Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

Als der von Sedan kommende Zug endlich nach zahllosen Aufenthalten gegen neun Uhr in den Bahnhof von Saint-Denis einlief, erhellte im Süden bereits ein starkes rotes Leuchten den Himmel, als ob ganz Paris in Brand stände. Diese Helligkeit wuchs um so mehr, je dunkler es wurde, und allmählich überzog sie den ganzen Horizont, wobei sie eine Schicht kleiner Wolken ganz in Blut tauchte, bis sie gegen Osten hin in der zunehmenden Dunkelheit verschwanden.

Henriette sprang vor Unruhe über den Widerschein der Feuersbrunst, die die Reisenden bereits während der Fahrt durch die Vorhänge über den dunklen Feldern bemerkt hatten, als erste aus dem Wagen, übrigens zwangen preußische Soldaten, die den Bahnhof militärisch besetzt hielten, alle Reisenden zum Aussteigen, und zwei von ihnen riefen auf dem Ankunftsbahnsteig in rauhem Französisch:

»Paris brennt ... Es geht nicht weiter, alles aussteigen ... Paris brennt, Paris brennt ...«

Das war für Henriette ein furchtbarer Schreck. Mein Gott! Käme sie wirklich zu spät? Da Maurice auf ihre letzten beiden Briefe nicht geantwortet hatte, war sie bei den immer mehr besorgniserregenden Nachrichten in eine so tödliche Unruhe verfallen, daß sie sich plötzlich entschloß, Remilly zu verlassen. Sie wurde bei Onkel Fouchard seit Monaten ganz schwermütig; die Besetzungstruppen wurden, je länger Paris seinen Widerstand hinauszog, desto anspruchsvoller und härter; und seitdem nun die Regimenter eins nach dem andern nach Deutschland zurückkehrten, erschöpften die Truppendurchzüge Stadt und Land von neuem. Als sie morgens beim Tagesgrauen aufgestanden war, um in Sedan die Eisenbahn zu erreichen, hatte sie den Hof ganz voller Reiter gefunden, die dort wirr durcheinander in ihre Mäntel gehüllt die Nacht geschlafen hatten. Sie waren so zahlreich, daß sie auf der Erde schlafen mußten. Als dann plötzlich das Horn ertönte, waren sie alle aufgestanden, schweigend, in ihre langen Faltenmäntel gehüllt und so eng, einer neben dem andern, daß es ihr den Eindruck erweckt hatte, als wohne sie der Auferstehung vom Schlachtfelde beim Klange der Posaune des Jüngsten Gerichts bei. Und auch in Saint-Denis hatte sie Preußen wiedergefunden, und sie waren es, die den niederschmetternden Ruf ausstießen:

»Alles aussteigen, es geht nicht weiter ... Paris brennt, Paris brennt ...«

Verwirrt stürzte Henriette mit ihrer kleinen Handtasche vorwärts, um Auskunft zu erlangen. Seit zwei Tagen wurde in Paris gefochten, die Bahn war abgeschnitten, die Preußen standen beobachtend da. Aber sie wollte unter allen Umständen weiter; und als sie des Hauptmannes ansichtig wurde, der die den Bahnhof besetzende Kompanie befehligte, da lief sie auf ihn zu.

»Mein Herr, ich möchte zu meinem Bruder, um den ich in großer Sorge bin. Ich bitte Sie, ermöglichen Sie mir doch, weiterzukommen.«

Überrascht blieb sie stehen, als sie den Hauptmann erkannte, sobald eine Gaslaterne sein Gesicht erhellte.

»Sie sind es, Otto ... Oh! Seien Sie gut, nun das Schicksal uns noch einmal wieder zusammengeführt hat.«

Otto Günther, ihr Vetter, war immer noch eng in seine Uniform eines Gardehauptmanns eingeschnürt. Er zeigte noch die trockene Miene eines hübschen, etwas auf sich haltenden Offiziers. Aber er kannte diese winzige Frau mit dem schmächtigen Aussehen, mit ihrem hellblonden Haar und dem niedlichen, sanften, unter dem Trauerschleier ihres Hutes verborgenen Gesicht gar nicht wieder. Erst ihre hellen, tapfer geradeaussehenden Augen brachten sie ihm wieder in die Erinnerung zurück. Er machte nur eine kleine Bewegung.

»Sie wissen doch, ich habe einen Bruder, der Soldat ist,« fuhr Henriette hitzig fort. »Er ist in Paris geblieben, und ich bin so bange, daß er mit in diesen gräßlichen Kampf verwickelt ist... Ich flehe Sie an, Otto, machen Sie es mir möglich, meinen Weg fortzusetzen.«

Nun brachte er es endlich über sich, zu sprechen.

»Aber ich versichere Sie, ich vermag nichts ... Seit gestern verkehren keine Züge mehr; ich glaube, sie haben an den Wällen entlang die Schienen aufgerissen. Und ich habe weder ein Fuhrwerk, noch ein Pferd, noch einen Mann zur Verfügung, um Sie führen zu lassen.«

Sie sah ihn an und konnte nur leise Klagen herausstammeln, als sie ihn zu ihrem Kummer so kalt, so entschlossen fand, ihr nicht beizustehen.

»O mein Gott, Sie wollen also nichts unternehmen ... O mein Gott, an wen soll ich mich wenden?«

Diese Preußen, die allmächtigen Herren, die mit einem Wort die ganze Stadt umgekehrt, hundert Wagen beschlagnahmt, tausend Pferde aus den Ställen gezogen hätten! Und er verweigerte sich ihr mit seiner hochnäsigen Siegermiene, als sei es für ihn ein Gesetz, sich nie in die Angelegenheiten der Besiegten zu mischen, die er ohne Zweifel als unsauber, seinen jungen Ruhm beschmutzend ansah.

»Wenigstens«, fuhr Henriette fort, indem sie ruhig zu bleiben versuchte, »werden Sie dann doch wissen, was hier vorgeht, und mir das sagen können.«

Er lächelte schwach, kaum sichtbar.

»Paris brennt ... Sehen Sie! Kommen Sie hierher, hier sieht man es ganz deutlich.«

Und er ging vor ihr her aus dem Bahnhof heraus und etwa hundert Schritte an den Schienen entlang, bis er an einen über den Bahnkörper gebauten Laufsteg kam. Als sie die enge Treppe hinaufgestiegen waren und sich dort oben befanden, rollte sich, während sie sich gegen die Brüstung lehnten, jenseits eines Abhanges die weite, kahle Ebene vor ihnen ab.

»Sie sehen, Paris brennt ...«

Es mochte halb zehn sein. Das rote Leuchten, das den Himmel in Brand zu stecken schien, nahm immer mehr zu. Der Zug der kleinen blutigen Wolken hatte sich im Osten verloren; über ihnen lag es nur noch wie ein Meer von Tinte, in dem sich die fernen Flammen spiegelten. Jetzt stand die ganze Ausdehnung des Horizontes in Brand; aber an einzelnen Stellen konnten sie stärkere Brandherde unterscheiden, Garben von lebhafterem Purpur, aus denen fortwährend Strahlen in die Finsternis unter weithin fliegenden mächtigen Rauchwolken emporschossen. Und man hätte fast sagen mögen, die Brandherde wanderten, ein Riesenwald beginne dort hinten, Baum für Baum, zu brennen, die ganze Erde entzünde sich und ginge, an dem gewaltigen Scheiterhaufen Paris entzündet, in Flammen auf.

»Sehen Sie da!« erklärte Otto, »das ist Montmartre, der Buckel da, den man sich dort so schwarz von dem roten Hintergrunde abheben sieht. Links bei la Villette und Belleville brennt es noch nicht. Das Feuer ist jedenfalls in den besseren Vierteln zuerst angelegt worden und gewinnt nun, gewinnt ... Sehen Sie mal da! Da rechts kommt gerade eine neue Feuersbrunst heraus! Man sieht schon die Flammen, einen wahren Flammenwirbel, aus dem glühender Dampf aufsteigt ... Und immer mehr, immer mehr! Überall!«

Er schrie nicht und regte sich nicht etwa auf, aber die Gewalt seiner stillen Freude versetzte Henriette in Schrecken. Ach! Daß die Preußen das sehen mußten! Sie fühlte die Beleidigung aus seiner Ruhe heraus, aus seinem stillen Lächeln, als hätte er dies beispiellose Unheil seit langem vorhergesehen und erwartet. Endlich brannte Paris, Paris, dem die deutschen Granaten nur ein paar Ecken aus seinen Regenrinnen hatten herausschlagen können. All sein Groll fand nun seine Befriedigung; er schien jetzt seine Rache für die lange Dauer der Belagerung zu nehmen, für die entsetzliche Kälte, die immer zunehmenden Schwierigkeiten, über die Deutschland sich noch gereizt fühlte. Bei allem Stolz seiner Siegerfreude über die eroberten Provinzen, die Entschädigung von fünf Milliarden kam doch nichts diesem Schauspiel der Zerstörung von Paris gleich, das, von wütender Narrheit geschlagen, sich selbst in Brand steckte und in dieser hellen Frühlingsnacht in Rauch aufgehen ließ.

»Ach! Das war ja notwendig!« setzte er mit leiserer Summe hinzu. »Ein Riesenunternehmen!«

Wachsender Schmerz schnürte Henriette das Herz zusammen angesichts des gewaltigen Umfangs dieses Unglücks. Ihr eigenes Elend schien ein paar Minuten lang ganz zu verschwinden, von diesem Sühnopfer eines ganzen Volkes mit fortgerissen. Der Gedanke, daß dies Feuer auch Menschenleben verzehre, der Anblick der in Flammen stehenden Stadt am Horizont, die die Höllenglut verfluchter, vom Blitz zerschmetterter Hauptstädte ausstrahlte, entrissen ihr unwillkürlich einen Schrei. Sie faltete die Hände und fragte:

»Was haben wir denn getan, mein Gott, daß wir so gestraft werden?«

Otto öffnete schon die Arme, wie um zu reden. Er wollte mit aller Eindringlichkeit seines kalten, harten Militärprotestantismus zu ihr sprechen, der Bibelverse als Bekräftigung anführt. Aber sein Blick traf gerade auf die hellen, verständigen Augen der jungen Frau und ließ ihn einhalten. Seine Bewegung hatte übrigens auch schon genug gesagt; es lag in ihr der ganze Rassenhaß, die Überzeugung, er sei Richter über Frankreich, vom Gott der Heerscharen gesandt, um ein verdorbenes Volk zu züchtigen. Paris brannte zur Strafe für seinen jahrhundertelangen schlechten Lebenswandel, für seine lange aufgehäuften Verbrechen und Ausschweifungen. Abermals sollten die Germanen die Welt retten und den letzten Staub lateinischer Verderbnis auskehren.

Er ließ den Arm wieder sinken und sagte einfach:

»Das ist das Ende von allem ... Ein weiteres Viertel fängt an zu brennen, der neue Brandherd da unten weiter links ... Sehen Sie, wie dieser mächtige Strahl sich wie ein feuriger Strom ausbreitet.«

Beide schwiegen nun; ein furchtsames Schweigen herrschte. Tatsächlich stiegen immer neue Flammenbündel plötzlich in die Höhe und schossen mit dem Gebrause eines Riesenofens in den Himmel empor. Jede Minute schien das Feuermeer an Ausdehnung zu gewinnen; eine weißglühende Woge stieß jetzt Rauchwolken aus, die sich über der Stadt zu einer riesigen kupferroten Wolke zusammenballten; ein leichter Wind trieb sie vorwärts, sie trieb langsam durch die finstere Nacht und verdeckte das Himmelsgewölbe mit einem scheußlichen Regen aus Asche und Ruß.

Henriette begann zu zittern und schien aus einem Alpdruck zu erwachen; und neuerdings von Angst ergriffen, in die sie der Gedanke an ihren Bruder wieder stürzte, flehte sie ihn noch ein letztes Mal um Hilfe an.

»Und wenn Sie also dann nichts für mich tun können, wollen Sie mir dann auch nicht helfen, nach Paris hineinzukommen?«

Otto schien abermals mit einer Handbewegung den ganzen Horizont umfahren zu wollen.

»Wozu denn? Morgen ist ja doch nichts mehr als ein Trümmerhaufen übrig!«

Und das war alles; sie stieg wieder von dem Laufsteg herunter, ohne ihm auch nur Lebewohl zu sagen, und floh mit ihrer kleinen Handtasche davon; er dagegen blieb noch lange da oben unbeweglich stehen, winzig, eingeschnürt in seine Uniform, von der Nacht verschlungen, und weidete seine Augen an dem fürchterlichen Feste, das ihnen dies Schauspiel des in Flammen vergehenden Babels bereitete.

Als Henriette den Bahnhof verließ, hatte sie das Glück, auf eine dicke Dame zu stoßen, die mit einem Fuhrmann verhandelte, der sie sofort nach der Rue Richelieu in Paris bringen sollte; und die bat sie solange und mit so rührenden Tränen, bis sie sich einverstanden erklärte, sie mitzunehmen. Der Kutscher, ein kleiner schwarzer Kerl, hieb auf sein Pferd los und öffnete wahrend der ganzen Fahrt nicht den Mund. Die Dame aber wurde nicht müde, ihr zu erzählen, sie hätte vorgestern, als sie ihren Laden abgeschlossen und verlassen hatte, den dummen Streich begangen, ihre Wertsachen in einem Sicherheitsschrank in der Mauer dort liegen zu lassen. Und nachdem nun die Stadt seit zwei Uhr brannte, wurde sie von dem einen einzigen Gedanken geplagt, wieder umzukehren und ihre Habe selbst aus den Flammen zu holen. An der Sperre stand nur ein schläfriger Posten, und das Fuhrwerk konnte ohne große Schwierigkeiten durchkommen, um so mehr, als die Dame log und erzählte, sie habe ihre Nichte geholt und wolle nun mit der zusammen ihren Mann pflegen, der von den Versaillern verwundet worden sei. Große Hindernisse begannen erst in den Straßen, wo Barrikaden den Fahrweg alle Augenblicke so versperrten, daß sie fortwährend Umwege machen mußten. Am Boulevard Poissonnière erklärte der Kutscher endlich, er führe nicht weiter. Und die beiden Frauen mußten ihren Weg durch die Rue du Sentier, die Rue des Jéuneurs und das ganze Viertel um die Börse herum zu Fuß fortsetzen. Je näher sie den Befestigungen gekommen waren, desto mehr hatte der brandrote Himmel ihnen mit Tageshelligkeit geleuchtet. Jetzt waren sie ganz überrascht über die Ruhe und Stille in diesem Teile der Stadt, wohin nur ein leises Nachbeben des entfernten dumpfen Grollens drang. Von der Börse an stießen sie jedoch auf Schüsse und mußten sich an den Häuserseiten entlangdrücken. Und als die dicke Dame ihren Laden in der Rue de Richelieu unbeschädigt vorgefunden hatte, bestand sie unbedingt darauf, ihre Begleiterin auf den richtigen Weg zu bringen: Rue du Hasard, Rue Sainte-Anne und schließlich Rue des Orties. Einen Augenblick wollten Föderierte, von denen ein Bataillon noch die Rue Sainte-Anne besetzt hielt, sie am Weitergehen verhindern. Schließlich war es vier Uhr, es wurde bereits hell, als Henriette vor Aufregung und Müdigkeit, ganz erschöpft, das alte Haus in der Rue des Orties weit offen fand. Und nachdem sie die enge, dunkle Treppe hinaufgestiegen war, mußte sie noch hinter einer Tür eine Leiter hinaufklettern, die unters Dach führte. –

Maurice hatte sich auf der Barrikade der Rue du Bac zwischen den beiden Erdsäcken auf die Knie aufrichten können, und Jeans bemächtigte sich schon neue Hoffnung, da er geglaubt hatte, er hätte ihn an den Boden genagelt.

»Ach, mein Junge, lebst du noch? Hab' ich das nun gerade sein müssen, ich Dreckvieh ... Warte, laß mal sehen.«

Vorsichtig untersuchte er die Wunde bei der lebhaften Helligkeit der Feuersbrunst. Das Bajonett war dicht neben der rechten Schulter durch den Arm gegangen; das Schlimmste war aber, daß es dann zwischen zwei Rippen durchgegangen war und zweifellos die Lunge getroffen hatte. Der Verwundete atmete indessen ohne zuviel Beschwerde. Nur der Arm hing ihm schlaff herunter.

»Mein armer Alter, sei doch nicht so verzweifelt! Ich bin so ganz zufrieden, ich möchte am liebsten Schluß machen ... Du hast doch wahrhaftig genug für mich getan, denn ohne dich wäre ich längst irgendwo am Wege verreckt.«

Aber als Jean ihn so sprechen hörte, wurde er wieder von heftigem Schmerz gepackt.

»Willst du wohl still sein! Zweimal hast du mich aus den Pfoten der Preußen gerettet. Wir waren quitt; jetzt wäre ich daran gewesen, mein Leben hinzugeben, und dann bringe ich dich um! ... Ach Gottsdonnerwetter! Ich war wohl besoffen, daß ich dich nicht erkannt habe! Jawohl, besoffen wie ein Schwein von dem vielen Blut, das ich schon gesoffen habe!«

Tränen strömten ihm aus den Augen, als er wieder an ihre Trennung dort unten in Remilly denken mußte, wo sie sich beim Abschied gefragt hatten, ob sie sich wohl eines Tages wiedersehen würden und wie, unter was für schmerzlichen oder freudigen Umständen. Also war das alles für nichts gewesen, daß sie manchen Tag zusammen ohne Brot, so manche Nacht ohne Schlaf, immer des Todes gewärtig, durchlebt hatten? Also hatte es nur zu diesem abscheulichen, diesem ungeheuerlichen, sinnlosen Brudermord geführt, daß ihre Herzen sich während der paar Wochen gemeinschaftlichen Heldendaseins zu einem verschmolzen hatten? Nein, nein! Dagegen bäumte sich alles in ihm auf.

»Laß mich machen, mein Junge, ich muß dich retten.«

Zunächst mußte er ihn hier wegbringen, denn die Truppen brachten alle Verwundeten um. Das Glück wollte, daß sie sich allein befanden, aber es war auch keine Minute zu verlieren. Mit Hilfe seines Messers schlitzte er rasch den Ärmel auf und zog ihm dann die ganze Uniform aus. Das Blut lief herab, er verband den Arm schleunigst mit aus dem Futter herausgerissenen Fetzen. Dann verstopfte er die Wunde im Körper und band den Arm darüber fest. Glücklicherweise hatte er ein Stück Bindfaden, mit dem er diesen barbarischen Verband gewaltsam zusammenziehen konnte, was den Vorteil hatte, daß es die ganze getroffene Seite unbeweglich machte und einen Bluterguß verhinderte.

»Kannst du gehen?«

»Ja, ich glaube wohl.«

Aber er wagte nicht, ihn so in Hemdärmeln wegzubringen. Eine plötzliche Eingebung ließ ihn in eine Nebenstraße rennen, wo er einen toten Soldaten hatte liegen sehen, und er kam mit dessen Käppi und Rock wieder. Den Rock warf er ihm über die Schulter und half ihm den gesunden Arm durch den linken Ärmel stecken. Dann setzte er ihm das Käppi auf.

»So, jetzt gehörst du zu uns... Wo müssen wir hin?«

Ihre Verlegenheit war groß. Auf seinen Traum von Mut und Hoffnung folgte sofort wieder die Sorge. Wo könnten sie mit Bestimmtheit Obdach finden? Die Häuser wurden durchsucht, und alle mit den Waffen in der Hand ergriffenen Kommunarden wurden erschossen. übrigens kannte weder der eine noch der andere irgend jemand in diesem Viertel, keine Seele, die sie hätten um Schutz anflehen können, kein Versteck, in dem sie hätten verschwinden können.

»Am besten wäre es noch bei mir,« sagte Maurice. »Das Haus liegt sehr abseits, kein Mensch kommt dahin ... Aber es liegt auf der andern Seite des Flusses, in der Rue des Orties.«

Jean kaute verzweifelt, unentschlossen auf dumpfen Flüchen.

»Herrgott nochmal! Was machen wir da?«

Sie brauchten gar nicht erst daran zu denken, über den Pont Royal zu entkommen, den die Brände mit vollem Tageslicht beleuchteten. Jeden Augenblick pfiffen von beiden Seiten Schüsse über ihn hinweg. Sie wären übrigens auch gegen die in Flammen stehenden Tuilerien gerannt, gegen die unübersteigbare Schranke des Louvre, der verbarrikadiert und bewacht war.

»Ja, dann sind wir futsch, keine Möglichkeit, durchzukommen!« erklärte Jean, der nach seiner Rückkehr aus dem italienischen Feldzuge sechs Monate in Paris gelebt hatte.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Wenn es da unten am Pont Royal noch Boote gäbe wie früher, dann könnten sie es damit versuchen. Lange, gefährlich und unbequem würde es ja werden; aber sie hatten keine Wahl und mußten sich rasch entscheiden.

»Hör' mal, mein Junge, hier müssen wir erst mal weg, hier ist's nicht sauber... Ich werde meinem Leutnant sagen, die Kommunarden hätten mich gefaßt und ich wäre ihnen wieder ausgerissen.«

Er hatte ihn bei dem gesunden Arme gefaßt und stützte ihn, als er ihm über den Ausgang der Rue du Bac hinweghalf, wo jetzt die Häuser von oben bis unten wie übermäßig große Fackeln brannten. Ein Regen glühender Brände fiel auf sie herab; die Hitze war so durchdringend, daß ihre Gesichtshaut ganz geröstet wurde. Als sie dann auf den Kai hinaustraten, blieben sie einen Augenblick stehen, wie geblendet von der schrecklichen Helligkeit der Feuersbrunst, die auf beiden Ufern der Seine in Riesengarben emporloderte.

»An Kerzen fehlt es hier ja gerade nicht«, brummte Jean, wütend über die Tageshelle.

Er fühlte sich auch nicht eher sicher, als bis er Maurice die stromabwärts liegende Böschungstreppe links vom Pont Royal hinuntergebracht hatte. Dort unter der großen Baumgruppe am Rande des Wassers waren sie geborgen. Fast eine Viertelstunde lang beunruhigten sie dunkle Schatten, die sich am andern Flußufer auf dem gegenüberliegenden Kai bewegten. Schüsse ertönten, sie hörten einen Schrei, dann einen Fall ins Wasser und ein plötzliches Wiederaufspritzen von Schaum. Offenbar war die Brücke bewacht.

»Wenn wir die Nacht in dem Schuppen da zubrächten?« meinte Maurice und zeigte auf den Bretterschuppen einer Schiffahrtsgesellschaft.

»Ach, Unsinn! Da würden wir morgen früh doch geklemmt!«

Jean beharrte immer noch auf seinem Gedanken. Er hatte eine ganze Flotte kleiner Boote vorgefunden. Aber sie waren angekettet; wie sollte er eins von ihnen loskriegen und die Ruder auch? Schließlich fand er ein paar alte Ruder und konnte ein offenbar schlecht geschlossenes Schloß aufbrechen; und sobald er Maurice vorn ins Boot gelegt hatte, überließ er sich vorsichtig der Strömung, die ihn im Schatten der Flußbäder und der festliegenden Fahrzeuge am Ufer entlangtrieb. Weder der eine noch der andere sprach, so wurden sie durch das scheußliche Schauspiel eingeschüchtert, das sich vor ihnen abrollte. Je weiter sie den Strom hinabtrieben, je näher schien mit dem Zurücktreten des Horizontes das Furchtbare zu wachsen. Als sie an die Solferinobrücke kamen, konnten sie mit einem Blick die beiden in Flammen stehenden Kais übersehen.

Links brannten die Tuilerien. Bei Einbruch der Nacht hatten die Kommunarden Feuer in beiden Enden des Palastes angelegt, im Pavillon der Flora und im Pavillon de Marsan; das Feuer hatte rasch den Pavillon de l'Horloge in der Mitte ergriffen, wo aus im Marschallsaal aufgestapelten Pulverfässern eine richtige Mine vorbereitet war. In diesem Augenblick stießen die Verbindungsgebäude durch ihre Fenster braunrote Flammenwirbel aus, durch die lange, blaue Stichflammen hervorschossen. Die Dächer glühten, feurige Risse platzten in ihnen auf wie auf vulkanischem Boden, den der Druck der Glut im Innern zersprengt. Am hellsten brannte der zuerst angezündete Pavillon der Flora vom Erdgeschoß bis zu den mächtigen Böden mit furchtbarem Brausen. Das Petroleum, mit dem die Fußböden und Wandbespannungen getränkt waren, verlieh den Flammen eine solche Kraft, daß sie sahen, wie das Eisen der Balkone sich bog und die hohen Prunkkamine mit den mächtigen Sonnenbildwerken wie glühende Kohlen barsten.

Rechts kam dann zuerst der Palast der Ehrenlegion, der gegen fünf Uhr nachmittags angesteckt worden war; er brannte fast seit sieben Stunden und verzehrte sich mit der Flamme eines Riesenscheiterhaufens, dessen Holzwerk mit einem Male zusammenbricht. Dann kam der Palast des Staatsrats, ein mächtiger Brand, der gewaltigste, schrecklichste, ein riesiger flammenspeiender Steinwürfel mit Säulengängen in zwei Geschossen. Die vier Gebäude, die den großen inneren Hof umgaben, hatten alle auf einmal Feuer gefangen; und hier rieselte das in ganzen Fässern über die vier Ecktreppen ausgegossene Petroleum in einem höllischen Strome die Stufen hinunter. Auf der Wasserseite hob sich die klare Linie der Attika wie eine schwarze Rampe ab, der feurige Zungen die Seiten beleckten; die Säulenstellungen, das Hauptgesims, die Friese und der Bildhauerschmuck traten bei dem blendenden Widerschein dieses Riesenofens in außerordentlich kräftigem Relief hervor. Hier hatte das Feuer einen so gewaltigen Schwung, eine solche Kraft, daß es schien, als würde das gewaltige Bauwerk zitternd und ächzend von seinen Grundfesten abgehoben und sollte unter der Gewalt dieses Ausbruches, der das Zink seiner Dächer in den Himmel emporschleuderte, nur noch das leere Gerüst seiner dicken Mauern stehenbleiben. Daneben folgte dann die Orsaykaserne, deren einer ganzer Flügel in einer hohen, weißen Säule wie ein Turm des Lichts brannte. Dahinter bemerkten sie dann noch andere Brände, die sieben Häuser der Rue du Bac, die zweiundzwanzig der Rue de Lille, die den ganzen Horizont in Glut tauchten und Flammen über Flammen häuften, ein unendliches Blutmeer.

Ganz erstickt flüsterte Jean:

»Ist das Gottes möglich! Der Fluß fängt ja noch an zu brennen.«

Tatsächlich schien ihr Boot wie von einem feurigen Strome dahingetragen. Bei dem tanzenden Widerschein dieser Riesenbrände hätte man wirklich glauben können, die Seine wälze glühende Kohlen dahin. Plötzliche rote Blitze schossen hindurch und gelbe Brände knisterten laut überall. Und so trieben sie immer langsam weiter mit der Strömung dieses brennenden Wassers, zwischen den flammenden Palästen hin wie in einer verfluchten Stadt, die zu beiden Seiten einer jedes Maß übersteigenden Straße aus flüssiger Lava brannte.

»Ach!« sagte nun Maurice seinerseits, als ihn angesichts dieser von ihm selbst gewollten Zerstörung die Raserei wieder ergriff, »möchte doch alles in Flammen aufgehen und alles in die Luft springen!«

Aber mit einer erschreckten Handbewegung brachte Jean ihn zum Schweigen, als hätte er Angst, eine solche Lästerung könne ihnen Unglück bringen. War es möglich, daß der Junge, den er so sehr liebte, der so gebildet, so zart war, bis zu solchen Gedanken hatte herunterkommen können? Er ruderte nun stärker, denn sie waren durch die Solferinobrücke hindurch, und vor ihnen befand sich jetzt eine lange freie Strecke. Die Helligkeit wurde so groß, daß der Fluß wie von der senkrecht herabfallenden Mittagssonne erhellt dalag, ohne jeden Schatten. Die geringsten Einzelheiten konnten sie mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erkennen, das schillernde Netz auf der Wasseroberfläche, die Steinhaufen an den Ufern, die kleinen Bäume auf den Kais. Besonders die Brücken erschienen in strahlender Weiße, so klar, daß man ihre Steine hätte zählen können; man hätte glauben mögen, sie bildeten seine, noch wohlerhaltene Laufstege von einer Feuersbrunst zur andern über dies glühende Wasser hinweg. Zuweilen ließ sich inmitten des fortgesetzt grollenden Tosens ein plötzliches Krachen hören. Rußschwaden fielen auf sie nieder, der Wind trug ihnen giftige Gerüche zu. Und die große Furcht kam über sie, Paris, die weiter entfernten Viertel dort hinten auf dem Grunde des Seinelaufes wären gar nicht mehr da. Rechts und links leuchtete die Wut des Feuers empor und ließ hinter sich ein gewaltiges schwarzes Loch. Sie sahen nichts weiter als eine gewaltige Finsternis, ein Nichts, als sei ganz Paris vom Feuer verschlungen, in ewiger Nacht verschwunden. Auch der Himmel war tot, die Flammen schlugen so hoch empor, daß sie die Sterne auslöschten.

Maurice, den der Fieberwahn wieder packte, stieß ein närrisches Gelächter aus.

»Ein schönes Fest im Staatsrat und in den Tuilerien... Die ganzen Gebäude sind beleuchtet, die Kronleuchter funkeln, die Frauen tanzen! ... Ah, tanzt nur, tanzt nur mit euren rauchenden Röcken, mit euren brennenden Haaren ...«

Mit dem gesunden Arme rief er die Erinnerung an die Feste Sodoms und Gomorrhas wieder empor, die Musiken, die Blumen, die ungeheuerlichen Vergnügungen, bei denen die Paläste von derartigen Ausschweifungen strotzten und mit ihrem Überfluß an Kerzen die Nacktheit in solcher Abscheulichkeit sehen ließen, daß sie sich von selbst entzündeten. Plötzlich gab es einen fürchterlichen Krach. In den Tuilerien hatte das Feuer von beiden Enden her den Marschallsaal erreicht. Die Pulverfässer hatten sich entzündet und der Pavillon de l'Horloge flog mit der Gewalt einer Pulverfabrik in die Luft. Eine Riesengarbe stieg in die Höhe und erfüllte wie ein großer Busch den Himmel, der Flammenstrauß dieses Schreckensfestes.

»Bravo! Feiner Tanz!« rief Maurice, wie beim Schluß eines Schauspiels, als alles wieder in Finsternis zurücksank.

Stotternd flehte Jean ihn abermals an, in verworrenen Sätzen. Nein, nein! Man muß nichts Böses wünschen. Wenn dies nun das allgemeine Ende bedeutete, gingen sie selbst dann nicht auch zugrunde? Und seine ganze Eile galt jetzt einer schleunigen Landung, um diesem gräßlichen Schauspiel zu entgehen. Er war indessen doch vorsichtig genug, erst noch unter der Brücke de la Concorde durchzutreiben, damit sie erst an der Böschung des Kais de la Conférence landen brauchten, hinter der Biegung der Seine. Aber auch an diesem bedeutsamen Wendepunkt vertat er erst ein paar Minuten mit dem ordentlichen Festmachen des Bootes; denn er besaß eine zu hohe Achtung vor dem Eigentum anderer. Sein Plan ging dahin, die Rue des Orties über den Place de la Concorde und die Rue Saint-Honoré zu gewinnen. Nachdem er Maurice sich hatte auf die Böschung setzen lassen, stieg er allein die Treppe zum Kai hinauf, da er sich wieder von Unruhe ergriffen fühlte, als er sich klarmachte, wieviel Mühe ihnen die Überwindung all der ihrer wartenden Hindernisse machen würde. Da lag die uneinnehmbare Festung der Kommune, die mit Geschützen gespickte Terrasse der Tuilerien, die durch hohe, festgebaute Barrikaden abgesperrten Rue Royale, Saint-Florentin und de Rivoli; das erklärte auch das Vorgehen der Versailler Truppen, deren Linien in dieser Nacht einen ungeheuren einspringenden Winkel bildeten mit dem Scheitel am Place de la Concorde und ihren Endpunkten am rechten Ufer am Güterbahnhof der Kompanie du Nord und dem andern auf dem linken an einer der Bastionen der Umwallung nahe beim Tor von Arceuil. Aber es mußte bald hell werden; die Kommunarden hatten die Tuilerien und die Barrikaden geräumt und die Truppen sich sofort des Viertels bemächtigt, inmitten einer neuen Feuersbrunst, zwölf weiterer Häuser an der Kreuzung der Rue Saint-Honoré und Royale, die seit neun Uhr abends brannten.

Als Jean die Böschung wieder herunterkam, fand er Maurice unten nach Überwindung seiner übertriebenen Aufregung schlaftrunken, wie betäubt vor.

»Leicht wird das nicht... Kannst du wenigstens gehen, mein Junge?«

»Ja, ja, sei nur ruhig. Ich komme schon noch hin, tot oder lebendig.«

Vor allem machte es ihm Mühe, die Steintreppe hinaufzukommen. Oben auf dem Kai ging er dann langsam am Arme seines Gefährten mit den Schritten eines Nachtwandlers weiter. Obwohl es noch nicht ganz hell war, erfüllte doch der Widerschein der Brände rings umher den weiten Platz mit einer bleichen Dämmerung. So schritten sie durch die Einsamkeit dahin, das Herz von dem trübseligen Anblick dieser Zerstörung zusammengeschnürt. An den beiden Endpunkten, am andern Ende der Brücke und am Ausgange der Rue Royale bemerkten sie undeutlich die gespenstischen Erscheinungen des Palais Bourbon und der Madeleine, die von den Kanonen bearbeitet waren. Die Terrasse der Tuilerien, in die eine Bresche gelegt war, lag teilweise in Trümmern. Auf dem Platze selbst hatten die Kugeln die Bronzebilder der Springbrunnen durchbohrt; der Riesenrumpf des Standbildes der Stadt Lille lag am Boden, während das von Straßburg daneben in Trauerschleier gehüllt um all die Trümmer zu trauern schien. Dicht bei dem unversehrten Obelisken war in einem Laufgraben ein Gasrohr durch Hiebe mit der Hacke aufgespalten; ein Zufall hatte das Gas entzündet, so daß es mit zischendem Geräusch in einer langen Flamme emporschoß.

Der die Rue Royale abschließenden Barrikade, zwischen dem Marineministerium und dem Garde-Meuble, die beide vor dem Feuer gerettet waren, ging Jean aus dem Wege. Er hörte hinter den Säcken und Fässern mit Erde, aus denen sie hergestellt war, die groben Stimmen von Soldaten. Auf der Vorderseite verteidigte sie ein mit fauligem Wasser angefüllter Graben, in dem der Leichnam eines Verbündeten schwamm; und durch eine Bresche konnten sie die Eckhäuser der Rue Saint-Honoré sehen, die niedergebrannt waren, trotzdem die Spritzen aus der ganzen Bannmeile zusammengekommen waren, deren Zischen sie unterscheiden konnten. Die kleinen Bäume rechts und links, die Häuschen der Zeitungsverkäufer lagen zerschmettert, von Kugeln durchlöchert da. Ein lautes Geschrei erhob sich; die Feuerwehrleute hatten in einem Keller sieben Mieter eines der Häuser halb verkohlt aufgefunden.

Obwohl die Barrikade, die die Rue Saint-Florentin und de Rivoli absperrte, mit ihrer hohen, klugen Bauart noch furchtbarer erschien, hatte Jean doch das richtige Gefühl, daß es hier leichter sein müsse, durchzukommen. Tatsächlich lag sie vollkommen verlassen da, ohne daß die Truppen es schon gewagt hätten, sie zu besetzen. Kanonen schliefen hier in stummer Verlassenheit. Keine Menschenseele hinter diesem uneinnehmbaren Wall, nichts als ein Hund, der sich verlaufen hatte und nun weglief. Als aber Jean in die Rue Saint-Florentin hineineilte, während er den schwächer werdenden Maurice unterstützte, trat gerade das ein, was er befürchtet hatte: sie stießen auf eine ganze Kompanie des achtundachtzigsten Linienregiments, die die Barrikade umgangen hatte.

»Herr Hauptmann,« erklärte er, »das ist ein Freund von mir, den die Räuber verwundet haben, und ich bringe ihn zum Verbinden.«

Der Rock, den Maurice über die Schultern geworfen hatte, rettete ihn, und Jeans Herz klopfte zum Zerspringen, während sie zusammen die Rue Saint-Honoré hinabgingen. Der Tag brach jetzt an, Schüsse kamen aus den Querstraßen, denn es wurde noch im ganzen Viertel gefochten. Es mußte mit einem Wunder zugehen, wenn sie die Rue des Frondeurs ohne ein weiteres übles Zusammentreffen erreichen konnten. Nur ganz langsam gingen sie weiter; die drei- oder vierhundert Meter, die sie noch zurückzulegen hatten, kamen ihnen unendlich vor. In der Rue des Frondeurs stießen sie auf einen Kommunardenposten; die Leute waren aber so erschrocken, daß sie glaubten, es käme ein ganzes Regiment, und die Flucht ergriffen. Nun brauchten sie nur noch ein Stück der Rue d'Argenteuil zu folgen, um in die Rue des Orties zu kommen.

Ach! Die Rue des Orties, mit welcher Ungeduld wünschte Jean sich seit vier langen Stunden dorthin! Es war ihm eine wahre Erlösung, als sie in sie einbogen. Schwarz, verlassen, stumm lag sie da, als wäre sie hundert Meilen vom Schlachtfeld entfernt. Das Haus, ein altes, enges Haus ohne Türhüter, schlief einen wahren Todesschlaf.

»Ich habe die Schlüssel in der Tasche,« stammelte Maurice. »Der große ist für die Haustür, der kleine oben für meine Kammer.«

Er brach zusammen und wurde in Jeans Armen ohnmächtig, dessen Unruhe und Verlegenheit nun ihren Höhepunkt erreichten. Er vergaß sogar die Haustür wieder abzuschließen und mußte sich nun die unbekannte Treppe hinauftasten, wobei er sich vorsah, nicht anzustoßen, um keine Leute herbeizulocken. Oben verirrte er sich und mußte den Verwundeten erst auf eine Treppenstufe niederlassen, um mit Hilfe von Streichhölzern, die er glücklicherweise bei sich hatte, die Tür zu suchen; und als er sie gefunden hatte, kam er wieder herunter, um ihn zu holen. Nun endlich legte er ihn auf das kleine eiserne Bett gegenüber dem Paris überblickenden Fenster; er öffnete es ganz weit in einem Bedürfnis nach frischer Luft und Licht. Der Tag brach an; schluchzend fiel er vor dem Bette nieder, zerschlagen und kraftlos unter dem Erwachen in diesem gräßlichen Gedanken, er habe seinen Freund getötet.

Minuten mußten vergangen sein, aber er war kaum überrascht, als er plötzlich Henriette dastehen sah. Nichts wäre ihm natürlicher vorgekommen; ihr Bruder lag im Sterben, und sie kam. Er hatte sie auch gar nicht hereinkommen sehen; vielleicht war sie schon stundenlang da. Mit dem Kopf auf einem Stuhle sah er stumpfsinnig zu, wie sie sich unter dem Einflusse des tödlichen Schmerzes bewegte, der sie getroffen hatte, als sie ihren Bruder bewußtlos, mit Blut bedeckt daliegen sah. Schließlich kam er wieder zum Bewußtsein; er fragte sie:

»Sagen Sie, haben Sie die Haustür wieder abgeschlossen?«

Ganz überwältigt antwortete sie durch ein bejahendes Kopfnicken; und als sie ihm endlich in ihrem Bedürfnis nach Zuneigung und Hilfe beide Hände reichte, fuhr er fort:

»Ich habe ihn getötet, wissen Sie ...«

Sie begriff ihn gar nicht, sie glaubte ihm nicht. Er fühlte, wie ihre beiden kleinen Hände ruhig in den seinen liegen blieben.

»Ich habe ihn getötet ... Jawohl, dort unten auf einer Barrikade. Er focht auf der einen Seite, ich auf der andern ...«

Die kleinen Hände fingen an zu zittern.

»Wir waren alle wie betrunken, man wußte gar nicht mehr, was man tat ... Ich habe ihn getötet ...«

Nun zog Henriette schaudernd ihre Hände wieder zurück; ganz weiß, mit schreckerfüllten Augen sah sie ihn unbeweglich an. Das sollte also das Ende von allem sein und nichts in ihrem zerbrochenen Herzen am Leben bleiben? Ach, und Jean, an den sie noch am selben Abend gedacht hatte, ganz glücklich in der unbestimmten Hoffnung, ihn vielleicht wiederzusehen! Und der hatte dies Scheußliche vollbracht, und doch hatte er Maurice noch gerettet, denn er hatte ihn doch durch alle Gefahren hierhergebracht! Sie konnte ihm nicht länger ihre Hände überlassen, ohne sich in ihrem Innern zurückgestoßen zu fühlen. Aber sie stieß einen Schrei aus, in dem die letzte Hoffnung ihres noch unschlüssigen Herzens lag.

»Oh, ich werde ihn heilen, ich muß ihn jetzt wieder heilen!«

In ihren langen Nachtwachen im Lazarett von Remilly hatte sie sich eine große Geschicklichkeit im Pflegen und Verbinden von Wunden erworben. Daher wollte sie auch sofort die ihres Bruders untersuchen und zog ihn aus, ohne ihn damit aus seiner Bewußtlosigkeit zu erwecken. Aber als sie den Notverband abnahm, den Jean sich ausgedacht hatte, da fing er an, sich zu bewegen, er stieß einen schwachen Schrei aus und öffnete weit seine fieberglühenden Augen. Er erkannte sie übrigens sofort und lächelte ihr zu.

»Also da bist du? Ach, bin ich froh, daß ich dich noch sehe, ehe ich sterbe!«

Sie brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen, die volles Vertrauen ausdrückte.

»Sterben! Aber das gebe ich nicht zu, ich will, daß du am Leben bleibst ... Sprich nicht mehr, laß mich mal machen!«

Als Henriette aber den durchstochenen Arm und die getroffenen Rippen untersucht harte, wurde sie düster und ihre Augen verdunkelten sich. Mit Lebhaftigkeit ergriff sie von dem Zimmer Besitz; sie fand schließlich etwas Öl, zerriß ein paar alte Hemden, um Binden darauszumachen, während Jean nach Wasser suchte. Er machte den Mund nicht mehr auf; er sah zu, wie sie die Wunden wusch, sie geschickt verband, aber er war unfähig, ihr zu helfen, ganz niedergebrochen, seitdem sie da war. Als sie fertig war und er ihre Besorgnis sah, bot er ihr aber doch an, er wolle sich auf die Suche nach einem Arzte begeben. Aber sie hatte sich all ihre klare Einsicht bewahrt: nein, nein! Nicht den ersten besten Arzt, der ihren Bruder vielleicht ausliefern würde! Es mußte ein sicherer Mann sein; ein paar Stunden könnten sie noch warten. Und als Jean endlich davon sprach, er müsse gehen, um sein Regiment wieder zu suchen, da machten sie ab, er sollte wiederkommen, sobald es ihm möglich sein würde wegzukommen, und sollte einen Chirurgen mitbringen.

Er ging aber noch nicht fort; er konnte sich scheinbar nicht entschließen, dies Zimmer zu verlassen, das so voll von dem von ihm angerichteten Unheil war. Nachdem sie das Fenster einen Augenblick geschlossen hatte, öffnete sie es von neuem. Und von seinem Bette aus sah der Verwundete, den Kopf hoch unterstützt, ebenso wie die andern, mit verlorenen Blicken ins Weite bei dem düstern, verlegenen Schweigen, in das sie verfallen waren.

Hier oben von der Butte des Moulins aus dehnte sich ein großer Teil von Paris vor ihnen aus, zunächst die mittleren Viertel vom Faubourg Saint-Honoré bis an die Bastille, dann der ganze Seinelauf mit dem Gewirre seines linken Ufers, ein Meer von Dächern, Baumgipfeln, Glockentürmen, Kuppeln und Türmen. Es wurde immer heller; die scheußliche Nacht, eine der abscheulichsten in der Geschichte, war vorüber. Aber in dem reinen Lichte der aufgehenden Sonne dauerten unter dem rosenroten Himmel die Feuersbrünste an. Sie sahen, wie die Tuilerien gegenüber immer noch brannten, die Orsay-Kaserne, die Paläste des Staatsrates und der Ehrenlegion, deren vom vollen Tageslichte gebleichte Flammen den Himmel erschauern ließen. Aber jenseits der Häuser der Rue de Lille und der Rue du Bac mußten noch andere Häuser brennen, denn von der Kreuzung der Croix-Rouge und noch weiter aus der Rue Vavin und Notre-Dame-des-Champs stiegen Flammensäulen empor. Ganz in ihrer Nähe auf dem rechten Ufer brachen die Brände der Rue Saint-Honoré jetzt in sich zusammen, während auf dem linken im Palais Royal und dem neuen Louvre das Feuer nur langsam um sich griff und bis gegen Mittag nicht zum Durchbruch kommen konnte. Aber was sie sich zuerst gar nicht erklären konnten, das war eine riesige schwarze Wolke, die der Westwind auf ihr Fenster zutrieb. Seit drei Uhr morgens brannte das Finanzministerium ohne hohe Flamme; es verzehrte sich in dicken Rauchwirbeln, da der mächtige, in den niedrigen, verputzten Räumen aufgehäufte Papiervorrat das Feuer ganz erstickte. Und selbst wenn jetzt beim Erwachen der großen Stadt der traurige Eindruck der Nacht, der Schrecken der vollständigen Zerstörung, die Seine mit ihren treibenden Bränden gar nicht dagewesen wäre, so wäre doch eine verzweiflungsvolle, dumpfe Traurigkeit in diesem dicken, fortdauernden Qualm über die unversehrten Viertel hingezogen, dessen Wolke sich immer weiter ausbreitete. Bald wurde die Sonne, die so klar aufgegangen war, von ihr verdeckt, und es blieb nur diese Trauer an dem trübroten Himmel stehen. Maurice, den seine Fieberträume wieder packten, flüsterte mit einer langsamen, den schrankenlosen Horizont umspannenden Bewegung:

»Brennt denn alles? Ach, dauert das lange!«

Henriette stiegen Tränen in die Augen, als wüchse ihr Elend Noch durch den Anblick all dieses gewaltigen Unheils, an dem auch ihr Bruder schuld hatte. Und Jean, der weder ihre Hand wieder zu fassen noch seinen Freund zu umarmen wagte, verließ sie mit einer wahnsinnigen Gebärde.

»Auf Wiedersehen, bald!«

Er konnte erst am Abend gegen acht Uhr wiederkommen, als es dunkel geworden war. Trotz seiner großen Unruhe war er glücklich: sein Regiment focht nicht mehr, sondern war in die zweite Linie zurückgezogen und hatte Befehl bekommen, gerade dies Viertel zu überwachen, so daß er hoffen konnte, als er mit seiner Kompanie auf dem Karussellplatz Biwak bezog, jeden Abend zu ihnen heraufkommen zu können, um sich Nachricht über den Verwundeten zu holen. Und er kam auch nicht allein zurück; ein glücklicher Zufall hatte ihn seinen alten Stabsarzt von den 106ern finden lassen, den er nun aus Verzweiflung mitbrachte, weil er keinen andern Arzt finden konnte und er sich selbst sagte, dieser schreckliche Mensch mit dem Löwenkopfe wäre doch ein braver Mensch.

Als Bouroche, der nicht wußte, um was für einen Soldaten ihn der Mann mit seinen Bitten bemühte und der darüber schimpfte, daß er so hoch hinaufklettern müßte, nun begriff, daß er einen Kommunarden vor Augen habe, geriet er zuerst in rasenden Zorn.

»Gottsdonnerwetter! Wollen Sie sich über mich lustig machen? ... Räuber, die müde sind, noch weiter zu stehlen, zu morden und zu brennen! Sein Fall ist ganz klar, dem Räuber seiner da, und ich will ihn schon wieder heilkriegen, jawohl! Mit drei Kugeln in den Schädel!«

Aber der Anblick Henriettes, die so blaß in ihren schwarzen Kleidern dastand mit ihrem schönen, aufgelösten Blondhaar, brachte ihn plötzlich wieder zur Ruhe.

»Es ist mein Bruder, Herr Stabsarzt, einer Ihrer Soldaten von Sedan.«

Er antwortete nicht, legte die Wunde bloß, untersuchte sie schweigend, zog ein paar Fläschchen aus der Tasche und brachte den Verband wieder in Ordnung, wobei er der jungen Frau zeigte, wie sie sich dabei benehmen müsse. Mit seiner rauhen Stimme fragte er dann plötzlich den Verwundeten:

»Warum hast du dich auf die Seite dieser Lumpen geschlagen, warum machst du solche Schweinereien?«

Maurice hatte ihn, seit er da war, mit leuchtenden Augen angesehen, ohne den Mund zu öffnen. Glühend vor Fieber antwortete er jetzt:

»Weil es zuviel Leid, zuviel Ungerechtigkeit und zuviel Schande in der Welt gibt!«

Nun machte Bouroche eine heftige Bewegung, wie um zu sagen, es führe zu weit, wenn man sich auf solche Gedanken einließe. Er war im Begriff, etwas zu erwidern, schwieg aber doch endlich. Und indem er fortging, sagte er nur noch:

»Ich komme wieder.«

Auf dem Treppenabsatz erklärte er Henriette, er stehe für nichts ein. Die Lunge sei ernstlich angegriffen, und es könne zu einem Blutsturz kommen, der den Verwundeten sofort töten müßte.

Henriette zwang sich zu lächeln, als sie wieder hereinkam, obwohl sie einen Stich mitten durchs Herz bekommen hatte. Konnte sie ihn nicht retten, konnte sie dies Scheußliche nicht verhindern, das sie alle drei, die hier noch einmal in heißem Lebensdrange zusammengeführt worden waren, auf ewig trennen müßte? Sie verließ tagsüber das Zimmer nicht; eine alte Nachbarin hatte ihr freundlicherweise ihre Besorgungen abgenommen. Und so nahm sie denn ihren Platz auf einem Stuhl am Bett wieder ein.

In seiner fieberhaften Erregung begann Maurice aber Jean auszufragen und wollte alles wissen. Der aber erzählte ihm nicht alles; er vermied es, ihm von der rasenden Wut zu erzählen, die sich jetzt in dem befreiten Paris gegen die im Sterben liegende Kommune erhob. Es war schon Mittwoch. Seit Sonntag abend, zwei volle Tage lang, hatten die Einwohner vor Furcht schwitzend in ihren Kellern gelebt; und als sie sich am Mittwoch morgen wieder herauswagen konnten, erfüllte sie der Anblick der aufgerissenen Straßen, das Blut, vor allem die schauderhaften Brandstiftungen mit verzweifeltem Rachedurst. Die Züchtigung sollte fürchterlich werden. Sie durchsuchten die Häuser und trieben den Strom verdächtiger Männer und Weiber, den sie aufjagten, den Truppenabteilungen zur sofortigen Hinrichtung zu. Seit sechs Uhr abends waren die Versailler Truppen am heutigen Tage Herren von halb Paris, vom Park von Montsouris durch die großen Straßenzüge hindurch bis zum Nordbahnhof. Die etwa zwanzig letzten Mitglieder der Kommune hatten Zuflucht auf dem Boulevard Voltaire in der Mairie des elften Bezirks suchen müssen.

Sie waren still, und Maurice flüsterte, die Augen bei der lauen Nachtluft, die durch das offene Fenster hereindrang, weit über die Stadt hin schweifen lassend:

»Also es geht doch weiter, Paris brennt!«

Es war wahr, seit dem Sinken des Tageslichtes wurden die Flammen wieder sichtbar, und von neuem überzog sich der Himmel mit dem Purpur dieses verbrecherischen Rots. Als die Pulverfabrik im Luxembourg am Nachmittag mit furchtbarem Krachen in die Luft sprang, hatte sich das Gerücht verbreitet, das Pantheon breche in die Katakomben durch. Den ganzen Tag über hatten übrigens die Brände vom gestrigen Tage fortgedauert, der Palast des Staatsrates und die Tuilerien brannten, das Finanzministerium stieß mächtige Rauchwirbel aus. Zehnmal hatten sie schon das Fenster gegen die drohende Wolke schwarzer Schmetterlinge schließen müssen, diesen unaufhörlichen Flug verbrannten Papiers, den die Heftigkeit des Feuers in den Himmel emporschleuderte, von wo er als feiner Regen wieder herabfiel; ganz Paris war davon bedeckt, und zwanzig Meilen weit wurde er in der Normandie aufgefunden. Es waren also jetzt nicht allein die Viertel im Westen und Süden, die in Flammen standen, die Häuser der Rue Royale, die an der Kreuzung der Croix Rouge und der Rue Notre-Dame-des-Champs. Der ganze Osten der Stadt stand in Brand; die Riesenglut des Stadthauses schloß den Rundblick wie ein mächtiger Scheiterhaufen ab. Außerdem brannten noch das Theâtre Lyrique, das Amtshaus des vierten Bezirks und mehr als dreißig Häuser des umliegenden Stadtteils wie Fackeln; dabei war das Theater an der Porte Saint-Martin noch gar nicht mitgezählt, im Norden, das ganz für sich wie ein Kohlenmeiler in roter Glut auf dem Grunde der Finsternis dastand. Besondere Rachestreiche wurden verübt; vielleicht verbiß sich verbrecherische Berechnung auf die Vernichtung gewisser Aktenstücke. Es war gar nicht mehr die Rede von Verteidigung oder davon, die siegreichen Truppen durch Feuer aufzuhalten. Nur der Wahnsinn war es, der da entlangbrauste; der Gerichtspalast, das Hotel Dieu und Notre-Dame wurden nur durch einen winzigen Glückszufall gerettet. Zerstören um der Zerstörung willen, die alte faulgewordene Menschheit unter der Asche der ganzen Welt zu begraben in der Hoffnung, es möchte eine neue, glücklichere und reinere Gesellschaft daraus hervorgehen, das wahre irdische Paradies der Ursagen!

»Ach, der Krieg, der scheußliche Krieg!« sagte Henriette mit halber Stimme angesichts dieser in Trümmern liegenden Stadt, dieser Stadt der Leiden und des Todeskampfes!

War dies denn nicht wirklich der letzte verhängnisvolle Aufzug, dieser auf den Feldern der Niederlagen von Sedan und Metz emporgekeimte Blutwahn, der durch die Belagerung von Paris erzeugte Zerstörungswahn, diese letzte, äußerste Wendung für ein Volk, das sich inmitten all dieser Metzeleien und Zusammenbrüche in Todesgefahr befand?

Aber Maurice stotterte langsam und mühevoll, ohne die Augen von den brennenden Vierteln dort unten wegzuwenden:

»Nein, nein, schmähe den Krieg nicht ... Er ist gut, er tut sein Werk ...«

Jean unterbrach ihn mit einem Ruf, aus dem Haß und Gewissensangst sprachen.

»Herrgott nochmal! Wenn ich dich daliegen sehe und es alles meine Schuld ist ... Verteidige ihn nicht, eine Dreckgeschichte ist der Krieg!«

Der Verwundete machte eine unbestimmte Bewegung.

»Oh, ich, was liegt denn an mir? Es sind ja noch so viel andere da! ... Und dieser Aderlaß ist am Ende nötig. Der Krieg ist das Leben, das nicht ohne den Tod bestehen kann.«

Maurices Augen schlossen sich infolge der Ermüdung, die ihn die Anstrengung dieser paar Worte gekostet hatte. Henriette bat Jean durch ein Zeichen, nicht mit ihm zu streiten. Eine mächtige Auflehnung bäumte sich in ihr empor, Zorn über all dies menschliche Leiden, trotzdem sie eine so ruhige, so zarte, mutige Frau mit klaren Augen war, in denen sich die Heldenseele des Großvaters, des Helden aus der Napoleonssage, widerspiegelte.

Zwei Tage, der Donnerstag und Freitag, vergingen wieder unter der gleichen Feuersbrunst und Metzelei. Der Lärm der Geschütze kam nicht zum Schweigen; die Batterien von Montmartre, deren sich die Versailler bemächtigt hatten, beschossen ununterbrochen die von den Föderierten in Belleville und auf dem Père-Lachaise aufgestellten; und diese letzteren feuerten aufs Geratewohl auf Paris: auf die Rue de Richelieu und den Vendômeplatz waren Granaten gefallen. Am 25. abends war das ganze linke Ufer in den Händen der Truppen. Auf dem rechten Ufer aber hielten sich die Barrikaden auf dem Platze des Chateau d'Eau und dem Bastilleplatze immer noch. Das waren zwei wirkliche, durch ein schreckliches, unaufhörliches Feuer verteidigte Festungen. Als sich in der Dämmerung die letzten Mitglieder der Kommune zerstreuten, nahm Delescluze seinen Rohrstock, ging in ruhigem Spaziergängerschritt bis zu der Barrikade, die den Boulevard Voltaire abschloß, und fiel hier wie ein Held vom Blitze getroffen. Am folgenden Morgen, den 26., wurden in der Dämmerung bereits das Château d'Eau und die Bastille genommen; die Kommunarden hielten nur noch la Villette, Belleville und Charonne besetzt; sie waren jetzt auf eine Handvoll Tapferer zusammengeschmolzen, die sterben wollten. Noch zwei Tage lang sollten sie Widerstand leisten und wütend weiterfechten.

Als Jean am Freitag abend vom Karussellplatz wegging, um wieder in die Rue des Orties zurückzukehren, erlebte er am Ende der Rue de Richelieu eine Massenhinrichtung, die ihn völlig niederschmetterte. Seit zwei Tagen arbeiteten zwei Kriegsgerichte, das erste im Luxembourg, das andere im Theater du Châtelet. Die von dem einen Verurteilten wurden gleich im Garten erschossen; die des andern dagegen schleppte man nach der Lobaukaserne, wo ständig tätige Abteilungen sie auf dem innern Hofe, fast unmittelbar vor den Mündungen der Gewehre erschossen. Hier vor allem wurde die Schlächterei gräßlich: Männer, Kinder, die auf irgendein Anzeichen hin verurteilt waren, pulvergeschwärzte Hände oder nur Soldatenschuhe an den Füßen, Unschuldige, die falsch beschuldigt waren, Opfer von Privatrache, die noch ihre Erklärungen herausheulten, ohne sich Gehör verschaffen zu können; herdenweise wurden sie wild durcheinander vor die Mündungen der Gewehre getrieben, so viel Elende auf einmal, daß nicht Kugeln genug für alle da waren und die Verwundeten mit Kolbenhieben erschlagen werden mußten. Das Blut rieselte nur so, Karren brachten die Leichen vom Morgen bis zum Abend weg. Und in der ganzen eroberten Stadt vollzogen sich weitere Hinrichtungen infolge dieser verrückten Wut nach Rache, vor den Barrikaden, an den Hauswänden in den verlassenen Straßen, auf den Stufen der Denkmäler. Jean sah, wie die Einwohner des Viertels auf diese Weise eine Frau und zwei Männer zu dem Posten schleppten, der das Theâtre Français bewachte. Die Bürger benahmen sich hierbei noch wilder als die Soldaten; die wieder erscheinenden Zeitungen hetzten sie bis zum äußersten. Die gewalttätige Menge war vor allem gegen die Frau erbittert, eine jener Petroleusen, die leicht entzündbare, furchtsame Einbildungen erschreckten; sie sollten abends an den Häusern der Reichen entlangschleichen und Kannen voll Petroleum in die Keller gießen und anzünden. Wie es hieß, war diese dabei erwischt worden, als sie sich über ein Kellerfenster in der Rue Sainte-Anne beugte. Trotz ihres Schluchzens und ihres Ableugnens warf man sie in den Graben vor einer Barrikade, der noch nicht wieder ausgefüllt worden war, und erschoß sie alle drei in dem schwarzen Erdloch wie in der Falle gefangene Wölfe. Spaziergänger sahen dabei zu; eine Dame blieb mit ihrem Manne stehen, und ein Bäckerjunge, der eine Torte in der Nachbarschaft zu bestellen hatte, pfiff ein Jägerlied dazu.

Jean beeilte sich, in die Rue des Orties zu kommen; sein Herz fühlte sich wie Eis an, als er plötzlich ein Wiedersehen feierte. War denn das nicht Chouteau, der Mann seiner früheren Korporalschaft, den er da in der weißen Bluse eines ehrbaren Arbeiters stehen sah, wie er der Hinrichtung mit zustimmenden Gebärden zusah? Und er wußte doch, was für ein Räuber, Verräter, Dieb und Mörder der da war! Einen Augenblick war er im Begriff, umzudrehen und ihn anzuzeigen und auf den Leichen der drei andern erschießen zu lassen. Ach, der Jammer, wenn die Schuldigsten ihrer Züchtigung entgehen und ihre Straflosigkeit im Sonnenschein spazierenfahren können, während Unschuldige in der Erde faulen müssen!

Henriette war bei dem Geräusch heraufkommender Schritte auf den Treppenabsatz herausgetreten.

»Seien Sie vorsichtig, er ist heute in einem außergewöhnlich erregten Zustande ... Der Stabsarzt war da, er hat mir keine Hoffnung gelassen.«

Wirklich hatte Bouroche mit dem Kopfe genickt und hatte noch nichts versprechen können. Vielleicht würde die Jugend des Verwundeten doch noch über die Zufälle siegen, die er befürchtete.

»Ach, du bist's,« sagte Maurice fieberhaft zu Jean, sobald er ihn erblickte; »ich wartete schon auf dich; was machen sie denn, wie weit sind sie?«

Und mit dem Rücken gegen ein Kopfkissen, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, das er seine Schwester wieder zu öffnen gezwungen hatte, zeigte er auf die schwarze Stadt, die ein neuer Feuerschein erhellte:

»Nicht wahr? Es geht wieder los, Paris brennt, diesmal brennt Paris ganz und gar!«

Seit Sonnenuntergang hatte der Brand des Kornspeichers d'Abondance die entlegeneren Stadtteile am obern Seinelauf in Flammen gesetzt. In den Tuilerien, im Staatsrate mußten die Decken eingestürzt sein und den Brand durch ihr Balkenwerk nähren, das sich nun verzehrte, denn das Feuer war hier teilweise wieder ausgebrochen, und jeden Augenblick schlugen Flammen und Funken in die Höhe. Viele Häuser, von denen man geglaubt hatte, sie seien schon ausgebrannt, fingen auf diese Weise wieder an zu brennen. Seit drei Tagen schon wollte es nicht mehr dunkel werden, obwohl die Stadt gar nicht wieder anfing zu brennen; aber es war, als bliese die Finsternis in die roten Brände hinein, fachte sie wieder an und zerstreute sie nach allen vier Himmelsgegenden. Ach, diese Höllenstadt, die von Dunkelwerden an eine ganze Woche lang wieder anfing zu glühen, die mit ihren ungeheuerlichen Fackeln die Nächte dieser Blutwoche erhellte! Und dann die Nacht, als die Docks von la Villette anfingen zu brennen, da wurde die Helligkeit über der Riesenstadt so lebhaft, daß man wirklich hätte glauben sollen, sie sei diesmal an allen vier Ecken angezündet und ginge in den sie überwuchernden Flammen unter. Unendlich hoch wälzten die rotglühenden Stadtviertel die Flut ihrer flammenden Dächer in den blutroten Himmel hinauf.

»Das ist das Ende,« wiederholte Maurice, »Paris brennt!«

Er regte sich sehr auf an diesen Worten, die er unendlich oft wiederholte, bei dem fieberhaften Bedürfnis zu sprechen, das er jetzt nach der schweren Schlaftrunkenheit empfand, in der er fast drei Tage lang stumm dagelegen hatte. Aber auf das Geräusch erstickten Weinens drehte er den Kopf um.

»Was, Schwesterchen, du bist das, bei deiner Tapferkeit! ... Du weinst, weil ich sterben muß...«

Sie unterbrach ihn und erhob laut Einspruch.

»Nein, du stirbst nicht!«

»Doch, doch, es ist auch besser so, es muß sein!.. Ach, geh' doch, an mir ist auch nicht viel Gutes verloren. Vor dem Kriege habe ich dir so viel Kummer gemacht und bin deinem Herzen und deiner Börse so teuer zu stehen gekommen! ... All die Dummheiten, all die Torheiten, die ich begangen habe, die hätten schließlich doch, wer weiß? kein gutes Ende genommen! Das Gefängnis, der Fluß...«

Abermals schnitt sie ihm heftig das Wort ab.

»Sei still! Sei still! Das hast du alles wieder gutgemacht!«

Er schwieg und schien einen Augenblick nachzudenken.

»Wenn ich tot bin, ja! Vielleicht... Ach, mein alter Jean, du hast uns allen trotzdem einen guten Dienst erwiesen, als du mir dein Bajonett in die Rippen jagtest.«

Aber auch der erhob mit dicken Tränen in den Augen Einspruch.

»Sag' das doch nicht! Soll ich mir denn den Schädel an der Wand einrennen?«

Glühend fuhr Maurice abermals fort:

»Erinnere dich doch an das, was du mir den Morgen da mach Sedan sagtest, als du behauptetest, es wäre gar nicht so übel, wenn man mal eine ordentliche Ohrfeige kriegte ... Und du setztest noch dazu, daß, wenn irgendwo was faul wäre, wenn man ein verkümmertes Glied hätte, da wäre es besser, man haute es mit der Axt ab und sähe es auf der Erde liegen, als daß man daran wie an der Cholera zugrunde ginge... Ich habe oft an diese Worte gedacht, als ich hier so allein war, in diesem wahnsinnigen, jammervollen Paris eingeschlossen ... Na schön! Ich bin nun das verkümmerte Glied, und du hast es abgehauen!...«

Seine Erregung wuchs, er hörte gar nicht mehr auf Henriettes und Jeans Flehen, die tief erschrocken waren. Und so ging das bei seiner Fieberglut in anspielungsreichen, scharf treffenden Bildern immer weiter. Der gesund gebliebene Teil Frankreichs war es, der verständige, richtig abwägende, bäurische, der mit der Erde in Berührung geblieben war, der nun den verrückten, verzweifelten, durch das Kaiserreich verdorbenen, durch seine Träumereien und Begierden auf falsche Bahnen geleiteten unterwarf; und man mußte ihm tief ins Fleisch schneiden, ihm sein ganzes Wesen ausreißen, ohne sich darum zu bekümmern, was es ausmache. Aber ein Blutbad war nötig, und von französischem Blut, ein furchtbares, ein lebendes Opfer in reinigendem Feuer. Nun würden sie den Gipfel ihres Leidensweges durch den schrecklichsten aller Todeskämpfe erklimmen, das Volk würde seine Fehler am Kreuze sühnen und dann wieder auferstehen.

»Mein alter Jean, du bist so schlicht und fest... Geh'! Geh'! Nimm deine Hacke, nimm die Kelle! Geh' wieder auf dein Feld und bau' dein Haus wieder auf!»... Daß du mich niedergeschlagen hast, war wohlgetan, denn ich war das Geschwür an deinen Knochen.«

So raste er und wollte aufstehen und sich aus dem Fenster lehnen. »Paris brennt noch, nichts wird übrigbleiben ... Ach, die Flamme nimmt alles mit, sie heilt alles, ich habe sie gewollt, ja! Sie macht gute Arbeit ... Laßt mich hinunter, laßt mich das Werk der Menschlichkeit und Freiheit zu Ende führen ...«

Jean gab sich alle erdenkliche Mühe, ihn wieder ins Bett zu bringen, während Henriette ihm unter Tränen von ihrer Kindheit erzählte und ihn bei ihrer gegenseitigen Anbetung anflehte, sich zu beruhigen. Und über dem gewaltigen Paris wuchs der Widerschein der Glut immer mehr an; das Flammenmeer schien die Finsternis am fernsten Horizont zu ergreifen; der Himmel war wie das Gewölbe eines bis zu hellem Rot erhitzten Riesenofens. Und durch die gelbliche Helligkeit der Feuersbrunst zogen die mächtigen Rauchwolken des seit zwei Tagen hartnäckig ohne Flamme weiterbrennenden Finanzministeriums immer weiter wie eine düstere, feierliche Trauerwolke dahin.

Am nächsten Tage, dem Sonnabend, trat in Maurices Zustand eine plötzliche Besserung ein: er war viel ruhiger, das Fieber sank; es war für Jean eine große Freude, als er Henriette lächelnd vorfand, sie hatte ihren Traum von dem traulichen Zusammensein zu dreien wieder aufgenommen und hoffte wieder auf eine glückliche Zukunft, wenn sie sie auch nicht fest zu umschreiben wagte. Wollte das Schicksal sie begnadigen? Die ganzen Nächte wich sie nicht aus dieser Kammer, die ihre sanfte Aschenbrödelgeschäftigkeit, ihre leichtes schweigsame Fürsorge mit einer fortwährenden Liebkosung erfüllte. Und heute abend vergaß Jean sich ganz bei seinen Freunden in staunender, zitternder Freude. Im Laufe des Tages hatten die Truppen Velleville und die Buttes-Chaumont genommen. Jetzt leistete nur noch der in ein befestigtes Lager verwandelte Père-Lachaise Widerstand. Alles schien vorbei; er behauptete sogar, es würde niemand mehr erschossen. Er sprach nur davon, Haufen der Gefangenen würden nach Versailles gebracht. Morgens hatte er einen auf dem Kai getroffen, Männer in Blusen, im Überzieher, in Hemdärmeln, Frauen jedes Alters, die einen mit tiefen Furchen in ihren Furienlarven, andere wieder in der Blüte ihrer Jugend, kaum fünfzehn Jahre alte Kinder, ein sich vorwärts wälzender Strom des Elends und des Abscheus, den die Soldaten durch den hellen Sonnenschein dahintrieben und die Versailler Bürger, wie es hieß, unter Spottreden mit Stockschlägen und Schirmstößen empfingen.

Am Sonntag aber war Jean voller Furcht. Es war der letzte Tag dieser Schreckenswoche. Seit dem sieghaften Aufgange der Sonne fühlte er etwas wie einen Schauer des letzten Todeskampfes durch den klaren, warmen Festtagmorgen sich hinziehen. Erst jetzt hatte man die verschiedenen, an den Geiseln begangenen Mordtaten erfahren, an dem Erzbischof, dem Pfarrer der Madeleine und andern, die am Mittwoch bei La Roquette erschossen worden waren, an den am Donnerstag wie Hasen im Laufen erschossenen Dominikanern von Arceuil, an andern Priestern und Gendarmen, die, siebenundvierzig an der Zahl, im Bezirk der Rue Haro am Freitag unmittelbar vor den Mündungen der Gewehre umgebracht waren; die Wut nach Vergeltungsmaßnahmen lebte wieder auf, und die Truppen richteten die letzten Gefangenen, die sie noch machten, in Massen hin. An diesem schönen Sonntage hörte das Gewehrfeuer in dem Hofe der von Todesröcheln, Blut und Pulverrauch erfüllten Lobaukaserne gar nicht auf. Bei La Roquette wurden zweihundertsechsundzwanzig Unglückliche, die man mit einem Zuge gefangen hatte, auf dem Haufen erschossen, von Kugeln zerhackt. Auf dem seit vier Tagen beschossenen Père-Lachaise, der schließlich Grab für Grab genommen werden mußte, warfen sie hundertachtundvierzig gegen die Mauer, von der der Putz in großen roten Tränen herabrieselte; und drei von ihnen, die nur verwundet gewesen waren und entweichen wollten, wurden wieder ergriffen und umgebracht. Wie viele brave Leute auf einen Lumpen unter den zwölfhundert Unglücklichen, denen die Kommune das Leben gekostet hatte! Es hieß, von Versailles sei Befehl gekommen, die Hinrichtungen einzustellen. Aber das Morden ging trotzdem weiter; Thiers sollte bei all seinem reinen Ruhm als Befreier seines Landes doch der Meuchelmörder bleiben; der Marschall Mac Mahon aber, der Besiegte von Fröschweiler, dessen den Sieg verkündigende Bekanntmachung die Mauern bedeckte, der hieß nur noch der Sieger vom Père-Lachaise. Und das sonntägliche Paris erschien im Sonnenschein wie zu einem Feste geschmückt; eine Riesenmenge erfüllte die wiedereroberten Straßen; überall gingen Spaziergänger mit glücklicher Bummelmiene umher, um die rauchenden Trümmer der Brandstätten zu besichtigen; Mütter hielten lachende Kinder an der Hand, sie blieben stehen und hörten einen Augenblick aufmerksam auf die dumpf von der Lobaukaserne herübertönenden Gewehrschüsse.

Als Jean am Sonntag abend bei abnehmendem Tageslichte die dunkle Treppe in der Rue des Orties heraufkam, schnürte ihm ein schauerliches Vorgefühl das Herz zusammen. Er trat ein und sah sogleich das unvermeidliche Ende; Maurice lag tot auf dem kleinen Bette; der von Bouroche vorhergesagte Blutsturz hatte ihn erstickt. Rot glitt der Schein der scheidenden Sonne durch das offene Fenster herein; auf dem Tischchen am Kopfende des Bettes brannten bereits zwei Kerzen. Henriette lag in ihren Witwenkleidern, die sie noch nicht ausgezogen hatte, auf den Knien und weinte stumm vor sich hin.

Bei dem Geräusche von Jeans Eintritt hob sie den Kopf und schauderte zusammen, als sie ihn erblickte. Er wollte ganz vernichtet niederstürzen und ihre beide Händen ergreifen, um durch diesen Druck seinen Schmerz mit dem ihrigen zu vereinen. Aber er fühlte, wie ihre kleinen Hände zitterten, wie sich ihr ganzes Wesen schaudernd und voller Abscheu von ihm abwandte, wie sie sich ihm auf ewig entzog. War jetzt nicht alles zwischen ihnen aus? Maurices Grab trennte sie wie eine bodenlose Kluft. Und so konnte auch er nur auf die Knie fallen und ganz leise vor sich hinschluchzen.

Nachdem das Schweigen einige Zeit gedauert hatte, sprach Henriette jedoch zu ihm.

»Ich wandte ihm den Rücken und hielt eine Tasse Brühe, als er mit einemmal einen Schrei ausstieß... Ich konnte nur gerade noch hinstürzen, und er starb, er rief nach mir und er rief nach Ihnen, nach Ihnen auch, wahrend das Blut hervorquoll.«

Ihr Bruder, mein Gott! Ihr Maurice, den sie schon von Geburt an geliebt hatte, der ihr anderes Selbst war, den sie erzogen, errettet hatte! Ihre einzige Liebe, seitdem sie dort in Bazeilles den Körper ihres armen Weiß von Kugeln durchbohrt an der Mauer hatte liegen sehen! So wollte der Krieg ihr also das Herz ganz ausreißen; sie sollte allein m der Welt stehenbleiben, als Witwe ohne jeden Anhalt, ohne irgendein Wesen, das sie liebte.

»Ah, gut Blut!« schrie Jean schluchzend auf, »meine Schuld ist es! Mein lieber Junge, so gern hätte ich meine Haut hingegeben, und nun habe ich ihn wie ein Vieh hingemordet!... Was soll nun aus uns werden? Können Sie mir je verzeihen?«

Ihre Augen trafen sich in diesem Augenblicke, und sie blieben ganz niedergeschmettert von dem stehen, was sie endlich ganz klar darin lesen konnten. Die Vergangenheit stand wieder auf vor ihnen, die einsame Kammer in Remilly, in der sie so traurige und doch so süße Tage verlebt hatten. Er hatte, zunächst unbewußt, dann ganz klar bestimmt seinen alten Traum wieder aufgenommen: das Leben dort unten, ihre Ehe, ein kleines Haus, Ackerboden, genug, um einen Haushalt genügsamer Leute zu ernähren. Jetzt war das zu einem brennenden Wunsche geworden, zu klarer Gewißheit, daß mit einer so zarten, so tätigen, so braven Frau das Leben zu einem wahren Dasein im Paradiese werden müsse. Und sie, die in der keuschen, unbewußten Hingabe ihres Herzens bisher von diesem Traume kaum berührt worden war, sah dies alles jetzt ganz klar, begriff alles mit einem Schlage. Diese ihr so fern liegende Ehe hatte sie selbst auch gewollt, ohne es zu wissen. Das keimende Korn war leise seinen Weg gewandert; sie liebte ihn innig, diesen Mann, dessen Gegenwart sie zuerst nur mit Trost erfüllt hatte. Und ihre Blicke sagten sich das; sie sprachen jetzt nur deshalb ihre Liebe offen aus, weil es ein ewiges Lebewohl galt. Auch dies schreckliche Opfer war noch notwendig, dies letzte Herausreißen; ihr Glück, das ihnen gestern noch erreichbar schien, mußte heute mit allem übrigen in Trümmer gehen, mußte mit dem Blutstrome, der ihren Bruder dahinriß, mit fortströmen.

Jean erhob sich mit einer langen, mühevollen Anstrengung von den Knien.

»Leben Sie wohl!«

Henriette lag regungslos auf den Fliesen.

»Leben Sie wohl!«

Aber Jean war an Maurices Leiche herangetreten. Er blickte ihn an mit seiner hohen Stirn, die jetzt noch höher aussah, mit dem langen, feinen Gesicht, den leeren, früher etwas närrisch blickenden Augen, in denen jetzt alle Narrheit erloschen war. Er hätte ihn gern geküßt, seinen lieben Jungen, wie er ihn so oft genannt hatte, aber er wagte es nicht. Er sah sich ja mit seinem Blute bedeckt und wich vor dem Schrecken des Geschickes zurück. Ach, dieser Tod beim Zusammenbruch einer ganzen Welt! Am letzten Tage, unter den Trümmern der verröchelnden Kommune war auch dies Opfer noch notwendig geworden! Das arme Wesen war dahin, aus Hunger nach Gerechtigkeit in der letzten Zuckung des schwarzen Traumes, der ihn gefaßt hatte, dieser großartigen, ungeheuerlichen Auffassung von der Notwendigkeit der Zerstörung der alten Gesellschaft, vom Brande von Paris, vom Umpflügen und Reinigen des Bodens, damit aus ihm der Musterzustand eines neuen, goldenen Zeitalters hervorsprießen könne.

Voller Angst wandte sich Jean wieder nach Paris um. Zum schönen Beschluß dieses strahlenden Sonntags erhellte die Sonne mit ihren schrägen Strahlen die Riesenstadt mit einem glühendroten Leuchten. Man hätte sagen mögen, eine Sonne von Blut über einem schrankenlosen Meere. Die Scheiben blitzten in Tausenden von Fenstern wie von einem unsichtbaren Hauche entzündet; die Dächer glühten auf wie brennende Kohlenhaufen; gelbe Mauerflächen, hohe Baudenkmäler mit ihrer Rostfarbe flammten mit den tausend Funken eines plötzlich entzündeten Reisigfeuers in der Abendluft empor. War das nicht die Schlußgarbe, der Riesenpurpurstrauß, ganz Paris brennend wie ein mächtiges Reisigbündel, ein uralter, ausgetrockneter Wald, der mit einem Male unter Flämmchen und Funkensprühen in die Luft ging? Die Feuersbrunst dauerte an; mächtige braunrote Rauchwolken stiegen immer noch empor; ein gewaltiges Geräusch war zu hören, vielleicht das letzte Röcheln der in der Lobaukaserne Erschossenen, vielleicht das Vergnügen von Frauen und das Lachen von Kindern, die nach einem hübschen Spaziergange vor einer Weinstube saßen und im Freien aßen. Aus all den geplünderten Häusern und öffentlichen Gebäuden, aus den aufgerissenen Straßen, aus all den Trümmern und Leiden grollte das Leben immer noch empor während des flammenden Unterganges eines königlichen Gestirns, in dessen Glut Paris sich verzehrte.

Nun kam ein sonderbares Gefühl über Jean. Es schien ihm, als erhebe sich beim langsamen Sinken des Tageslichtes über der in Flammen stehenden Stadt bereits ein Strahlenkranz. Wohl war dies das Ende von allem, die Erbitterung des Schicksals, ein Zusammenströmen von so viel Unheil, wie es noch nie ein Volk erlebt hatte: die ewigen Niederlagen, der Verlust der Provinzen, die Zahlung der Milliarden, der schrecklichste aller zum Schluß in Blut ertränkten Bürgerkriege, Leichen und Trümmer nach ganzen Stadtvierteln, kein Geld mehr, keine Ehre mehr, eine ganze Welt, die wieder aufgebaut werden mußte! Sein Herz blieb zerrissen darin zurück; Maurice, Henriette, sein zukünftiges glückliches Leben riß der Sturm mit fort. Und doch stieg jenseits dieses noch brüllenden Ofens eine lebhafte Hoffnung wieder empor auf dem Hintergrunde eines mächtigen, ruhigen Himmels von königlicher Klarheit. Das war die sichere Verjüngung der ewigen Natur, die ewige Menschheit, die verheißene Wiedergeburt für den, der hilft und arbeitet, der Baum, der mächtige junge Schösse treibt, nachdem man ihm einen verrotteten Ast abgeschnitten hat, dessen giftiger Saft alle Blätter gelb werden ließ.

Schluchzend wiederholte Jean:

»Leben Sie wohl!«

Henriette hob den Kopf nicht; ihr Gesicht blieb zwischen ihren gefalteten Händen verborgen.

»Leben Sie wohl!«

Das verwüstete Feld lag brach, das ausgebrannte Haus lag darnieder; und als der Allerniedrigste und am tiefsten vom Schmerz Erfüllte zog Jean der Zukunft entgegen, zu der großen, rauhen, Arbeit, ein ganzes Frankreich wieder aufzubauen.


 << zurück