühen Morgen öffnete der Alte behutsam die Tür, stellte sich in den Eingang und befühlte die Schafe, die er einzeln vorbeigehen ließ. »Komm, Teresinchen, und ihr, Luischen, Mariette, Josephinchen! Aber Fränzchen, warum gehst du heute so langsam?« Dabei streichelte er den Rücken des Hammels, an dessen Bauche das andere Fränzchen angeklammert hing und so unbemerkt mit hinausgelangte.
Am letzten Tage übernachtet er in einem einsamen Waldgasthause, worin die Nachtgäste durch allerlei Geisterspuk erschreckt und totgeängstigt werden. Umsonst warnt ihn die Wirtin, die selbst keine Nacht in den unheimlichen Räumen zubringt. – Er kennt ja die Furcht nicht und hofft, sie nun endlich anzutreffen. Umsonst! Alles Schaurige, was ihm zustößt, hält er für Scherz. Er wird wiederholt von unsichtbarer Hand aus dem Bett geworfen. Welch ein köstlicher Spaß! – Ein höllisches Lärmen und Rasseln wie von Ketten, Kesseln und allerlei Eisengeräten mit wüstem Toben und Schreien umgibt ihn. »Bravo, was für ein lustiges Zechgelag mit Flaschen- und Gläsergeklirr, mit Kartenspiel und Musik!« – – Dann donnert eine furchtbare Stimme vom Schornstein hernieder: »Paß auf! Ich stürze mich nieder!« – »Nur zu! Ich liebe Gesellschaft!« – – Da, plumps! fällt ein riesiges Bein dicht neben ihm auf die Diele. »Recht so, nur weiter!« – Pardauz! das andere Bein. Dann folgen die Arme. – »Nun erschrick nicht! Jetzt kommt der Körper. Hast du denn gar keine Furcht?« – »Ich, Furcht vor dir? Im Gegenteil! Ich bin begierig, dich nun ganz kennen zu lernen. Und krach-klirr! stürzt ein Sack so groß und schwer wie ein Elefant herab und zerplatzt. Und ein großer Haufen Gold und Silber liegt vor ihm da. Dann rührte sich nichts mehr, und er schlief ungestört bis zum Morgen.
Als die Wirtin erschien, die ihn kaum noch am Leben anzutreffen glaubte, saß er vergnügt schon auf dem Balkon und schmauchte seine Pfeife. Die gute Frau war froh, wie er ihr nun die Herberge abkaufte. Und fortan lebte er als ein großer, reicher Signore, weil er die Furcht nicht gekannt hat.
Die verdeutschte Üb. für » Franceschiello« will gleich an Grimms bek. M. »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« erinnern, wozu sich noch » Giovanni senza paura« von De Gubernatis und Gonzenbachs M., S. 57, »Von dem, der sich vor nichts fürchtete« gesellen und wahrscheinlich auch » Frangeschjelle« von Finamore in » Tradizioni populari abruzzesi«. Vgl. Köhler S. 347 und 362 und Bolte-Polivka I, 22. – Auffallend ist in der Caprifassung der Einschlag aus der antiken Sagenwelt. Vorausgesetzt, daß die Volksüberlieferung nicht durch modernes Wissen beeinflußt ist, bietet sich uns hier ein merkwürdiger Fall frei weiterschaffender Sagenbildung in der Auflösung des Zyklopen in zwei getrennte Gestalten und in der eigentümlichen Augenoperation. – Übrigens begegnet man der Polyphemsage, an die ja auch der Polyphemfelsen in Capri erinnert, auch bei Finamore Nr. 38: » Lu fatte (Geschichte) del Uocchie-n-fronde« und anderen M. Das stückweise Herabfallen einer Riesengestalt aus einem Kamin kommt vielfach als Märchenspuk vor, zum Beispiel in der Gascogne, in Andalusien, Portugal, Sizilien, Italien und nach Rochholz ebenso in der Schweiz. Vgl. Köhler, S. 130. – Am Schluß der Caprifassung vermißt man das Heiratsmotiv, wie auch die namentlich im sizilianischen und neugriechischen M. beliebten formelhaften Schlüsse, die in den Capriüberlieferungen kaum vorkommen. Vgl. R. Petsch: »Formelhafte Schlüsse im Volksmärchen«, Berlin 1900. Vgl. auch Gonzenbach I, Nr. 41: »Vom tapferen Schuster«.