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Zum letzten Male hörten Jean und Maurice nun an diesem Morgen die fröhlichen Klänge französischer Hörner; jetzt ging's auf der Straße nach Deutschland dahin unter dem Trupp Gefangener, dem Abteilungen preußischer Soldaten voranschritten und folgten, während andere sie rechts und links mit aufgepflanztem Bajonett bewachten. Und nun bekamen sie bei allen Posten nur noch deutsche Trompeten mit ihren scharf und traurig tönenden Klängen zu hören.
Maurice war glücklich, als er feststellen konnte, daß die Abteilung links abbog, um durch Sedan zu gehen. Vielleicht konnte er da noch einmal, wenn die Gelegenheit günstig war, seine Schwester Henriette sehen. Aber die fünf Kilometer, die die Halbinsel Iges von der Stadt trennen, genügten, um ihm die Freude über das Entrinnen aus der Kloake, in der er neun Tage lang gelitten hatte, zu verderben. Dies war jetzt noch eine besondere Strafe, dieser jammervolle Schub gefangener, waffenloser Soldaten mit hängenden Armen, die wie eine Hammelherde in eiligem, furchtsamem Getrappel davongeführt wurden. Mit Lumpen bekleidet, schmierig und in ihrem eigenen Schmutz verwahrlost, abgemagert durch ein reichlich wochenlanges Fasten, glichen sie nur noch Landstreichern, verdächtigen Strolchen, die die Gendarmen auf der Landstraße mit einem Netzzug gefangen hatten. Schon von der Vorstadt Torcy an, als Männer stehenblieben und Frauen mit einem Blick düstern Mitleides unter die Türen traten, brach eine erstickende Welle von Scham über Maurice herein; er senkte den Kopf, einen bittern Geschmack im Munde.
Jean, der einen auf die Wirklichkeit gerichteten Sinn und ein dickeres Fell hatte, dachte nur, wie dumm es von ihnen gewesen wäre, daß sie nicht jeder ein Brot mitgenommen hätten. In der Überstürzung ihres Abganges waren sie sogar nüchtern losgezogen; und wieder einmal zerbrach der Hunger ihnen die Beine. Andere Gefangene mußten sich wohl im gleichen Falle befinden, denn viele hielten Geld hin und flehten, man möchte ihnen etwas verkaufen. Ein sehr langer, magerer, der sehr krank aussah, schwenkte mit seinem langen Arm ein Goldstück hin und her und bot es über die Köpfe der Begleitmannschaften hinweg aus, voller Verzweiflung, daß er doch nichts zu kaufen bekam. Da sah Jean, der schon immer ausspähte, von weitem vor einer Bäckerei einen Haufen Brote liegen. Sofort warf er vor allen andern seine fünf Francs hin und wollte zwei Brote dafür mitnehmen. Als aber der Preuße, der ihm am nächsten stand, ihn roh zurückstieß, setzte er seinen Kopf auf und wollte wenigstens sein Geld wieder haben. Aber der Hauptmann, dem die Überwachung des Trupps übertragen war, ein kleiner Kahlkopf mit frechem Gesicht, kam schon heran. Er hob seinen Revolverkolben gegen Jean und schwur, er werde dem ersten, der sich zu rühren wagte, den Schädel zerschmettern. Und da ließen sie alle die Schultern hängen, sie senkten die Köpfe und setzten ihren Marsch mit dem dumpfen Getrappel ihrer Füße fort, zitternd und unterwürfig wie eine Herde.
»Oh, den da mal ohrfeigen zu können!« murmelte Maurice in seiner Wut hitzig, »ohrfeigen, die Zähne mit der Faust einschlagen!«
Der Anblick dieses Hauptmannes mit seinem Ohrfeigengesicht wurde ihm ganz unerträglich. Sie kamen übrigens schon nach Sedan hinein und gingen über die Maasbrücke; und immer wieder spielten sich rohe Vorgänge ab und häuften sich. Eine Frau, eine Mutter zweifellos, die einen blutjungen Sergeanten umarmen wollte, wurde mit einem so heftigen Kolbenstoß beiseite gestoßen, daß sie zu Boden fiel. Auf dem Turenneplatz wurden Bürger beiseite geschubst, weil sie den Gefangenen Mundvorräte zuwarfen. Auf der Großen Straße wurde einer, der einem Soldaten eine Flasche Wein zusteckte, die eine Dame ihm hinhielt, mit Fußtritten weggejagt. Sedan, das seit acht Tagen das Schlachtvieh der Niederlage so unter der Fuchtel dahintreiben sah, konnte sich an diesen Anblick nicht gewöhnen; es geriet bei jedem Vorbeimarsch aufs neue in ein Fieber dumpfen Mitleides und Widerwillens.
Indessen auch Jean dachte an Henriette; und plötzlich kam ihm Delaherche in den Sinn. Er stieß seinen Freund mit dem Ellbogen an.
»Na? Nun paß jetzt mal scharf auf, wenn wir durch die Straße da kommen!«
Und richtig bemerkten sie, sowie sie in die Rue Macqua einbogen, wie sich aus einem der prächtigen Fenster der Fabrik mehrere Köpfe herausbogen. Dann erkannten sie Delaherche und seine Frau Gilberte, die sich mit den Ellbogen aufstützten, und hinter ihnen stand die hohe, ernste Gestalt Frau Delaherches ... Sie hatten Brote, die der Fabrikant den Verhungerten in die zitternden, flehend emporgestreckten Hände warf.
Maurice hatte sofort bemerkt, daß seine Schwester nicht bei ihnen war; Jean dagegen fürchtete, als er die Brote durch die Luft fliegen sah, daß für sie keins übrigbleiben möchte. Er schwenkte die Arme und schrie:
»Uns auch! Uns auch!«
Das löste bei den Delaherches eine beinahe frohe Überraschung aus. Ihre vor Mitleid ganz bleichen Gesichter hellten sich auf, während sie durch Gebärden ihre Freude über dies Wiedersehen ausdrückten. Gilberte bestand darauf, das letzte Brot selbst in Jeans Arme zu werfen, und tat das mit einem so allerliebsten Ungeschick, daß sie selbst darüber in Lachen ausbrach.
Da sie nicht stehen bleiben konnten, drehte Maurice sich um und fragte mit lauter Stimme, aus der seine Unruhe herausklang:
»Und Henriette? Henriette?«
Delaherche antwortete darauf mit einem langen Satz. Aber seine Stimme ging in dem Getrappel der Füße unter. Er mußte wohl begreifen, daß der junge Mann ihn nicht verstanden hatte, denn er wiederholte seine Zeichen fortwährend, unter denen ein weit weg gegen Süden gerichtetes immer wieder vorkam. Die Abteilung bog bereits in die Rue du Ménil ein; sie verloren die Fabrik mit den drei aus dem Fenster gebeugten Köpfen aus den Augen, während eine Hand noch ein Taschentuch schwenkte.
»Was sagte er?« fragte Jean.
Maurice blickte gequält noch einmal vergeblich nach rückwärts.
»Ich weiß nicht, ich hab's nicht verstanden ... Da sitze ich nun in Unruhe, bis ich Nachrichten habe.«
Das Getrappel dauerte an, die Preußen beschleunigten sogar den Marsch mit der Roheit des Siegers; der Trupp verließ Sedan durch das Tor von Ménil, zu einem langen dahinrennenden Faden auseinandergezogen, der sich abjagte, als würde er mit Hunden gehetzt.
Als sie durch Bazeilles kamen, mußten Jean und Maurice an Weiß denken und suchten den Aschenhaufen des kleinen, so tapfer verteidigten Hauses. Man hatte ihnen im Jammerlager von der Plünderung des Ortes erzählt, von der Feuersbrunst und dem Gemetzel; aber was sie jetzt sahen, überstieg alles, was sie an Scheußlichkeiten im Traume gesehen hatten. Nach zwölf Tagen rauchte der Trümmerhaufen noch. Zerbröckelnde Mauern waren vollends niedergestürzt, keine zehn Häuser standen mehr unversehrt. Was sie aber ein wenig tröstete, war, daß sie Karren voller nach dem Kampfe aufgesammelter bayrischer Gewehre und Helme trafen. Dieser Beweis für den Untergang mancher der Mörder und Brandstifter tröstete sie.
In Douzy wurde lange Rast gemacht, damit die Leute frühstücken konnten. Aber auch das ging nicht ohne Leiden ab. Die Gefangenen wurden sehr schnell müde, da sie durch ihr Fasten entkräftet waren. Die, die sich gestern mit Essen vollgestopft hatten, bekamen Schwindel und fühlten sich schwer, die Beine wie zerbrochen; denn anstatt ihren verlorenen Kräften wieder aufzuhelfen, hatte diese Fresserei sie nur noch mehr geschwächt. Als sie daher links vom Orte auf einer Wiese hielten, ließen diese Unglücklichen sich ins Gras fallen, ohne auch nur den Mut zu finden, zu essen. Es fehlte an Wein; barmherzige Frauen, die ihnen welchen bringen wollten, wurden von den Posten weggejagt. Eine von ihnen wurde derart von Furcht ergriffen, daß sie hinfiel und sich den Fuß verrenkte; es kam unter Schreien und Tränen zu einem widerwärtigen Vorgange, währenddessen die Preußen die Flaschen beschlagnahmten und austranken. Das mitleidige Zartgefühl der Bauern gegen die in die Gefangenschaft fortgeführten Soldaten zeigte sich bei jedem Schritt, während es hieß, gegen die Generale wären sie von wilder Roheit. Gerade in Douzy hatten die Einwohner ein paar Tage vorher eine Anzahl Generale, die sich auf Ehrenwort nach Pont-à-Mousson begaben, mit Hohnreden überhäuft. Die Wege waren für Offiziere nicht sicher: Blusenmänner, entwichene Soldaten, auch wohl Fahnenflüchtige sprangen mit Mistgabeln auf sie los, um sie als Feiglinge und Verkaufte umzubringen, da sie unter dem Eindrucke der Sage von ihrem Verrate standen, die noch nach zwanzig Jahren jeden Führer, der das Epaulett getragen hatte, der allgemeinen Verachtung des Landes preisgab.
Maurice und Jean aßen die Hälfte ihres Brotes und konnten es sogar mit ein paar Tropfen Branntwein anfeuchten, da es einem braven Pächter gelang, ihnen ihre Feldflasche zu füllen. Am schlimmsten aber wurde es danach, als sie sich wieder auf den Weg machen sollten. In Mouzon sollten sie übernachten, und obwohl der Tagemarsch tatsächlich nur kurz war, kam es ihnen doch übermäßig anstrengend vor. Die Leute konnten nicht wieder aufstehen, ohne zu schreien, so steif wurden ihnen die Gliedmaßen von der geringsten Ruhepause. Vielen bluteten die Füße, und sie zogen die Schuhe aus, um weitergehen zu können. Die Dysenterie wütete immer noch; bereits nach einem Kilometer fiel einer davon um, den sie gegen eine Böschung legen mußten. Zwei andere brachen etwas weiter am Fuße einer Hecke zusammen, wo eine alte Frau sie erst am Abend wieder auflas. Alle schwankten sie und stützten sich auf Stöcke, die sie sich mit Erlaubnis der Preußen, vielleicht zum Spott, am Rande eines kleinen Gehölzes schneiden durften. Sie waren nur noch ein Zug hageren, atemlosen, mit Wunden bedeckten Lumpengesindels. Die Gewalttätigkeiten erneuerten sich; wer beiseite ging, und wenn es auch nur zur Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses war, wurde mit Stockhieben wieder herangetrieben. Die Abteilung, die den Schluß bildete, hatte Befehl, Nachzügler mit Bajonettstößen ins Kreuz vorwärts zu treiben. Als ein Sergeant sich weigerte, weiterzugehen, befahl der Hauptmann zwei Leuten, ihn unter die Arme zu fassen und weiterzuschleppen, bis der Unglückliche einwilligte, allein weiterzugehen. Das Ohrfeigengesicht dieses kleinen, kahlköpfigen Offiziers war allein schon eine Strafe, und er mißbrauchte seine Fähigkeit, sehr gut Französisch zu sprechen, dazu, die Gefangenen in ihrer eigenen Sprache mit Beleidigungen zu überhäufen, in trockenen Redensarten, schneidend wie die Hiebe einer Reitpeitsche.
»Oh!« wiederholte Maurice immer wieder voller Wut, »den da zu halten und ihm das Blut tropfenweise abzuziehen!«
Er war am Ende seiner Kräfte, kränker durch verbissenen Zorn als durch Erschöpfung. Alles brachte ihn auf bis zu den scharfen Klängen der preußischen Trompeten, die ihn bei seiner körperlichen Entkräftung fast wie ein Tier zum Heulen brachten. Niemals würde er ans Ende dieser grausamen Reise gelangen, ohne sich vorher den Schädel einschlagen zu lassen. Wenn sie nur durch den kleinsten Weiler kamen, litt er schrecklich unter den mitleidigen Blicken der Weiber. Wie sollte das werden, wenn sie erst nach Deutschland hineinkämen und die Einwohner der Städte sich drängen würden, um ihn auf seinem Durchmärsche mit beleidigendem Lachen zu empfangen? Und er malte sich schon die Viehwagen aus, in die man sie hineinpferchen würde, die ekelhaften Quälereien unterwegs, das traurige Dasein auf der Festung unter dem schneegeschwängerten Winterhimmel. Nein, nein! Viel lieber sofort tot, viel eher es darauf ankommen lassen, sein Fell hier am Wegesrande liegenzulassen, auf französischer Erde, als dort hinten auf dem Grunde einer dunklen Kasematte zu verfaulen, vielleicht monatelang!
»Hör' mal,« sagte er ganz leise zu Jean, der neben ihm ging, »wir wollen abwarten, bis wir an einem Gehölz entlangkommen, und dann mit einem Satze zwischen die Bäume ausreißen ... Die belgische Grenze ist nicht weit; wir werden schon irgend jemand finden, der uns hinbringt.«
Trotz seines Widerwillens, der schließlich ihn selbst gleichfalls von Ausreißen träumen ließ, fing Jean, der eine klarere und kaltblütigere Sinnesart hatte, an zu zittern.
»Bist du verrückt? Sie schießen sofort, und wir bleiben alle beide liegen!«
Maurice schien durch eine Bewegung ausdrücken zu wollen, es bestände doch auch die Möglichkeit, sie könnten sie fehlen, aber wenn sie schließlich dabei liegenblieben, na ja! dann war's auch noch nicht schlimmer.
»Schön,« fuhr Jean fort, »aber was wird denn aus uns mit unsern Uniformen? Du siehst doch, das ganze Land steckt voll deutscher Posten. Wenigstens müßten wir doch andere Anzüge haben ... Es ist zu gefährlich, mein Junge, so 'ne Dummheit darfst du nicht machen!«
Er mußte ihn zurückhalten und ihn am Arme fassen; er drückte ihn an sich, als müßten sie sich gegenseitig stützen, während er ihn weiter in seiner etwas mürrischen und doch so zartfühlenden Weise beruhigte.
In diesem Augenblicke ließ sie Stimmengeflüster hinter ihrem Rücken sich umdrehen. Es waren Chouteau und Loubet, die am Morgen gleichzeitig mit ihnen von der Halbinsel Iges aufgebrochen waren und die sie bis jetzt hatten vermeiden können. Jetzt marschierten die beiden Galgenvögel ihnen auf den Hacken. Chouteau mußte wohl Maurices Worte über seinen Plan, in ein Gehölz zu entfliehen, gehört haben, denn er nahm ihn seinerseits wieder auf. Er flüsterte ihnen von hinten zu:
»Hört mal, das machen wir mit! Das ist ein großartiger Plan, so auszureißen! Es sind schon verschiedene Genossen losgezogen; wir werden uns doch wohl nicht wie Hunde in dieser Schweinehunde Land mitschleppen lassen ... Na? Wenn wir viere mal 'n bißchen Luft schnappten?«
Maurice geriet von neuem in Fieberhitze, und Jean mußte sich umdrehen und dem Versucher entgegnen:
»Wenn du es eilig hast, lauf' nur voran ... Was denkst du dir denn?«
Vor dem klaren Blicke des Korporals wurde Chouteau etwas unruhig. Er ließ sich den wahren Grund seines Drängens entschlüpfen.
»Na ja! Wenn wir zu vieren sind, geht das doch viel leichter... Einer oder zwei werden immer schon durchkommen.«
Mit einer kräftigen Kopfbewegung wies Jean aber alles von sich ab. Er traute dem Herrn, wie er ihn nannte, nicht und befürchtete irgendeine Niedertracht. Er mußte seine ganze Macht über Maurice ausüben, um ihn am Nachgeben zu verhindern, denn gerade jetzt bot sich eine Gelegenheit, als sie an einem kleinen, sehr dichten Gehölz vorbeikamen, das nur durch ein Feld mit dichtem Gestrüpp vom Wege getrennt wurde. Über dies Feld im Galopp hinwegsetzen und im Dickicht verschwinden, war das nicht die Rettung?
Loubet hatte bisher nichts gesagt. Seine Nase schnüffelte unruhig im Winde umher; die lebhaften Augen des gerissenen Jungen spähten nach dem günstigsten Augenblicke; er war fest entschlossen, nicht in Deutschland zu verschimmeln. Er mußte sich wohl auf seine Beine und seine Verschlagenheit verlassen, die ihn schon so oft aus der Klemme gezogen hatten. Sein Entschluß war plötzlich gereift.
»Ach, Unsinn! Ich hab' genug! Los!«
Mit einem Satze warf er sich in das benachbarte Feld, und Chouteau machte es ebenso und lief neben ihm her. Sofort machten sich zwei Preußen zu ihrer Verfolgung auf, ohne daß es einem andern eingefallen wäre, sie mit einer Kugel anzuhalten. Der ganze Vorgang spielte sich so rasch ab, daß man sich zuerst gar nicht über ihn klar werden konnte. Loubet schlug Haken durch das Gestrüpp und mußte sicher entkommen, während Chouteau, her weniger geschickt war, schon nahe daran war, wieder ergriffen zu werden. Aber mit einer letzten Anstrengung kam er wieder vor und warf sich seinem Genossen zwischen die Beine, so daß dieser hinschlug; und während die beiden Preußen sich auf den am Boden liegenden Mann stürzten, um ihn festzuhalten, rettete der andere sich ins Holz und verschwand. Nun ertönten ein paar Schüsse, sie dachten an ihre Gewehre. Sie versuchten sogar zwischen den Bäumen eine Art Treibjagd, aber ganz ohne Erfolg.
Die beiden Soldaten schlugen indessen auf den am Boden liegenden Loubet ein. Außer sich war der Hauptmann herangestürzt und sagte, er wolle es ihnen schon zeigen; und bei dieser Ermutigung regnete es derart Fußtritte und Kolbenstöße auf den Unglücklichen ein, daß ihm, als sie ihn aufhoben, ein Arm gebrochen und der Kopf aufgeschlagen war.
Ehe sie nach Mouzon kamen, gab er auf dem kleinen Karren eines Bauern, der ihn wohl aufnehmen wollte, seinen Geist auf.
»Siehst du?« begnügte Jean sich, Maurice ins Ohr zu flüstern.
Mit einem Blick auf das undurchdringliche Gehölz drückten die beiden ihre Wut gegen den Lumpen aus, der jetzt frei dahinrannte; mit dem armen Teufel, seinem Opfer, empfanden sie schließlich doch Mitleid, denn wenn das Leckermaul wohl auch nicht viel wert war, er war doch ein lustiger Bruder, ein Schlaukopf, nicht uneben. Aber da sahen sie, so gerissen man sich auch anstellte, eines Tages fiel man doch herein!
In Mouzon wurde Maurice trotz dieser schrecklichen Lehre wieder von seinem verrückten Drange nach augenblicklicher Flucht gepackt. Sie waren in einen Zustand derartiger Übermüdung verfallen, daß die Preußen den Gefangenen beim Aufschlagen der paar ihnen zur Verfügung gestellten Zelte helfen mußten. Der Lagerplatz befand sich nahe bei der Stadt auf niedrig gelegenem, sumpfigem Gelände; das Schlimmste war, daß am Tage vorher bereits ein anderer Trupp hier gelagert hatte und der Erdboden infolgedessen unter einer Dreckschicht verschwand: eine wahrhafte Kloake von unglaublicher Schmutzigkeit. Um sich zu schützen, mußten sie große flache Steine auf die Erde legen, die sie glücklicherweise nahebei entdeckten. Der Abend verlief indessen weniger hart, denn die Wachsamkeit der Preußen ließ etwas nach, seitdem der Hauptmann verschwunden war, der sich zweifellos in irgendeinem Gasthof untergebracht hatte. Zunächst duldeten die Schildwachen, daß Kinder über ihre Köpfe weg den Gefangenen Früchte zuwarfen, Apfel und Birnen. Dann ließen sie auch die Einwohner der Umgegend den Lagerplatz betreten, so daß dort bald ein ausgedehnter Handel stattfand und Männer und Frauen Brot, Wein, ja selbst Zigarren feilboten. Jeder, der Geld hatte, aß, trank und rauchte. In der bleichen Dämmerung sah das aus wie ein Winkel aus einem fremden Markte, der sich in brausender Erregung befand.
Hinter ihrem Zelte geriet Maurice, aber aufs neue ganz außer sich und sagte immer wieder zu Jean:
»Ich kann nicht länger, ich reiße aus, sobald die Nacht dunkel genug ist ... Morgen halten wir weiter von der Grenze ab, dann ist's zu spät.«
»Na schön!« sagte Jean endlich, dessen Widerstandskraft zu Ende war und der selbst von dem Drange zu fliehen erfüllt war, »reißen wir aus! Wir werden ja sehen, ob wir unser Fell dabei liegenlassen.«
Allem von nun an sah er sich die Verkäufer um sie her genauer an. Manche Kameraden hatten sich schon Blusen und Hosen besorgt, und es hieß, mitleidige Bürger hätten sich ganze Lager von Kleidern zugelegt, um den Gefangenen das Entweichen zu erleichtern. Fast sogleich wurde seine Aufmerksamkeit durch ein schönes Mädchen auf sich gelenkt, eine große blonde Sechzehnjährige mit prachtvollen Augen, die einen Korb mit drei Broten auf dem Arme trug. Sie rief ihre Ware nicht wie die andern aus, sondern zeigte nur ein anziehendes, etwas unruhiges Lächeln und eine zaudernde Haltung. Er sah sie fest an, ihre Blicke trafen sich und blieben einen Augenblick ineinander versenkt. Dann kam sie mit etwas verlegenem Lächeln näher, dem Lächeln eines schönen Mädchens, das sich anbietet.
»Möchten Sie Brot haben?«
Er antwortete nicht, sondern fragte sie durch ein kaum sichtbares Zeichen. Als sie dann mit dem Kopfe eine Bejahung andeutete, wagte er eine ganz leise Frage.
»Haben Sie Anzüge?«
»Ja, unter den Broten.«
Und dann rief sie entschlossen ihre Waren ganz laut aus: »Brot, Brot! Wer kauft Brot?« Aber als Maurice ihr zwanzig Francs zustecken wollte, entzog sie sich ihm mit einer raschen Bewegung und ließ ihren Korb vor ihnen stehen. Sie sahen indessen noch, wie sie sich zurückwandte und ihre braunen Augen ihnen voll zärtlicher Rührung zulächelten.
Nun sie den Korb hatten, verfielen Jean und Maurice in höchste Verlegenheit. Sie hatten sich von ihrem Zelt entfernt und konnten es unmöglich wiederfinden, so sehr hatten sie sich verirrt. Wo sollten sie hin? Wie die Kleider wechseln? Es kam ihnen so vor, als ob alle Welt den Korb, den Jean so linkisch am Arme trug, mit den Augen prüfte und den Inhalt ganz genau durchschaute. Endlich traten sie kurz entschlossen in das erste beste leere Zelt ein, wo sie sich jeder in eine Bluse und Hose stürzten und ihre Uniformsachen vorher unter die Brote steckten. Das alles ließen sie dann im Stich. Sie hatten aber nur eine wollene Mütze gefunden, und Jean zwang Maurice, sie aufzusetzen. Da ei selbst einen bloßen Kopf behalten mußte, hielt er die Gefahr für viel größer, als sie wirklich war, und sah sich schon verloren. So blieb er zurück und suchte nach irgendeiner Kopfbedeckung, bis ihm plötzlich der Gedanke kam, einem alten, sehr schmutzigen Manne, der Zigarren verkaufte, seinen Hut abzukaufen.
»Drei Sous das Stück, zwei für fünf Sous, die Brüsseler Zigarren!«
Seit der Schlacht bei Sedan gab es keinen Zoll mehr; ganz frei lief der Strom aus Belgien über die Grenze; und der alte zerlumpte Kerl hatte schon schöne Gewinne eingeheimst, was ihn aber nicht hinderte, eine mächtige Forderung zu stellen, als er begriff, wozu man ihm seinen alten Hut abkaufen wollte, einen alten fettigen, an manchen Stellen durchlöcherten Filz. Er gab ihn nur gegen zwei Fünffrancsstücke her und tat so, als ob er sich nun sicher erkälten müßte.
Jean kam übrigens noch ein weiterer Gedanke, nämlich der, ihm seinen ganzen Warenvorrat gleichfalls abzukaufen, die drei Dutzend Zigarren, die er noch mit herumschleppte. Und ohne weiter zu warten, schrie er sogleich, den eingetriebenen Hut über die Augen gedrückt, mit müder Stimme:
»Drei Sous zwei Stück, drei Sous zwei Stück, die Brüsseler Zigarren!«
Das wurde ihnen zur Rettung. Er gab Maurice ein Zeichen, voranzugehen. Der hatte das Glück, einen alten Regenschirm auf der Erde zu finden; und da einige Tropfen zu fallen begannen, spannte er ihn ruhig auf, um so durch die Postenkette zu kommen.
»Drei Sous zwei Stück, drei Sous zwei Stück, die Brüsseler Zigarren!«
In ein paar Minuten war Jean seine Ware los. Alles drängte lachend auf ihn ein: das war noch mal ein vernünftiger Kerl, der arme Leute nicht bestahl! Durch die billigen Preise angelockt, kamen auch Preußen heran, und er mußte auch mit ihnen handeln. Auf diese Weise brachte er es fertig, durch den Gürtel der Wachen zu kommen; seine letzten zwei Zigarren verkaufte er einem bärtigen Sergeanten, der kein Wort Französisch sprach.
»Geh' doch nicht so schnell. Gottsverdammt!« wiederholte Jean immer wieder hinter Maurices Rücken. »Du bringst es noch dazu, daß sie uns wieder fangen.«
Aber wider ihren Willen liefen ihre Beine mit ihnen davon. Es kostete sie eine mächtige Überwindung, an der Trennung der beiden Wege einen Augenblick unter den Gruppen stehenzubleiben, die dort vor einer Kneipe standen. Dort plauderten ein paar Bürger ganz friedlich mit deutschen Soldaten; und sie taten so, als hörten sie zu, wagten sogar selbst ein paar Worte darüber einzuwerfen, daß der Regen doch wohl während der Nacht wieder anfangen würde. Ein Mann, ein fetter Herr, der sie unverwandt ansah, machte sie zittern. Aber als er sie dann ganz gutmütig anlächelte, wagten sie sich ganz leise an ihn heran.
»Mein Herr, ist der Weg nach Belgien überwacht?«
»Ja, aber gehen Sie nur zuerst durch dies Gehölz und halten Sie sich dann links querfeldein.«
In dem Holz, als sie in dem großen, dunklen Schweigen der unbeweglichen Bäume nichts mehr hörten, als sich nichts mehr rührte und sie sich gerettet glaubten, da warf eine ungewöhnliche Rührung sie sich plötzlich gegenseitig in die Arme.
Maurice weinte unter heftigem Schluchzen, während Jean nur langsam die Tränen über die Backen rannen. Das war die Abspannung nach ihrer langen Qual, die Freude, sich sagen zu können, ihr Leid sei schließlich doch zu etwas gut gewesen. So umschlossen sie sich in einer heftigen Umarmung, in der Brüderlichkeit, zu der all ihre gemeinsamen Leiden sie geführt hatten; und der Kuß, den sie jetzt austauschten, schien ihnen der süßeste und kräftigste ihres ganzen Lebens, ein Kuß, wie sie ihn von einer Frau niemals bekommen würden, der Kuß unsterblicher Freundschaft, unbedingter Gewißheit, baß ihre Herzen von nun an bis in alle Ewigkeit eins wären.
»Ach, Junge,« sing Jean mit zitternder Stimme wieder an, nachdem sie sich losgemacht hatten, »es ist ja schon so gut, hier zu sein, aber wir sind doch noch nicht durch ... Müssen uns mal zurechtfinden.«
Obwohl Maurice diese Stelle der Grenze nicht kannte, schwur er doch, sie brauchten nur geradeaus zu gehen. So glitten sie also, einer hinter dem andern, vorsichtig bis an den Waldrand weiter. Dort fiel ihnen die Angabe des freundlichen Bürgers ein, und sie wollten sich nach links wenden, um über die Stoppelfelder zu gelangen. Als sie aber an eine von Pappeln eingefaßte Straße kamen, bemerkten sie das Feuer eines preußischen Postens, der ihnen den Weg versperrte. Das Bajonett der Schildwache funkelte, die Leute waren gerade mit ihrer Suppe fertig und plauderten. So mußten sie also zurück und warfen sich wieder in das dickste Gehölz aus Furcht, sie würden verfolgt. Sie glaubten Stimmen und Schritte zu hören und schlugen sich so ungefähr eine Stunde lang in dem Dickicht herum, so daß sie jede Richtung verloren und sich um sich selber drehten, manchmal im Galopp wie durchs Gestrüpp fliehende Tiere, manchmal wieder unbeweglich, vor Angst schwitzend, wenn sie unbeweglich dastehende Eichen für Preußen hielten. Endlich kamen sie von neuem auf den von Pappeln eingefaßten Weg, zehn Schritt von der Schildwache, dicht bei den Soldaten, die sich ganz ruhig wärmten.
»Keine Möglichkeit!« stöhnte Maurice. »Das Holz ist verhext.«
Diesmal aber hatte man sie gehört. Zweige hatten geknackt. Steine waren ins Rollen geraten. Und als sie auf das Halt! der Schildwache zu rennen anfingen, ohne zu antworten, griff der Posten zu den Waffen, Schüsse tönten hinter ihnen her und durchstreuten das Gehölz mit Kugeln.
»Herrgott!« fluchte Jean plötzlich dumpf und hielt einen Schmerzensschrei zurück.
An der linken Wade empfand er etwas wie einen so heftigen Peitschenhieb, so daß er davon gegen einen Baum geschleudert wurde.
»Getroffen?« fragte Maurice besorgt.
»Ja, das Bein, nun sind wir futsch!«
Noch atmend, horchten beide um sich in der Furcht, den Lärm der Verfolgung immer noch auf ihren Hacken zu hören. Aber das Schießen hatte aufgehört und es regte sich nichts in dem großen, schaudernden Schweigen, das sie wieder aufgenommen hatte. Der Posten traute sich augenscheinlich zwischen den Bäumen nicht weiter vor.
Jean gab sich Mühe, sich aufrechtzuhalten, und mußte einen Schrei unterdrücken. Und Maurice hielt ihn aufrecht.
»Kannst du nicht mehr laufen?«
»Ich glaube wirklich nicht!«
Trotz seiner Ruhe kam ein mächtiger Zorn über ihn. Er ballte die Fäuste und hätte sich prügeln mögen.
»Ach! Herrgott nochmal! Herrgott nochmal! Ist das ein Pech! Sich die Pfoten zerquetschen zu lassen, wenn man sie so nötig hat zum Laufen! Wahrhaftig, man sollte sich selbst auf den Misthaufen werfen! ... Reiß' du nur allein aus!«
Maurice begnügte sich damit, ganz vergnügt zu antworten:
»Bist du dämlich!«
Er hatte ihn beim Arme genommen und half ihm, denn sie wollten beide schleunigst weiter. Nach ein paar mühsam mit heldenhafter Anstrengung gemachten Schritten mußten sie abermals voller Unruhe stehenbleiben, als sie vor sich ein Haus, eine Art kleinen Hofes, am Waldrande bemerkten. Kein Licht drang aus den Fenstern, das Hoftor stand weit offen vor dem dunklen leeren Gebäude. Und als sie schließlich den Mut fanden, in den Hof vorzudringen, da sahen sie dort zu ihrer Verwunderung ein fertig gesatteltes Pferd ohne irgendwelches Anzeichen, wie oder warum es dorthin käme. Vielleicht würde sein Herr wiederkommen, vielleicht lag er mit durchschossenem Kopfe hinter irgendeinem Busche. Das würden sie nie erfahren.
Aber in Maurice stieg plötzlich ein Plan auf, über den er höchst erfreut war.
»Hör' mal, die Grenze ist zu weit, und außerdem müßten wir unbedingt einen Führer haben ... Wenn wir dagegen nach Remilly zum Ohm Fouchard gingen, da kann ich dich sicher mit verbundenen Augen hinbringen, so genau kenne ich auch die kleinsten Schleichwege ... Was? Das ist noch ein Gedanke, ich werde dich auf das Pferd setzen, und Ohm Fouchard wird uns immerhin schon aufnehmen.«
Zuerst aber wollte er das Bein untersuchen. Es wies zwei Löcher auf; die Kugel mußte wieder ausgetreten sein, nachdem sie das Schienbein zerbrochen hatte. Das Blut floß nur spärlich, und so begnügte er sich damit, die Wade mit seinem Taschentuche zu verbinden.
»Geh' du doch alleine los!« sagte Jean wieder.
»Sei still, Dummkopf!«
Als Jean sicher im Sattel saß, faßte Maurice die Zügel des Pferdes, und es ging los. Es mußte ungefähr elf Uhr sein, und er rechnete darauf, den Weg in drei Stunden zu machen, selbst wenn sie nur im Schritt gingen. Einen Augenblick versetzte ihn der Gedanke an eine unvorhergesehene Schwierigkeit in Verzweiflung: wie sollten sie über die Maas kommen, um auf das linke Ufer zu gelangen? Die Brücke in Mouzon war zweifellos bewacht. Endlich erinnerte er sich an eine weiter stromab bei Villers gelegene Fähre; und auf gut Glück, in dem festen Glauben, das Schicksal werde ihnen endlich doch wohl hold sein, setzte er sich über die Wiesen und Äcker des rechten Ufers auf diesen Ort zu in Bewegung.
Alles ließ sich zunächst sehr günstig an; sie brauchten nur einem Kavalleriestreiftrupp auszuweichen und hielten eine Viertelstunde unbeweglich im Schatten einer Mauer. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und der Marsch wurde für ihn sehr beschwerlich, da er neben dem Pferd her über den durchweichten Erdboden laufen mußte; aber das Pferd war glücklicherweise ein braver, sehr gelehriger Kerl. In Villers war das Glück tatsächlich mit ihnen: die Fähre hatte gerade um diese Nachtzeit einen bayrischen Offizier übergesetzt und konnte sie sofort aufnehmen und ohne Zwischenfall am andern Ufer absetzen. Eigentliche Gefahren, die schlimmsten Abspannungen, begannen erst im Dorfe selbst, wo sie fast in den Händen der am ganzen Wege nach Remilly entlang gestaffelten Wachen geblieben wären. Von neuem warfen sie sich also in die Felder und suchten, so gut es ging, kleine Hohlwege und enge, kaum betretene Pfade. Die geringsten Hindernisse zwangen sie zu gewaltigen Umwegen. Sie mußten durch Hecken und Gräben und bahnten sich einen Weg durch undurchdringliches Dickicht. Jean wurde bei dem feinen Regen vom Fieber gepackt und hatte sich halb über den Sattel gelegt; er war halb ohnmächtig und krampfte seine Hände in die Mähne des Pferdes. Maurice, der sich den Zügel um den rechten Arm geschlungen hatte, mußte ihm die Beine festhalten, damit er nicht herunterrutschte. Über eine Meile hin, während noch fast zwei Stunden, zog sich der Marsch so unter fortwährendem Stolpern und plötzlichem Ausrutschen in die Länge; sie verloren alle Augenblicke derart das Gleichgewicht, daß das Tier und die beiden Männer sich fast überschlugen. Sie bildeten einen höchst jämmerlichen Zug, schmutzbedeckt, das Pferd auf den Beinen zitternd, der Mann, den es trug, schlaff als ob er seinen letzten Seufzer aushauchen wollte, der andere zerstört, scheu, nur noch mit äußerster Anspannung brüderlichen Mitleids weiterlaufend. Der Tag brach an; es mochte fünf Uhr sein, als sie Remilly erreichten.
Mitten auf dem oberhalb des Ortes am Ausgange des Passes von Haraucourt gelegenen Hofe seines Anwesens lud Vater Fouchard gerade zwei am Tage vorher geschlachtete Hammel auf seinen Karren. Der Anblick seines Neffen in so trauriger Verfassung brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er nach den ersten Erklärungen wütend schrie:
Ich soll euch hierbehalten, dich und deinen Freund?... Um Geschichten mit den Preußen zu kriegen, ach nein, weißt du! Lieber will ich sofort verrecken!«
Er wagte es indessen doch nicht, Maurice zu hindern, daß er Jean vom Pferde half und ihn auf den großen Küchentisch legte. Silvine lief schleunigst nach ihrem eigenen Kopfkissen, das sie dem immer noch ohnmächtigen Verwundeten unter den Kopf schob. Aber der Alte schimpfte und war wütend darüber, den Mann da auf seinem Tische zu sehen; er behauptete, es ginge ihm sehr schlecht, und fragte, warum sie ihn nicht sofort ins Lazarett brächten; es gäbe da glücklicherweise eins in Remilly, dicht bei der Kirche in einem alten Schulhause, dem Überbleibsel eines Klosters, in dem sich ein großer, sehr bequemer Saal befände.
»Ins Lazarett!« schrie Maurice dagegen, »damit die Preußen ihn, wenn er wieder heil ist, nach Deutschland schicken; denn jeder Verwundete gehört ihnen doch! ... Wollt Ihr Euch über uns lustig machen, Ohm? Ich habe ihn doch nicht hierher gebracht, um ihn ihnen wieder auszuliefern!«
Die Geschichte wurde immer schlimmer; der Ohm sprach davon, sie vor die Tür zu setzen, als Henriettes Name fiel.
»Wieso, Henriette?« fragte der junge Mann.
Und schließlich erfuhr er dann, seine Schwester sei seit zwei Tagen in Remilly; sie wäre in solche Todtraurigkeit über ihren Verlust verfallen, daß der Aufenthalt in Sedan, wo sie ein so glückliches Leben geführt habe, ihr unerträglich geworden sei. Ein Zusammentreffen mit Doktor Dalichamp von Rancourt, den sie kannte, hatte sie dazu gebracht, sich bei Vater Fouchard in einer kleinen Kammer niederzulassen, um sich ganz den Verwundeten in dem benachbarten Lazarett zu widmen. Das allein, sagte sie, gewährte ihr Ablenkung. Sie bezahlte ihren Unterhalt und wurde aus dem Hofe die Quelle von tausend Annehmlichkeiten, so daß der Alte sie mit wohlgefälligen Augen anblickte. Wenn er dabei verdiente, war's immer gut.
»Ach! Meine Schwester ist hier!« sagte Maurice wieder. »Das also hat Herr Delaherche mir mit seinen Riesengebärden sagen wollen, die ich nicht verstand! ... Schön, wenn sie hier ist, dann ist ja alles gut, dann bleiben wir auch.«
Trotz seiner Ermattung wollte er sie sofort im Lazarett aufsuchen, wo sie die Nacht zugebracht hatte; nun aber war der Ohm wütend darüber, daß er jetzt nicht mit seinem Karren und den beiden Hammeln auf seinen Schlachterhandel durch die Ortschaften losziehen könne, solange diese verfluchte Geschichte mit dem Verwundeten, der ihm da in die Arme gefallen war, nicht zum Schlusse gekommen wäre.
Als Maurice Henriette zurückbrachte, überraschten sie Vater Fouchard, wie er das Pferd sorgfältig untersuchte, das Prosper eben in den Stall bringen wollte. Müde war das Vieh ja, aber verteufelt fest, und es gefiel ihm. Lachend sagte der junge Mann, er schenkte es ihm: Henriette nahm ihn ihrerseits beiseite und setzte ihm auseinander, Jean werde ihn bezahlen, sie selbst werde sich mit ihm befassen und ihn in der kleinen Kammer versorgen, da hinter dem Stall, wo die Preußen ihn sicher nicht suchen würden. Brummig und immer noch nicht recht davon überzeugt, daß bei der Geschichte für ihn was Gutes herausspringen werde, stieg Vater Fouchard schließlich auf seinen Karren und zog ab, nachdem er ihr freigestellt hatte, alles zu tun, was ihr gut schiene.
Nun brachte Henriette in ein paar Minuten mit Silvines und Prospers Hilfe die Kammer in Ordnung und ließ Jean hinaufbringen, den sie in ein ganz frisches Bett legten, ohne daß er weitere Lebenszeichen, als ein undeutliches Stammeln, von sich gab. Er öffnete die Augen, sah um sich, schien aber niemand zu erkennen. Maurice brachte es noch fertig, ein Glas Wein zu trinken und einen Rest Fleisch zu essen, worauf er mit einem Schlage infolge seiner gänzlichen Abspannung zusammenbrach; da trat Doktor Dalichamp, wie alle Morgen, auf seinem Wege zum Lazarett herein, und der junge Mann fand noch soviel Kraft, ihm in seinem Wunsche nach Gewißheit mit seiner Schwester an das Bett des Verwundeten zu folgen.
Der Doktor war ein junger Mann mit dickem, rundem Kopf, Bartkrause und Haar wurden bereits grau. Sein kräftig gefärbtes Gesicht war wie das eines Bauern durch den ständigen Aufenthalt in frischer Luft wie gegerbt, denn er befand sich dauernd unterwegs, um irgendwelchem Leiden Linderung zu schaffen; seine lebhaften Augen dagegen und seine dicke Nase, seine gutmütigen Lippen drückten durchaus das Wesen eines mitfühlenden Mannes aus, der wohl zuweilen etwas verdreht war, ein Arzt ohne besonderen Geist, dem indessen seine langjährige Erfahrung beim Erkennen von Krankheiten ausgezeichnete Dienste leistete.
Als er den immer noch schlummernden Jean untersucht hatte, sagte er leise:
»Ich fürchte sehr, es wird notwendig werden, das Bein abzunehmen.«
Das war ein großer Kummer für Maurice und Henriette. Er fügte indessen hinzu:
»Vielleicht werden wir ihm das Bein erhalten können, aber es wird große Mühe machen und sehr lange dauern ... Im Augenblick steht er unter dem Einfluß derartiger körperlicher und seelischer Niedergeschlagenheit, daß das einzige, was wir tun können, ist, ihn schlafen zu lassen ... Morgen wollen wir mal sehen.«
Als er ihn dann verbunden hatte, wandte er sich zu Maurice, den er schon früher als Kind gekannt hatte.
»Und Sie, mein braver Junge, Sie lägen auch besser im Bett, als daß Sie hier auf dem Stuhle sitzen.«
Der junge Mann sah mit ausdruckslosen Augen starr vor sich hin, als hörte er ihn gar nicht. Er war trunken vor Müdigkeit, und nach all dem Leid und dem Widerwärtigen, was sich seit Beginn des Feldzuges in ihm aufgespeichert hatte, stieg ein Fieber, eine ungewöhnliche, nervöse Überreizung in ihm empor. Der Anblick seines mit dem Tode ringenden Freundes, das Gefühl der eigenen Niederlage, wie er so nackt, waffenlos, zu nichts gut, dasaß, der Gedanke, daß all seine heldenmütigen Anstrengungen in derartigem Jammer ihr Ende finden sollten, stürzten ihn mit wildem Zwange in Auflehnung gegen das Schicksal. Endlich fing er an zu sprechen. »Nein, nein! Nichts ist zu Ende! Nein, ich muß sofort weiter... Nein, weil er jetzt für Wochen, für Monate vielleicht hier liegen muß, brauche ich jedoch nicht stilliegen, ich will sofort weiter... Nicht wahr, Doktor, Sie helfen mir, Sie machen es mir möglich, durchzukommen und nach Paris zu gelangen!«
Zitternd schloß Henriette ihn in ihre Arme.
»Was sagst du da? So schwach wie du bist, nach all dem Leiden! Ich halte dich fest, ich lasse dich nicht so weg... Hast du nicht deine Schuld abgetragen? Denk' doch auch etwas an mich, wenn du mich hier allein zurückläßt, wo ich doch jetzt niemand außer dir habe.«
Ihre Tränen vermengten sich. In ihrer gegenseitigen Anbetung umarmten sie sich glühend mit der Zärtlichkeit von Zwillingen, die schon von jenseits der Geburt herstammt und daher wohl so innig ist. Aber er wurde nur noch aufgeregter.
»Ganz gewiß, ich muß fort... Sie warten auf mich, und ich stürbe vor Sehnsucht, wenn ich nicht hinginge... Du kannst dir nicht denken, wie es in mir kocht, wenn ich mir sage, ich soll mich ruhighalten! Ich sage dir, so darf das nicht ausgehen, wir müssen uns rächen; am wem, an was? – ach, das weiß ich selbst nichts aber rächen müssen wir uns für all das Unheil, wenn wir noch den Mut zum Weiterleben behalten sollen!"
Doktor Dalichamp, der diesem Vorgange mit großem Anteile folgte, hielt Henriette durch Zeichen davon ab, ihm zu antworten. Wenn Maurice erst einmal geschlafen hätte, würde er zweifellos ruhiger werden; und er schlief den ganzen Tag, die ganze folgende Nacht, länger als zwanzig Stunden, ohne ein Glied zu rühren. Allein am folgenden Morgen trat bei seinem Aufwachen sein Entschluß, weiterzugehen, unerschütterlich wieder hervor. Er hatte kein Fieber mehr, er war düster und unruhig und beeilte sich, allen Versuchen, ihn zu beruhigen, auszuweichen, sowie er sie bemerkte. Seine Schwester begriff unter Tränen, daß sie ihn nicht drängen dürfe. Und Doktor Dalichamp versprach ihm bei seinem Besuch, ihm durch die Papiere eines in Rancourt gestorbenen Hilfspflegers die Wucht, zu erleichtern. Maurice sollte die graue Bluse und die Armbinde mit dem roten Kreuz nehmen und, dann durch Belgien sich wieder nach Paris durchschlagen, das noch offen war.
Er verließ den Hof an diesem Tage nicht mehr und verbarg sich, um auf die Nacht zu warten. Er tut kaum den Mund auf, versuchte aber doch, Prosper mitzukriegen.
»Sagt mal, reizt Euch das gar nicht, die Preußen wieder zu sehen zu kriegen?«
Der ehemalige Choiffeur d'Afrique, der gerade ein Käsebutterbrot aß, hob sein Messer in die Luft.
»Ach! Nach dem, was wir davon zu sehen gekriegt haben, ist das kaum der Mühe wert! ... Wenn wir doch schon mal zu nichts gut sind, wir von der Kavallerie, als daß wir uns totschlagen lassen, wenn alles vorbei ist, weshalb soll ich dann wieder mitgehen? ... Nein wahrhaftig, die sind mir zu dumm gekommen, sie haben uns ja nichts Ordentliches tun lassen!«
Sie schwiegen, und dann fing er, offenbar um das Unbehagen seines Soldatenherzens zu unterdrücken, wieder an:
»Und dann gibt's hier jetzt auch zu viel zu tun. Da kommt das große Pflügen und dann das Säen. Müssen doch auch an das Land denken, nicht? Wenn das auch Spaß, macht, zu fechten, was soll denn aber werden, wenn, nicht mehr gepflügt wird? ... Ihr, seht, ich kann die Arbeit nicht liegen lassen. Nicht weil Vater Fouchard ein vernünftiger Kerl ist, denn ich habe so 'ne Ahnung, als würde ich wohl nichts davon zu sehen kriegen, wie dem sein Geld aussieht; aber das Vieh mag! mich schon ganz gern leiden, und Wahrhaftig! – als ich heute morgen da so bei dem Stück am Vieux-Clos stand, da sah ich so von weitem nach dem verdammten Sedan hinüber und war doch ganz froh, daß ich so im Sonnenschein ganz allein mit meinen Viechern meinen Pflug führen konnte.«
Sowie es dunkel geworden war, kam Doktor Dalichamp mit seinem Wägelchen. Er wollte Maurice selbst an die Grenze bringen. Vater Fouchard war sehr zufrieden, wenigstens einen von ihnen losziehen zu sehen, und ließ sich soweit herab, auf der Straße aufzupassen, ob nicht gerade ein Streiftrupp herumstriche; Silvine dagegen war gerade mit dem Flicken der alten Bluse des Pflegers fertig geworden, die auf dem Arme die Binde mit dem roten Kreuz trug. Der Doktor, der vor der Abfahrt Jeans Bein abermals untersucht hatte, konnte noch nicht sicher sagen, ob er es erhalten könne. Der Verwundete lag immer noch in einer unüberwindlichen Schlaftrunkenheit, erkannte niemand, sprach auch nicht. Und Maurice wollte schon fortgehen, ohne ihm Lebewohl zu sagen, als er, während er sich über ihn beugte, um ihn zu umarmen, sah, wie er die Augen weit öffnete und die Lippen bewegte, um mit ganz leiser Stimme zu sprechen:
»Du gehst fort?«
Und dann, als sie sich darüber wunderten:
»Ja, ich habe euch wohl gehört, aber ich konnte mich nicht rühren. Nimm nun all das Geld mit. Sieh mal in meiner Hosentasche nach.«
Von dem Gelde aus der Kriegskasse, das sie sich geteilt hatten, blieben jedem von ihnen ungefähr noch zweihundert Francs.
»Das Geld!« rief Maurice. »Das hast du aber ja viel nötiger als ich mit meinen gesunden Beinen! Mit zweihundert Francs kann ich schon nach Paris kommen und mir nachher den Schädel einschlagen lassen, das kostet nichts ... Aber trotzdem auf Wiedersehen, mein Alter, und hab' Dank dafür, daß du was Vernünftiges und Ordentliches aus mir gemacht hast, denn ohne dich wäre ich ganz sicher irgendwo am Rande eines Feldes liegengeblieben und wie ein Hund verreckt.«
Jean brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Du hast mir nichts zu danken, wir sind quitt ... Mich hätten doch die Preußen da unten aufgepickt, wenn du mich nicht auf deinem Rücken weggeschleppt hättest. Und gestern hast du mich ihnen wieder aus den Krallen geholt ... Du hast mir's schon zweimal vergolten, und jetzt wäre ich dran, mein Leben hinzugeben ... Ach, wie wird mir zumute sein, wenn du nicht mehr da bist!«
Seine Stimme zitterte und Tränen traten ihm in die Augen.
»Gib mir noch einen Kuß, mein Junge.«
Und sie küßten sich, und wie an dem Abend im Gehölz lag in diesem Kusse die Brüderlichkeit all der zusammen durchgemachten Gefahren, die paar gemeinsam durchlebten Wochen heldenhaften Daseins, die sie enger aneinander geschlossen hatte, als Jahre es im gewöhnlichen Leben vermocht hätten. Die Tage ohne Brot, die Nächte ohne Schlaf, die übermäßigen Anstrengungen, die fast fortwährende Todesgefahr zogen sich durch ihre zärtliche Zuneigung. Können sich jemals zwei Herzen wieder voneinander losmachen, wenn die Hingabe des eigenen Selbst sie derart miteinander verschmolzen hat? Indessen war der Kuß, den sie im Dunkel der Bäume austauschten, voll neuer Hoffnung gewesen, die die Flucht vor ihnen eröffnete; in diesem Kusse dagegen lagen jetzt alle Schauer des Lebewohls. Würden sie sich noch eines Tages wiedersehen? Und wie, unter was für schmerzhaften oder freudigen Umständen?
Doktor Dalichamp, der schon in seinen kleinen Wagen gestiegen war, rief nach Maurice. Der küßte noch einmal seine Schwester Henriette von ganzem Herzen, und sie sah ihn schweigend, tränenüberströmt an, leichenblaß in ihren schwarzen Witwenkleidern.
»Ich vertraue dir meinen Bruder an... Sorge gut für ihn und Hab' ihn so lieb wie ich selber!«