Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Kompanie Beaudouin lag um zehn Uhr morgens auf der Algierhochebene immer noch im Kohl, in demselben Felde, aus dem sie sich seit dem Morgen nicht gerührt hatte. Das Kreuzfeuer der Batterien vom Hattoy und von der Halbinsel von Iges hatte sich an Heftigkeit noch verdoppelt und noch zwei ihrer Leute getötet; aber es kam kein Befehl zum Vorrücken: sollten sie den ganzen Tag da liegenbleiben und sich beschießen lassen, ohne selbst zu fechten?
Die Leute hatten nicht einmal mehr den Trost, ihre Chassepots losbrennen zu dürfen. Es war Hauptmann Beaudouin endlich gelungen, das Feuer zu stopfen, die wütende, unnütze Schießerei auf das kleine Holz ihnen gegenüber, in dem scheinbar kein Preuße dringeblieben war. Der Sonnenschein wurde niederdrückend, die Leute verbrannten so auf der Erde, unter dem flammenden Himmel hingestreckt.
Als Jean sich umdrehte und sah, daß Maurice den Kopf mit der Backe gegen den Erdboden hatte fallen lassen und seine Augen geschlossen waren, wurde er unruhig. Er war sehr blaß, sein Gesicht unbeweglich.
Aber Maurice war lediglich eingeschlafen. Die ermattende Spannung hatte ihn überwältigt, trotzdem der Tod von allen Seiten um ihn herumflog. Ungestüm fuhr er auf, seine weit geöffneten Augen schienen ganz ruhig, aber sogleich trübten sie sich wieder aus Entsetzen vor der Schlacht. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte. Es schien ihm, als käme er aus einem unendlichen, köstlichen Nichts.
»Sieh, wie spaßhaft, ich habe geschlafen,« sagte er leise; »ach! das hat mir gutgetan.«
Tatsächlich fühlte er in den Schläfen und in der Seite den schmerzhaften Druck jetzt weniger, dies Einschnüren, mit der die Furcht den Leuten die Knochen bricht. Er scherzte über Lapoulle, der seit Chouteaus und Loubets Verschwinden sich sehr besorgt um sie zeigte und davon redete, er wollte sie suchen. Ein prächtiger Gedanke, sich so hinter einem Baum in Sicherheit zu bringen und eine Pfeife zu rauchen! Pache tat so, als glaubte er, sie wären auf dem Verbandplatz zurückbehalten worden, weil es an Krankenträgern fehle. Doch auch kein bequemes Geschäft, so im Feuer die Verwundeten aufsammeln! Dann beunruhigte ihn sein heimatlicher Aberglaube, und er setzte hinzu, das brächte Unglück, wenn man Tote anfaßte: man stürbe selbst davon.
»Schweigen Sie doch still, Gottsdonnerwetter!« schrie Leutnant Rochas. »Wer stirbt denn da gleich?«
Oberst von Vineuil auf seinem großen Pferde wandte den Kopf. Seit dem Morgen lächelte er zum erstenmal. Dann verfiel er wieder in seine Unbeweglichkeit und wartete gänzlich unempfindlich im Granatenregen auf weitere Befehle.
Maurice beobachtete jetzt aufmerksam die Träger, und er verfolgte ihr Suchen in den Geländefalten. Hinter einem Gehölz am Ende des Hohlweges mußte ein fliegender Verbandplatz als erste Hilfe eingerichtet sein, dessen Bedienung jetzt die Hochebene abzusuchen begann. Rasch hatten sie ein Zelt aufgeschlagen und aus einem Gepäckwagen das nötige Arbeitszeug hervorgeholt, ihre Werkzeuge, Hilfsgeräte und Leinen für schleunige Verbände, ehe sie die Verwundeten nach Sedan hereinbrachten, was nach Maßgabe der Fuhrwerke geschah, die man sich verschaffen konnte und die bald zu fehlen begannen. Es waren nur Hilfsärzte dort. Vor allen die Krankenträger lieferten hier Beweise hartnäckigen, ruhmlosen Heldentums. In ihrer grauen Kleidung mit dem roten Kreuz auf Mütze und Armbinde konnte man überall sehen, wie sie sich vorsichtig und ruhig durch den Geschoßhagel bis zu den Gefallenen vorschoben. Auf den Knien krochen sie vorwärts und suchten Gräben, Hecken und jeden andern Vorteil des Geländes auszunutzen, ohne sich irgendwie prahlerisch unnötig auszusetzen. Sobald sie dann jemand am Boden fanden, begann ihr harter Beruf; denn viele waren ohnmächtig geworden, und sie mußten die Verwundeten von den Toten unterscheiden. Einige lagen mit dem Gesicht auf der Erde in einer Blutlache, dem Ersticken nahe; andere hatten den Schlund voller Schmutz, als ob sie in die Erde hätten beißen wollen; wieder andere lagen haufenweise durcheinander, mit zusammengezogenen Armen und Beinen und halb zerrissener Brust. Sorgfältig machten die Träger sie los und nahmen die noch Atmenden mit, nachdem sie sie ausgestreckt und ihnen den Kopf unterstützt hatten, den sie so gut wie möglich säuberten. Jeder von ihnen hatte eine Feldflasche mit frischem Wasser bei sich, mit dem sie äußerst geizig umgingen. Häufig konnte man sie minutenlang knien sehen, wenn sie versuchten, einen Verwundeten wieder zu beleben, und darauf warteten, daß er die Augen öffnete.
Etwa fünfzig Meter nach links konnte Maurice einen beobachten, der die Verwundung eines kleinen Soldaten ausfindig zu machen suchte, aus dessen linkem Ärmel ein blutiger Faden tropfenweise heraussickerte. Es war eine starke Blutung, aber der Mann mit dem roten Kreuz fand sie schließlich doch und stillte sie durch Zusammendrücken der Schlagader. In dringenden Fällen leisteten sie eine Art erste Hilfe, verhüteten bei Brüchen falsche Bewegungen, schienten die Gliedmaßen und machten sie unbeweglich, so daß sie die Leute ohne Gefahr wegbringen konnten. Dies Wegbringen war dann ihre Hauptaufgabe: sie unterstützten die, die noch gehen konnten, trugen andere wie kleine Kinder auf den Armen oder auch wohl Huckepack auf dem Rücken, während sie ihre Arme sich selbst um den Hals legten; oder auch sie bildeten je nach der Schwierigkeit zu zweien, dreien, vieren einen Sitz, indem sie ihre Hände verschränkten, oder trugen sie an Schultern und Beinen fort. Außer den ordnungsmäßigen Tragbahren wandten sie auch manche kluge Erfindung an und stellten Bahren aus mit Hosenträgern zusammengebundenen Gewehren her. Überall waren sie auf der flachen, von Granaten umgewühlten Ebene zu sehen, wie sie einzeln oder in Gruppen ihre Last mit gesenktem Kopfe fortbrachten, den Boden mit dem Fuße untersuchten, vorsichtige, bewundernswerte Helden.
Während Maurice rechts von sich einen beobachtete, einen mageren, schmächtigen Burschen, wie er einen schweren Sergeanten wegbrachte, der ihm mit zerschmetterten Beinen am Halse hing, so daß er wie eine Arbeiterameise aussah, die ein zu großes Getreidekorn fortschleppt, da sah er sie beide über Kopf gehen und in der Sprengwolke einer Granate verschwinden. Als der Rauch sich verzogen hatte, erschien der Sergeant auf dem Rücken liegend, ohne eine neue Verwundung, aber der Träger lag mit aufgerissener Seite da. Da kam eine andere fleißige Ameise heran, wendete ihren toten Kameraden um und untersuchte ihn, nahm dann den Verwundeten an ihren Hals und brachte ihn fort.
Jetzt neckte Maurice Lapoulle wieder.
»Na, wenn das Geschäft dir besser gefällt, dann geh' doch hin und hilf ihnen!«
Seit ein paar Augenblicken wüteten die Batterien von Saint-Menges mit zunehmendem Geschoßhagel; schließlich ging Hauptmann Beaudouin, der bis dahin fortwährend nervös vor seiner Kompanie auf und ab gegangen war, auf den Oberst zu. Es wäre doch ein Jammer, den Mut der Leute derart stundenlang zu vergeuden, ohne sie zu verwenden.
»Ich habe keinen Befehl«, entgegnete der Oberst voller Gemütsruhe.
Sie sahen General Douay abermals von seinem Stabe gefolgt vorbeigaloppieren. Er hatte gerade General Wimpffen wieder getroffen, der ihn flehentlich bat, auszuhalten, und das hatte er geglaubt zugestehen zu können, aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß der Kalvarienberg von Illy zu seiner Rechten verteidigt werde. Ginge die Stellung von Illy verloren, so übernehme er keine weitere Verantwortung, denn der Rückzug müsse ihm zum Verhängnis werden. General Wimpffen erklärte, daß bereits Truppen des ersten Korps im Begriff seien, den Kalvarienberg zu besetzen; tatsächlich sahen sie fast im selben Augenblick ein Zuavenregiment sich dort einnisten, und nun fühlte sich General Douay wieder sicherer und gab seine Einwilligung, die Division Dumont dem arg bedrängten ersten Korps zu Hilfe zu schicken. Als er aber eine Viertelstunde später die Festigkeit seines linken Flügels aufs neue feststellen wollte, schrie er laut auf, als er in die Höhe sah und den Kalvarienberg leer fand: kein Zuave mehr da, die Hochebene, die das Höllenfeuer der Batterien von Fleigneur übrigens auch unhaltbar machte, geräumt. Verzweifelt sah er das Unglück nun kommen und eilte zu seinem rechten Flügel hinüber, aber nur, um in die Flucht der Division Dumont hineinzugeraten, die sich in kopfloser Auflösung, mit den Truppen des ersten Korps durchsetzt, zurückzog. Dieses letztere hatte nach seinem Rückzug am Morgen die verlorenen Stellungen nicht wieder nehmen können und hatte Daigny dem zwölften sächsischen Korps und Givonne der preußischen Garde überlassen müssen, wobei es gezwungen wurde, sich nördlich unter dem Feuer der überall auf den Höhenzügen am ganzen Talgrunde entlang aufgestellten feindlichen Batterien durch das Garennegehölz hinaufzuziehen. Der schreckliche Kreis von Eisen und Flammen verengerte sich, ein Teil der Garde setzte seinen Marsch auf Illy von Osten nach Westen fort, indem er die Höhen umging; hinter dem elften Korps dagegen, das sich Saint-Menges bemächtigt hatte, setzte das fünfte seinen Weg von Westen nach Osten fort, durchschritt Fleigneur und schob seine Geschütze mit geradezu unverschämter Tollkühnheit unaufhaltsam weiter vor, als sei es von dem Unverstand und der Ohnmacht der französischen Truppen so überzeugt, daß es gar nicht erst die Unterstützung seiner Infanterie abzuwarten brauche. Es war Mittag, der ganze Horizont stand in Flammen und lenkte sein donnerndes Kreuzfeuer auf das siebente und erste Korps.
Während nun die feindliche Artillerie den entscheidenden Angriff auf den Kalvarienberg vorbereitete, entschloß sich General Douay, einen letzten Versuch zu seiner Wiedereroberung zu unternehmen. Er traf seine Anordnungen und warf sich persönlich den Flüchtlingen der Division Dumont entgegen, so daß es ihm auch wirklich gelang, eine Abteilung zu bilden, die er wieder auf die Hochebene jagte. Ein paar Minuten hielt sie sich hier tapfer; aber die Kugeln pfiffen so dicht und ein derartiger Gewittersturm von Granaten fegte, über die nackte, baumlose Ebene, daß sich sofort eine Panik bemerkbar machte und die Leute wie vom Gewitter überfallenes Stroh über die Abhänge herunterrollten. Der General aber versteifte sich auf sein Vorhaben und führte neue Regimenter vor.
Ein im Galopp vorbeijagender Meldereiter rief dem Oberst von Vineuil in dem tosenden Lärm einen Befehl zu. Schon richtete der Oberst sich mit glühendem Gesicht in den Bügeln auf; und mit einer mächtigen Bewegung wies er auf den Kalvarienberg:
»Endlich kommen wir dran, Kinder! ... Vorwärts, dort hinauf!«
Die 106er fühlten sich hingerissen und setzten sich in Bewegung. Die Kompanie Beaudouin war als eine der ersten aufgesprungen; die Leute scherzten und meinten, sie wären ganz steif vor so viel Erde in den Gelenken. Nach den ersten Schritten aber mußten sie sich in einen zufällig vorgefundenen Laufgraben werfen, so lebhaft wurde das Feuer. Mit gebogenen Knien ging es weiter.
»Achtung, mein Junge!« sagte Jean mehrfach zu Maurice gewandt, »dies ist der richtige Scheuersack ... Laß die Nasenspitze nicht herausgucken, sie schlagen sie dir sicher kaputt ... Und nimm die Knochen gehörig in acht, wenn du sie nicht hier liegen lassen willst. Wer diesmal hier rauskommt, der ist ein ordentlicher Kerl.«
Bei dem Sausen und dem Geschrei der Masse, das ihm den Kopf anfüllte, konnte Maurice ihn kaum verstehen. Er wußte gar nicht mehr, ob er Angst habe, und lief mitgerissen, ohne jeden persönlichen Willen, in dem Galopp der übrigen mit, nur in dem einen Gedanken, es möchte gleich zu Ende sein. Er war so sehr zu einem Wassertropfen in diesem dahinbrausenden Strome geworden, daß, als sich am Ende des Laufgrabens vor dem nackten, nun zu überschreitenden Gelände ein Zurückstauen bemerkbar machte, er sich sofort von der allgemeinen Panik erfaßt fühlte und drauf und dran war, die Flucht zu ergreifen. Der Naturtrieb in ihm war entfesselt, seine Muskeln lehnten sich auf und gaben auch der unbestimmtesten Eingebung nach.
Schon wandten sich einzelne Leute um, als der Oberst sich ihnen entgegenwarf.
»Kinder, hört mal, ihr werdet mir doch den Schmerz nicht machen und euch wie Feiglinge benehmen ... Denkt daran, daß die 106er noch nie zurückgegangen sind und daß ihr die ersten sein würdet, die unsere Fahne durch den Schmutz zögen ...«
Er trieb sein Pferd an und versperrte den Flüchtlingen den Weg; für jeden fand er ein Wort und sprach zu ihnen von Frankreich mit einer Stimme, in der es von Tränen zitterte.
Leutnant Rochas fühlte sich derart gepackt, daß er in furchtbaren Zorn geriet und mit erhobenem Degen wie mit einem Knüppel auf die Leute loshieb.
»Dreckschweine, mit Fußtritten in den Hintern werde ich euch da hinaufbringen! Wollt ihr gehorchen, oder ich breche dem ersten, der sich umdreht, den Hals!«
Aber diese Heftigkeit, dies Insfeuerbringen der Soldaten mit Fußtritten war dem Oberst zuwider.
»Nein, nein, Herr Leutnant, sie gehen schon mit mir ... Nicht wahr, Kinder, ihr werdet doch nicht euren alten Oberst sich ganz allein mit den Preußen herumschlagen lassen? ... Vorwärts, dort hinauf!«
Wieder ging er voran, und tatsächlich folgten ihm alle; er hatte in so prächtig väterlicher Weise zu ihnen gesprochen, daß sie ihn nicht im Stiche lassen konnten, wenn sie sich nicht wie Nichtswürdige benehmen wollten. Er ritt übrigens, auf seinem großen Gaul ganz allein über die kahlen Felder, während die Leute sich zerstreuten und in Schützenlinien unter Ausnutzung jeder vorhandenen Deckung vorgingen. Das Gelände stieg an, und sie hatten fünfhundert Meter Stoppelacker und Felder mit roten Rüben vor sich, ehe sie an den Kalvarienberg herankamen. Anstatt des vorbildlichen Angriffs, wie er im Manöver vorkommt, sah man die Soldaten bald nur noch mit gekrümmtem Rücken über die Erde dahingleiten; einzeln oder in kleinen Gruppen kletterten sie mit plötzlichen Insektensprüngen vorwärts, und geschickt und gerissen gewannen sie den Gipfel. Die feindlichen Batterien mußten sie gesehen haben, denn jetzt wühlten Granaten die Erde in solcher Anzahl auf, daß ihr Bersten gar nicht mehr aufhörte. Fünf Leute wurden getötet, ein Leutnant wurde mitten durchgerissen.
Maurice und Jean hatten das Glück, eine Hecke zu finden, hinter der sie weiterrennen konnten, ohne gesehen zu werden. Einem ihrer Kameraden wurde indessen die Schläfe von einer Kugel durchbohrt und er fiel ihnen zwischen die Beine.
Sie mußten ihn mit dem Fuße beiseite schieben. Aber Tote wurden gar nicht mehr gezählt, es wurden zu viele. Schließlich berührte sie der Schrecken des Schlachtfeldes mit all den furchtbaren Todeskämpfen gar nicht mehr; sie sahen einen Verwundeten, der seine Eingeweide brüllend zurückhielt, ein Pferd schleppte sich mit zerbrochenen Schenkeln weiter. Sie litten nur unter der erdrückenden Hitze der Mittagssonne auf ihren Schultern.
»Hab' ich einen Durst!« stotterte Maurice. »Ich glaube, ich habe Ruß in der Kehle. Merkst du nicht auch diesen Brandgeruch, wie von verbrannter Wolle?«
Jean nickte mit dem Kopfe.
»Bei Solferino roch es genau so. Vielleicht riecht der Krieg so ... Wart', ich habe noch etwas Branntwein, wir wollen einen Schluck nehmen.«
Sie blieben eine Minute still hinter der Hecke stehen. Aber anstatt sie zu beruhigen, verbrannte der Branntwein ihnen nur den Magen. Dieser Rußgeschmack im Munde war zum Verzweifeln. Sie kamen geradezu um vor Erschöpfung und hätten zu gern von dem halben Brot abgebissen, das Maurice im Tornister hatte; allein wie war das möglich? Hinter ihnen trafen immer mehr Leute ein und drängten sie weiter vorwärts. Mit einem Satze kamen sie endlich über den letzten Teil des Abhanges. Nun waren sie oben, unmittelbar am Fuße des alten, von Wind und Regen zernagten Kreuzes zwischen den beiden mageren Linden.
»Ha, gut Blut, da sind wir!« rief Jean. »Aber die Hauptsache ist nun, daß wir hier auch bleiben!«
Er hatte recht, der Platz war nicht gerade angenehm, wie Lapoulle mit klagender Stimme zum Vergnügen der ganzen Kompanie bemerkte. Von neuem streckten sich alle in einem Stoppelfelde hin; aber trotzdem wurden sofort drei Leute getötet. Da oben blies geradezu ein entfesselter Orkan; die Geschosse kamen so zahlreich von Saint-Menges, Fleigneur und Givonne herüber, daß die Erde wie unter einem heftigen Gewitterregen zu stäuben schien. Augenscheinlich war die Stellung nicht lange zu halten, wenn nicht so bald wie möglich Artillerie zur Unterstützung der so tollkühn eingesetzten Truppe erschien. Es hieß, General Douay hätte zwei Batterien Reserveartillerie Befehl zum Vorgehen gegeben; alle Sekunden drehten sich die Leute ängstlich in Erwartung der Geschütze um, die nicht kommen wollten.
»Lächerlich ist das ja, lächerlich!« sagte Hauptmann Beaudouin immer wieder, nachdem er sein hastiges Hin- und Hergehen wieder aufgenommen hatte. »So jagt man doch kein Regiment in die Luft, ohne es sofort zu unterstützen.«
Als er dann links von sich eine Geländefalte entdeckte, rief er Rochas zu:
»Sagen Sie, Herr Leutnant, die Kompanie könnte sich doch da niederlegen.«
Rochas stand unbeweglich und zuckte die Achseln.
»Oh, Herr Hauptmann, hier oder da, einerlei, die Geschichte ist ganz dieselbe. Am besten ist's noch, man rührt sich nicht von der Stelle.
Nun wurde der Hauptmann Beaudouin, der sonst nie fluchte, wütend.
»Aber mein Gott nochmal, wir bleiben hier ja alle! Wir brauchen uns doch nicht derartig vernichten lassen!«
Dabei blieb er und wollte sich persönlich davon überzeugen, ob die von ihm angegebene Stellung nicht besser sei. Aber kaum hatte er zehn Schritte getan, als er plötzlich in einer Sprengwolke verschwand, die ihm das rechte Bein zerschmetterte. Er fiel auf den Rücken nieder und stieß einen scharfen Schrei aus wie eine Frau in der Überraschung.
»Das war sicher,« murmelte Rochas. »Hat keinen Zweck, so viel herumzulaufen; was einer wegkriegen soll, das kriegt er schon.«
Ein paar Leute der Kompanie erhoben sich, als sie ihren Hauptmann fallen sahen; und als er sie zu Hilfe rief und sie bat, ihn wegzubringen, lief schließlich Jean auch hin, und Maurice folgte ihm unmittelbar.
»Um des Himmels willen, Freunde, laßt mich nicht im Stiche und bringt mich zum Verbandplatz.«
»O ja, Herr Hauptmann, das ist nicht gerade so einfach ... Aber wir können es ja mal versuchen ...«
Sie hatten schon verabredet, wo sie ihn anfassen wollten, als sie hinter der Hecke, an der sie entlanggekrochen waren, zwei Träger sahen, die offenbar auf Arbeit warteten. Sie gaben ihnen ein kräftiges Zeichen, das sie dann auch schließlich heranbrachte. Es konnte seine Rettung werden, wenn sie ohne weitere übele Abenteuer den Verbandplatz erreichten. Aber der Weg war lang und der Eisenhagel nahm noch zu.
Als die Träger, nachdem sie das Bein fest umwickelt hatten, um es ruhig zu halten, den auf ihren verschlungenen Händen sitzenden Hauptmann davontrugen, der jedem von ihnen einen Arm um den Nacken gelegt hatte, kam der von dem Vorfall benachrichtigte Oberst von Vineuil heran, indem er sein Pferd antrieb. Er hatte den jungen Mann, den er sehr liebte, seit seinem Austritt aus Saint-Cyr gekannt und war jetzt sehr bewegt.
»Mein lieber Junge, seien Sie tapfer ... Es wird wohl nichts sein, sie werden Sie schon retten ...« Der Hauptmann machte eine Bewegung, als ob er sich erleichtert und wieder ganz mutig fühlte.
»Nein, nein, es ist aus, es ist mir auch lieber so. Nur das Warten auf das Unvermeidliche bringt einen zur Verzweiflung.«
Die Krankenträger brachten ihn fort und hatten das Glück, ohne Zwischenfall die Hecke zu erreichen, an der sie nun mit ihrer Last schleunigst entlangliefen. Als der Oberst sie hinter der letzten Baumgruppe verschwinden sah, gab er einen Seufzer der Erleichterung von sich.
»Aber Herr Oberst sind ja selbst auch verwundet!« rief Maurice plötzlich.
Er hatte gesehen, daß der linke Stiefel seines Vorgesetzten mit Blut bedeckt war. Der Hacken mußte abgerissen sein, und ein Stück des Schaftes war in das Fleisch eingedrungen.
Herr von Vineuil bog sich ruhig im Sattel seitwärts und sah seinen Fuß, der ihm brennend am Bein hängen mußte, einen Augenblick an.
»Ja, ja,« sagte er leise. »Das habe ich eben weggekriegt ... Das macht nichts, ich kann mich noch auf dem Gaule halten ...«
Und indem er an seinen Platz an der Spitze des Regiments zurückkehrte, setzte er hinzu:
»Wenn man beritten ist, geht's immer noch, solange man sich auf dem Gaule halten kann.«
Endlich kamen nun die beiden Batterien Reserveartillerie heran. Für die ängstlich gewordenen Leute war das ein Riesentrost, als bedeuteten diese Geschütze für sie einen rettenden Wall, den Blitz, der nun die feindlichen Geschütze da hinten zum Schweigen bringen würde. Der genaue Aufmarsch der Batterien in ihre Gefechtsstellungen war übrigens prachtvoll, wie jedes Geschütz von seinem Munitionswagen gefolgt wurde, die Stangenreiter auf den Sattelpferden saßen und die Handpferde am Zügel führten, wie die Bedienung auf den Protzkasten saß und Unteroffiziere und Wachtmeister auf den vorgeschriebenen Plätzen heransausten. Man hätte glauben sollen, sie wären bei einer Parade und dächten nur daran, ihren Abstand innezuhalten, als sie so in tollster Gangart über die Stoppelfelder mit dem dumpfen Tosen eines Gewitters herankamen.
Maurice, der sich wieder in eine Furche gelegt hatte, stand auf und rief Jean begeistert zu:
»Sieh, die Batterie, die sich da drüben links aufstellt, das ist Honoré seine. Ich kenne die Leute wieder.«
Jean hatte ihn bereits mit der umgekehrten Hand wieder zu Boden geworfen.
»Bleib' doch liegen und stell' dich tot!«
Aber alle beide legten sie die Backe an die Erde und verloren die Batterie nicht mehr aus den Augen; sie nahmen mächtigen Anteil an ihren Bewegungen, und ihr Herz schlug höher, als sie die mutige, ruhige Geschäftigkeit der Leute sahen, von der sie noch den Sieg erhofften.
Die Batterie kam plötzlich links auf einer kahlen Anhöhe zum Halten; es war Sache einer Minute, die Bedienung sprang von den Protzkasten, hakte die Protzen ab, die Stangenreiter brachten die Geschütze in Stellung und ließen ihre Tiere einen Halbkreis machen, um sie fünfzehn Meter weiter nach hinten zu bringen, wo sie unbeweglich, mit dem Gesicht dem Feinde zu, halten blieben. Schon waren die sechs Geschütze in weiten Abständen voneinander gerichtet; sie standen zu je drei unter dem Befehl eines Leutnants, alle sechs zusammen aber unter dem eines langen, mageren Hauptmannes, der die Ebene verdrießlich überschaute. Nachdem er rasch seine Berechnung gemacht hatte, hörten sie ihn rufen:
»Visier sechzehnhundert Meter!«
Das Ziel mußte wohl die preußische Batterie links von Fleigneur sein, die im Gebüsch verborgen stand und mit ihrem furchtbaren Feuer den Kalvarienberg von Illy unhaltbar machte.
»Siehst du,« fing Maurice, der nicht schweigen konnte, seine Erklärung wieder an, »Honorés Geschütz steht in der mittleren Abteilung. Da beugt er sich mit dem Richtkanonier vor ... Das ist der kleine Louis, der Richtkanonier: in Vouziers haben wir doch einen mit ihnen genommen, weißt du noch? ... Und da hinten links der Stangenreiter, der so steif auf seinem Sattelpferde sitzt, dem prachtvollen Fuchs, das ist Adolf ...«
Das Geschütz mit seinen sechs Mann Bedienung und dem Wachtmeister, ferner der Protze und ihren vier Pferden und den beiden Fahrern, weiter weg dem Munitionswagen mit seinen sechs Pferden und den drei Fahrern, dann dem Vorratswagen und der Schmiede, dieser ganze Schwanz von Menschen, Tieren und Geräten erstreckte sich über annähernd hundert Meter in einer geraden Linie nach rückwärts; dabei waren die Ersatzmannschaften, die Aushilfswagen und die Pferde und Mannschaften, die zum Stopfen vorkommender Lücken bestimmt waren, noch gar nicht mitgezählt; sie hielten rechts, um der Schußlinie des Feuers nicht unnötig ausgesetzt zu sein. Honoré beschäftigte sich mit dem Laden seines Geschützes. Die beiden mittleren Bedienungsmannschaften kamen schon mit der Kartusche und dem Geschoß wieder von der Protze zurück, bei der der Unteroffizier und der Feuerwerker aufpaßten; und sofort führten die die Mündung bedienenden beiden Leute erst die Kartusche ein, die in Serge eingehüllte Pulverladung, die sie sorgfältig mit dem Ladestock hineinstießen, und dann die Granate selbst, deren Führungsringe in den Zügen knirschten, hinterher. Der Richtkanonier legte rasch das Pulver mit einem Stoß der Kartuschenadel bloß und steckte die Schlagröhre ins Zündloch. Und Honoré, der diesen ersten Schuß selbst abfeuern wollte, lag halb über den Lafettenschwanz hingebeugt; er handhabte die Stellschraube, um die Schußweite einzustellen, und gab mit fortgesetzten kurzen Handbewegungen dem Richtkanonier, der hinten mit seinem Hebel das Geschütz unmerklich mehr nach rechts oder nach links wendete, die Richtung an.
»So muß es richtig sein«, sagte er endlich und stand auf.
Der Hauptmann hatte seinen langen Körper vornübergebeugt und den Aufsatz geprüft. Bei jedem Geschütz stand der zweite Richtkanonier mit der Abzugschnur in der Hand bereit, um die Schlagröhre abzuziehen, die gezahnte Schneide, die den Zündsatz in Brand steckt. Nun ertönte langsam der Befehl nach Nummern:
»Erstes Geschütz, Feuer! ... Zweites Geschütz, Feuer! ...
Die sechs Schüsse gingen los, die Geschütze liefen zurück und wurden wieder vorgebracht, während die Wachtmeister feststellten, daß ihr Feuer viel zu kurz gegangen war. Sie stellten es wieder ein, und der Vorgang wiederholte sich in derselben Weise, und gerade diese langsame Genauigkeit, diese kaltblütig verrichtete mechanische Arbeit hielt den Mut der Leute hoch. Das Geschütz, das Tier, das sie liebten, versammelte sie wie eine kleine, durch eine gemeinsame Beschäftigung geeinigte Familie um sich. Es war das Band, der einigende Gedanke, alles war nur für das Geschütz da, der Munitionswagen, all das übrige Fuhrwerk, die Pferde, die Menschen. Von ihm ging der starke Zusammenhalt der ganzen Batterie aus, die Festigkeit und die Ruhe eines gut geführten Haushaltes.
Laute Zurufe der 106er hatten die erste Salve begrüßt. Endlich würde nun den preußischen Geschützen das Maul gestopft werden! Aber die Enttäuschung folgte unmittelbar, als sie sahen, daß ihre Granaten unterwegs liegenblieben oder meistens schon in der Luft krepierten, ehe sie das Gestrüpp da hinten erreichten, in dem sich die feindliche Artillerie verbarg.
»Honoré sagt, gegen seins wären die andern Geschütze Klötze ...« fing Maurice wieder an. »Ach, mit seinem möchte er am liebsten schlafen, so eins gibt es gar nicht noch mal! Sieh' mal, wie er mit ihm liebäugelt und wie er es auswischen läßt, damit es nicht zu heiß wird.«
So scherzte er mit Jean, und beide wurden infolge des schönen, ruhigen Mutes der Artilleristen wieder vergnügt. Aber die preußischen Batterien hatten sich mit drei Schüssen eingegabelt: erst ging ihr Feuer zu weit, dann aber wurde es so genau, daß ihre Granaten auf die französischen Geschütze fielen; diese dagegen konnten noch immer ihr Ziel nicht erreichen, so sehr sie sich auch bemühten, ihre Reichweite zu vergrößern. Einer von Honorés Bedienungsmannschaften wurde getötet, der links an der Mündung. Der Körper wurde zur Seite geschoben und der Dienst ging mit derselben sorgfältigen Regelmäßigkeit weiter, ohne irgendwie rascher zu werden. Von allen Seiten regnete es nun Geschosse und Einschläge; aber bei jedem Geschütz gingen die Bewegungen in derselben schulmäßigen Weise vor sich, Kartusche und Granate wurden eingeführt, der Schuß eingestellt, der Aufsatz gerichtet, die Schnur abgezogen, die Räder wieder vorgebracht, als nähme diese Arbeit die Leute so sehr in Anspruch, daß sie darüber Hören und Sehen vergäßen.
Aber was Maurice vor allem in Erstaunen versetzte, war die Haltung der Fahrer, die fünfzehn Meter weiter hinten, das Gesicht dem Feinde zugekehrt, steif auf ihren Gäulen saßen. Da saß Adolf mit seinem breiten Brustkasten und dem mächtigen blonden Schnurrbart in seinem roten Gesicht; es gehörte sicher ein tüchtiger Teil Mut dazu, nicht einmal mit den Augen zu zwinkern, wenn sie so sahen, wie die Granaten genau auf sie zuflogen und sie sich nicht mal auf die Daumen beißen durften, um sich etwas abzulenken. Die Bedienungsmannschaften hatten doch was, woran sie denken konnten; die Fahrer dagegen sahen nur den Tod vor sich und hatten vollste Muße, über ihn nachzudenken und ihn zu erwarten. Sie mußten so dem Feinde zugekehrt stehen, weil, wenn sie umgekehrt gestanden hätten, ein unwiderstehlicher Drang zur Flucht Menschen und Tiere hätte mitreißen können. Wenn man die Gefahr sieht, hält man sie schon aus. Es gibt kein unbekannteres und größeres Heldentum.
Wieder wurde einem Manne der Kopf abgerissen; vor einem Munitionswagen röchelten zwei Pferde mit offenem Bauche, und das feindliche Feuer blieb so mörderisch, daß die ganze Batterie niedergekämpft worden wäre, wenn sie sich darauf versteift hätte, in dieser Stellung zu bleiben. Trotz der Unannehmlichkeiten eines Stellungswechsels mußte sie aber diesem schrecklichen Feuer aus dem Wege gehen. Der Hauptmann zögerte nicht länger und befahl:
»Protzen vor!«
Der gefährliche Vorgang vollzog sich mit blitzähnlicher Schnelligkeit: wieder beschrieben die Fahrer ihren Halbkreis und brachten die Protzen heran, die die Kanoniere mit den Geschützen zusammenhakten. Bei dieser Bewegung aber boten sie eine breitere Zielfläche, die der Feind mit verdoppeltem Feuer ausnutzte. Wieder blieben drei Leute liegen. In scharfem Trabe ging nun die Batterie davon und beschrieb einen Kreisbogen zwischen den Feldern, um fünfzig Meter weiter rechts auf einer kleinen ebenen Fläche an der andern Seite der 106er wieder in Stellung zu gehen. Die Geschütze protzten ab, die Fahrer hielten wieder dem Feinde zugekehrt, und das Feuer ging ohne Unterbrechung weiter mit einer Heftigkeit, daß der Erdboden nicht aufhörte zu zittern.
Diesmal schrie Maurice auf. Abermals hatten sich die preußischen Batterien mit drei Schüssen eingeschossen, und ihre dritte Granate fiel genau auf Honorés Geschütz. Sie sahen, wie der vorstürzte und mit zitternder Hand die frische Verletzung betastete; eine ganze Ecke war aus der Bronzemündung herausgeschlagen. Aber es konnte wieder geladen weiden, und die Einstellung nahm ihren Fortgang, nachdem die Räder vom Körper eines zweiten Mannes der Bedienungsmannschaft befreit waren, dessen Blut die Lafette bespritzt hatte.
»Nein, der kleine Louis ist es nicht,« fuhr Maurice in Gedanken ganz laut fort. »Da richtet er sie ja schon wieder; aber er muß auch verwundet sein, denn er kann nur noch den linken Arm gebrauchen ... Ach! der kleine Louis, der mit Adolf so nett zusammenlebte, und sie hatten ausgemacht, daß der Mann zu Fuß, trotzdem er der Gebildetere war, der ergebene Knecht des Fahrers als des Berittenen sein müßte ...«
Jean, der ruhig dalag, unterbrach ihn mit einem Angstschrei:
»Das halten sie niemals aus, die Geschichte geht schief!«
Tatsächlich war diese zweite Stellung in fünf Minuten ebenso unhaltbar geworden wie die erste. Die Geschosse schlugen mit derselben Genauigkeit ein. Eine Granate zerschmetterte ein Geschütz und tötete einen Leutnant und zwei Mann. Kein Schuß ging fehl; es kam so weit, daß, wenn sie dort noch länger blieben, kein Mann und kein Geschütz übrigbleiben konnte. Vernichtung fegte alles fort.
Da ertönte der Befehl des Hauptmanns zum zweitenmal:
»Protzen vor!«
Wieder ging die Geschichte los, die Fahrer sausten im Halbkreise heran, damit die Kanoniere die Geschütze aufprotzen könnten. Aber diesmal durchbohrte ein Sprengstück Louis während des Aufprotzens die Kehle und riß ihm den Kinnbacken fort, so daß er über den Lafettenschwanz fiel, den er gerade anheben wollte. Als Adolf herankam, ging gerade im Augenblick, wo die Bespannung breitseits stand, eine wütende Salve los: mit zerrissener Brust und weit geöffneten Armen stürzte er vornüber. Mit einer letzten Zuckung umfaßte er den andern, und so blieben die beiden in dieser Umarmung, schrecklich verzerrt, auch im Tode verheiratet.
Trotzdem ihre Pferde getötet waren und trotz all der Unordnung, die die mörderische Salve in ihren Reihen angerichtet hatte, erklomm die ganze Batterie einen Abhang und nahm hier wenige Meter von dem Platze Stellung, wo Maurice und Jean lagen. Zum drittenmal protzten die Geschütze ab, standen die Fahrer mit dem Gesicht dem Feinde zugekehrt und eröffneten die Bedienungsmannschaften sofort das Feuer in starrköpfigem, unüberwindlichem Heldenmut.
»Das ist das Ende!« sagte Maurice, und die Stimme versagte ihm.
Tatsächlich schien es, als wollten sich Himmel und Erde verschmelzen. Die Steine spalteten sich und zeitweilig verdunkelte dicker Rauch die Sonne. Sie sahen, wie inmitten dieses furchtbaren Lärms selbst die Pferde wie taub, ganz dumm mit gesenkten Köpfen dastanden. Der Hauptmann schien überall zu sein, riesengroß. Er wurde mitten durchgeschlagen, knickte zusammen und fiel wie eine Fahnenstange.
Aber vor allen bei Honorés Geschütz nahmen die Arbeiten ihren ruhigen, hartnäckigen Fortgang. Trotz seiner Tressen tat er selbst alle Handreichungen, denn er hätte nur noch drei Mann als Bedienung. Er richtete, zog die Schlagröhre ab, während die drei zum Munitionswagen gingen, luden und Wischer und Ladestock handhabten. Es waren Ersatzmannschaften und Pferde zum Stopfen der durch den Tod gerissenen Lücken verlangt worden; da es aber sehr lange dauerte, bis die kamen, mußten sie allein fertig werden. Ihre größte Wut war, daß sie noch immer nicht hinreichten, daß ihre Granaten fast alle schon in der Luft platzten, ohne in den schrecklichen Batterien des Gegners, deren Feuer so sehr wirksam war, viel Unheil anzurichten. Plötzlich stieß Honoré einen Fluch aus, der selbst den Lärm der Entladung übertönte: zu allem Unglück war ihm nun auch noch das rechte Rad seines Geschützes zerschmettert. Gottsdonnerwetter! mit einer zerbrochenen Pfote lag das arme Teufelstier mit der Nase auf der Erde, auf der Seite, krummbeinig und zu nichts mehr nutze. Er weinte dicke Tränen und nahm die Mündung zwischen seine unsicher zitternden Hände, wie um es lediglich durch seine warmherzige Zärtlichkeit wieder aufzurichten. Das Geschütz, das das beste von allen war, dem es allein gelungen war, ein paar Granaten dort hinten hinzusenden! Da kam ein närrischer Entschluß über ihn, nämlich der, das Rad sogleich im Feuer zu ersetzen. Mit einem seiner Leute ging er selbst auf den Vorratswagen los, um ein Ersatzrad auszusuchen, und das Gewaltmanöver begann, das gefährlichste, das auf dem Schlachfelde ausgeführt werden kann. Glücklicherweise waren endlich die Ersatzmannschaften und Pferde gekommen, und zwei neue Bedienungsmannschaften konnten ihm zur Hand gehen.
Indessen wurde die Batterie noch einmal zurückgenommen. Dies verrückte Heldentum ließ sich aber nicht weiter treiben. Es wurde ihnen der Befehl zum endgültigen, Rückzug zugeschrien.
»Vorwärts, Kameraden!« wiederholte Honoré, »wir wollen sie wenigstens mitnehmen, und die da sollen sie nicht kriegen!«
Das war sein einziger Gedanke, das Geschütz mitzunehmen, wie man die Fahne rettet. Er sprach noch, als er wie vom Blitz zerschmettert wurde; der rechte Arm wurde ihm abgerissen, und die linke Seite ganz aufgeschlitzt. Er fiel über sein Geschütz und blieb dort wie auf einem Paradebett liegen, das Gesicht unentstellt und schön in seinem Zorn, dem Feinde dort hinten entgegen gewendet. Aus seinem zerrissenen Uniformrock glitt ein Brief heraus, seine verkrampften Finger hielten ihn umfaßt, und tropfenweise fiel sein Blut darauf nieder.
Nur der Leutnant war noch nicht tot und schmetterte nun den Befehl heraus:
»Protzen vor!«
Ein Munitionswagen war in die Luft geflogen und machte einen Lärm, als ob Feuerwerkskörper in Brand, geraten wären und platzten. Um ein Geschütz zu retten, dessen ganze Bespannung am Boden lag, mußten sie ihre Zuflucht dazu nehmen, es mit den Pferden eines andern Munitionswagens zu bespannen. Als diesmal die Fahrer ihren letzten Halbkreis geschlagen hatten und die noch übriggebliebenen vier Geschütze wieder aufgeprotzt waren, ging es im Galopp davon, und sie kamen erst hinter den ersten Bäumen des Garennegehölzes wieder zum Halten.
Maurice hatte alles mit angesehen. In seiner Stimme lag ein leichtes, schreckhaftes Zittern, als er ein paarmal ganz ohne Nachdenken sagte:
»Ach, der arme Kerl, der arme Kerl.«
Dieser Kummer vermehrte scheinbar die Schmerzen, die ihm den Magen zerwühlten. Das Tier in ihm verlangte sein Recht; er war am Ende seiner Kräfte und starb vor Hunger. Sein Blick trübte sich und er empfand gar nicht mehr die Gefahr, in der sich das Regiment befand, seitdem die Batterie sich hatte zurückziehen müssen. Von einer Minute zur andern konnten beträchtliche Kräfte die Hochebene angreifen.
»Hör' mal,« sagte er zu Jean, »ich muß etwas essen ... Ich will etwas essen, und wenn ich auf der Stelle fallen sollte!«
Er öffnete seinen Tornister und riß mit zitternden Händen das Brot heraus, in das er nun voller Begierde hineinbiß. Die Kugeln pfiffen um ihn herum, ein paar Granaten platzten wenige Meter von ihm, aber all das war für ihn gar nicht da, nur sein Hunger verlangte Befriedigung.
»Willst du auch was, Jean?«
Der sah ihn stumpfsinnig mit großen Augen an; sein Magen war von ganz derselben Gier zerrissen.
»Ach ja, ich möchte auch schon was, mir ist zu schlecht.«
Sie teilten das Brot und verzehrten es voller Gier, ohne sich um irgendwas anderes zu bekümmern, solange noch ein Bissen da war. Dann erst sahen sie ihren Oberst auf seinem großen Gaule wieder mit seinem blutigen Stiefel. Von allen Seiten wurden die 106er jetzt angegriffen. Ein paar Kompanien hatten schon die Flucht ergreifen müssen. Nun mußte auch der Oberst dem Strome weichen; die Augen standen ihm voller Tränen, als er den Degen erhob und rief:
»Gott befohlen, Kinder, er hat uns nicht haben wollen!«
Haufen von Fliehenden umgaben ihn und er verschwand in einer Geländefalte.
Ohne zu wissen wie, fanden sich Jean und Maurice hinter der Hecke mit den Resten ihrer Kompanie wieder zusammen. Höchstens etwa vierzig Mann waren noch übrig, die von Leutnant Rochas befehligt wurden; sie hatten die Fahne bei sich; der Unterleutnant, der sie trug, hatte, um sie zu retten, die Seide um die Stange gewickelt. Sie liefen bis ans Ende der Hecke hinunter und warfen sich dann auf dem Abhang zwischen kleine Bäume, wo Rochas das Feuer wieder aufnehmen ließ. Hier in dieser Deckung konnten sich die in Schützenlinien aufgelösten Leute halten, um so mehr, als rechts von ihnen eine mächtige Kavalleriebewegung stattfand und Linienregimenter zu ihrer Unterstützung herangeführt wurden.
Maurice sah nun ein, daß die langsame, unwiderstehliche Umklammerung ihrem Ende entgegengehe. Am Morgen hatte er die Preußen aus dem Paß von Saint-Albert hervorbrechen und erst Saint-Menges, dann Fleigneur gewinnen sehen; jetzt hörte er hinter dem Garennegehölz den Donner der Geschütze der Garde und sah auch schon andere deutsche Uniformen auf den Hügeln oberhalb Givonne eintreffen. In ein paar Minuten mußte der Kreis sich schließen, dann würde die Garde dem fünften Korps die Hand reichen und das französische Herr mit einer lebendigen Mauer, einem Gürtel donnernder Artillerie, umgeben. Aus diesem Gedankengange mußte wohl der verzweifelte Versuch eingegeben sein, eine letzte Anstrengung zu machen, um diese wandelnde Mauer zu brechen; eine der Reservekavalleriedivisionen, die des Generals Margueritte, zog sich angriffsbereit in einer Geländefalte zusammen. Maurice mußte an Prosper denken, als er jetzt diesem schrecklichen Schauspiel beiwohnte.
Seit Tagesanbruch hatte Prosper nichts getan, als sein Pferd in unaufhörlichen Märschen und Gegenmärschen auf der Hochebene von Illy hin und her zu treiben. In der Dämmerung waren sie Mann für Mann ohne Hornruf geweckt worden; beim Kaffee waren sie auf den geistreichen Gedanken verfallen, ihre Mäntel um die Feuer zu hängen, um sich den Preußen nicht zu verraten. Dann hatten sie nichts mehr zu erfahren bekommen; sie hörten das Geschütz, sahen die Staubwolken weit entfernter Infanteriebewegungen, hatten aber keine Ahnung von der Schlacht, ihrer Wichtigkeit oder ihren Ergebnissen bei der gänzlichen Untätigkeit, in der die Generäle sie ließen. Prosper verfiel in Schlummer. Das machten die vielen Leiden, die schlechten Nächte, die aufgesammelte Müdigkeit; all das brachte bei dem wiegenden Gange des Pferdes eine unüberwindliche Schlaftrunkenheit hervor. Er hatte Sinnestäuschungen, sah sich an der Erde auf einer Matratze von Kieselsteinen schnarchen und träumte, er läge in einem schönen Bett mit weißen Leinen. Er schlief im Sattel minutenlang ganz fest und wurde zu einem marschierenden, leblosen Dinge, das aufs Geratewohl mitgeschleppt wurde. Einzelne seiner Kameraden fielen so kopfüber vom Pferde. Sie waren so müde, daß kein Hornruf sie aufweckte; sie hätten absitzen und durch Fußtritte aus ihrem Nichts geweckt werden müssen.
»Aber was kümmern die sich denn um uns, was kümmern die sich denn um uns?« wiederholte Prosper sich, um diese unwiderstehliche Starrheit abzuschütteln.
Seit sechs Uhr donnerte das Geschütz. Als er einen Hügel hinaufging, wurden zwei seiner Kameraden neben ihm von einer Granate getötet; weiter hinauf blieben drei andere von Kugeln durchbohrt liegen, und sie konnten nicht einmal sehen, woher diese kamen. Dies unnütze und dabei gefahrvolle militärische Spazierenlaufen über das Schlachtfeld brachte sie zur Verzweiflung. Gegen ein Uhr sah er schließlich ein, jetzt sollten sie wenigstens ordentlich umgebracht werden. Die ganze Division Margueritte, bestehend aus drei Regimentern Chasseurs d'Afrique, einem französischen Jäger- und einem Husarenregiment, wurde in einer Geländesenkung etwas unterhalb des Kalvarienberges links von der Straße zusammengezogen. Die Trompeten erklangen: »Abgesessen!« und der Kommandoruf der Offiziere:
»Sattelgurt anziehen, Gepäck sichern!«
Prosper saß ab und streckte sich, dann streichelte er Zephir mit der Hand. Der arme Zephir war genau so abgerissen wie sein Herr und von dem ihm auferlegten Packeseldienst ganz ausgepumpt. Er hatte aber auch eine halbe Welt zu schleppen: die Wäsche in den Pistolenhalftern und den gerollten Mantel oben drüber, die Bluse und Hose und den Quersack mit dem Putzzeug hinter dem Sattel und querüber noch einen Sack mit Lebensmitteln, das Bockfell, die Wasserkanne und die Schüssel noch gar mitgerechnet. Zärtliches Mitleid schnürte dem Reiter das Herz zusammen, als er die Gurte anzog und sich vergewisserte, daß alles gut hielt.
Es war ein harter Augenblick. Prosper, der kein größerer Hasenfuß war als irgend jemand anders, zündete sich eine Zigarette an, so trocken war ihm im Munde. Wenn es zum Angriff geht, muß sich doch jeder sagen: »Diesmal bleibe ich dabei liegen!« Es mag noch fünf oder sechs Minuten dauern; es heißt, General Margueritte wäre nach vorn gegangen, um das Gelände zu erkunden. Alles wartet. Die fünf Regimenter hatten sich in drei Treffen aufgestellt, jedes Treffen sieben Schwadronen tief, so daß die Geschütze ordentlich was zu fressen hatten.
Plötzlich ertönten die Trompeten: »Aufgesessen!« und fast gleich darauf: »Blankgezogen!«
Der Oberst jedes Regiments war schon im Galopp auf seinen Gefechtsposten fünfundzwanzig Meter vor der Front gegangen. Die Rittmeister hielten gleichfalls auf ihren Posten vor den Leuten. Und wieder begann das Warten in Todesstille. Kein Laut, kein Atemzug war in der glühenden Sonnenhitze hörbar. Nur die Herzen schlugen. Noch ein Befehl, der letzte, und die ganze regungslose Masse mußte in Bewegung geraten und sich wie ein Sturmwind vorwärtsstürzen.
In diesem Augenblick aber erschien oben auf dem Kamme des Hügels ein berittener verwundeter Offizier, den zwei Mann unterstützten. Zuerst erkannten sie ihn nicht. Dann erhob sich ein Gemurmel, das sofort zu wütendem Geschrei anschwoll. Es war General Margueritte, dem eine Kugel beide Backen durchbohrt hatte, so daß er sterben mußte. Er könnte nicht sprechen und schwenkte nur den Arm gegen den Feind dort hinten.
Das Geschrei wuchs immer höher an.
»Unser General ... Rache! Rache!«
Nun schwang der Oberst des ersten Regiments seinen Säbel hoch in die Luft und schrie mit Donnerstimme:
»Vorwärts!«
Die Trompeten erklangen, und die Masse setzte sich zuerst im Trabe in Bewegung. Prosper ritt in der vordersten Reihe, fast am äußersten rechten Flügel. Die größte Gefahr liegt in der Mitte, wohin der Feind gefühlsmäßig das schärfste Feuer richtet. Als sie auf dem Gipfel des Kalvarienberges waren und sich anschickten, den Abhang nach der andern Seite hinabzureiten, konnte er auf ungefähr tausend Meter vor ihnen ganz genau die Vierecke der Preußen erkennen, gegen die sie gejagt wurden. Er trabte übrigens wie im Traume dahin und fühlte sich so leicht, als ob er im Schlafe wegschwämme; sein Gehirn war so merkwürdig leer, daß er keinen Gedanken fassen konnte. Es war lediglich ein unter unwiderstehlichem Antriebe laufendes Uhrwerk geworden. Immer wieder hieß es: »Aufschließen, aufschließen!« um die Reihen so fest wie möglich zusammenzupressen und hart wie Granit zu machen. Je schneller der Trab dann wurde und mehr und mehr in einen wütenden Galopp überging, desto wilder schrien die Chasseurs d'Afrique nach arabischer Weise, um ihre Gäule anzutreiben. Bald ging dieser wütende Galopp in ein teuflisches Jagen, einen wahren Zug der Hölle über mit seinem wilden Geschrei, den das Aufschlagen der Kugeln auf all das Metall der Schüsseln, Kannen und das Kupfer der Uniformen und Beschläge mit einem Geräusch wie ein Hagelsturm begleitete. In einem derartigen Hagel sauste nun dieser blitzende Gewittersturm dahin, daß der Boden erzitterte, und ließ einen Geruch wie von verbrannter Wolle und dem Schweiß wilder Tiere hinter sich zurück.
Nach fünfhundert Metern ging Prosper unter dem Druck einer furchtbaren Gegenströmung, die alles mit sich riß, über Kopf. Er packte Zephir an der Mähne und konnte sich wieder in den Sattel schwingen. Die durch das Gewehrfeuer durchlöcherte und eingedrückte Mitte hatte nachgegeben, während die beiden Flügel herumwirbelten und sich zurückhielten, um ihren Angriff wieder aufzunehmen. So vollzog sich das Geschick der ersten Schwadron, ihre vorauszusehende Vernichtung. Tote Pferde versperrten das Gelände, die einen wie vom Blitz erschlagen, andere wieder noch in einem letzten krampfhaften Todeskampfe um sich schlagend; und mit aller Kraft ihrer kurzen Beine sah man abgesessene Reiter nach Pferden herumlaufen. Tote übersäten schon die Ebene; viele reiterlose Pferde setzten ihre Hetzjagd fort und kamen von selbst wieder auf den Kampfplatz, um in wahnsinnigem Rennen wieder ins Feuer zu gehen, als lockte der Geruch des Pulvers sie an. Der Angriff wurde wieder aufgenommen; die zweite Schwadron stürzte sich in wachsender Wut vorwärts; die Leute lagen auf dem Sattelknopf vornübergebeugt und hielten den Säbel zum Einhauen bereit gegen die Knie gepreßt. Zweihundert Meter waren sie in betäubendem Sturmesgebrüll weitergekommen. Aber von neuem bauchte sich die Mitte unter dem Kugelregen ein, Menschen und Tiere fielen und hemmten das Rennen durch die unentwirrbaren Massen ihrer Leichen. Und so wurde nun auch die zweite Schwadron hingemäht und überließ den Platz ihren Nachfolgern.
Als nun der dritte Angriff mit heldenhafter Hartnäckigkeit begann, fand Prosper sich unter Husaren und französischen Jägern vermischt. Die Regimenter verschmolzen, und nur eine Riesenwelle blieb über, die sich fortgesetzt brach und wieder neu bildete, um alles, was sie auf ihrem Wege vorfand, mit sich zu reißen. Er hatte jede Empfindung verloren und überließ sich ganz seinem Pferde, dem guten, von ihm so geliebten Zephir, der aber jetzt scheinbar durch eine Verwundung am Ohr ganz verrückt wurde. Er befand sich nun in der Mitte; um ihn herum bäumten und überschlugen sich Pferde; manche Leute wurden wie durch einen Windstoß zu Boden geworfen, während andere glatt getötet steif im Sattel sitzen blieben und mit leeren Blicken jeden neuen Angriff wieder mitmachten. Diesmal sah die Erde hinter den zweihundert Metern, die sie vorwärts kamen, ganz bedeckt mit Toten und Sterbenden aus. Manche unter ihnen waren mit dem Kopfe tief in die Erde hineingedrückt. Andere waren auf den Rücken gefallen und starrten mit erschreckten, aus den Höhlen tretenden Augen in die Sonne. Ein großes schwarzes Pferd, das einem Offizier gehörte, versuchte trotz seines aufgerissenen Bauches sich vergeblich immer wieder zu erheben; seine Vorderfüße waren in die eigenen Eingeweide verwickelt. Unter dem sich verdoppelnden Feuer wirbelten die Flügel abermals herum und bogen sich zurück, um aufs neue niedergemäht zu werden.
Bei der vierten Wiederholung gelangte die vierte Schwadron endlich in die preußischen Linien. Prosper hob seinen Säbel und hieb auf Helme und dunkle Uniformen ein, die er wie durch einen Nebel vor sich sah. Blut troff herab, und er merkte, daß Zephirs Maul blutete; da bildete er sich ein, er hätte in die feindlichen Reihen hineingebissen. Der Lärm um ihn herum wuchs derartig an, daß er sein eigenes Geschrei nicht mehr hörte, trotzdem er sich die Kehle bei dem fortdauernden Gebrüll fast ausschrie. Aber hinter der ersten preußischen Linie kam eine zweite, dann wieder eine und noch eine. Und all der Heldenmut blieb ganz nutzlos; zu tief standen die Menschenmassen da wie hohes Kraut, in dem Roß und Reiter verschwanden. Da konnten sie, soviel sie wollten, niederhauen, es wurden immer mehr. Jetzt bekamen sie Feuer unmittelbar aus den Gewehrmündungen, und so stark, daß ihre Uniformen anfingen zu brennen. Alles ging, von den Bajonetten verschlungen, inmitten aufgeschlitzter Leiber und zerspaltener Schädel, über Kopf. Zwei Drittel ihres Sollbestandes ließen die Regimenter hier liegen, und von dem ganzen berühmten Angriff blieb nichts übrig als der verrückte Ruhm, ihn unternommen zu haben. Zephir bekam plötzlich eine Kugel mitten in die Brust und brach zusammen; dabei begrub er Prospers rechten Schenkel unter sich, und der Reiter empfand einen so rasenden Schmerz, daß er das Bewußtsein verlor.
Maurice und Jean, die dem heldenhaften Galopp gefolgt waren, stießen vor Zorn laute Rufe aus:
»Gottsdonnerwetter noch einmal, was soll ihre Tapferkeit hier denn noch helfen!«
Hinter dem Gestrüpp des kleinen Hügels, wo sie in Schützenlinien knieten, entluden sie immer weiter ihre Chassepots; auch Rochas hatte ein Gewehr aufgenommen und feuerte mit ihnen. Aber die Hochebene von Illy war jetzt verloren, die Preußen strömten von allen Seiten herauf. Es mochte ungefähr zwei Uhr sein; die Vereinigung vollzog sich jetzt, das fünfte und das Gardekorps trafen sich und schlossen die Umklammerung.
Mit einemmal wurde Jean niedergestreckt.
»Ich hab' mein Teil«, stammelte er.
Wie mit einem Hammer hatte er einen Schlag oben auf den Kopf gekriegt, sein Käppi wurde fortgeschleudert und lag zerrissen hinter ihm. Zuerst glaubte er, der Schädel sei ihm aufgeschlagen und das Gehirn läge bloß. Ein paar Sekunden lang mochte er die Hand gar nicht hinaufführen, weil er sicher war, ein großes Loch zu fühlen. Als er es dann doch wagte, brachte er die Hand rot von Blut wieder zurück. Das machte einen so starken Eindruck auf ihn, daß er ohnmächtig wurde.
Gerade jetzt gab Rochas den Befehl zum Rückzug. Eine preußische Kompanie war nur noch zwei- oder dreihundert Meter weit entfernt. Sie mußten gefangengenommen werden.
»Beeilt euch nicht, dreht euch um und schießt langsam ... Wir sammeln uns da hinten hinter der kleinen Mauer.«
Nun geriet Maurice in Verzweiflung.
»Herr Leutnant, wir können doch unsern Korporal hier nicht liegen lassen?«
»Was wollen Sie mit ihm anfangen, wenn er sein Teil weg hat?«
»Nein, nein, er atmet ja noch! ... Wir wollen ihn doch mitnehmen!«
Rochas zuckte die Achseln, als wollte er damit sagen, man könne sich doch nicht um jeden einzelnen Gefallenen kümmern. Wer verwundet ist, zählt auf dem Schlachtfelde nicht mehr mit. Flehend wandte sich Maurice nun zu Pache und Lapoulle.
»Kommt, helft mir doch! Ich allein bin ja zu schwach.«
Aber sie hörten nicht hin, sie verstanden ihn gar nicht; in überreiztem Selbsterhaltungstrieb dachten sie nur noch an sich selbst. Schon glitten sie auf den Knien dahin und verschwanden auf die kleine Mauer zu. Die Preußen waren keine hundert Meter mehr entfernt.
Maurice heulte vor Wut, als er nun mit dem ohnmächtigen Jean allein blieb; er packte ihn auf seine Arme und wollte ihn wegschleppen. Er war aber tatsächlich zu schwach und schmächtig und von Ermattung und Angst erschöpft. Er kam gleich ins Taumeln und fiel unter seiner Last hin. Hätte er noch einen Träger sehen können! Mit irren Blicken suchte er umher und glaubte unter den Fliehenden welche zu erkennen, denen er heftige Gebärden zumachte. Niemand kam. Er raffte seine äußersten Kräfte zusammen, nahm Jean wieder auf und lief mit ihm etwa dreißig Schritte weit; dann barst eine Granate neben ihnen, und er glaubte, nun sei alles vorbei, auch er müsse auf dem Körper seines Gefährten sterben.
Langsam war Maurice wieder aufgestanden. Er tastete an sich herum und fühlte nichts, keine Schramme. Warum floh er denn nicht? Zeit hatte er noch; in ein paar Sprüngen konnte er die kleine Mauer erreichen, und das bedeutete Rettung. Die Furcht stieg wieder in ihm hoch und machte ihn närrisch. Mit einem Satze konnte er hinüberrennen, aber stärkere Bande als der Tod hielten ihn zurück. Nein, das ging unmöglich, er konnte Jean nicht im Stiche lassen. Sein ganzes Selbst hätte sich darüber verblutet; die zwischen dem Bauern und ihm sich immer mehr vertiefende Brüderlichkeit ging bis auf den Grund seines Wesens, ja bis an die Wurzeln seines Lebens. Das mochte vielleicht bis auf die ersten Tage der Welt zurückgehen, und es war ein wenig so, als wären nur diese beiden Menschen dagewesen und der eine hätte den andern nicht aufgeben können, ohne sich selbst aufzugeben.
Hätte Maurice nicht vor einer Stunde seine Brotrinde im Granatenhagel gegesssn, nie wäre er zu dem imstande gewesen, was er jetzt vollbrachte. Später war es ihm übrigens ganz unmöglich, sich daran zu erinnern. Er mußte Jean auf die Schultern nehmen und sich mit ihm in unzähligen Absätzen über die Stoppeln und durch das Gestrüpp schleppen, wobei er an manchen Stein anstieß; aber trotzdem kam er immer wieder hoch. Ein unüberwindlicher Wille hielt ihn aufrecht, eine Widerstandskraft, die ihn einen Berg hätte tragen lassen. Hinter der kleinen Mauer fand er Rochas und die paar Mann der Korporalschaft wieder, die immer noch feuerten und die Fahne verteidigten, die der Unterleutnant im Arme hielt.
Den Truppen war für den Fall eines unglücklichen Ausganges keine Rückzugslinie angegeben worden. Bei diesem Mangel an Voraussicht und in der hochgradigen Verwirrung besaß jeder General die Freiheit, nach Gutdünken zu handeln, und alle sahen sich jetzt unter der furchtbaren Umklammerung der siegreichen deutschen Heere nach Sedan hineingeworfen. Die zweite Division des siebenten Korps zog sich noch in leidlich guter Ordnung zurück, während die Reste ihrer andern Divisionen sich schon mit denen des ersten Korps untermischt in einem scheußlichen Knäuel gegen die Stadt zurückwälzten, ein zorniger und doch furchtsamer Strom von Menschen und Tieren.
Gerade jetzt bemerkte Maurice aber mit Freuden, wie Jean die Augen wieder aufschlug; und als er an einen kleinen Bach lief, um ihm das Gesicht zu waschen, sah er zu seiner höchsten Überraschung auf dem Grunde jenes entlegenen, durch seine steilen Wände geschützten Tales den Bauern wieder, den er schon am Morgen dort gesehen hatte und der ohne jede Eile fortfuhr, sein Feld zu bestellen und seinen mit einem großen weißen Pferd bespannten Pflug vor sich her zu schieben. Wozu sollte er einen Tag verlieren? Weil sie sich dort schlugen, würde das Korn nicht aufhören zu wachsen und die Welt weiterleben.