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In dem Augenblick, als der Gefangenenschub aus Torcy heraustrat, gab es ein derartiges Gedränge, daß Maurice von Jean getrennt wurde. Es nützte ihm nichts, daß er umherlief, er verirrte sich nur noch mehr. Und als er an die Brücke über den Kanal kam, der die Halbinsel Iges von ihrer Grundlinie trennt, befand er sich zwischen Chasseurs d'Afrique und konnte nicht wieder zu seinem Regiment gelangen.
Zwei gegen das Innere der Halbinsel gerichtete Geschütze bestrichen den Brückenübergang. Gleich hinter dem Kanal hatte der preußische Generalstab in einem Bürgerhause einen Posten untergebracht, der unter Befehl eines eigenen Kommandanten stand und mit Aufnahme und Überwachung bei Gefangenen beauftragt war. Die Förmlichkeiten waren übrigens nur kurz; bei dem herrschenden Gedränge wurden die Leute, wie sie hereinkamen, aufs Geratewohl gezählt wie die Hammel, ohne daß sich jemand um ihre Uniformen oder Regimentsnummern gequält hätte; und so wurden die einzelnen Gruppen vermischt und ließen sich nieder, wohin ihr Geschick sie gerade führte.
Maurice glaubte sich an einen bayrischen Offizier wenden zu sollen, der rittlings auf einem Stuhle saß und rauchte.
»Wohin muß das hundertsechste Linienregiment gehen, mein Herr?«
Verstand der Offizier ausnahmsweise kein Französisch oder machte es ihm Spaß, einen armen Soldaten in die Irre zu jagen? Er lächelte, hob die Hand und machte ihm ein Zeichen, geradeaus zu gehen.
Obwohl Maurice aus der Gegend stammte, war er doch nie auf der Halbinsel gewesen und ging also auf Entdeckungen los, als habe ihn ein Windstoß auf eine weit entfernte Insel geführt. Zunächst ging er links am Glaireturm entlang, einem schönen Besitztum, dessen kleiner, am Maasufer angelegter Park einen unendlichen Reiz besaß. Dann folgte der Weg dem Flusse, der rechts am Fuße steiler Böschungen dahinfloß. Allmählich stieg er in langsamen Windungen rund um den kleinen Berg herum an, der die Mitte der Halbinsel einnahm; hier lagen alte Steinbrüche, riesige Höhlen, und ein paar enge Pfade verloren sich in der Richtung dorthin. Weiter unterhalb befand sich am Strome eine Mühle. Dann bog die Straße schräg ab und stieg gegen das Dorf Iges zu an, das an einem Abhange lag und durch eine Fähre, gegenüber der Spinnerei von Saint-Albert, mit dem andern Ufer verbunden war. Schließlich dehnten sich Äcker und Wiesen in einer riesigen Breite kahlen, baumlosen Geländes aus, das die Windung der Flußschleife umschloß. Vergeblich durchforschten Maurices Blicke den holperigen Abhang des Hügels: er sah nur Artillerie und Kavallerie sich lagern. Von neuem fragte er und wandte sich an einen Unteroffizier von den Chasseurs d'Afrique, der von nichts wußte. Es begann dunkel zu werden, und er setzte sich einen Augenblick an den Wegrand, da ihm die Beine müde geworden waren.
Da sah er in seiner plötzlichen Hoffnungslosigkeit sich gegenüber am andern Ufer der Maas die fluchbeladenen Felder, auf denen er vor zwei Tagen gekämpft hatte. An diesem hinsterbenden Regentage erschienen sie ihm ein blasses Geisterbild, wie der düstere Rundblick sich so bleigrau, in Schmutz versinkend abrollte. Der Paß von Saint-Albert, der enge Weg, über den die Preußen herangekommen waren, lief an der Schleife entlang bis an eine weißlich erscheinende Stelle, wo der Schutt der Steinbrüche abgeladen wurde. Jenseits der Anhöhe von Seugnon hoben sich die buckligen Gipfel des Falizettegehölzes. Aber gerade vor ihm, etwas links, lag besonders deutlich Saint-Menges, von dem ein Weg herunterlief, der sein Ende an der Fähre fand; in der Mitte lag der Weiler auf dem Hattoy, dann sehr weit weg Illy tief unten, Fleigneur verbarg sich in einer Geländefalte, während Floing rechts wieder näher herankam. Er erkannte das Feld wieder, in dem sie stundenlang zwischen Kohlköpfen gelegen hatten, den Platz, den die Reserveartillerie zu verteidigen versucht hatte, den Gipfel, auf dem er Honoré auf seinem zerschmetterten Geschütz hatte sterben sehen. All das Scheußliche dieses Unheilstages stieg wieder in ihm empor und brach mit all seinen Leiden und einem bis zum Erbrechen gesteigerten Ekel über ihn herein.
Die Furcht, hier von der dunklen Nacht überrascht zu werden, ließ ihn seine Nachforschungen wieder aufnehmen. Vielleicht lagerten die 106er auf dem niedrigen Gelände jenseits des Dorfes. Er fand aber nur Herumstreicher und entschloß sich, an der Schleife entlang um die Halbinsel herumzugehen. Als er über ein Kartoffelfeld schritt, buddelte er vorsichtigerweise ein paar aus und steckte sie in die Tasche; sie waren zwar noch nicht reif, aber er hatte nichts anderes, denn um sein Unglück voll zu machen, hatte Jean darauf bestanden, sich mit den beiden Broten zu bepacken, die Delaherche ihnen beim Abschied mitgegeben hatte. Was ihn jetzt in Erstaunen versetzte, war die große Anzahl Pferde, die er auf dem kahlen Gelände antraf, das sich von dem in der Mitte gelegenen Berge sanft gegen die Maas nach Donchery hin abdacht. Wozu hatten sie wohl diese Menge Tiere hergebracht? Wie sollten die ernährt werden? Es war finstere Nacht geworden, als er an ein kleines Gehölz am Rande des Wassers kam, in dem er zu seiner Überraschung die Hundertgarden des Kaisers vorfand, die sich schon eingerichtet hatten und sich an mächtigen Feuern trockneten. Diese Herren, die sich hier abseits lagerten, hatten schöne Zelte; ihre Kessel kochten bereits und an einem Baume war eine Kuh angebunden. Er fühlte sofort, wie sie ihn bei seiner bejammernswerten Verwahrlosung als zerlumpten, mit Schmutz bedeckten Stoppelhopser über die Achsel anguckten. Indessen erlaubten sie ihm doch, sich seine Kartoffeln in der Asche zu braten, und dann zog er sich hundert Meter weiter an den Fuß eines Baumes zurück, um sie zu essen. Es regnete nicht mehr, der Himmel hatte sich aufgeklärt, die Sterne funkelten lebhaft auf dem Grunde der blauen Finsternis. Jetzt hielt er es für das richtigste, die Nacht hier zuzubringen, denn von hier aus konnte er am andern Morgen seine Nachforschungen leicht fortsetzen. Er war ganz zerschlagen von Müdigkeit; der Baum würde ihn immerhin etwas schützen, falls der Regen wieder anfangen sollte.
Aber er konnte nicht einschlafen, da ihn der Gedanke an dies weite Freiluftgefängnis, in das er sich eingeschlossen fühlte, zu sehr beschäftigte. Die Preußen waren da auf einen wirklich ganz einzigartig schlauen Gedanken verfallen, indem sie hier die von der Heeresgruppe von Châons übergebliebenen achtzigtausend Mann zusammenpferchten. Die Halbinsel konnte etwa eine Meile Länge bei anderthalb Kilometern Breite haben, auf denen man leicht die riesigen aufgelösten Überreste der Besiegten unterbringen konnte. Er gab sich vollkommene Rechenschaft darüber, daß das Wasser sie in ununterbrochener Linie umgab, die Maasschleife auf drei Seiten und dann der Entwässerungskanal, der die beiden hier nahe zusammenkommenden Flußteile an der Grundlinie verband. Hier befand sich der einzige Ausgang, die Brücke, die die beiden Geschütze bestrichen. Es war auch nichts Leichteres, als dies Lager trotz seiner Ausdehnung zu überwachen. Er hatte schon am andern Ufer die deutsche Postenkette bemerkt, alle fünfzig Schritt ein Soldat dicht am Wasser aufgestellt mit dem Befehl, auf jeden zu feuern, der durch Schwimmen zu entkommen versuchen sollte. Dahinter galoppierten Ulanen herum und verbanden die einzelnen Posten; weiterhin hätte er in der weiten Landschaft verstreut die schwarzen Reihen der preußischen Regimenter zählen können, ein dreifacher, lebender, beweglicher Gürtel, der die gefangene Truppe wie mit einer Mauer umgab.
Bei seinen vor Schlaflosigkeit weit aufgerissenen Augen sah Maurice jetzt übrigens nichts als die Finsternis, in der die Biwakfeuer aufzuleuchten begannen. Trotzdem unterschied er doch noch jenseits des blassen Bandes der Maas die unbeweglichen Schattenrisse der Schildwachen. Sie standen aufrecht und schwarz im klaren Lichte der Sterne da; in regelmäßigen Abständen tönte ihr aus der Kehle kommender Ruf zu ihm herüber, der Ruf drohender Wachsamkeit, der sich in dem mächtigen Rauschen des Flusses verlor. Der ganze vor zwei Nächten durchlebte Alpdruck stand wieder vor ihm auf, als diese harten, fremdartigen Silben durch die schöne Sternennacht Frankreichs tönten, alles, was er noch vor einer Stunde geträumt hatte, die noch von Toten vollgehäufte Hochebene von Illy, die ganze fluchbeladene Bannmeile von Sedan, in der eine Welt zusammengebrochen war. Wie er so in der Feuchtigkeit dieses Waldrandes den Kopf gegen eine Baumwurzel stützte, verfiel er wieder in dieselbe Hoffnungslosigkeit, die ihn am Tage vorher auf Delaherches Sofa ergriffen hatte; was ihn aber jetzt quälte und seinen Stolz noch mehr leiden ließ, war die Frage nach dem Morgen, die Sucht, einen Maßstab für den Zusammenbruch zu gewinnen, zu wissen, unter welchen Trümmern diese Welt von gestern zusammengestürzt war. Nachdem der Kaiser dem König Wilhelm seinen Degen übergeben hatte, war da dieser abscheuliche Krieg nicht aus? Aber er dachte daran, was ihm zwei bayrische Soldaten geantwortet hatten, die die Gefangenen nach der Halbinsel brachten: »Wir alle in Frankreich, wir alle nach Paris!« In seinem Halbschlafe kam plötzlich eine Erscheinung der augenblicklichen Vorgänge über ihn: das Kaiserreich weggefegt, unter allgemeinen Flüchen fortgeschwemmt, und die Republik unter einem Ausbruch patriotischen Fiebers ausgerufen, wobei die Sage von 92 ihre Schatten an ihm vorüberziehen ließ, die Soldaten der Massenerhebung, die Heere von Freiwilligen, die den vaterländischen Boden von allem Fremden reinigten. All das verwirrte sich in seinem armen, kranken Kopfe, die Forderungen der Sieger, die Bitterkeit des Besiegtseins, der hartnäckige Wunsch der Besiegten, sich bis zum letzten Blutstropfen hinzugeben, die Gefangenschaft für die achtzigtausend Mann, die hier lagen, zuerst auf dieser Halbinsel, dann in den deutschen Festungen, Wochen, Monate, vielleicht Jahre lang. Alles krachte und stürzte für ewig in den Abgrund dieses schrankenlosen Unglücks hinab.
Der Ruf der Schildwachen kam allmählich auf ihn zu, brach dann vor ihm aus, um in der Ferne zu verhallen. Er war wieder aufgewacht und drehte sich auf der harten Erde um, als ein Schuß die große Stille zerriß. Sofort klang ein Todesröcheln durch die Nacht; das Wasser spritzte auf in dem kurzen Kampf eines senkrecht untersinkenden Körpers. Zweifellos ein Unglücklicher, der eine Kugel gerade mitten in die Brust gekriegt hatte, als er über die Maas zu schwimmen versuchte, um zu fliehen.
Am folgenden Morgen war Maurice bei Sonnenaufgang schon auf den Beinen. Der Himmel war klar geblieben, und er wollte nun schleunigst Jean und die Kameraden von seiner Kompanie wiederfinden. Einen Augenblick dachte er daran, abermals das Innere der Halbinsel zu durchstöbern; dann aber entschloß er sich, seinen Rundmarsch zu vollenden. Und als er sich wieder am Kanalufer einfand, sah er die Überreste der 106er, so etwa tausend Mann, an der Böschung gelagert, wo sie nur die dürftige Pappelreihe schützte. Hätte er sich gestern links gewendet, anstatt geradeaus zu gehen, so würde er sein Regiment sofort getroffen haben. Fast alle Linienregimenter lagen hier auf einem Haufen an der sich vom Glaireturm bis zum Schloß von Villette nach der Seite von Donchery hinziehenden Böschung, das ein anderes bürgerliches, von etwas altem Gemäuer umgebenes Besitztum darstellte; sie biwakierten alle nahe bei der Brücke, dem einzigen Ausgang, in dem Drange nach Freiheit, durch den große Herden an der Schwelle ihrer Gehege an den Eingängen zum Erdrücken getrieben werden.
Jean stieß einen Freudenschrei aus.
»Ach! Da bist du endlich! Ich glaubte schon, du lägest im Flusse!«
Er war da und mit ihm der ganze Rest der Korporalschaft, Page und Lapoulle, Loubet und Chouteau. Diese beiden hatten unter einem der Tore Sedans geschlafen und waren dann bei dem großen Kehraus wieder zu ihnen gestoßen. Bei der ganzen Kompanie befand sich übrigens der Korporal als einziger Führer, da der Tod den Sergeanten Sapin, Leutnant Rochas und Hauptmann Beaudouin hingemäht hatte. Und, obwohl die Sieger alle Gradunterschiede ausgewischt und festgesetzt hatten, die Gefangenen dürften nur den deutschen Offizieren gehorchen, hatten sich doch alle vier wieder um ihn gedrängt, da sie wußten, wie klug und erfahren er wäre und wie gut sie täten, ihm unter diesen schwierigen Verhältnissen zu folgen. Heute morgen herrschten auch trotz der Dummheit der einen und der Niedertracht der andern Eintracht und schönste Stimmung unter ihnen. Zunächst hatte er ihnen für die Nacht einen beinahe ganz trockenen Platz zwischen zwei Abzugsgräben ausfindig gemacht, wo sie sich ausstrecken konnten, denn sie hatten alle zusammen nur noch eine Zeltbahn. Dann war er losgezogen, um ihnen einen Kessel und etwas Holz zu besorgen, in dem Loubet ihnen Kaffee gemacht hatte, der sie durch seine schöne Wärme wieder munter machte. Es fiel kein Regen mehr, ein prachtvoller Tag kündigte sich an, und sie hatten noch etwas Zwieback und Speck; und dann war es, wie Chouteau sagte, ein Vergnügen, keinem Menschen mehr gehorchen zu brauchen und nach eigenem Gutdünken bummeln zu können. Was schadete es, wenn sie eingeschlossen waren; Platz genug war ja da. In zwei oder drei Tagen würden sie übrigens ja auch losziehen. Sie fühlten sich so wohl, daß sie diesen Tag, den vierten, der auf einen Sonntag fiel, ganz vergnügt hinbrachten.
Selbst Maurice, der sich innerlich wieder gefestigt fühlte, nachdem er seine Gefährten wiedergetroffen hatte, litt eigentlich nur unter der den ganzen Nachmittag auf der andern Seite des Kanals spielenden preußischen Musik. Gegen Abend gab es Chorgesang. Jenseits der Postenkette sahen sie Soldaten in kleinen Gruppen spazierengehen, um mit langgezogener, hoher Stimme ihren Sonntag durch Gesang zu feiern.
»Ach, diese Musik!« schrie Maurice endlich außer sich. »Die geht einem ja durch Mark und Bein!«
Jean war weniger empfindlich und zuckte die Achseln.
»Gewiß! Die haben doch auch allen Grund, zufrieden zu sein. Und vielleicht glauben sie auch, uns damit die Zeit zu vertreiben ... Der Tag ist doch nicht übel gewesen; wir wollen nicht klagen.«
Aber gegen Ende des Tages fing der Regen wieder an. Das war ein Pech. Ein paar Soldaten waren in die wenigen verlassenen Häuser der Halbinsel eingedrungen. Ein paar andere hatten sich Zelte ausschlagen können. Die überwiegende Mehrzahl mußte ohne jeden Schutz, sogar ohne irgendwelche Bedeckung die Nacht im Freien in einem sintflutartigen Platzregen zubringen.
Gegen ein Uhr morgens wachte Maurice, den die Müdigkeit doch eingeschläfert hatte, in einem wahren See auf. Die Abzugsgräben waren durch den Wolkenbruch angeschwollen und traten über, so daß sie ihren Lagerplatz überschwemmten. Chouteau und Loubet fluchten vor Wut, während Pache Lapoulle schüttelte, der trotz dieser Überschwemmung mit geballten Fäusten weiterschlief. Da dachte Jean an die den ganzen Kanal entlang gepflanzten Pappeln und lief mit seinen Leuten, um sich unter ihnen in Schutz zu bringen, wo sie nun diese greuliche Nacht, halb zusammengeklappt mit dem Rücken gegen die Baumrinde, zubrachten und die Beine unterschlugen, um sie vor den dicken Tropfen zu schützen.
Auch der nächste Tag und der übernächste waren wahrhaft abscheulich bei dem ewigen Durchweichen, das so kräftig war und so häufig stattfand, daß die Kleider gar keine Zeit fanden, auf den Körpern zu trocknen. Der Hunger begann; sie hatten nur noch einen Zwieback, weder Speck noch Kaffee. Zwei Tage lang, den Montag und Dienstag, lebten sie von Kartoffeln, die sie auf den benachbarten Feldern stahlen; und selbst die wurden gegen Ende des zweiten Tages so selten, daß die Soldaten, die Geld hatten, sie sich für fünf Sous das Stück kauften. Wohl ertönten die Hörner zur Verteilung, und der Korporal rannte auch schleunigst nach einem großen Schuppen beim Glaireturm, wo, wie es hieß, Brot ausgeteilt würde. Aber das erstemal wartete er drei Stunden lang unnütz; das zweitemal kriegte er Streit mit einem Bayern. Wenn die französischen Offiziere bei ihrer Ohnmacht nichts ausrichten konnten, hatte der deutsche Generalstab die gefangenen Truppen denn hier so im Regen untergebracht, um sie vor Hunger verrecken zu lassen? Es schien keine Vorsichtsmaßregel getroffen zu sein, keinerlei Anstrengung wurde gemacht, um diese achtzigtausend Mann in ihrem beginnenden Todeskampfe zu ernähren, in dieser schrecklichen Hölle, die die Soldaten das Jammerlager zu nennen begannen, eine Bezeichnung voll derartigen Schreckens, daß auch die Tapfersten eine Gänsehaut dabei bekamen.
Bei der Rückkehr von diesem langen, unnützen Warten wurde Jean trotz seiner gewohnten Ruhe wütend.
»Machen sie sich denn lustig über uns, daß sie da blasen, wenn es doch nichts gibt? Gott soll mich verdammen, wenn ich mich weiter drum kümmere!«
Beim geringsten Appell lief er indessen doch wieder hin. Diese vorschriftsmäßigen Hornrufe waren unmenschlich; sie hatten aber auch noch eine andere Wirkung, die Maurice das Herz zusammenschnürte. Jedesmal, wenn die Hörner ertönten, kamen die auf dem andern Kanalufer frei umherlaufenden französischen Pferde herbei und stürzten sich ins Wasser, um zu ihren Regimentern zu gelangen; denn die wohlbekannten Fanfaren, die sie wie Sporenstiche trafen, machten sie ganz närrisch. Aber erschöpft und aufgeregt, wie sie waren, kamen nur wenige an die Böschung. Sie kämpften erbärmlich und ertranken in so großer Anzahl, daß ihre aufgeblähten treibenden Kadaver den ganzen Kanal verstopften. Die, die wirklich ans Ufer kamen, waren wie von Raserei ergriffen; sie verloren sich im Galopp auf den kahlen Feldern der Halbinsel.
»Noch mehr Rabenfutter!« sagte Maurice schmerzerfüllt, wenn er sich die beunruhigende Anzahl Pferde vorstellte, die er angetroffen hatte. »Wenn wir noch ein paar Tage hierbleiben, fressen wir uns alle gegenseitig auf ... Ach, die armen Viecher!«
Die Nacht von Dienstag zum Mittwoch war besonders gräßlich. Und Jean, der sich ernstlich über Maurices fieberhaften Zustand Sorge zu machen begann, zwang ihn, sich in einen Fetzen Decke einzuwickeln, den sie einem Zuaven für zehn Francs abgekauft hatten; er selbst ließ die nicht endenwollende Sintflut in seinem wie ein Schwamm durchtränkten Rock die ganze Nacht über sich ergehen. Der Platz unter den Pappeln wurde unhaltbar: ein Schlammstrom lief über sie hin, die gesättigte Erde ließ das Wasser in tiefen Pfützen stehen. Das Schlimmste war ihr leerer Magen, denn ihre Abendmahlzeit hatte aus zwei roten Rüben bestanden, die sie aus Mangel an trocknem Holz nicht mal hatten kochen können und deren zuckerige Frische sich bald in ein unerträglich brennendes Gefühl verwandelte. Dabei war der Dysenterie noch gar nicht gedacht, die sich, von Ermattung, schlechter Nahrung und der dauernden Feuchtigkeit hervorgerufen, bemerkbar zu machen begann. Mehr als zehnmal streckte Jean, der, den Rücken unmittelbar gegen den Baumstamm, die Beine im Wasser, dasaß, seine Hand nach Maurice aus. Um zu fühlen, ob er sich bei seinem unruhigen Schlafe nicht aufgedeckt hätte. Seit sein Gefährte ihn auf der Ebene von Illy vor den Preußen gerettet hatte, indem er ihn auf seinen Armen davontrug, hatte er diese Schuld hundertfach abbezahlt. Ohne darüber nachzugrübeln, gab er sein eigenes Wesen völlig hin und vergaß sich selbst vollständig über der Liebe zu dem andern; so dunkel dies Gefühl war, so kräftig war es aber auch bei diesem in dauernder Berührung mit der Erde gebliebenen Bauern, der keine Worte für den Ausdruck seiner Gefühle fand. Er hatte sich sonst schon immer den Bissen aus dem Munde gerissen, wie die Leute der Korporalschaft sagten; jetzt hätte er auch noch sein eigenes Fell hingegeben, um den andern darin einzuwickeln, ihm die Schultern zu schützen, seine Füße zu wärmen. Und inmitten der sie umgebenden Selbstsucht verdankte er vielleicht in diesem Winkel voll Menschenleides, wo der Hunger alle Begierden noch anstachelte, dieser unvorhergesehenen Wohltat die Bewahrung seiner ruhigen Stimmung und seiner guten Gesundheit; denn er allein war noch fest und verlor nicht vollständig den Kopf.
Nach dieser Nacht machte sich Jean dann auch an die Ausführung eines Gedankens, der ihn bereits völlig beherrschte.
»Höre mal, Junge, wenn sie uns auch nichts zu essen geben und uns in diesem verdammten Loch vergessen, wir müssen uns doch etwas Bewegung machen, wenn wir nicht wie die Hunde verrecken wollen ... Hast du noch Beine?«
Glücklicherweise war die Sonne wieder hervorgekommen, und Maurice war ganz durchwärmt.
»Ja, Beine habe ich noch.«
»Dann wollen wir mal auf Entdeckungen ausgehen ... Wir haben Geld; es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht irgend etwas zu kaufen fänden. Die andern wollen wir uns nicht erst aufpacken, die sind nicht nett; mögen die sich selbst helfen.«
Tatsächlich stießen Loubet und Chouteau ihn durch ihre argwöhnische Selbstsucht ab; sie stahlen, was sie nur konnten, und teilten nie mit den Kameraden; ebensowenig war aus dem Viech von Lapoulle oder dem Schafskopf von Pache was Vernünftiges herauszuholen.
So machten sich denn die beiden auf den Weg an der Maas entlang, den Maurice bereits gegangen war. Der Park beim Glaireturm und das Wohnhaus waren ausgeplündert und verwüstet, die Rasenflächen wie durch einen Orkan aufgewühlt, die Bäume niedergeschlagen, die Gebäude vollgepfropft. Ein zerlumpter Haufen schmutzbedeckter Soldaten mit hohlen Backen und fieberglänzenden Augen hauste hier wie die Zigeuner; wie Wölfe lebten sie in den schmutzigen Räumen, die sie nicht zu verlassen wagten, weil sie fürchteten, ihren Platz für die Nacht zu verlieren. Weiterhin an den Abhängen kamen sie an Artillerie und Kavallerie vorbei, die bis dahin so ordentlich ausgesehen hatten, aber nun gleichfalls abgerissen waren und unter den Qualen des Hungers in Unordnung gerieten; machte der doch sogar die Pferde verrückt und jagte die Menschen in zerstörungswütigen Banden über die Felder. Zu ihrer Rechten sahen sie einen unendlichen Schwanz von Artilleristen und Chasseurs d'Afrique langsam an der Mühle vorbeiziehen: der Müller verkaufte ihnen Mehl und gab ihnen für einen Franc zwei Händevoll in ihr Taschentuch. Aber die Furcht, zu lange warten zu müssen, ließ sie weitergehen, denn sie hofften im Dorfe Iges etwas Besseres zu finden; sie waren aber ganz verdutzt, als sie es dann in seiner traurigen Nacktheit wie ein algerisches Dorf nach dem Vorüberziehen eines Heuschreckenschwarmes vorfanden: keine Krume von Lebensmitteln war mehr da, weder Brot noch Gemüse noch Fleisch; die jämmerlichen Häuser standen da wie mit den Nägeln ausgekratzt. Es hieß, General Lebrun wäre bei dem Ortsvorsteher abgestiegen. Vergeblich hatte er, um dadurch die Verpflegung der Truppen zu erleichtern, versucht, eine Bezahlung durch Gutscheine einzurichten, die nach dem Feldzuge ausbezahlt werden sollten. Es gab einfach nichts mehr, Geld war unnütz. Noch am Tage vorher waren zwei Francs für den Zwieback bezahlt, eine Flasche Wein kostete sieben Francs, ein Glas Branntwein zwanzig Sous, eine Pfeife Tabak zehn Sous. Jetzt mußten Offiziere das Haus des Generals ebenso wie die andern Gebäude mit dem Säbel in der Hand schützen, denn fortwährend brachen Banden von Plünderern die Türen ein und stahlen sogar das Lampenöl zum Trinken.
Drei Zuaven riefen Jean und Maurice an. Zu fünfen könnte man ein gutes Geschäft machen.
»Kommt doch, da sind Pferde, die umfallen, und wenn wir nur trockenes Holz hätten ...«
Dann stürzten sie sich auf ein Bauernhaus, schlugen die Schranktüren ein und rissen selbst das Stroh vom Dache. Im Laufschritt herankommende Offiziere bedrohten sie mit dem Revolver und jagten sie fort.
Als Jean sah, wie ein paar in Iges zurückgebliebene Einwohner genau so elend und verhungert aussahen wie die Soldaten, bedauerte er, daß sie das Mehl bei der Mühle verschmäht Hütten.
»Wir müssen zurück, vielleicht gibt's noch was.«
Aber Maurice begann sich so schlaff zu fühlen, so erschöpft durch die Leere, daß Jean ihn in einem der Steinbrüche in einem Felsloch sitzen ließ, gegenüber dem weiten Rundblick auf Sedan. Er selbst kam, nachdem er drei Viertelstunden lang in der Kette gestanden hatte, mit einem Lappen voll Mehl wieder. Sie besaßen keine andere Möglichkeit, als es händeweise so zu essen. Es war nicht schlecht, hatte keinen Geruch und schmeckte nm fade wie Teig. Und trotzdem gab dies Frühstück ihnen wieder etwas Kräfte. Sie hatten sogar das Glück, in dem Felsen eine natürliche Ansammlung von Wasser zu finden, das ganz frisch war und in dem sie mit Wonne ihren Durst stillten.
Als Jean dann vorschlug, bis zum Nachmittag hierzubleiben, machte Maurice eine wütende Bewegung.
»Nein, nein, nicht hier! ... Ich werde krank, wenn ich das da lange vor Augen habe ...«
Mit zitternder Hand wies er auf den weiten Rundblick, den Hattoy, die Ebenen von Illy und Floing, das Garennegehölz, all diese gräßlichen Stätten des Gemetzels und der Niederlage.
»Gerade jetzt, als ich auf dich wartete, habe ich mich umdrehen müssen, denn sonst hätte ich vor Wut angefangen zu brüllen, jawohl! wie ein gereizter Hund zu heulen... Du kannst dir nicht vorstellen, wie elend es mich macht, geradezu verrückt!«
Jean sah ihn voller Erstaunen über seinen blutenden Stolz an; es beunruhigte ihn, in seinen Augen von neuem diesen Ausdruck wirrer Unvernunft zu finden, die er schon einmal dann gesehen hatte. Er tat so, als machte er Spaß.
»Schön! Das ist ja so leicht, gehen wir mal in eine andere Gegend!«
Nun irrten sie bis zum Anbruch der Nacht umher, wo sie gerade einen Weg fanden. In der Hoffnung, dort noch einmal Kartoffeln zu finden, besuchten sie den ebenen Teil der Halbinsel; aber die Artilleristen hatten sich Karren geholt und die Felder umgewühlt und alles eingeerntet und aufgesammelt. So gingen sie ihren Weg zurück und kamen von neuem durch die abgearbeiteten, hinsterbenden Massen der ihren Hunger spazierenführenden Soldaten; ihre schlaffen Körper übersäten den Erdboden und zu Hunderten fielen sie bei dem mächtigen Sonnenschein vor Erschöpfung um. Sie selbst brachen auch alle Stunden einmal zusammen und mußten sich hinsetzen. Dann trieb eine dumpfe Verzweiflung sie wieder hoch, sie fingen wieder an herumzulungern, wie mit Nadeln geprickelt von dem Drange, der das Tier nach Nahrung suchen laßt. Es kam ihnen so vor, als dauerte das schon Monate so, und doch liefen die Minuten so rasch dahin. In dem Innern der Felder auf der Seite nach Donchery hinüber bekamen sie Angst vor den Pferden; sie mußten Schutz hinter einer Mauer suchen und blieben dort lange mit Aufgebot aller Kräfte stehen; mit irren Augen sahen sie den wahnsinnigen Galopp der Tiere an dem roten Westhimmel vorüberziehen.
Ganz wie Maurice es vorausgesehen hatte, wurden die Tausende von Pferden, die hier mit der Truppe zusammen eingesperrt waren und nicht ernährt werden konnten, zu einer von Tag zu Tag zunehmenden Gefahr. Zuerst hatten sie Baumrinde gefressen, dann waren sie über die Zäune hergefallen, über die Einfriedigungen, über jedes Brett, das sie fanden, und jetzt fingen sie an, sich gegenseitig zu fressen. Man sah sie sich eins auf das andere stürzen, um sich Haare aus dem Schwänze zu reißen, die sie wütend herunterfraßen, während der Schaum ihnen vom Maule troff. Vor allem wurden sie des Nachts gefährlich, als ob die Dunkelheit sie mit Alpdrücken gequält hätte. Sie rotteten sich dann zusammen und stürzten sich, durch das Stroh angelockt, auf die paar Zelte. Vergeblich zündeten die Leute, um sie zu verjagen, große Feuer an; sie schienen sie nur noch mehr zu reizen. Ihr Wiehern klang so jammervoll und doch so schrecklich, daß man es für das Brüllen wilder Tiere hätte halten können. Sie wurden verjagt und kamen nur noch zahlreicher und wilder zurück. Alle Augenblicke tönte aus der Dunkelheit der langgezogene Todesschrei eines verirrten Soldaten herüber, den ihr wütender Galopp zermalmte.
Die Sonne stand noch über dem Horizont, als Jean und Maurice auf ihrem Rückwege zum Lagerplatz zu ihrer Überraschung die vier Leute ihrer Korporalschaft in einem Graben liegend fanden; sie sahen aus, als planten sie einen bösen Streich. Loubet rief sie sofort an und Chouteau sagte:
»Es handelt sich um das Abendessen für heute ... Wir gehen zum Teufel; seit sechsunddreißig Stunden haben wir schon nichts mehr in den Bauch gekriegt ... Und weil es hier doch nun mal soviel Pferde gibt und Pferdefleisch gar nicht übel ist...«
»Nicht wahr, Herr Korporal, Sie machen doch mit,« fuhr Loubet fort, »denn je mehr wir sind, desto besser geht das mit so einem großen Viech. Sehen Sie, da hinten ist eins, auf das lauern wir schon über eine Stunde, der große Fuchs, der so krank aussieht. Mit dem werden wir leicht fertig.«
Und er zeigte auf ein Pferd, das der Hunger am Rande eines Feldes mit roten Rüben niedergezwungen hatte. Es war auf die Seite gefallen und hob von Zeit zu Zeit den Kopf, worauf es die Augen mit lautem, traurigem Schnauben umherschweifen ließ.
»Ach! dauert das lange!« brummte Lapoulle, den sein mächtiger Hunger quälte. »Ich will es totschlagen; soll ich?«
Aber Loubet hielt ihn fest. Danke schön! Um dann von den Preußen hereingelegt zu werden, die bei Todesstrafe verboten hatten, auch nur ein Pferd zu töten, denn sie fürchteten, es möchten durch das liegengebliebene Aas Seuchen erzeugt werden. Sie mußten also die nahe Nacht abwarten. Und deshalb lagen sie alle vier hier im Graben und spähten mit funkelnden Augen unablässig nach dem Pferde hinüber.
»Herr Korporal,« sagte Pache mit einem leichten Zittern in der Summe, »Sie haben doch immer so Gedanken; wenn Sie es doch totmachen könnten, ohne ihm wehzutun!«
Jean zeigte durch eine Bewegung seinen Widerwillen und wies das grausame Handwerk zurück. Dies arme, sich mit dem Tode abquälende Tier, nein, o nein! Im ersten Antriebe wollte er weglaufen und Maurice mitnehmen, um weder der eine oder der andere an dieser greulichen Schlachterei teilzuhaben. Als er aber seinen Gefährten so blaß dasitzen sah, schalt er sich sofort über seine Empfindlichkeit. Mein Gott! Schließlich waren doch die Tiere dazu geschaffen, den Menschen zu ernähren. Man brauchte sich doch schließlich nicht vor Hunger umkommen zu lassen, solange noch Fleisch da war. Und es gewährte ihm eine gewisse Befriedigung, als er sah, wie Maurice bei der Aussicht auf etwas Eßbares wieder munterer wurde, und so sagte er selbst gutlaunig:
»Nein, ich habe wahrhaftig keine Ahnung, und wenn es totgeschlagen werden soll, ohne ihm wehzutun...«
»Ach, das ist mir Wurst!« unterbrach ihn Lapoulle. »Sollt mal sehen.«
Als die beiden Ankömmlinge sich in den Graben gesetzt hatten, ging das Warten wieder los. Von Zeit zu Zeit stand einer der Leute auf, um zu sehen, ob das Pferd auch noch da wäre, das seinen Hals dem frischen Hauch von der Maas her und der untergehenden Sonne entgegenstreckte, wie um aus ihnen noch Leben zu schöpfen. Als dann schließlich die Dämmerung herankam, standen die sechs mit wilden, spähenden Blicken auf; sie waren ungeduldig über die träge Nacht und sahen nach allen Seiten unruhig und argwöhnisch umher, ob sie auch kein Mensch wahrnähme.
»Ach los!« schrie Chouteau. »Jetzt ist's Zeit!«
Das Gelände lag noch hell in einem zweifelhaften Zwielicht vor ihnen. Lapoulle lief zuerst heran, gefolgt von den fünf andern. Er hatte im Graben einen großen runden Stein aufgegriffen und stürzte sich nun mit ihm auf das Pferd, um ihm mit hochgeschwungenen Armen, wie mit einer Keule, den Schädel zu zertrümmern. Aber schon nach dem zweiten Schlage versuchte das Pferd mit einer mächtigen Anstrengung auf die Beine zu kommen. Nun warfen sich Loubet und Chouteau über seine Beine und versuchten sie festzuhalten, während sie den andern zuriefen, ihnen zu helfen. Das Pferd wieherte mit fast menschlicher Stimme ängstlich und jammervoll, es wehrte sich und hätte sie alle zerschmettert, wenn es nicht schon halb tot vor Erschöpfung gewesen wäre. Es bewegte den Kopf aber zu heftig, die Schläge führten nicht zum Ziele, Lapoulle konnte so nicht mit ihm fertig werden.
»Herrgott, hat das harte Knochen! ... Haltet es doch, damit ich es abmurkse!«
Jean und Maurice hörten, ganz vereist, gar nicht auf Chouteaus Hilferufe; sie standen mit herabhängenden Armen da und konnten sich nicht entschließen, ihm zu helfen.
Und Pache fiel plötzlich in einer gefühlsmäßigen Anwandlung frommen Mitleids auf die Knie; er faltete die Hände und begann die Gebete herzustammeln, die man am Sterbebette zu sagen pflegt.
»Herr, erbarme dich seiner ...«
Wieder einmal schlug Lapoulle daneben und riß dem bedauernswerten Pferde ein Ohr ab, so daß es sich mit einem mächtigen Schrei umdrehte.
»Wart', wart'!« brummte Chouteau. »Wir müssen mit ihm fettig werden, oder es bringt uns in die Klemme... Laß nicht los, Loubet!«
Er suchte in der Tasche nach seinem Messer, einem kleinen Messerchen, dessen Klinge kaum länger als ein Finger war. Dann wälzte er sich über das Pferd, schlang einen Arm um seinen Hals und vergrub die Klinge herumwühlend in dem lebenden Fleische; ganze Stücke schnitt er heraus, bis er die Schlagader gefunden und durchgeschnitten hatte. Mit einem Satze warf er sich dann zur Seite; das Blut spritzte empor und sprudelte wie aus einem Brunnenrohr, während die Füße umherschlugen und mächtige krampfhafte Zuckungen über das ganze Fell liefen. Das Pferd brauchte fast fünf Minuten, um zu sterben. Seine großen, weit aufgerissenen Augen, in denen eine traurige Furcht stand, blieben fest auf die ausgemergelten Männer gerichtet, die auf seinen Tod lauerten. Dann wurden sie trübe und erloschen.
»Mein Gott,« stammelte Pache, immer noch auf den Knien, »nimm es in deine heilige Hut...«
Als es sich dann nicht mehr rührte, gerieten sie in große Verlegenheit, wie sie nun das beste Stück herausfinden sollten. Loubet, der in allen Sätteln Gerechte, gab ihnen wohl an, was sie tun müßten, um den Mürbebraten zu bekommen. Er war aber ein ungeschickter Schlachter und hatte auch nur das kleine Messer, so daß er sich ganz in diesem warmen, noch voll Leben zuckenden Fleische verlor. Und Lapoulle machte sich in seiner Ungeduld ganz ohne Not daran, ihm beim Offnen des Bauches zu helfen, so daß es eine scheußliche Metzelei wurde. Es gab ein wildes Hasten in dem Blut und den herumliegenden Eingeweiden, als suchten Wölfe mit vollem Rachen in dem Kadaver ihrer Beute herum.
»Ich weiß nicht genau, welches Stück dies wohl ist,« sagte Loubet endlich und stand auf, die Arme mit einem riesigen Stück Fleisch beladen. »Aber immerhin können wir uns wohl in dies Stück bis an die Augen hineinknien.«
Jean und Maurice hatten voller Abscheu den Kopf abgewendet. Aber der Hunger drängte sie, und sie folgten der davonrennenden Bande, um sich nicht bei dem erschlagenen Tiere fassen zu lassen. Chouteau hatte einen Fund gemacht, drei große liegengebliebene rote Rüben, die er mitgebracht hatte. Loubet hatte, um seine Arme zu entlasten, Lapoulle das Fleisch über die Schultern geworfen; Pache trug den Kessel der Korporalschaft, den sie für den Fall einer glücklichen Jagd gleich mitgebracht hatten. Und so rannten und rannten die sechs, ohne Atem zu schöpfen, als würden sie verfolgt.
Mit einemmal hielt Loubet die andern an.
»Das ist doch zu dumm; wir müßten doch wissen, wo wir dies kochen wollen.«
Jean war wieder ruhig geworden und schlug die Steinbrüche vor. Die waren kaum mehr als dreihundert Meter entfernt und wiesen verborgene Löcher auf, in denen sie ungesehen ein Feuer anzünden konnten. Als sie dann aber dort waren, machten sich allerlei unvorhergesehene Schwierigkeiten geltend. Zunächst die Holzfrage; glücklicherweise entdeckten sie den Schiebekarren eines Wegearbeiters, dessen Bretter Lapoulle mit dem Hacken zertrümmerte. Dann fehlte es vollständig an Trinkwasser. Der starke Sonnenschein tagsüber hatte die kleinen natürlichen Ansammlungen von Regenwasser ausgetrocknet. Eine Pumpe war wohl da, aber sie war zu weit beim Schlosse am Glaireturm, und dort hätten sie bis Mitternacht zu warten und könnten noch froh sein, wenn ein Waffengefährte ihnen in dem Gedränge nicht ihre Schüssel mit dem Ellbogen umstieße. Die paar Brunnen der Umgegend waren seit zwei Tagen versiegt, man holte nur noch Schlamm heraus. So blieb lediglich das Wasser aus der Maas, deren Böschung sich auf der andern Seite des Weges befand.
»Ich gehe mit dem Kessel hin«, schlug Jean vor.
Alle schrien dagegen.
»O nein! Wir wollen uns doch nicht vergiften lassen, das ist ja voll Leichen!«
Tatsächlich wälzte die Maas Leichen von Menschen und Pferden mit sich. Jede Minute konnte man sie mit aufgedunsenem Bauche, schon ganz grün vor Verwesung, vorübertreiben sehen. Viele blieben an den Sträuchern am Ufer hängen und verpesteten die Luft, da der Strom sie in beständiger Bewegung hielt. Fast alle Soldaten, die von diesem scheußlichen Wasser getrunken hatten, waren nachher von Erbrechen und Durchfall ergriffen worden, nachdem sie vorher fürchterliche Leibschmerzen ausgestanden hatten.
Sie mußten sich aber doch damit begnügen. Maurice erklärte, ihnen, das Wasser würde nach dem Abkochen nicht länger gefährlich sein.
»Na, dann gehe ich hin«, wiederholte Jean und nahm Lapoulle mit.
Als der Kessel mit dem Wasser und dem Fleisch drin endlich auf dem Feuer stand, war es dunkle Nacht geworden. Loubet hatte die roten Rüben abgeschrappt, um sie in der Suppe mit zu kochen, eine wahre Leckerei aus der andern Welt, meinte er; und alle schürten die Flammen, indem sie Überreste des Karrens unter den Kessel schoben. Wild verzerrt tanzten ihre großen Schatten an den Wänden des Felsenloches umher. Als es ihnen indessen unmöglich wurde, länger zu warten, stürzten sie sich über die ekelhafte Suppe her und teilten sich in das Fleisch mit krampfhaft zitternden Fingern, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, das Messer zu gebrauchen. Aber trotz allem drehte sich ihnen doch der Magen um. Sie litten vor allem unter dem Mangel an Salz; ihr Magen weigerte sich, die fade Roterübensuppe mit den nur halb gekochten Fleischstücken, die ganz leimig waren und nach Ton schmeckten, anzunehmen. Fast sofort mußten sie sich übergeben. Pache konnte nicht weiteressen, Chouteau und Loubet schimpften auf den Satansschinder von Gaul, der ihnen erst soviel Mühe gemacht hatte, ihn in den Suppentopf zu kriegen, und ihnen nun Bauchschmerzen beibrachte. Nur Lapoulle aß mächtig; aber in der Nacht, als er mit den drei andern unter die Pappeln am Kanal zurückgekehrt war, um dort zu schlafen, kam er beinahe um.
Unterwegs hatte Maurice ohne ein Wort Jean beim Arme gepackt und in einen Seitenweg gezogen. Die Kameraden verursachten ihm wütenden Abscheu, und so hatte er einen Plan ausgeheckt, nämlich in das kleine Gehölz zu gehen, in dem er die erste Nacht zugebracht hatte, und dort zu schlafen. Das war ein guter Gedanke, den Jean auch aufs höchste billigte, als er sich auf den abschüssigen, ganz trockenen und durch das dichte Blattwerk geschützten Boden niederstreckte. Hier blieben sie nun bis zum hellichten Tag und schliefen sogar sehr tief, was ihnen wieder einige Kraft verlieh.
Der nächste Tag war ein Donnerstag. Aber sie wußten gar nicht mehr, wie sie eigentlich lebten; sie freuten sich lediglich über das gute Wetter, das wieder eingesetzt zu haben schien. Jean brachte Maurice trotz seines Widerstrebens dazu, nach dem Kanalufer zurückzugehen und nachzusehen, ob ihr Regiment heute abgehen würde. Jeden Tag wurden jetzt Gefangene abgeschoben, Abteilungen von tausend bis zwölfhundert Wann, die nach den Festungen in Deutschland überführt wurden. Vor zwei Tagen hatten sie vor dem preußischen Posten einen Trupp Offiziere abgehen sehen, die in Pont-à-Mousson die Eisenbahn nehmen sollten. Bei allen herrschte ein wahres Fieber, eine wütende Sucht, aus dem Jammerlager herauszukommen. Ach! Wenn sie doch endlich drankamen! Und als sie die 106er immer noch an der Böschung lagern fanden, in einer Unordnung, die durch ihre mannigfachen Leiden nur noch gesteigert war, da fielen sie wahrhaft in Verzweiflung.
Trotzdem glaubten Jean und Maurice aber, sie würden heute etwas zu essen kriegen. Seit dem Morgen hatte sich zwischen den Gefangenen und den Bayern auf der andern Seite des Kanals ein reger Handelsverkehr entwickelt; sie warfen ihnen Geld in einem Taschentuche hinüber, und die warfen ihnen dann das Taschentuch mit einem Stück Weißbrot oder etwas grobem, kaum trockenem Tabak wieder zurück. Selbst Soldaten, die kein Geld hatten, beteiligten sich an diesen Geschäften, indem sie ihnen ihre weißen Diensthandschuhe hinüberwarfen, für die die Bayern eine große Liebhaberei zu haben schienen. Zwei Stunden lang flogen an dem ganzen Kanal entlang solche Packen in diesem barbarischen Tauschhandel hinüber und herüber. Aber als Maurice in seiner Halsbinde ein Fünffrancsstück hinübergeworfen hatte, warf der Bayer, der ihm ein Brot dafür zuwerfen wollte, es aus Ungeschick oder niederträchtigem Spaß so, daß es ins Wasser fiel. Nun erhob sich unter den Deutschen ein Riesengelächter.
Zweimal versuchte Maurice, es zu erreichen, aber jedesmal tauchte das Brot unter. Nun liefen, durch das Gelächter angelockt, Offiziere herbei und verboten ihren Leuten unter Androhung schwerer Strafen, den Gefangenen irgend etwas zu verkaufen. Der Handel brach ab, und Jean mußte Maurice beruhigen, der den Dieben die Fäuste zeigte und ihnen zurief, sie sollten ihm sein Geld wiedergeben.
Auch dieser Tag wurde trotz seines mächtigen Sonnenscheins schrecklich. Zweimal gab es Alarm, zweimal tönten die Hörner zum Appell, so daß Jean nach dem Schuppen rannte, in dem, wie er glaubte, eine Verteilung stattfinden sollte. Aber beide Male erhielt er im Gedränge nur Rippenstöße. Die Preußen, bei denen alles so vorzüglich geordnet war, fuhren fort, der gefangenen Truppe gegenüber eine rohe Sorglosigkeit zu zeigen. Auf die Vorstellungen der Generale Douay und Lebrun ließen sie zwar ein paar Hammel und einige Wagenladungen mit Brot heranschaffen; aber ihre Vorsichtsmaßregeln erwiesen sich als so schlecht getroffen, daß die Hammel weggeschleppt und die Wagen geplündert waren, sobald sie über die Brücke kamen, und die Truppen, die hundert Meter weiter entfernt lagerten, immer noch nichts bekamen. Fast nur die Herumstreichet, die die Wagen geplündert hatten, bekamen etwas zu essen. Und als Jean den Trick begriffen hatte, wie er sagte, brachte er Maurice schließlich mit an die Brücke heran, um nach Nahrung auszuspähen.
Es war schon vier Uhr, und sie hatten an diesem schönen, sonnenwarmen Donnerstag noch nichts gegessen, als sie plötzlich zu ihrer Freude Delaherche entdeckten. Ein paar Bürger aus Sedan hatten gleich ihm mit vieler Mühe die Erlaubnis erhalten, sich die Gefangenen anzusehen, um ihnen Lebensmittel zu bringen; Maurice hatte auch schon mehrfach seine Überraschung ausgedrückt, daß er nichts von seiner Schwester hörte. Sobald sie Delaherche von weitem erkannten, der mit einem Korbe beladen war und unter jedem Arm ein Brot trug, stürzten sie vorwärts; sie kamen zu spät; es war eine derartige Drängelei entstanden, daß der Korb und eins der Brote ihm schon weggenommen und verschwunden waren, ohne daß der Tuchfabrikant auch nur Zeit gehabt hätte, sich über den Raub klar zu werden.
»Ach, meine armen Freunde!« stammelte er ganz verdutzt und überwältigt, obwohl er in seiner Sucht nach Volkstümlichkeit mit einem Lächeln auf den Lippen und einer gutmütigen, gar nicht hochmütigen Miene auf sie zu kam.
Jean hatte sich des andern Brotes bemächtigt und verteidigte es; und als er und Maurice am Weglande saßen und es mit mächtigen Bissen verschlangen, berichtete Delaherche ihnen. Seiner Frau ging es, Gott sei Dank, recht gut. Er war nur über den Oberst beunruhigt, der in große Niedergeschlagenheit verfallen war, obschon seine Mutter ihm dauernd vom Morgen bis zum Abend Gesellschaft leistete.
»Und meine Schwester?« fragte Maurice.
»Ihre Schwester, richtig!... Sie ist mit mir gekommen und hat die beiden Brote getragen. Aber sie mußte da drüben auf der andern Seite des Kanals bleiben. Der Posten wollte sie unter keinen Umständen durchlassen... Sie wissen doch, die Preußen haben allen Frauen den Zutritt zur Halbinsel strengstens verboten.«
Nun sprach er von Henriette und ihren vergeblichen Bemühungen, ihren Bruder zu sehen und ihm zu helfen. In Sedan hatte ein Zufall sie mit dem Vetter Günther, dem preußischen Gardehauptmann, zusammengeführt. Er war mit seiner trocknen, harten Miene an ihr vorbeigegangen und hatte getan, als kennte er sie nicht. Ihr war das Herz in die Kehle gestiegen, als befände sie sich angesichts eines der Mörder ihres Mannes, und sie hatte zuerst ihren Schritt beschleunigt. Dann war sie in einem plötzlichen Stimmungswechsel, den sie sich nicht zu erklären vermochte, wieder umgekehrt und hatte ihm mit rauher, vorwurfsvoller Stimme alles über Weiß' Tod erzählt. Er aber hatte nur eine ausweichende Handbewegung gemacht, als er von dem Tode seines Verwandten hörte; das war eben Kriegslos, er hätte auch getötet werden können. Kaum ein Zittern war über sein Soldatengesicht gelaufen. Dann hatte sie ihm von ihrem gefangenen Bruder erzählt und ihn angefleht, sich für ihn zu verwenden, damit sie ihn sehen könne, aber er hatte jede Einmischung abgelehnt. Die Verordnungen wären sehr scharf; er sprach von dem deutschen Willen wie von etwas Heiligem. Als sie ihn verließ, hatte sie das Gefühl gehabt, als halte er sich für einen Richter über Frankreich, unduldsam und voll der dünkelhaften Zurückhaltung des Erbfeindes, die der Haß gegen die Rasse, die er zu züchtigen hatte, nur noch erhöhte.
»Immerhin,« schloß Delaherche, »etwas haben Sie heute abend doch zu essen gehabt; aber es bringt mich zur Verzweiflung, daß ich, wie ich befürchte, keine weitere Erlaubnis bekommen werde.«
Er fragte sie, ob sie ihm keine Aufträge mitzugeben hätten, und nahm diensteifrig ein paar mit Blei geschriebene Briefe an sich, die ihm andere Soldaten anvertrauten; denn man hatte gesehen, wie die Bayern sich mit den Briefen, die sie zu befördern versprochen hatten, ihre Pfeifen anzündeten.
Als Maurice und Jean ihn dann bis zur Brücke begleiteten, rief Delaherche:
»Halt! Sehen Sie Henriette da hinten nicht?... Sie können ganz genau sehen, wie sie ihr Taschentuch schwenkt.«
Jenseits der Postenkette konnten sie tatsächlich eine schmächtige, kleine Gestalt in der Menge unterscheiden, einen weißen Fleck, der im Sonnenschein zitterte. Tief gerührt hoben sie alle beide die Arme und antworteten durch ein wütendes Schütteln ihrer Hände.
Am folgenden Tag, einem Freitag, machte Maurice seinen schlimmsten Tag durch. Jedoch hatten sie nach einer ruhigen Nacht in dem kleinen Gehölz mal wieder das Glück, Brot zu essen zu bekommen; denn Jean hatte bei dem Schlosse Villette eine Frau entdeckt, die welches für zehn Francs das Pfund verkaufte. Aber an diesem Tage wohnten sie einem scheußlichen Vorgange bei, dessen Erinnerung in ihnen noch lange nachspukte.
Chouteau hatte am Tage vorher bemerkt, daß Pache gar nicht klagte, sondern eine schlaue, zufriedene Miene zur Schau trug wie jemand, der seinen Hunger gestillt hat. Sofort war ihm der Gedanke gekommen, der Heimtücker müßte irgendwo ein Versteck haben, um so mehr, als er ihn sich heute morgen entfernen und nach einer Stunde ungefähr mit einem Lächeln um den vollen Mund zurückkommen sehen. Er hatte sicher irgendwo im Getümmel unverhofft einen guten Fund getan oder Vorräte erwischt. Und Chouteau hetzte nun Loubet und Lapoulle auf, den letzteren vor allen Dingen. Nicht wahr? So'n dreckiger Kerl, was zu essen zu haben und dann nicht mal mit den Gefährten zu teilen.
»Wißt ihr, heute abend gehen wir hinter ihm her. Wollen doch mal sehen, ob er sich allein das Maul zu stopfen wagt, wenn wir armen Teufel neben ihm verrecken.«
»Ja, ja, richtig, wir wollen hinter ihm hergehen!« wiederholte Lapoulle heftig. »Dann wollen wir schon sehen!«
Er ballte die Fäuste; schon die Hoffnung auf Essen machte ihn verrückt. Sein Riesenhunger quälte ihn mehr als die andern; seine Qualen wurden derart, daß er versuchte Gras zu essen. Schon seit zwei Tagen, seit der Nacht, als das Pferdefleisch mit den roten Rüben ihm einen gräßlichen Durchfall beigebracht hatte, war er nüchtern; er war mit seinem großen Körper trotz seiner Stärke so ungeschickt, daß er bei der Drängerei bei der Plünderung der Lebensmittel nie etwas abkriegte.
Mit seinem Blute hätte er für ein Pfund Brot bezahlt.
Als die Nacht hereinbrach, glitt Pache zwischen den Bäumen beim Glaireturm dahin, und die drei andern schlichen vorsichtig hinter ihm her.
»Er darf keine Ahnung davon haben,« sagte Chouteau immer wieder. »Vorsicht, wenn er sich umdreht.«
Aber hundert Schritte weiter glaubte sich Pache offenbar in Sicherheit, denn er fing nun an, rasch auszuschreiten, ohne auch nur einen Blick nach rückwärts zu werfen. Und so konnten sie ihm leicht bis in die benachbarten Steinbrüche folgen und kamen ihm gerade auf den Buckel, als er zwei große Steine lockerte, um ein halbes Brot darunter hervorzunehmen. Das war das Ende seiner Vorräte; er konnte gerade noch eine Mahlzeit davon halten.
»Du gottverdammter Duckmäuser!« brüllte Lapoulle, »da versteckst du dich also! ... Sofort gib das her, das ist mein Teil.«
Sein Brot hergeben, warum denn? So schwächlich er auch war, jetzt übermannte ihn der Zorn und er preßte das Stück Brot mit aller Kraft gegen seine Brust. Er hatte auch Hunger.
»Laß mich zufrieden, hörst du? Das gehört mir!«
Dann aber riß er vor Lapoulles geballter Faust aus und lief von den Steinbrüchen nach den kahlen Feldern auf der Seite von Donchery hinunter. Schnaufend folgten ihm die drei andern, so schnell ihre Beine laufen wollten. Aber er gewann Raum, da er leichter war als sie und von einer derartigen Furcht gepackt und so versessen auf die Wahrung seines Eigentums war, daß er wie vom Winde getragen schien. Fast einen Kilometer hatte er zurückgelegt und näherte sich dem kleinen Gehölz am Rande des Wassers, als er auf Jean und Maurice stieß, die aus ihrem Nachtlager kamen. Im Vorbeilaufen tönte ihnen sein Notschrei entgegen, aber sie waren von dieser in wütender Eile an ihnen vorbeihastenden Menschenjagd derart verdutzt, daß sie wie angewurzelt neben einem Felde stehenblieben. Und nun sahen sie alles mit an.
Das Unglück wollte, daß Pache an einen Stein stieß und hinfiel. Schon kamen die drei andern fluchend und heulend heran und sahen so, durch ihren Lauf angeregt, wie auf ihre Beute losgelassene Wölfe aus.
»Gib das her, Gotts verdammt!« schrie Lapoulle, »oder ich gebe dir dein Teil!«
Und er hob von neuem die Faust, als Chouteau ihm das aufgeklappte Messer hinreichte, die winzige Klinge, die ihm zum Schlachten des Pferdes gedient hatte.
»Hier! Das Messer!«
Aber nun stürzte Jean herbei, um ein Unglück zu verhindern, und rief, er würde sie alle in den Block bringen; daraufhin behandelte Loubet ihn mit üblem Lachen als Preußen, sie hatten keine Führer mehr, und nur die Preußen hätten zu befehlen.
»Gottsdonnerwetter!« wiederholte Lapoulle, »willst du das hergeben!«
Trotzdem er vor Schrecken blaß geworden war, preßte Pache in seiner Dickköpfigkeit eines hungrigen Bauern, der nichts fahren läßt, was ihm einmal gehört, das Brot nur fester an seine Brust.
»Nein!«
Da war's zu Ende. Das Viech stieß ihm das Messer mit einer solchen Wucht in die Kehle, daß der Unglückliche nicht einmal einen Schrei ausstieß. Seine Arme öffneten sich, und das Brot rollte zur Erde, wo sein Blut über es hinspritzte.
Angesichts dieses verrückten, törichten Mordes wurde Maurice plötzlich scheinbar selbst von Wahnsinn ergriffen. Unter drohenden Gebärden behandelte er die drei Leute als Mörder, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß sein ganzer Körper zitterte. Lapoulle schien ihn gar nicht zu hören. Vornübergebeugt saß er dicht neben dem Körper auf der Erde und verschlang das mit roten Tropfen besprenkelte Brot; in seiner wilden Stumpfheit hatte es den Anschein, als machte das mächtige Knacken seiner Kinnbacken ihn taub; Chouteau und Loubet dagegen wagten gar nicht, ihren Anteil zu fordern, als sie ihn so fürchterlich bei der Befriedigung seiner Begierde sahen.
Inzwischen war es vollständig Nacht geworden, eine helle Nacht mit schönem Sternenhimmel; und Maurice und Jean, die ihr kleines Gehölz wiedergewonnen hatten, sahen bald nur noch Lapoulle am Maasufer umherirren. Die beiden andern waren verschwunden; sie waren zweifellos wieder an das Kanalufer zurückgekehrt, da sie sich über den Körper, den sie dort hatten liegen lassen, beunruhigt fühlten. Er dagegen schien sich im Gegenteil davor zu fürchten, wieder dorthin zu gehen und seine Genossen zu treffen. Nach der ersten Betäubung durch den Mord wurde er augenscheinlich, zumal ihn die Verdauung des dicken, zu rasch verschlungenen Stückes Brot beschwerte, von Angst befallen, so daß er nun umherirrte und nicht wagte, den Weg wieder einzuschlagen, den der Leichnam ihm versperrte, und so trabte er ohne Ende in einem vor Unentschlossenheit schwankenden Schritt auf der Böschung einher. Erwachten Gewissensbisse in der Tiefe dieses finstern Gehirns? Oder war es nicht doch mehr die Angst vor der Entdeckung? So ging er wie ein Tier hinter den Stäben seines Käfigs hin und her, in dem plötzlich entstehenden und immer zunehmenden Bedürfnis, zu fliehen, einem Zwange, der so schmerzhaft war wie eine körperliche Krankheit, und von dem er fühlte, er würde daran sterben, wenn er ihn nicht befriedigte. Im Galopp, im Galopp mußte er aus diesem Gefängnis entfliehen, in dem er jetzt eben zum Mörder geworden war. Er warf sich jedoch platt nieder und wälzte sich lange zwischen den Sträuchern am Ufer herum.
In seinem Widerwillen sagte auch Maurice zu Jean:
»Hör' zu, ich kann hier nicht länger bleiben. Ich versichere dich, ich werde wahnsinnig ... Ich wundere mich schon, daß mein Körper es ausgehalten hat, denn ich befinde mich eigentlich gar nicht so schlecht. Aber der Kopf geht aus dem Leim, ja wahrhaftig! Der geht aus dem Leim, ganz gewiß! Läßt du mich noch einen Tag hier in dieser Hölle, bin ich verloren ... Ich bitte dich, laß uns fliehen? laß uns sofort fliehen.«
Und dann ging er daran, ihm die hirnverbranntesten Ausbruchspläne zu entwerfen. Sie wollten schwimmend über die Maas gehen, sich auf die Schildwachen werfen und sie mit einem Stück Bindfaden erdrosseln, das er in der Tasche hatte; oder auch, sie wollten sie mit Steinen erschlagen, oder schließlich konnten sie sie mit Geld bestechen, ihre Uniformen anziehen und so durch die preußischen Linien kommen.
»Sei doch Still, Junge!« wiederholte Jean voller Verzweiflung. »Ich werde ganz bange, wenn ich dich solche Dummheiten reden höre. Ist das denn vernünftig, ist das denn möglich, all das? ... Morgen wollen wir mal sehen. Sei still!«
Obwohl auch sein Herz voll Zorn und Abscheu war, bewahrte er sich doch seinen gesunden Menschenverstand, so schwach er auch vor Hunger unter all den Alpdrücken dieses, den Grund alles menschlichen Elends aufrührenden Lebens wurde. Und als sein Gefährte immer närrischer wurde und sich in die Maas werfen wollte, mußte er ihn zurückhalten, mit Anwendung von Gewalt sogar, und die Augen standen ihm voller Tränen, während er bat und schalt. Dann plötzlich:
»Da! Sieh hin!«
Ein Aufklatschen des Wassers ließ sich hören. Sie sahen Lapoulle, der sich entschlossen hatte, sich in den Fluß gleiten zu lassen, nachdem er sich den Rock ausgezogen hatte, damit der seine Bewegungen nicht hemmte; sein Hemd bildete einen ganz genau sichtbaren Fleck auf der dahingleitenden schwarzen Strömung. Er schwamm mit langsamen Stößen vorwärts und suchte offenbar nach einer Stelle, wo er landen könnte; auf der andern Seite dagegen unterschieden sie sehr scharf die Schattenrisse der unbeweglich dastehenden Posten. Plötzlich fuhr ein Heller Schein durch die Nacht und ein Schuß rollte bis zu den Höhen von Montimont. Das Wasser kochte einfach auf, als ob zwei Ruder es plötzlich wie wild schlügen.
Und das war alles; Lapoulles Körper, das weiße Hemd begann einsam und sanft den Strom hinabzutreiben.
Am folgenden Morgen, einem Sonnabend, brachte Jean Maurice gleich nach Sonnenaufgang zum Lagerplatz der 106er, da er von neuem hoffte, sie würden abgehen. Aber es war kein Befehl dazu da; das Regiment war scheinbar vergessen worden. Viele waren schon abgegangen, und die Zurückgelassenen verfielen einer unheilvollen Krankheit. Seit acht langen Tagen keimte und wuchs der Wahnsinn in dieser Hölle. Das Aufhören des Regens, der drückende, bleierne Sonnenschein änderten nur die Form ihres Leidens. Die außerordentliche Hitze hatte die Leute ganz erschöpft und verlieh den Fällen von Dysenterie das Aussehen einer beunruhigenden Seuche. Der Abfall, der Auswurf dieses ganzen kranken Heeres verpestete die Luft mit ansteckenden Ausdünstungen. Sie konnten nicht länger an der Maas oder dem Kanal entlanggehen, so furchtbar stark war hier der Verwesungsgeruch der zwischen den Sträuchern verfaulenden Pferde und Menschen. Und die auf den Feldern an Entkräftung zugrunde gegangenen Pferde gerieten in Verwesung und strömten einen derartigen Pesthauch aus, daß die Preußen ansingen für sich selbst zu fürchten und den Gefangenen Hacken und Schaufeln brachten und sie zwangen, die Kadaver zu begraben.
Diesen Sonnabend nahm übrigens der Mangel ein Ende. Da sie jetzt viel weniger zahlreich waren und Lebensmittel von allen Seiten heranströmten, so gingen sie mit einem Schlage von äußerster Entbehrung zum üppigsten Überfluß über. Brot, Fleisch, selbst Wein hatten sie, soviel sie wollten; von Sonnenaufgang bis Untergang aßen sie zum Sterben. Die Nacht brach herein und sie aßen immer noch, und sie aßen weiter bis zum nächsten Morgen. Viele starben an den Folgen.
Tagsüber hatte Jean nur die eine Sorge, auf Maurice aufzupassen, den er jeder Torheit für fähig hielt. Er hatte getrunken und redete davon, er wolle einen deutschen Offizier ohrfeigen, damit sie ihn wegbrachten. Und da Jean am Abend in einem der zum Glaireturm gehörigen Gebäude einen leeren Kellerwinkel entdeckt hatte, hielt er es für das Vernünftigste, hier mit seinem Gefährten zu schlafen, denn eine gute Nacht würde ihn vielleicht beruhigen. Aber das wurde die scheußlichste Nacht ihres ganzen Aufenthaltes, eine Schreckensnacht, in der sie kein Auge schließen konnten. Andere Soldaten füllten den Keller, und in einer Ecke hatten sich sogar zwei niedergelegt, die vor Erschöpfung durch Dysenterie starben; und da vollständige Dunkelheit herrschte, hörten ihre dumpfen Klagen und undeutlichen Schreie gar nicht auf, das Röcheln ihres Todeskampfes nahm immerfort zu. In der tiefen Finsternis wurde dies Röcheln so gräßlich, daß die andern Leute, die neben ihnen lagen und schlafen wollten, ärgerlich wurden und den Sterbenden zuschrien, sie sollten ruhig sein. Die aber hörten natürlich nicht, das Röcheln ging immer von neuem weiter und übertönte alles andere; von draußen aber drang das Gebrüll ihrer betrunkenen Gefährten herein, die immer noch aßen, ohne satt werden zu können.
Nun bekam Maurice Herzbeklemmungen. Er hatte versucht, den schrecklichen Schmerzensschreien zu entfliehen, die ihm den Angstschweiß über die Haut rieseln ließen; aber als er sich tastend erhob, trat er nur auf Gliedmaßen und fiel wieder hin, eingemauert mit den Sterbenden. Nun versuchte er gar nicht mehr zu entkommen. Von der Abfahrt von Reims an bis zu der Vernichtung bei Sedan stand das ganze gräßliche Unglück wieder in ihm auf. Es schien ihm, als dränge der Leidensweg der Heeresgruppe von Châlons sich in dieser einen Nacht zusammen, in dieser tintenschwarzen Nacht in dem Keller hier, wo die beiden Soldaten durch ihr Todesröcheln die Gefährten am Schlafen hinderten. Das Heer der Verzweiflung, die als Sühnopfer vorgeschickte Menschenherde hatte auf jeder ihrer Raststellen mit Strömen ihres roten Blutes für die Fehler aller gebüßt. Und jetzt verfiel sie, ruhmlos hingeschlachtet, angespien von allen Seiten, unter unverdient harten Züchtigungen dem Märtyrertod. Das war zuviel, er geriet ganz außer sich, er lechzte nach Gerechtigkeit, und ein brennender Drang nach Rache am Schicksal erfüllte ihn.
Als die Dämmerung anbrach, war der eine Soldat tot, der andere röchelte immer noch.
»Komm, vorwärts, Junge,« sagte Jean sanft. »Wir wollen Luft schnappen, dann wird uns wieder besser.«
Aber draußen, als sie beide in dem schönen, schon warmen Morgen am Ufer entlang gingen, da regte Maurice sich noch mehr auf; er streckte die Fäuste gegen das weite, sonnenüberglänzte Rund des Schlachtfeldes aus, die Ebene von Illy ihnen gegenüber, Saint-Menges links, das Garennegehölz rechts von ihnen.
»Nein, nein, ich kann nicht länger, ich kann das nicht mehr sehen! Es durchbohrt mir das Herz und spaltet mir den Schädel, das immer vor mir zu haben ... Bring' mich weg, bring' mich sofort weg!«
Dieser Tag war wieder ein Sonntag; Glockentöne kamen von Sedan herüber, und schon von weitem hörten sie die Musik der Deutschen. Aber die 106er hatten immer noch keinen Befehl, und Jean, der sich vor dem wachsenden Wahnsinn Maurices fürchtete, entschloß sich, einen neuen Plan zu versuchen, der seit gestern in ihm gereift war. Auf dem Wege vor dem preußischen Posten bereitete sich der Abgang eines andern Regiments vor, des fünften Linienregiments. Es herrschte große Verwirrung in der Abteilung, mit deren Abzählung ein sehr schlecht französisch sprechender Offizier gar nicht fertig werden konnte. Und nachdem sie beide Kragen und Knöpfe von ihren Uniformen abgerissen hatten, um sich nicht durch die Regimentsnummer zu verraten, drängten sie sich mitten in das Gewühl hinein; sie kamen über die Brücke hinüber und befanden sich draußen. Chouteau und Loubet hatten offenbar denselben Gedanken gehabt, denn sie bemerkten die beiden mit ihren unruhigen Mörderblicken hinter sich.
Ach! Was für eine Erleichterung, diese erste Minute des Glückes. Wie eine Auferstehung kam ihnen das Draußensein vor, das lebensvolle Licht, die schrankenlose Luft, ein blühendes Erwachen all ihrer Hoffnungen. Wie groß auch ihr Elend immer noch sein mochte, sie fürchteten es nicht länger, sie lachten darüber, als sie jetzt dem schrecklichen Alpdruck des Jammerlagers entkommen waren.