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Von dem auf dem Hügel von Remilly gelegenen Hofe Vater Fouchards aus blickte Silvine während des nicht endenwollenden Schlachttages unaufhörlich im Donner und Rauch der Geschütze nach Sedan hinüber und schauderte dabei über und über, wenn sie an Honoré dachte. Und als sie sich am nächsten Tage noch keine bestimmten Nachrichten verschaffen konnte, weil die Preußen alle Wege bewachten und nicht antworten wollten, übrigens wohl auch selbst nichts wußten, da wuchs ihre Angst noch mehr. Der helle Sonnenschein vom Tage vorher war verschwunden und Wolkenbrüche waren niedergegangen und verliehen dem ganzen Tale mit ihrem bleiernen Licht einen traurigen Anstrich.
Gegen Abend stand Vater Fouchard, den sein eigenwilliges Schweigen doch auch quälte, obwohl er an seinen Sohn kaum dachte, sondern nur neugierig darauf war, welche Wendung dies Unglück der übrigen wohl für ihn nehmen werde, auf der Stufe vor seiner Tür, um Ausschau zu halten, als er einen großen, mit einer Bluse bekleideten Burschen bemerkte, der schon ein paar Augenblicke in offenbarer Verwirrung auf der Straße herumbummelte. Als er ihn erkannte, war seine Überraschung so gewaltig, daß er ihn ganz laut anrief, trotzdem gerade drei Preußen vorübergingen.
»Was? Du bist das, Prosper?«
Mit einer kräftigen Bewegung schloß der Chasseur d'Afrique ihm den Mund. Dann trat er näher und sagte mit halblauter Stimme:
»Ja, ich bin's. Ich habe genug davon, mich für nichts und wieder nichts zu schlagen, und bin ausgerissen ... Sagt mal, Vater Fouchard, braucht Ihr nicht einen Knecht?«
Sofort fand der Alte seine Schlauheit wieder. Er suchte tatsächlich gerade einen. Aber das brauchte er ja nicht zu sagen.
»Einen Knecht? Nein, wirklich nicht, gerade jetzt ... Komm aber mal herein und trink' ein Glas. Ich werde dich doch nicht in deiner Not so auf der Straße liegen lassen!«
Drinnen setzte Silvine gerade die Suppe ans Feuer, und der kleine Karl hing spielend und lachend an ihrem Rock. Zuerst erkannte sie Prosper nicht wieder, obwohl er früher schon mit ihr zusammen gedient hatte; erst als sie zwei Gläser und eine Flasche Wein gebracht hatte, fand sie sich in seinem Gesicht zurecht. Sie stieß einen Schrei aus, dachte aber natürlich dabei nur an Honoré.
»Ach, Ihr kommt von drüben, nicht wahr?... Geht's Honoré gut?«
Prosper wollte ihr antworten, zögerte dann aber. Seit zwei Tagen lebte er wie in einem Traum, in einer wirren Folge unbestimmter Vorstellungen, die sein Gedächtnis nicht zu einer Klärung kommen ließ. Er glaubte wirklich, er habe Honoré tot über sein Geschütz hingestreckt liegen sehen; aber jetzt hätte er das nicht mehr behaupten mögen; und warum soll man den Leuten ihren Trost nehmen, wenn man sich selbst nicht sicher ist?
»Honoré?« sagte er leise, »ich weiß nicht... ich kann's nicht sagen...«
Sie sah ihn fest an und beharrte auf ihrer Frage.
»Dann habt Ihr ihn also nicht gesehen?«
Er bewegte langsam die Hand und nickte mit dem Kopfe.
»Wenn Ihr glaubt, daß man das wissen könnte! Bei so vielerlei, so vielerlei! Seht, ich bin wahrhaftig nicht imstande, lange Geschichten aus dieser verdammten Schlacht zu erzählen... Nein! Ich weiß nicht mal die Orte, durch die ich gekommen bin... Man wird rein verrückt, wahrhaftig!«
Und nachdem er ein Glas Wein heruntergestürzt hatte, blieb er trübselig mit weit weg in der Finsternis seines Gedächtnisses verlorenen Augen sitzen.
»Alles, worauf ich mich noch besinne, ist, daß es schon dunkel wurde, als ich wieder zur Besinnung kam... Als ich beim Angriff über Kopf ging, stand die Sonne sehr hoch. Stundenlang habe ich da so mit dem Bein unter meinem alten Zephir eingeklemmt liegen müssen, der eine Kugel mitten in die Brust gekriegt hatte... Ich kann Euch sagen, meine Lage war wahrhaftig nicht schön, bloß Haufen von toten Kameraden, keine Katze mehr lebendig, und dabei der Gedanke, ich müßte auch verrecken, wenn mich nicht jemand mitnähme... Langsam versuchte ich den Schenkel frei zu machen; das war aber unmöglich, Zephir war so schwer wie fünfhunderttausend Teufel. Er war noch warm, ich streichelte ihn und rief ihn zärtlich an. Und da, seht Ihr, das werde ich niemals vergessen: er machte die Augen noch mal auf und gab sich Mühe, seinen armen Kopf zu heben, der neben meinem auf der Erde lag. Da haben wir geplaudert: ›Mein armer Alter,‹ hab' ich zu ihm gesagt, ›ich will es dir ja nicht zum Vorwurf machen, aber du willst mich doch wohl hier nicht mit dir verrecken lassen, daß du mich so festhältst?‹ Natürlich sagte er nicht ja. Trotzdem sah ich in seinem trüben Blicke doch den Kummer darüber, daß er mich verlassen müßte. Und ich weiß nicht, ob er es absichtlich getan hat oder ob es bloß so 'ne Zuckung war, aber plötzlich fuhr er zusammen und warf sich auf die Seite. Ich konnte aufstehen, aber das war eine verdammte Geschichte! Mein Bein war schwer wie Blei... Einerlei! Ich nahm Zephirs Kopf in die Arme und redete ihm alles vor, was mir gerade vom Herzen kam, was für 'n gutes Pferd er wäre und wie lieb ich ihn hätte und daß ich immer an ihn denken wollte. Er hörte zu und schien ganz zufrieden. Dann fuhr er noch einmal so zusammen und war tot, mit seinen großen, leeren Augen, die er nicht von mir abwendete... Ganz einerlei, komisch ist es doch, und niemand wird es mir wohl glauben: es ist die reine Wahrheit, er hatte ein paar dicke Tränen in den Augen ... Mein armer Zephir weinte wie ein Mensch...«
Der Kummer schnürte Prosper die Kehle zusammen und er mußte sich unterbrechen, denn er weinte selbst auch nach. Er goß abermals ein Glas Wein hinunter und fuhr dann mit seiner Geschichte in abgebrochenen, unvollendeten Sätzen fort. Es wäre immer dunkler geworden, und nur noch ein roter Schein wäre schräg über das Schlachtfeld gefallen und hätte den Schatten der toten Pferde in die Unendlichkeit geworfen. Er wäre natürlich noch lange bei seinem stehengeblieben, denn mit seinem Bein, das so schwer wie Blei war, hätte er ja auch gar nicht weggehen können. Dann aber hätte die Furcht ihn plötzlich doch zum Laufen gebracht, er hätte nicht länger allein bleiben können, sondern hätte seine Kameraden wiederfinden müssen, damit er sich weniger ängstigte. So hätten sich von überallher vergessene Verwundete herangeschleppt, aus den Gräben, aus den Gebüschen, aus allen möglichen verlorenen Winkeln, und hätten versucht, sich wieder zusammenzuschließen, sie hätten kleine Gruppen zu vier oder fünf gebildet, richtige kleine Gesellschaften, wo es weniger hart wäre, wenn sie zusammen röchelten und stürben. So wäre er im Garennegehölz auf zwei Leute von den 43ern gestoßen, die keine Schrammen abgekriegt hätten und trotzdem wie die Hasen auf der Erde gelegen und auf die Nacht gewartet hätten. Als sie hörten, er kenne die Wege, erzählten sie ihm, sie hätten vor, ins Belgische hinüberzulaufen und vor Tagesanbruch durch die Wälder über die Grenze zu kommen. Zuerst hatte er sich geweigert, sie zu führen, und hatte lieber gleich nach Remilly gehen wollen, weil er dort sicher einen Unterschlupf finden würde; aber wo sollte er Rock und Hose herkriegen? Und schließlich konnte er doch nicht hoffen, vom Garennegehölz bis Remilly, von einer Seite des Tales nach der andern hinüber, durch die vielen preußischen Linien zu kommen. So hatte er denn schließlich eingewilligt, den beiden Waffengefährten als Führer zu dienen. Sein Bein war wieder warm geworden, und auf einem Hofe hatten sie sich ein Brot geben lassen können. Als sie sich wieder auf den Weg machten, hatte es in der Ferne auf einem Turme neun geschlagen. Die einzige große Gefahr hätten sie bei La Chapelle ausgestanden, wo sie richtig mitten in einen feindlichen Posten geraten wären, der zu den Waffen gegriffen und in der Dunkelheit geschossen hätte, während sie platt auf dem. Bauche weitergerutscht und auf allen vieren gerannt wären, und unter dem Pfeifen der Kugeln hätten sie schließlich das Dickicht wieder gewonnen. Von da an hätten sie den Wald gar nicht mehr verlassen, immer hätten sie gehorcht und gelauscht und mit den Händen herumgefühlt. Als sie von einem Pfade abbogen, hatten sie kriechen müssen und wären gerade einem verlorenen Posten auf die Schultern gesprungen, dem sie mit einem Schnitt die Kehle aufgeschlitzt hätten. Weiterhin wären die Wege frei gewesen und sie wären lachend und pfeifend weitergezogen. Gegen drei Uhr morgens wären sie in einem kleinen belgischen Dorfs angekommen, bei einem Bauern, einem guten Kerl, der ihnen, sobald er aufgewacht wäre, sofort seine Scheune aufgemacht hätte, wo sie im Hafer fest geschlafen hätten.
Die Sonne stand schon hoch, als Prosper aufwachte. Als er die Augen aufmachte und seine Kameraden noch weiterschnarchten, hatte er gesehen, wie ihr Wirt ein Pferd vor einen großen mit Reis, Kaffee, Zucker und allen möglichen andern Vorräten beladenen Karren spannte, die unter Säcken mit Holzkohle versteckt waren; und er hatte gehört, daß der brave Mann zwei verheiratete Töchter in Raucourt habe, denen er diese Vorräte hinbringen wollte, denn er wußte, daß sie nach dem Durchzuge der Bayern vollkommen entblößt daständen. Am frühen Morgen hatte er sich den nötigen Erlaubnisschein besorgt. Sofort fühlte Prosper sich von dem närrischen Wunsche gepackt, sich neben ihn auf die Karrenbank zu setzen und mit ihm da hinten in diesen Erdenwinkel zurückzukehren, nach dem ihn schon das Heimweh quälte. Nichts war ja einfacher, als daß er in Remilly abstiege, durch das der Bauer ja doch fahren mußte. In drei Minuten war alles abgemacht, sie liehen ihm den erforderlichen Rock und Hosen, und der Pächter gab ihn überall als seinen Sohn aus; so konnte er gegen sechs Uhr vor der Kirche absteigen, nachdem sie nur zwei- oder dreimal von den deutschen Posten angehalten worden waren.
»Nein, ich habe genug davon!« wiederholte Prosper nach einer Pause. »Und wenn sie noch was Vernünftiges aus uns rausgeholt hätten, wie da unten in Afrika. Aber erst nach links marschieren, um nachher nach rechts zu gehen und immerfort zu fühlen, daß man zu nichts gut ist, dann ist das länger kein Dasein ... Und jetzt, nun mein armer Zephir tot ist, da wäre ich nun wieder ganz allein; es bleibt mir nichts übrig, als mich wieder an die Arbeit zu machen. Nicht wahr? Das ist doch noch besser, als als Gefangener bei den Preußen zu sein? ... Ihr habt doch Pferde, Vater Fouchard, Ihr sollt mal sehen, wie lieb ich sie habe und wie ich für sie sorge!«
Die Augen des Alten funkelten. Er stieß noch mal mit ihm an und kam dann ohne jede Übereilung zu folgendem Schluß:
»Mein Gott! Wenn ich dir einen Gefallen damit tun kann, dann will ich's wohl machen und dich nehmen ... Aber mit dem Lohn, da können wir erst nach dem Kriege drüber sprechen, denn ich brauche wahrhaftig niemand und die Zeiten sind zu hart.«
Silvine, die mit Karlchen auf den Knien sitzengeblieben war, hatte Prosper nicht aus den Augen gelassen. Als sie sah, daß er aufstand, um gleich in den Stall zu gehen und die Tiere kennenzulernen, fragte sie von neuem:
»Also, von Honoré habt Ihr nichts gesehen?«
Die unerwartete Wiederholung der Frage machte ihn zittern, als ob ein plötzlicher Lichtschein einen dunklen Winkel seines Gedächtnisses aufgehellt hatte. Er zauderte noch einen Augenblick und sagte dann entschlossen:
»Seht, ich wollte Euch nicht gleich zu Anfang so wehtun, aber ich glaube, Honoré ist da draußen geblieben.«
»Wieso, geblieben?«
»Ja, ich glaube, die Preußen haben ihm sein Teil gegeben ... Ich habe ihn so halb über seinem Geschütz liegen sehen, den Kopf hoch, mit einem Loch unter dem Herzen.«
Es entstand eine Pause. Silvine war entsetzlich bleich geworden, während Vater Fouchard sein Glas, in das er gerade den Rest der Flasche gegossen hatte, ganz ergriffen auf den Tisch stellte.
»Seid Ihr ganz sicher?« fing sie mit erstickter Stimme wieder an.
»Gewiß! So sicher, wie man nur sein kann, wenn man so was selbst gesehen hat ... Es war auf einem kleinen Berge, neben drei Bäumen, ich glaube, ich könnte mich mit geschlossenen Augen wieder hinfinden.«
In ihr brach etwas zusammen. Der Bursche, der ihr verziehen hatte, der sich durch ein Versprechen an sie gebunden hatte, den sie heiraten sollte, wenn er nach Schluß des Feldzuges aus dem Dienst heimkäme! Und den hatten sie ihr getötet, und er lag da draußen mit einem Loch unter dem Herzen! Noch nie hatte sie gefühlt, wie sehr sie ihn liebte; so hob der Drang, ihn wiederzusehen, ihn trotz allem bei sich zu haben, und wenn's auch nur in der Erde wäre, sie empor und riß sie aus ihrer gewöhnlichen Zurückhaltung.
Sie stieß Karlchen heftig beiseite und rief:
»Nein! Das glaube ich nicht, ehe ich es nicht selbst auch gesehen habe ... Wenn Ihr wißt, wo es ist, dann müßt Ihr mich hinbringen. Und wenn es wahr ist und wir ihn finden, dann bringen wir ihn mit.«
Tränen erstickten sie, sie legte den Kopf auf den Tisch und heftiges Schluchzen erschütterte sie, während der Kleine, ganz starr darüber, von seiner Mutter so beiseite geschubst zu werden, auch in Tränen ausbrach. Sie nahm ihn wieder hoch und preßte ihn mit wirren, stammelnden Worten ans Herz.
»Mein armer Junge! Mein armer Junge!«
Vater Fouchard war ganz verdutzt. In seiner Weise liebte er ja doch seinen Sohn auch. Aus großer Ferne mußten ihm wohl alte Erinnerungen wieder aufsteigen, aus den Zeiten, als seine Frau noch lebte und Honoré noch zur Schule ging; und zu gleicher Zeit traten ihm zwei dicke Tränen in die roten Augen und rannen über seine wettergebräunten Backen. Seit zehn Jahren hatte er nicht mehr geweint. Flüche entfuhren ihm und er wurde schließlich wütend über den Jungen, der doch seiner war und den er nun nicht mehr wiedersehen sollte.
»Herrgott noch mal! So was ist doch gemein, wenn man bloß einen Jungen hat und sie nehmen einem den!«
Als seine Ruhe dann aber einigermaßen zurückkehrte, ärgerte Fouchard sich, daß Silvine immer noch davon redete, sie wolle Honorés Leiche da draußen suchen. Sie war jetzt in ein tränenloses, aber hartnäckiges, unüberwindliches Schweigen verfallen; er kannte sie gar nicht wieder bei ihrer sonstigen Fügsamkeit, mit der das Mädchen alles voller Hingebung zu besorgen pflegte: ihre großen, unterwürfigen Augen, die allein ihrem Gesicht schon eine so hohe Schönheit verliehen, hatten eine wilde Entschlossenheit angenommen, während ihre Stirn unter der Flut ihres dichten braunen Haares ihre Blässe beibehielt. Sie hatte sich ein rotes Umschlagetuch, das sie um die Schultern trug, abgerissen, so daß sie nun ganz schwarz, wie eine Witwe, dastand.
Vergeblich stellte er ihr die Schwierigkeiten solcher Nachforschungen vor, die Gefahren, denen sie sich möglicherweise aussetzte, die geringe Hoffnung, die sie habe, den Leichnam zu finden. Sie hörte einfach auf zu antworten, und er sah wohl, sie würde allein gehen und irgendwelche Torheit begehen, wenn er sich der Sache nicht annähme, und das beunruhigte ihn noch mehr wegen der möglichen Verwicklungen, in die ihn dies mit den preußischen Behörden stürzen konnte. Schließlich entschied er sich denn auch, zu dem Ortsvorsteher von Remilly zu gehen, einem entfernten Vetter von ihm, und die beiden brachten unter sich eine ganze Geschichte zusammen: Siloine wurde für Honorés wirkliche Witwe ausgegeben, Prosper wurde ihr Bruder, und so stellte der unten im Ort, im Gasthof zum Malteserkreuz, untergebrachte bayrische Oberst ihnen gern einen Erlaubnisschein als Bruder und Schwester aus, der diesen gestattete, den Körper des Gatten zurückzubringen, falls sie ihn auffänden. Darüber war die Nacht hereingebrochen, und alles, was sie von der jungen Frau erreichen konnten, war, daß sie den nächsten Tag abwartete, um sich auf den Weg zu machen.
Am nächsten Tage hätte Vater Fouchard ihr unter keinen Umständen gestattet, eins seiner Pferde anzuspannen, denn er fürchtete, es nie wiederzusehen. Wer konnte ihm sagen, ob die Preußen nicht das Tier und den Wagen beschlagnahmen würden? Widerstrebend genug fand er sich schließlich bereit, ihr einen Esel zu leihen, einen kleinen grauen, dessen schmaler Karren noch groß genug war, um den Leichnam aufzunehmen. Er gab Prosper ausführliche Verhaltungsmaßregeln; der hatte zwar gut geschlafen, aber bei dem Gedanken an die bevorstehende Fahrt wurde er doch nachdenklich, als er nun, gut ausgeruht, sich zu erinnern versuchte. In der letzten Minute holte Silvine noch ihre eigene Bettdecke und faltete sie auf dem Boden des Karrens zusammen. Und als sie schon aufgebrochen waren, kam sie noch einmal zurückgelaufen, um Karlchen einen Kuß zu geben.
»Vater Fouchard, ich vertraue ihn Euch an; paßt gut auf, daß er nicht mit den Streichhölzern spielt.«
»Ja, ja, sei nur ruhig!«
Die Vorbereitungen hatten sich hingezogen, und es war fast sieben Uhr, als Silvine und Prosper hinter dem schmalen Karren, den der kleine Esel zog, mit gesenktem Kopfe die steilen Abhänge von Remilly herabkamen. Während der Nacht hatte es reichlich geregnet, die Wege waren in Schlammströme verwandelt, und dicke graue Wolken liefen unendlich traurig über den Himmel.
Prosper wollte einen möglichst kurzen Richtweg einschlagen und entschloß sich daher, durch Sedan zu gehen. Vor Pont-Maugis aber hielt ein preußischer Posten den Karren an und hielt ihn über eine Stunde auf; und nachdem der Erlaubnisschein durch die Hände von vier oder fünf Führern gelaufen war, konnte der Esel seinen Weg wieder aufnehmen unter der Bedingung, daß sie den weiten Umweg über Bazeilles machten, so daß sie einen nach links führenden Querweg einschlugen. Ein Grund wurde ihnen nicht angegeben; ohne Zweifel fürchtete man sich davor, die Stadt noch mehr zu belasten. Als Silvine auf der Eisenbahnbrücke über die Maas kam, diese verhängnisvolle Brücke, die zu sprengen vergessen worden war, die übrigens den Bayern teuer genug zu stehen kam, da sah sie den Leichnam eines Artilleristen mit der Strömung heruntertreiben, als ob er spazierenbummelte. Ein Strauch hielt ihn fest, einen Augenblick blieb er unbeweglich hängen, dann drehte er sich um sich selbst und trieb weiter.
In Bazeilles, das der Esel von einem Ende zum andern im Schritt durchzog – so lautete die Vorschrift –, sahen sie die Zerstörung mit allem, was der Krieg im Vorüberziehen an scheußlichem Trümmerwerk hervorbringen kann, als Vernichter, als wütender Orkan. Die Toten waren schon aufgesammelt, auf dem Pflaster in der Stadt lag kein einziger Leichnam mehr; und der Regen hatte das Blut weggewaschen, aber die Pfützen blieben noch rot und wiesen verdächtige Überreste auf, Fetzen, an denen man noch Menschenhaar zu erkennen glaubte. Aber der Schrecken, der ihnen das Herz zusammenschnürte, rührte mehr von den Trümmern her, von den Trümmern jenes Bazeilles, das noch vor drei Tagen so lachend mit seinen fröhlichen Häusern inmitten ihrer Gärten gestanden hatte und nun zusammengestürzt, vernichtet dalag und nur noch von den Flammen geschwärzte Mauerflächen aufwies, ein riesiger Scheiterhaufen von rauchenden Balken. Mitten auf dem Platze brannte die Kirche immer noch, aus der fortwährend eine dicke schwarze Rauchsäule emporstieg, die sich am Himmel zu einem Trauerflor ausbreitete. Ganze Straßen waren verschwunden, nichts war weder von der einen noch der andern Seite mehr vorhanden, nichts als ein Haufen verbrannter Steine an den Straßenrinnen entlang, von einer Schmutzschicht aus Ruß und Asche bedeckt, einem dicken, tintenfarbigen, alles überziehenden Schlamm. An den vier Ecken der Straßenkreuzungen lagen alle Eckhäuser danieder, als wären sie von dem feurigen Wind, der hier durchgeweht war, mitgerissen worden. Andere hatten weniger gelitten, eins stand ganz vereinzelt aufrecht, während die Nachbarhäuser rechts und links wie vom Kugelregen zerhackt erschienen und ihr leeres Gebälk wie ein dürres Knochengerippe in die Luft streckten. Und ein unerträglicher Geruch strömte umher, der üble Gestank einer Feuersbrunst, besonders scharf infolge des in Strömen über die Dielen gegossenen Petroleums. Aber auch die stumme Verzweiflung über das, was die Leute hatten retten können, trug dazu bei, über den armseligen, aus den Fenstern geworfenen Hausrat, der zertrümmert auf den Fußsteigen umherlag, wacklige Tische mit zerbrochenen Beinen, Schränke mit offenen Seitenwänden und gespaltener Vorderseite, Leinen, das zerrissen und beschmutzt dalag, und alle sonstigen Überbleibsel der Plünderung, die so allmählich im Regen vergingen. Durch die offene Vorderseite eines Hauses sah man über die eingestürzten Fußböden hinweg eine Uhr wohlbehalten auf einem Kamin ganz oben an einer Wand stehen.
»Ach, die Schweinehunde!« brummte Prosper vor sich hin, denn in ihm erhitzte sich das Blut des Soldaten, der er noch vorgestern gewesen war, als er all diese Scheußlichkeiten sehen mußte.
Er ballte die Fäuste, und Silvine, die sehr blaß geworden war, mußte ihn bei jedem Posten, den sie auf dem ganzen Wege trafen, mit einem Blick beruhigen. Die Bayern hatten tatsächlich an alle noch brennenden Häuser Posten gestellt; und diese Leute schienen mit ihrem geladenen Gewehr und aufgepflanzten Bajonett den Brand zu bewachen, damit die Flamme ihr Werk vollenden könne. Mit drohender Miene und tiefen Kehllauten scheuchten sie lange stehenbleibende Neugierige weiter, aber auch die, die aus besonderer Teilnahme in der Umgebung umherstreiften. In der Ferne blieben Gruppen von Einwohnern stumm, mit verhaltener Wut stehen. Eine ganz junge Frau mit aufgelöstem Haar und schmutzbedecktem Kleid stand hartnäckig vor dem rauchenden Trümmerhaufen eines kleinen Hauses und wollte trotz dem ihr die Annäherung verbietenden Wachtposten in der Glut herumstochern. Und plötzlich, als der Bayer sie mit brutaler Handbewegung fortwies, drehte sie sich um und spie ihm ihre ganze wütende Verzweiflung ins Gesicht, blutige, schmutzige Beleidigungen, Schmutzereien, die sie etwas zu trösten schienen. Er mußte sie wohl nicht verstanden haben, denn er sah sie unruhig an und trat zurück. Drei seiner Gefährten kamen herzu und machten ihn von dem Weibe frei, indem sie sie heulend fortführten. Vor den Trümmern eines andern Hauses lagen ein Mann und zwei kleine Mädchen vor Mattigkeit und Jammer alle drei auf der Erde und schluchzten, denn sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten, nachdem sie alles, was sie besaßen, in Asche hatten vergehen sehen. Aber ein Streiftrupp kam vorbei und zerstreute die Neugierigen, so daß die Straße wieder menschenleer, nur mit ihren Posten dalag, die düster und hart, scharf auf Befolgung ihres verruchten Auftrages achteten.
»Die Schweinehunde, die Schweinehunde!« wiederholte Prosper dumpf. »Müßte das ein Spaß sein, einen oder zwei abzuwürgen!«
Silvine brachte ihn von neuem zum Schweigen. In einem vom Feuer verschonten Wagenschuppen heulte ein Hund, der dort eingeschlossen und seit zwei Tagen vergessen war, in fortdauernden Klagetönen so jammervoll, daß es wie ein Schiecken durch den schwer herniederhängenden Himmel lief, von dem ein leichter, grauer Regen niederzufallen begann. In diesem Augenblick stießen sie gerade vor dem Park von Montivilliers auf drei große zweirädrige Karren voller Toter, die dort in einer Reihe standen, Abfuhrwagen, wie sie mit der Schaufel jeden Morgen an den Straßen entlang mit dem Kehricht vom Tage vorher gefüllt werden; ebenso hatte man sie jetzt mit Leichen beladen; sie hielten bei jedem Toten, der hinaufgeworfen wurde, und rumpelten dann unter dem mächtigen Lärm ihrer Räder wieder los, bis sie etwas weiter wieder bei einem Toten anhielten, und so zogen sie durch ganz Bazeilles, bis der Haufen über ihren Rand quoll. Sie hielten unbeweglich auf der Straße, bis sie zu einem nahen öffentlichen Abladeplatz gebracht wurden, einem benachbarten Beinhaus. Füße standen in die Luft. Ein halb abgerissener Kopf fiel herab. Als die drei Karren sich dann wieder in Bewegung setzten und durch die Pfützen holperten, geriet eine herabhängende leichenblasse, sehr lange Hand gegen eins der Räder; und die Hand wurde allmählich bis auf den Knochen zermahlen und abgeschliffen.
In dem Dorfe Balan hörte der Regen auf. Prosper brachte Silvine dazu, ein Stück Brot zu essen, das er vorsichtshalber mitgebracht hatte. Es war schon elf Uhr. Aber als sie an Sedan herankamen, hielt ein preußischer Posten sie wieder an; und diesmal wurde es schrecklich, der Offizier wurde wütend und wollte ihnen nicht einmal den Schein wiedergeben, den er in einem übrigens sehr richtigen Französisch für falsch erklärte. Auf seinen Befehl zogen ein paar Soldaten den Esel mit seinem Karren, unter einen Schuppen. Was sollten sie nun machen? Wie sollten sie den Weg fortsetzen? Silvine geriet in Verzweiflung; aber da kam ihr ein Gedanke: der Vetter Dubreuil kam ihr wieder ins Gedächtnis, der Verwandte Vater Fouchards, den sie auch kannte und dessen Besitzung, die Eremitage, nur ein paar hundert Schritt an einem der Gäßchen in der Vorstadt lag. Er war Bürger, und auf ihn würden sie vielleicht hören. Sie nahm Prosper mit, da man sie unter der Bedingung frei ließ, daß der Karren dabliebe. Sie rannten und fanden das Gitter der Eremitage weit offenstehen. Schon von weitem fesselte sie ein staunenerregendes Schauspiel, das sie schon bemerkten, als sie sich in einen der Baumgänge hundertjähriger Ulmen hineinwandten.
»Verflucht!« meinte Prosper, »hier geht's aber hoch her!«
Unten vor der Freitreppe befand sich auf dem feinen Kiese der Terrasse eine ganze fröhliche Gesellschaft. Um einen runden Tisch mit Marmorplatte bildeten mit himmelblauem Atlas überzogene Lehnstühle mit einem Sofa einen Kreis und stellten so in der freien Luft eine befremdliche Einrichtung dar, die der Regen schon seit gestern hatte durchweichen müssen. Zwei Zuaven wälzten sich über die Sofalehnen und schienen vor Lachen platzen zu wollen. Ein kleiner Infanterist, der in einem Lehnstuhle saß, beugte sich vor und hielt sich scheinbar den Bauch. Drei andere lehnten sich nachlässig gegen die Seitenlehnen ihrer Stühle, während ein Jäger die Hand vorstreckte, wie um ein Glas vom Tische zu nehmen. Augenscheinlich hatten sie den Keller ausgeleert und feierten ein Fest.
»Wie kommen die denn noch hierher?« fragte Prosper sich leise, und sein Erstaunen wuchs, je näher sie kamen. »Machen sich denn die Teufelskerls gar nichts aus den Preußen?«
Silvines Augen aber erweiterten sich, sie stieß einen Schrei aus und machte vor Schrecken eine wilde Bewegung. Die Soldaten rührten sich nicht, sie waren tot. Die beiden Zuaven, steif, mit verkrümmten Händen, hatten kein Gesicht mehr, ihre Nasen waren abgerissen und die Augen aus ihren Höhlen gequollen. Das Lachen desjenigen, der sich den Bauch hielt, kam daher, daß eine Kugel ihm die Lippen weggerissen und die Zähne ausgebrochen hatte. Es war wirklich gräßlich, wie die Ärmsten hier in ihren Holzpuppenstellungen zu plaudern schienen, mit gläsernen Blicken und offenem Munde, eisig, starr für immer. Hatten sie sich noch lebend hierher geschleppt, um zusammen zu sterben? Oder hatten sich nicht vielmehr die Preußen einen Spaß daraus gemacht, sie aufzulesen und sie hier zu einer Tafelrunde hinzusetzen als Spottbild alter französischer Heiterkeit?
»'ne merkwürdige Sorte von Spaß ist das doch!« bemerkte Prosper und wurde blaß.
Als sie dann die andern Toten am Fuß der Bäume in den Baumgängen und auf dem Rasen liegen sahen, die etwa dreißig Tapferen, unter denen auch der Leichnam Leutnant Rochas' ruhte, von Kugeln durchlöchert und in die Fahne eingehüllt, da fügte er mit ernster Miene voller Hochachtung hinzu:
»Hier haben sie sich aber schön geholzt! Es sollte mich doch wundern, wenn wir den Bürger fänden, den wir hier suchen.«
Silvine war bereits ins Haus getreten, das mit eingeschlagenen Fenstern und Türen in die feuchte Luft hinausgähnte. Wirklich war offenbar niemand mehr da, die Inhaber mußten schon vor der Schlacht fortgegangen sein. Als sie aber weiter forschte und bis in die Küche vordrang, stieß sie einen Schreckensschrei aus. Zwei Körper waren unter den Gossenstein gerollt, ein Zuave, ein schöner Mann mit schwarzem Bart, und ein riesiger Preuße mit roten Haaren, beide in einer wütenden Umarmung verstrickt. Die Zähne des einen waren dem andern in die Backe gedrungen, die steifen Arme hatten ihren Halt nicht fahren lassen, sie ließen noch die gebrochenen Rückgrate krachen und verschlangen die beiden Körper in einen derartigen Knoten ewig währender Wut, daß sie zusammen beerdigt werden mußten.
Nun beeilte Prosper sich, Silvine fortzuführen, denn sie hatten in diesem offenstehenden, nur vom Tode bewohnten Hause nichts mehr zu tun. Und als sie dann verzweifelt wieder zu dem Posten kamen, der ihren Esel mit dem Karren zurückgehalten hatte, trafen sie glücklicherweise bei dem rohen Offizier einen General, der das Schlachtfeld besichtigen wollte. Der wünschte Einsicht in den Erlaubnisschein zu nehmen und gab ihn dann Silvine mit einer mitleidigen Bewegung zurück, als wollte er sagen, laßt doch die arme Frau mit ihrem Esel die Leiche ihres Mannes suchen. Ohne zu warten, stiegen sie und ihr Begleiter nun von dem schmalen Karren gefolgt, gemäß einem erneuten Verbot des Durchmarsches durch Sedan, den Givonnegrund aufwärts.
Um dann nach der Hochebene von Illy hinaufzukommen, schlugen sie den nach links führenden Weg ein, der durch das Garennegehölz geht. Aber auch hier wurden sie wieder aufgehalten; immer wieder glaubten sie, sie kämen nicht durch das Gehölz durch, so vervielfältigtes sich die Hindernisse. Auf jeden Schritt wurde der Weg durch Bäume versperrt, die, von Granaten abgeknickt, wie gefällte Riesen dalagen. Das war der beschossene Wald, in dem das Geschützfeuer weit und breit hundertjährige Bestände niedergeschlagen hatte, die wie ein Viereck der alten Garde mit Unerschütterlicher Festigkeit dagestanden hatten. Überall lagen entblätterte Stämme wie mit durchbohrter und gespaltener Brust umher. Und diese Vernichtung, dies Gemetzel von Ästen, die ihren Saft herniederrieseln ließen, machte denselben herzzerreißenden Eindruck wie ein menschliches Schlachtfeld. Aber auch Leichen lagen umher, brüderlich mit den Bäumen gefallene Soldaten. Ein Leutnant, dem das Blut vor dem Munde stand, hatte noch beide Hände in der Erde vergraben, aus der sie mit den Fäusten Kräuter herausgerissen hatte. Weiterhin lag ein toter Hauptmann auf dem Bauche, den Kopf hoch erhoben, als schrie er noch vor Schmerzen. Andere schienen im Gestrüpp zu schlafen, während einem Zuaven, dessen blauer Gürtel sich entzündet hatte, Bart und Haar ganz verbrannt waren. Wiederholt mußten sie auf diesem engen Waldpfade einen Körper aus dem Wege räumen, damit der Esel seinen Weg fortsetzen konnte.
In einem kleinen Tale hörte der Schrecken plötzlich auf. Zweifellos war die Schlacht hier vorbeigegangen, ohne dies köstliche Eckchen Natur zu berühren. Kein Baum war gestreift, keine Wunde hatte ihr Blut über das Moos gespritzt. Ein Bach lief unter Wasserlinsen dahin, der an ihm entlangführende Pfad war von großen Buchen überschattet. Der Reiz dieses anbetungswürdigen Friedens ging ihnen durch und durch, die Frische des dahinlaufenden Wassers, dies schaudernde Schweigen im Grünen.
Prosper hielt den Esel an, um ihn aus dem Bache trinken zu lassen.
»Ach, wird einem hier wohl!« sagte er in einem unwillkürlichen Ausbruch von Erleichterung.
Silvine blickte mit erstaunten Augen um sich; auch sie fühlte sich erholt und beglückt. Aber was sollte ihr der glückliche Frieden dieses verlorenen Winkels, wenn draußen doch überall nur Trauer und Leid herrschte? Mit einer verzweifelten Bewegung trieb sie zur Eile an.
»Schnell, schnell, vorwärts! ... Wo ist es? Wo glaubt Ihr Honoré ganz bestimmt gesehen zu haben?«
Und als sie fünfzig Schritte weiter wieder auf die Hochebene von Illy heraustraten, lag plötzlich die kahle Fläche in ihrer vollen Ausdehnung vor ihnen. Diesmal war es das richtige Schlachtfeld; nackter Boden dehnte sich bis an den Horizont unter dem bleifarbigen Himmel aus, von dem es jetzt dauernd in Strömen herabgoß. Die Toten waren hier nicht zu Haufen zusammengeschichtet; alle Preußen mußten schon beerdigt sein, denn kein einziger lag unter den verstreuten Franzosen, die an den Wegen entlang, auf den Stoppeln und unten in den Hohlwegen lagen, je nachdem sie das Geschick der Schlacht ereilt hatte. Der erste, den sie trafen, war ein Sergeant, der sich gegen eine Hecke lehnte, ein prachtvoller, kräftiger junger Mann, der mit halb geöffneten Lippen und ruhigem Gesicht noch zu lächeln schien. Aber hundert Schritte weiter sahen sie einen andern quer über den Weg liegen, gräßlich verstümmelt, den Kopf halb Weggerissen, die Schultern ganz von Gehirn bespritzt. Jenseits dieser vereinzelten Körper lagen dann kleinere Gruppen; so sahen sie sieben in einer Reihe, das Knie auf dem Boden, das Gewehr an der Schulter, beim Schießen getroffen; und neben ihnen war ein Offizier gefallen, während er Befehle erteilte. Der Weg ging nun in einem engen Bachbett entlang, und hier packte der Schrecken sie wieder angesichts dieses Grabens, in den eine ganze Kompanie unter der Wirkung des Kugelregens hingestürzt zu sein schien: er war voller Leichen, ein wahrer Sturzbach zusammengeknäulter, zerbrochener Menschen, deren gekrümmte Hände sich in die gelbe Erde eingekrallt hatten, ohne Halt an ihr zu finden. Mit lautem Krächzen erhob sich ein schwarzer Schwarm von Raben; Fliegenschwärme summten schon über den Körpern herum und kamen zu Tausenden immer wieder zurück, um das frische Blut der Wunden aufzulecken.
»Wo ist es denn?« fragte Silvine wieder.
Sie gingen an einem frisch bestellten Acker entlang, der ganz mit Tornistern bedeckt war. Irgendein hart bedrängtes Regiment mußte sich ihrer hier in einer plötzlichen Anwandlung von Panik entledigt haben. Die Überreste, mit denen der Erdboden übersät war, erzählten deutlich ganze Einzelvorgänge des Kampfes. Über ein Feld mit roten Rüben verstreute Käppis, die wie riesige Mohnblüten aussahen, Uniformfetzen, Achselstücke, Koppel erzählten von einem wilden Handgemenge, einem der seltenen Kämpfe Mann gegen Mann in diesem fürchterlichen, zwölf Stunden dauernden Artilleriezweikampf. Was sie aber auf jeden Schritt trafen, das waren Bruchstücke von Waffen, Säbeln, Bajonetten, Chassepots, und zwar so zahlreich, daß sie ihnen wie eine neue Pflanzendecke vorkamen, wie die an einem Tage des Schreckens emporgeschossene Ernte. Eßschüsseln und Wasserflaschen lagen gleichfalls an den Wegen entlang, und alles, was sonst noch aus den geleerten Tornistern hatte herausfallen können, Reis, Bürsten, Patronen. In dieser fürchterlichen Zerstörung folgten sich Acker auf Acker, umgerissene Einfriedigungen, Bäume, wie von einer Feuersbrunst verbrannt, und der Erdboden selbst durch Granaten aufgerissen oder durch den Galopp der Massen derartig niedergetreten und verhärtet, daß es schien, als müsse er auf ewig unfruchtbar bleiben. Der Regen ertränkte alles in einem feuchten Bleigrau, ein hartnäckiger Geruch hing in der Luft, dieser Geruch des Schlachtfeldes Nach verfaultem Stroh, verbranntem Tuch, eine Mischung von Fäulnis und Pulverschleim.
Silvine war ermüdet vom Anblick dieser Totenfelder, über die sie schon meilenweit hinzugehen glaubte, und sie blickte in wachsender Angst um sich.
»Wo ist es? Wo ist es denn?«
Aber Prosper war unruhig geworden und antwortete nicht. Was ihn überwältigte, waren mehr noch als die Leichen seiner Waffengenossen die Pferdekadaver, die armen Pferde, von denen sie so viele auf der Seite liegen fanden. Manche sahen wirklich bejammernswert aus in ihren schrecklichen Stellungen mit abgerissenem Kopf und aufgeschlitzten Seiten, aus denen die Eingeweide hervorhingen. Viele lagen mit riesigem Bauch auf dem Rücken und streckten ihre vier steifen Beine wie Notzeichen in die Luft. Die schrankenlose Ebene war ganz höckerig von ihnen. Einige waren nach zweitägigem Todeskampfe noch nicht tot; beim geringsten Geräusch hoben sie den schmerzenden Kopf, bewegten ihn nach rechts und links und ließen ihn dann wieder fallen, während andere von Zeit zu Zeit einen durchdringenden Schrei ausstießen, diesen merkwürdigen Klageschrei des sterbenden Pferdes, der so furchtbar schmerzerfüllt klingt, daß die Luft scheinbar von ihm erzittert. Zerrissenen Herzens mußte Prosper an Zephir denken; vielleicht würde er auch ihn noch wiedersehen.
Plötzlich fühlte er den Erdboden unter einem wütenden Galopp erbeben. Er wandte sich und konnte seiner Gefährtin nur noch zurufen:
»Die Pferde! Die Pferde! ... Werft Euch hinter die Mauer hier!«
Von einem benachbarten Abhang sausten an die hundert Pferde, frei, reiterlos, einige noch mit ihrem Gepäck, herab und wälzten sich in einer höllischen Jagd auf sie zu. Das waren versprengte, auf dem Schlachtfelde zurückgebliebene Pferde, die sich gefühlsmäßig zu Trupps wieder zusammenschlossen. Seit vorgestern ohne Heu oder Hafer, hatten sie das spärliche Grün abgenagt, hatten alle Hecken abgefressen, sogar die Rinde von den Bäumen gerissen. Und wenn der Hunger ihnen den Bauch wie Sporenstiche zerschnitt, sausten sie alle miteinander in wahnsinnigem Galopp von dannen und jagten über die leere, stumme Ebene, wobei sie Tote zertrampelten und Verwundete umbrachten.
Die Windsbraut näherte sich, Silvine hatte gerade noch Zeit, den Esel mit dem Karren in den Schutz der kleinen Mauer zu ziehen.
»Herrgott! Die brechen ja alles kurz und klein!«
Aber die Pferde waren über das Hindernis hinweggesprungen, es tönte wie Donnerrollen, und schon stürzte sich ihre Jagd auf der andern Seite in einen Hohlweg, bis sie hinter der Ecke eines Gehölzes verschwanden.
Als Silvine den Esel auf den Weg zurückgeführt hatte, verlangte sie, Prosper solle ihr Rede stehen.
»Sagt, wo ist es?«
Er stand und warf seine Blicke nach allen vier Himmelsrichtungen.
»Da standen drei Bäume, die drei Bäume muß ich wiederfinden ... ja, natürlich! Im Gefecht sieht man nicht sehr deutlich, und es ist verdammt ungemütlich, wenn man nachher noch die Wege wissen soll, die man geritten ist.«
Als er dann links von sich Leute sah, zwei Männer und eine Frau, dachte er, die wollte er fragen. Die Frau lief aber bei seinem Näherkommen weg und die Männer scheuchten ihn mit drohenden Bewegungen fort; nun sah er noch mehr, aber alle vermieden ihn und drückten sich wie wilde, argwöhnische Tiere ins Gestrüpp; sie waren schlecht gekleidet und ihre verdächtigen Banditengesichter namenlos schmutzig. Als er nun bemerkte, daß die Toten hinter diesen üblen Gesellen keine Schuhe mehr an ihren nackten, blassen Füßen hatten, da begriff er endlich, daß sie den deutschen Heeren folgende Strolche wären, Leichenräuber, niedriges, habgieriges Judengesindel, das hinter dem Überfall Herzog. Ein langer Magerer riß in vollem Laufe vor ihm aus; er hatte einen Sack auf der Schulter, und in seinen Taschen klapperte es von aus den Hosentaschen gestohlenen Uhren und Silbergeld. Ein dreizehn- oder vierzehnjähriger Bengel ließ Prosper indessen herankommen, und als dieser in ihm einen Franzosen erkannte und ihn mit Schmähungen überhäufte, wehrte der Junge sich. Was? Nicht mal seinen Lebensunterhalt sollte man sich verdienen? Er sammelte Chassepots auf und bekam fünf Sous für jeden, den er fand. Er war morgens früh aus seinem Dorf ausgerissen und hatte seit gestern einen leeren Magen; durch einen luxemburgischen Unternehmer hatte er sich verführen lassen, der mit den Preußen einen Vertrag über die Sammlung von Gewehren auf den Schlachtfeldern abgeschlossen hatte. Diese fürchteten nämlich tatsächlich, wenn die Waffen durch die Grenzbauern aufgesammelt würden, möchten sie nach Belgien gehen und von da wieder nach Frankreich hineinkommen. Eine ganze Wolke dieser armen Teufel war also auf der Jagd nach Gewehren, sie suchten ihre fünf Sous im Gestrüpp, so daß sie wie die Weiber aussahen, die mit aufgeschlagenen Röcken auf den Wiesen Löwenzahn suchen.
»Niederträchtiges Geschäft!« brummte Prosper.
»Na ja! Man will doch essen,« erwiderte der Junge, »ich stehle keinem Menschen was.«
Da er aber nicht aus der Gegend stammte und keine Auskunft geben konnte, beschränkte er sich darauf, ihnen einen kleinen benachbarten Hof zu zeigen, auf dem er Leute gesehen hätte.
Prosper dankte ihm und ging weiter hinter Silvine her, als er ein Chassepot halb in einer Ackerfurche stecken sah. Zuerst hütete er sich wohl, ihn ihm zu zeigen. Dann aber lehrte er um und schrie wie außer sich:
»Hier! Da ist noch einer, der gibt dir noch fünf Sous drüber her!«
Als Silvine naher an den Hof herankam, bemerkte sie verschiedene Bauern, die lange Gruben mit der Hacke aushoben. Sie standen aber unter unmittelbarem Befehl preußischer Offiziere, die, nur eine Gerte in den Händen, steif und stumm ihr Werk überwachten. Auf die Weise hatten sie die Dorfbewohner ausgehoben, um die Toten zu beerdigen, da sie befürchteten, das Regenwetter würde die Verwesung beschleunigend Zwei Karren voll Toter standen da, eine Schicht entleerte sie und legte die Leichen rasch, ohne sie zu durchsuchen oder auch nur ihnen ins Gesicht zu sehen, in dichtgedrängten Reihen nebeneinander; drei mit großen Schaufeln bewaffnete Leute folgten ihnen und bedeckten die Reihen mit einer so dünnen Schicht Erde, daß unter dem Einfluß des strömenden Regens bereits Risse zu klaffen begannen. Ehe vierzehn Tage Um wären, mußte die Pest aus diesen Rissen hervorhauchen, so oberflächlich geschah diese Arbeit. Silvine konnte nicht umhin, am Rande der Grube stehenzubleiben und die unglücklichen Toten der Reihe nach, wie sie herangebracht wurden, genau anzusehen. Sie zitterte vor entsetzlicher Furcht bei dem Gedanken, in jedem der blutigen Gesichter könne sie Honoré entdecken. War es nicht der Ärmste da, dem das linke Auge fehlte? Oder vielleicht der, dem die Kinnbacken zerspalten waren? Wenn sie sich nicht beeilte, ihn auf dieser endlosen, wüsten Fläche zu finden, würden sie ihn ihr sicher nehmen und ihn mit den andern in einem solchen Haufen begraben.
Jetzt lief sie wieder hinter Prosper her, der mit dem Esel bis an das Hoftor vorangegangen war.
»Herrgott! Wo ist es denn? ... Fragt doch, erkundigt Euch doch!«
Auf dem Hofe lagen nur Preußen in Gesellschaft einer Magd und ihres Kindes, die aus dem Walde wiedergekommen waren, weil sie dort vor Hunger und Durst umkamen. Es war ein Winkel voll urväterlicher Gemütlichkeit, voll ehrlicher Ruhe nach den Anstrengungen der vorhergehenden Tage. Soldaten bürsteten sorgfältig ihre auf Leinen zum Trocknen aufgehängten Uniformen aus. Einer war gerade mit einer geschickten Flickarbeit an seiner Hose fertig, während der Koch des Postens mitten auf dem Hofe ein mächtiges Feuer angezündet hatte, über dem die Suppe kochte, ein dicker Kessel, der einen vorzüglichen Duft nach Kohl und Speck ausströmte. Die Eroberung setzte sich bereits mit voller Ruhe und vorzüglichster Manneszucht ins Werk. Man hätte sie für nach Hause gegangene Bürger halten können, die ihre lange Pfeife rauchten. Auf einer Bank neben der Türe hatte ein dicker, rothaariger Mensch das Kind der Magd auf den Arm genommen, ein fünf- oder sechsjähriges Kerlchen; er ließ es tanzen und sprach auf Deutsch zärtlich auf es ein, wobei es ihm gewaltigen Spaß machte, wenn er sah, wie das Kind über die fremden Laute mit ihren rauhen Silben lachte, die es nicht verstand.
Aus Furcht vor einem unglücklichen Zufall kehrte ihnen Prosper sofort den Rücken. Aber die Preußen hier waren entschieden brave Kerls. Sie lachten über den kleinen Esel und gaben sich nicht mal die Mühe, nach ihrem Schein zu fragen.
Nun wurde ihr Marsch ganz toll. Die Sonne kam einen Augenblick zwischen zwei Wolken durch, schon ganz niedrig über dem Horizont. Wollte die Nacht schon hereinbrechen und sie auf diesem endlosen Leichenhaufen überraschen? Ein neuer Sturzregen verdunkelte die Sonne, um sie her war wieder nichts als die bleigraue Unendlichkeit des Regens, ein Wasserstaub, der alles, Wege, Felder und Bäume, verwischte. Er wußte nicht weiter, er fühlte sich verloren und gestand das ein. Der Esel trabte immer im gleichen Schritt mit gesenktem Kopfe hinter ihnen her und zog als gelehriges Tier seinen kleinen Karren mit ergebenem Schritt. Nun ging's nach Norden, und sie kamen auf Sedan zurück. Jede Richtung fehlte ihnen; zweimal machten sie ganz denselben Weg und merkten das erst, als sie über dieselben Stellen kamen. Zweifellos drehten sie sich im Kreise herum, und schließlich hielten sie verzweifelt und erschöpft an einem Kreuzwege, wo drei Straßen auseinandergingen, vom Regen gepeitscht, unvermögend, noch weiter zu suchen.
Da hörten sie zu ihrer Überraschung laute Klagen; sie drangen bis als ein kleines Haus zu ihrer Linken vor und fanden hier hinten in einer Kammer zwei Verwundete. Die Türen standen weit offen; und seit den zwei Tagen, die sie hier, ohne auch nur verbunden zu sein, im Fieber klapperten, hatte sie kein Mensch, keine Seele gesehen. Vor allem verzehrte sie der Durst bei dem ständigen Rauschen der Regenfluten, die gegen die Fensterscheiben schlugen. Sie konnten sich nicht rühren und stießen fortwährend den Ruf: »Zu trinken! Zu trinken!« aus, diesen Schrei schmerzhafter Gier, mit dem Verwundete Vorübergehende bei dem geringsten Geräusch, das sie aus ihrer Schlaftrunkenheit reißt, zu verfolgen pflegen.
Während Silvine Wasser heranbrachte, hatte Prosper in dem am übelsten Zugerichteten einen Waffenbruder erkannt, Men Chasseur d'Afrique von seinem Regiment, und erfuhr von ihm, daß sie nicht weit von der Stelle sein könnten, wo die Division Margueritte angegriffen hatte. Der Verwundete schloß mit einer undeutlichen Handbewegung: ja, da war's, wenn sie sich nach links wendeten, nachdem sie an einem Kleefeld vorbeigekommen wären. Ohne weiter zu warten, wollte Silvine auf Grund dieser Auskunft gleich weiter. Sie hatte den Verwundeten eine Anzahl vorbeigehender Arbeiter zur Hilfe gerufen, die Tote auflasen. Dann nahm sie den Esel beim Zügel und zog ihn über den schlüpfrigen Erdboden; so eilig hatte sie es, dort drüben an dem Kleefeld vorbeizukommen.
Prosper brachte sie plötzlich zum Stehen.
»Hier muß es sein. Seht! Dort rechts stehen die drei Bäume ... Seht Ihr hier die Radspuren? Hier liegt ein zerbrochener Munitionskasten. Endlich sind wir da!«
Zitternd stürzte Silvine vorwärts und sah in die Gesichter zweier Toter, zwei am Wegesrande gefallene Artilleristen.
»Aber hier ist er nicht, hier ist er nicht ... Ihr müßt schlecht gesehen haben ... Ja! Das war so'n Gedanke, so 'ne falsche Vorstellung, die Euch vor Augen gekommen ist!«
Allmählich kam eine närrische Hoffnung, eine wahnsinnige Freude über sie.
»Wenn Ihr Euch getäuscht hättet, wenn er noch lebtet Ganz sicher lebt er, denn er ist doch nicht hier!«
Plötzlich aber stieß sie einen dumpfen Schrei aus. Sie hatte sich gerade umgedreht und befand sich nun genau in der Batteriestellung. Es war furchtbar, der Erdboden war wie durch ein Erdbeben umgewühlt, überall lagen Trümmer umher. Tote lagen nach allen Richtungen verstreut in gräßlichen Stellungen da, mit verkrümmten Armen und angezogenen Beinen, den Kopf zurückgeworfen, als wollten sie ihren Schmerz noch mit dem weit offen stehen gebliebenen Munde, der die weißen Zähne sehen ließ, herausheulen.
Ein toter, furchtsam zusammengekauerter Unteroffizier hielt beide Hände vor die Augen geschlagen, als wolle er nichts mehr sehen. Goldstücke, die ein Leutnant im Gürtel bei sich gehabt hatte, waren mit seinem Blute vermengt in seine eigenen Eingeweide gerollt. Einer über den andern lag das »Ehepaar«, der Fahrer Adolf und der Richtkanonier Louis, mit aus den Höhlen getretenen Augen da, sie waren in einer wilden Umarmung bis zum Tode verheiratet geblieben. Und endlich fanden sie Honoré auf seinem zusammengeschossenen Geschütz wie auf einem Paradebett liegen, Seite und Schulter zerschmettert, aber das Gesicht unversehrt und schön in seinem Zorn, wie es immer noch nach den preußischen Batterien dort hinten starrte.
»O mein Freund!« schluchzte Silvine, »mein Freund ...« Sie war im Übermaß ihres tollen Schmerzes auf der durchnäßten Erde mit gefalteten Händen auf die Knie gefallen. Dies Wort Freund, das einzige, das sie fand, drückte all die Zärtlichkeit aus, die sie nun mit diesem guten Menschen verloren hatte, der ihr alles verziehen, sie trotz allem zu seiner Frau machen wollte. Jetzt war ihre ganze Hoffnung zu Ende und sie konnte nicht mehr leben. Nie hatte sie einen andern geliebt, und nie würde sie wieder jemand liebhaben können. Der Regen hatte aufgehört; ein Rabenschwarm, der krächzend über den drei Bäumen kreiste, beunruhigte sie wie eine Drohung. Sollte ihr der liebe Tote, den sie unter so großen Mühen gefunden hatte, wieder genommen werden? Sie hatte sich auf den Knien weitergeschleppt und wehrte nun mit zitternder Hand die gierigen Fliegen ab, die um die beiden weit offenen Augen herumsummten, deren Blick sie noch suchte.
Da entdeckte sie in Honorés zusammengekrallten Fingern ein Stück blutbeflecktes Papier. Das regte sie auf und sie versuchte es mit vorsichtigem Zupfen herauszubekommen. Der Tote wollte es nicht fahrenlassen, er hielt es so fest, daß sie es ihm nur in Stücken hätte entreißen können. Das war der Brief, den sie ihm geschrieben hatte, den er zwischen Hemd und Haut aufbewahrte und den er nun als Lebewohl in der letzten Zuckung seines Todeskampfes an sich gepreßt hatte. Sie fühlte sich bei all ihrem Schmerz von einer tiefen Freude durchdrungen, als sie ihn erkannte, und war ganz überwältigt davon, daß er mit dem Gedanken an sie gestorben sei. Ach, gewiß! Sie wollte ihm den lieben Brief lassen, sie wollte ihn ihm nicht nehmen, wenn er ihn so unbedingt mit in die Erde nehmen wollte. Ein neuer Tränenstrom verschaffte ihr Linderung, warme, sanfte Tränen nun. Sie stand wieder auf und küßte seine Hände, sie küßte ihm die Stirn und wiederholte dabei beständig das so unendlich liebkosende Wort:
»Mein Freund ... mein Freund ...«
Die Sonne neigte sich indessen, und Prosper holte bis Bettdecke hervor. Zusammen hoben sie nun mit frommer Behutsamkeit Honorés Körper auf und legten ihn auf die auf die Erde gebreitete Decke; und als sie ihn eingehüllt hatten, trugen sie ihn auf den Karren. Der Regen drohte wieder loszubrechen, und sie setzten sich mit ihrem Esel in Bewegung, ein kleines Leichengefolge, über die verruchte Ebene, als sich ein entferntes Donnerrollen hören ließ.
Wieder rief Prosper:
»Die Pferde! Die Pferde!«
Es war abermals eine Jagd frei umherirrender, verhungerter Pferde. Diesmal kamen sie in tiefen Massen aus einem weiten, ebenen Stoppelfelde, die Mähnen im Winde, die Nüstern mit Schaum bedeckt; ein schräger Strahl roten Sonnenlichtes warf den Schatten ihres wahnsinnigen Laufes bis ans andere Ende der Ebene. Silvine hatte sich sogleich mit in die Luft ausgebreiteten Armen vor den Karren geworfen, wie um sie durch diese Bewegung wilder Furcht aufzuhalten. Glücklicherweise wendeten sie sich nach links, wohin eine Geländefalte sie ablenkte. Sonst wären sie ganz und gar zerschmettert worden. Die Erde erzitterte, ihre Hufe schleuderten einen Regen von Kieselsteinen umher, einen wahren Kugelhagel, der den Esel am Kopfe verwundete. Dann verschwanden sie auf dem Grunde einer Schlucht.
»Der Hunger bringt sie so ins Rasen,« sagte Prosper. »Arme Viecher!«
Silvine hatte den Esel wieder am Zügel genommen, nachdem sie ihm sein Ohr mit ihrem Taschentuche verbunden hatte. Und der düstere kleine Trauerzug überschritt nun die Ebene im entgegengesetzten Sinne, um die zwei Meilen, die sie von Remilly trennten, zurückzulegen. Bei jedem Schritt blieb Prosper stehen, um nach den toten Pferden zu sehen; sein Herz war ihm schwer, daß er so fortgehen sollte, ohne seinen Zephir wiederzusehen.
Als sie sich jenseits des Garennegehölzes etwas links wandten, um den Weg vom Morgen wieder einzuschlagen, forderte ein preußischer Posten ihren Erlaubnisschein. Aber anstatt sie von Sedan abzulenken, befahl dieser Posten ihnen, durch die Stadt hindurchzugehen, sonst würden sie zur Strafe festgehalten. Sie konnten nichts darauf antworten; das waren wohl neue Befehle. Übrigens wurde dadurch ihr Rückweg um zwei Kilometer abgekürzt, so daß sie sehr glücklich darüber waren, denn sie waren ganz zerbrochen von Müdigkeit.
In Sedan aber wurde ihr Marsch auf ganz eigenartige Weise gehemmt. Nachdem sie durch die Festungswerke hindurch waren, umhüllte sie Fäulnisgeruch; ein wahrer Misthaufen stieg ihnen bis an die Knie. Die Stadt war furchtbar schmutzig, eine reine Kloake, in der sich seit drei Tagen die Abfälle und Auswürfe von hunderttausend Menschen anhäuften. Alle möglichen Überreste hatten diese menschliche Streu vermehrt, Stroh und Hafer, den tierischer Kot zum Faulen brachte. Vor allem aber waren es die Kadaver der Pferde, die mitten auf offener Straße geschlachtet und zerlegt worden waren und nun die Luft verpesteten. Die Eingeweide faulten im Sonnenschein, die Köpfe und Knochen lagen auf dem Pflaster umher und wimmelten von Fliegen. Sicher mußte hier die Pest ihren Atem ausströmen, wenn man sich nicht damit beeilte, diese gräßliche Schmutzschicht, die in der Rue Macqua, der Rue Ménil, selbst auf dem Turenneplatz bis zu zwanzig Zentimeter hoch lag, in die Kanäle zu kehren. Übrigens waren durch die preußischen Behörden weiße Anschläge angeklebt worden, die alle Bürger vom nächsten Tage an einstellten und ihnen befahlen, ob sie nun Kaufleute, Arbeiter, Händler, Bürger oder Magistratsbeamte waren, sich mit Besen und Schaufeln bewaffnet an die Arbeit zu machen, und es wurden ihnen die strengsten Strafen angedroht, wenn die Stadt nicht bis zum Abend sauber wäre. Und schon konnten sie sehen, wie der Gerichtspräsident vor seiner Türe den Fußsteig abkratzte und allen möglichen Unrat mit einer Feuerschaufel auf einen Karren warf.
Nur mit kleinen Schritten konnten Silvine und Prosper, die die Große Straße eingeschlagen hatten, durch all diesen faulenden Dreck vorwärts kommen. Dann aber erfüllte auch eine gewisse Erregung die Stadt und versperrte ihnen alle Augenblicke den Weg. Die Preußen untersuchten gerade jetzt die Häuser nach verborgenen Soldaten, die sich nicht ergeben wollten. Als General Wimpffen tagszuvor um zwei Uhr vom Schlosse Bellevue zurückgekommen war, nachdem er dort die Übergabe unterzeichnet hatte, lief sogleich das Gerücht umher, die gefangenen Truppen sollten auf der Halbinsel Iges eingeschlossen werden und dort abwarten, bis alles für ihre Überführung nach Deutschland vorbereitet wäre. Einige wenige Offiziere beabsichtigten von der Vertragsbestimmung Gebrauch zu machen, die sie unter der Bedingung frei ließ, daß sie sich durch Namensunterschrift verpflichteten, nicht weiterzudienen. Nur ein General, der General Bourginn-Desfeuilles, war, wie man sagte, unter dem Vorwande seines Rheumatismus auf diese Abmachung eingegangen; Spottrufe hatten am Morgen seine Abreise begleitet, als er vor dem Gasthofe Zum goldenen Kreuz in den Wagen gestiegen war. Seit Tagesanbruch ging die Entwaffnung ihren Gang; die Soldaten mußten über den Turenneplatz ziehen und dort jeder seine Waffen, Gewehre, Bajonette auf einen immer höher anwachsenden Haufen werfen, der in einer Ecke des Platzes wie ein Bergsturz von altem Eisen lag. Dort stand eine preußische Abteilung, von einem jungen Offizier befehligt, einem großen, blassen Jungen, in himmelblauem Waffenrock, einem Helm mit Hahnenfederbusch und weißen Handschuhen an den Händen, der diese Entwaffnung mit hochmütiger Genauigkeit überwachte. Einen Zuaven, der in einer Anwandlung von Widerwillen seinen Chassepot nicht hatte abgeben wollen, hatte der Offizier mit den ohne jede Betonung gesprochenen Worten abführen lassen: »Der Wann wird erschossen!« Die andern, die traurig vorbeizogen, warfen ihre Gewehre mit einer gedankenlosen Handbewegung weg, um nur schnell damit fertigzuwerden. Aber wie viele waren bereits entwaffnet, alle die, deren Chassepots da draußen auf den Feldern herumlagen. Und wie viele hielten sich seit gestern versteckt und träumten davon, in der unaussprechlichen Verwirrung verschwinden zu können. Die Häuser, in die sie eingedrungen waren, blieben voll von diesen Starrköpfen, die keinen Laut von sich gaben und sich in alle möglichen Ecken drückten. Deutsche Trupps, die die Stadt durchstreiften, fanden sie sogar unter Möbeln versteckt. Und da viele, selbst nachdem sie schon entdeckt waren, nicht aus den Kellern hervorkommen wollten, begannen die Streiftrupps kurz entschlossen auf sie durch die Luftlöcher zu schießen. Es war eine richtige Jagd auf Menschen, eine abscheuliche Treibjagd.
Auf der Maasbrücke wurde der Esel durch eine Menschenansammlung angehalten. Der Befehlshaber des Postens, der die Brücke bewachte, traute ihnen nicht, sondern glaubte an irgendwelchen Handel mit Brot oder andern Lebensmitteln und wollte sich erst von dem Inhalt des Karrens überzeugen; aber als er die Decke aufhob, sah er den Leichnam einen Augenblick voller Ergriffenheit an; dann gab er den Weg mit einer Handbewegung frei. Aber sie konnten immer noch nicht vorwärts kommen; es handelte sich um den ersten Trupp Gefangener, die eine preußische Abteilung nach der Halbinsel Iges abführte. Der Trupp nahm gar kein Ende, die Leute drängten sich und liefen sich auf den Hacken; in ihren zerlumpten Uniformen, mit gesenktem Kopfe sahen sie schräg zur Seite, sie zeigten den gekrümmten Rücken und die hängenden Arme Gefangener, die nicht mal mehr ein Messer haben, um sich die Kehle durchzuschneiden. Die rauhe Stimme ihrer Wächter trieb dies schweigsame Gewimmel wie Peitschenhiebe an, und man hörte nichts als das Klatschen ihrer groben Schuhe in dem dicken Schmutz. Wieder ging ein Wolkenbruch nieder, und nichts konnte in dieser Regenflut einen jämmerlicheren Eindruck machen als dieser Trupp heruntergekommener Soldaten, die wie Bettler und Herumstreicher von der großen Landstraße aussahen.
Prosper, dem sein altes Jägerherz zum Zerspringen klopfte, stieß ganz erstickt vor Wut Silvine mit dem Ellbogen an, um ihr zwei der vorübergehenden Soldaten zu zeigen. Er hatte Maurice und Jean erkannt, die mit ihren Gefährten dahergeführt wurden und brüderlich Seite an Seite gingen; und als der kleine Karren endlich seinen Weg hinter dem Trupp her wieder aufnahm, konnten seine Blicke sie auf der ebenen Straße, die inmitten von Gärten und Gemüsezüchtereien nach Iges führt, bis zur Vorstadt Torcy verfolgen.
»Ach!« sagte Silvine leise mit einem Blick auf Honorés Leiche, denn sie fühlte sich von dem Gesehenen ganz niedergeschmettert, »vielleicht sind doch die Toten glücklicher dran.«
In Wadelincourt überfiel sie die Nacht, und es war vollständig dunkel, als sie in Remilly ankamen. Vater Fouchard erstarrte angesichts des Leichnams seines Sohnes; denn er war fest überzeugt gewesen, sie würden ihn nicht finden. Er hatte seinen Tag mit dem Abschluß eines guten Geschäfts hingebracht. Auf dem Schlachtfelde gestohlene Offizierspferde wurden glatt für zwanzig Francs das Stück verkauft; und er hatte drei für fünfundvierzig Francs gekauft.