Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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6

Bei den Delaherches in der Rue Macqua in Sedan hatte das Leben nach den fürchterlichen Erschütterungen der Schlacht und der Übergabe seinen alten Gang wieder aufgenommen, und seit bald vier Monaten folgte ein Tag dem andern unter dem trüben Drucke der preußischen Besetzung.

Aber ein Winkel des mächtigen Fabrikgebäudes blieb vor allen andern verschlossen, als werde er gar nicht mehr bewohnt: das war das nach der Straße hinaus gelegene Zimmer am Ende der herrschaftlichen Wohnung, das Oberst von Vineuil immer noch innehatte. Während alle andern Fenster sich öffneten und ein ewiges Kommen und Gehen lauten Lärm des Lebens hören ließen, waren sie in diesem Zimmer mit ihren hartnäckig geschlossenen Laden wie tot. Der Oberst klagte über seine Augen, und daß helles Licht ihre Schmerzhaftigkeit erhöhe, wie er sagte; und da sie nicht wußten, ob er die Unwahrheit sagte, ließen sie, um ihn zufriedenzustellen, tags und nachts eine Lampe bei ihm brennen. Zwei Monate lang hatte er das Bett hüten müssen, obwohl Stabsarzt Bouroche nur einen Sprung im Knöchel festgestellt hatte: die Wunde schloß sich nicht, und alle möglichen Arten von Verwicklungen traten hinzu. Jetzt stand er zwar auf, befand sich aber in einem derartigen Zustande seelischer Niedergeschlagenheit, fiel einem so unendlich hartnäckigen, ungestümen Leiden zur Beute, daß er seine ganzen Tage, auf dem Ruhebett liegend, vor einem großen Holzfeuer verbrachte. Er magerte so ab, daß er nur noch einem Schatten glich, ohne daß der ihn behandelnde Arzt zu seiner Verwunderung irgendwelche Verletzung als Ursache dieses langsamen Absterbens hätte feststellen können; er verlöschte wie eine Flamme.

Und Frau Delaherche, die Mutter, hatte sich mit ihm seit dem Tage nach der Übergabe eingeschlossen. Sie mußten sich zweifellos mit ein paar Worten ein für allemal verständigt haben über ihren förmlichen Wunsch, sich solange in diesem Zimmer in klösterlicher Abgeschlossenheit zu halten, als Preußen im Hause wohnten. Viele hatten hier schon zwei oder drei Nächte zugebracht; ein Hauptmann, Herr von Gartlauben, schlief dort noch auf die Dauer. Übrigens hatten weder der Oberst noch die alte Dame je wieder über diese Sachen gesprochen. Trotz ihrer achtundsiebzig Jahre stand sie beim ersten Tagesgrauen auf und ließ sich ihrem Freunde gegenüber in der andern Kaminecke in einen Lehnstuhl nieder; und in dem unbeweglichen Schein ihrer Lampe ging sie ans Strümpfestricken für arme Kinder, während er, die Augen fest auf die Scheite geheftet, nie etwas tat, sondern in wachsender Starrheit nur in einem einzigen Gedanken zu leben und zu sterben schien. Sie wechselten sicher den ganzen Tag keine zwanzig Worte, und jedesmal, wenn sie, die doch im Hause hin und wieder ging, sich, ohne es zu wollen, eine Neuigkeit von draußen entschlüpfen ließ, dann hielt er sie durch eine Handbewegung auf; das ging so weit, daß keinerlei Vorgänge des Lebens da draußen mehr zu ihm drangen, auch nichts von der Belagerung von Paris, den Niederlagen an der Loire und den täglichen Leiden der Besetzung. Aber ob der Oberst auch in diesem freiwilligen Grabe nichts mehr vom Tageslicht sehen wollte, ob er sich auch die Ohren verstopfte, all das schreckliche Unglück, all die tödliche Trauer drang doch zu ihm durch die Ritzen mit der Luft herein, die er atmete; denn von Stunde zu Stunde war es, als wirkte das Gift in ihm immer schärfer und als werde sein Hinsterben immer sicherer.

Während dieser ganzen Zeit lebte Delaherche von der Hand in den Mund; aber er gab sich in seinem Lebensdrange doch alle Mühe, seine Fabrik durch eigene Tätigkeit wieder zu eröffnen. Zunächst hatte er bei der unter Arbeitern und Abnehmern herrschenden Verwirrung nur einige Arbeitszweige wieder in Betrieb nehmen können. Dann aber verfiel er, um in seiner traurigen Muße doch etwas zu tun, auf den Gedanken, den Bestand seines Hauses vollständig aufzunehmen und gewisse Verbesserungen zu überlegen, von denen er seit langer Zeit träumte. Um ihm bei dieser Arbeit zu helfen, hatte er gerade einen jungen Mann zur Hand, der nach der Schlacht bei ihm gestrandet war, den Sohn eines seiner Abnehmer. Edmond Lagarde war in Passy in dem kleinen Modegeschäft seines Vaters groß geworden, war im Alter von kaum zwanzig Jahren Sergeant im fünften Linienregiment geworden und hatte sich, obwohl er nur wie ein Achtzehnjähriger aussah, wie ein Held mit solcher Erbitterung herumgeschossen, daß er gegen fünf Uhr mit durch eine der letzten Kugeln zerschmettertem linken Arm durch das Tor von Ménil noch hereingekommen war; und Delaherche hatte ihn, nachdem die Verwundeten aus seinen Schuppen fortgebracht worden waren, aus Gutmütigkeit bei sich behalten. Auf diese Weise bildete Edmond jetzt einen Teil der Familie, er aß, schlief und lebte dort, nachdem er nun geheilt war, und half dem Tuchfabrikanten als Sekretär, bis er wieder nach Paris gelangen könnte. Dank dessen Schutz und auf das förmliche Versprechen hin, nicht entfliehen zu wollen, ließen die preußischen Behörden ihn in Ruhe. Er war blond, mit blauen Augen, hübsch wie ein Mädchen und übrigens von so furchtsamem Zartgefühl, daß er beim geringsten Wort errötete. Seine Mutter hatte ihn erzogen und sich an der Bezahlung seiner aus den Einkünften ihres kärglichen Geschäfts bestrittenen Schuljahre verblutet. Er liebte Paris leidenschaftlich und betrauerte es in Gilbertes Gegenwart, ein verwundeter Cherub, den die junge Frau kameradschaftlich pflegte.

Schließlich war der Haushalt auch noch um den neuen Gast vermehrt, Herrn von Gartlauben, einen Landwehrhauptmann, dessen Regiment in Sedan die aktiven Truppen ersetzt hatte. Trotz seines bescheidenen Ranges war er eine einflußreiche Persönlichkeit; denn der in Reims eingesetzte Generalgouverneur, der über die ganze Gegend eine unbeschränkte Machtfülle ausübte, war sein Onkel. Auch bildete er sich etwas darauf ein, daß er Paris so liebte, daß er dort gelebt habe und das dortige Benehmen und seine Feinheiten wohl kenne; und tatsächlich gab er sich den äußerlichen Anstrich eines wohlerzogenen Mannes und verbarg unter diesem Überzüge seine angeborene Roheit. Stets eng in seine Uniform eingeschnürt, war er groß und dick; er log hinsichtlich seines Alters, denn er war über seine fünfundvierzig Jahre ganz verzweifelt. Wäre er klüger gewesen, hätte er gefährlich werden können; aber seine hochgradige Eitelkeit versetzte ihn in einen Zustand fortdauernder Selbstzufriedenheit, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß sich jemand über ihn lustig machen könne.

Späterhin wurde er für Delaherche wahrhaft zum Retter. Aber was für jammervolle Tage in dieser ersten Zeit nach der Übergabe! Sedan besetzt, bevölkert von deutschen Soldaten, zitterte in der Furcht vor Plünderung. Dann aber flossen die siegreichen Truppen gegen das Seinetal hin ab, es blieb nur eine Besatzung zurück, und die Stadt verfiel in den Leichenfrieden einer Totenstadt: die Häuser, die Läden stets geschlossen, die Straßen von der Dämmerung ab verlassen, unter dem schweren Schritt und dem rauhen Rufe der Streiftrupps. Keine Zeitung, kein Brief kam mehr herüber; es war ein vermauertes Gefängnis, eine plötzliche Abtrennung angesichts all der neuen Schicksalsschläge, die man kommen fühlte, von denen man nichts wußte, sie aber doch befürchtete. Um das Unglück vollständig zu machen, drohte Mangel auszubrechen. Eines Morgens gab's beim Erwachen kein Brot, kein Fleisch mehr, das Land war verwüstet, wie von einem Heuschreckenschwarm abgefressen seit der einen Woche, in der Hunderttausende von Menschen ihren entuferten Strom darüber hinweggewälzt hatten. Die Stadt besaß nur noch für zwei Tage Lebensmittel; sie mußte sich an Belgien wenden, und alles kam jetzt über die offene Grenze aus dem Nachbarlande, denn die Zollüberwachung war verschwunden, ebenfalls mit in das Verhängnis hineingerissen. Und dann kamen die fortdauernden Quälereien, der jeden Morgen wieder beginnende Kampf zwischen der in der Unterpräfektur eingerichteten preußischen Kommandantur und dem dauernd im Stadthause tagenden Stadtrat. Aber hielt dieser auch bei allem heldenhaften Widerstande seiner Verwaltung große Reden und wich nur Schritt für Schritt zurück, die Bürger brachen unter den immer zunehmenden Anforderungen zusammen, unter der Willkür und der ungeheuerlichen Häufigkeit der Forderungen.

Delaherche litt zunächst sehr unter den Soldaten und Offizieren, die er bei sich unterbringen mußte. Alle Völkerstämme kamen bei ihm mit der Pfeife zwischen den Zähnen durch. Jeden Tag fielen so aus dem blauen Himmel zweitausend, dreitausend Mann über die Stadt her, Infanteristen, Kavalleristen, Artilleristen; und obwohl die Leute nur Anrecht auf Behausung und Feuerung hatten, mußte er doch oft laufen, um Lebensmittel zu besorgen. Die Zimmer, in denen sie sich aufhielten, waren von abstoßendem Schmutz erfüllt. Oft kamen die Offiziere betrunken nach Hause und benahmen sich noch unerträglicher als ihre Soldaten. Aber es hielt sie ein so mächtiger Gehorsam zusammen, daß Gewalttätigkeiten und Plünderungen nur selten vorkamen. In ganz Sedan konnten nur zwei Fälle angeführt werden, in denen Frauen vergewaltigt worden waren. Das kam erst später, infolge des Widerstandes von Paris, daß sie die Härte ihrer Herrschaft fühlbar werden ließen, als sie voller Verzweiflung sahen, wie der Kampf sich eine Ewigkeit fortzog und sie über die Haltung der Provinz in Unruhe gerieten, da sie fortwährend eine Massenerhebung befürchten mußten, den Wolfskrieg, den die Franktireurs ihnen erklärt hatten.

Delaherche hatte gerade wieder den Kommandeur eines Kürassierregiments bei sich wohnen gehabt, der in seinen Stiefeln schlief und, als er fortging, einen bis an den Kamin heraufreichenden Schmutz hinterließ, als in der zweiten Septemberhälfte Herr von Gartlauben an einem sündflutartigen Regenabend zu ihm hereinfiel. Die erste Stunde war recht übel. Er sprach laut, verlangte das beste Zimmer, ließ seinen Säbel auf den Treppenstufen klappern. Sowie er aber Gilberte bemerkte, wurde sein Benehmen anständig, er schloß sich ein und ging mit steifer Miene, aber höflich grüßend einher. Er wurde sehr umschmeichelt, denn man wußte sehr wohl, daß ein Wort von ihm bei dem Oberst, der Sedan befehligte, genügte, um eine Beschlagnahme zu mildern oder einen Mann freizulassen. Kürzlich hatte sein Onkel, der Generalgouverneur in Reims, eine Bekanntmachung von kalter Grausamkeit erlassen, in der der Belagerungszustand verkündigt und jede Person mit Todesstrafe bedroht wurde, die dem Feinde Vorschub leistete, sei es als Spion, durch Irreführung der seiner Führung anvertrauten deutschen Truppen oder durch Zerstörung von Brücken und Geschützen sowie durch Beschädigung von Telegraphen- und Eisenbahnlinien. Der Feind, das waren die Franzosen; und das Herz sprang den Einwohnern aus dem Halse, als sie die großen weißen, an die Tür der Kommandantur angeklebten Anschläge lasen, die ihre Sorgen und ihre Wünsche zu Verbrechen stempelten. Es war schon so hart, die neuesten Siege der deutschen Heere aus den Hurras der Besatzung zu entnehmen. Jeder Tag brachte neuen Kummer; die Soldaten zündeten große Freudenfeuer an, sangen und betranken sich die ganze Nacht, während die Einwohner, die jetzt gezwungen waren, von neun Uhr an zu Hause zu bleiben, tief in ihren dunklen Häusern zuhörten, ganz hin vor Ungewißheit in der Ahnung eines neuen Unglücksschlages. Gerade während eines dieser Vorkommnisse war es, gegen Mitte Oktober, daß Herr von Gartlauben zum erstenmal eine Probe gewissen Zartgefühls ablegte. Seit dem Morgen lebte Sedan etwas wieder auf unter der Hoffnung, die das Gerücht von einem großen Erfolge der Loireabteilung verbreitet hatte; sie sollte im Begriff stehen, Paris zu entsetzen. Aber zu oft schon hatten sich die besten Nachrichten in Unglücksbotschaften verwandelt! Und am Abend hörte man tatsächlich, die bayrische Armee habe sich Orleans bemächtigt. In einem der Fabrik gegenüberliegenden Hause in der Rue Macqua vollführten die Soldaten einen derartigen Lärm, daß der Hauptmann, der gesehen hatte, wie angegriffen Gilberte war, sie zum Schweigen brachte, da auch er diesen Lärm für unangebracht hielt. Der Monat verging, Herr von Gartlauben hatte sich zu noch weiteren kleinen Gefälligkeiten bewogen gefühlt. Die preußischen Behörden hatten den Verwaltungsdienst umgebildet; es war ein deutscher Unterpräfekt eingesetzt worden, was übrigens die Fortdauer der Scherereien nicht verhinderte, obwohl dieser sich als verhältnismäßig vernünftig erwies. Unter den ewigen Schwierigkeiten zwischen der Kommandantur und dem Stadtrat war eine der häufigsten die Beschlagnahme von Fuhrwerk; und es gab einen gewaltigen Krach, als Delaherche eines Morgens seinen mit zwei Pferden bespannten Wagen nicht nach der Unterpräfektur schicken konnte: der Bürgermeister wurde einen Augenblick festgenommen; er selbst wäre mit auf die Zitadelle gekommen ohne Herrn von Gartlauben, der lediglich durch seine Verwendung allen Zorn beschwichtigte. An einem andern Tage erwirkte sein Dazwischentreten der Stadt einen Aufschub, als sie zur Zahlung von dreißigtausend Francs Buße verurteilt war, um sie für angebliche Verzögerung der Wiederherstellungsarbeiten an der Brücke von Villette zu bestrafen, einer Brücke, die von den Preußen zerstört worden war, eine bejammernswerte Geschichte, die Sedan an den Abgrund brachte und niederschmetterte. Aber vor allem nach der Übergabe von Metz geriet Delaherche seinem Gaste gegenüber in eine wirkliche Dankesschuld. Die schreckliche Nachricht brach über die Einwohner wie ein Donnerschlag herein, der ihre letzten Hoffnungen vernichtete; und von der folgenden Woche an kam es abermals zu verheerenden Truppendurchmärschen, als der Menschenstrom sich von Metz herabzog, die Heeresgruppe des Prinzen Friedrich Karl sich gegen die Loire hinlenkte, die des Generals von Manteuffel auf Amiens und Rouen zog und andere Korps die Belagerer vor Paris verstärkten. Mehrere Tage lang waren die Häuser mit Soldaten vollgepfropft, Bäckereien und Schlächtereien waren bis auf die letzte Krume ausgefegt, bis zum letzten Knochen, das Straßenpflaster strömte fortwährend einen Schweißgeruch aus wie nach dem Durchzug einer großen wandernden Herde. Nur die Fabrik in der Rue Macqua hatte unter dem Überfluß menschlichen Schlachtviehs nicht zu leiden; sie wurde durch eine freundschaftliche Hand bewahrt, die sie lediglich zur Unterkunft für ein paar Führer von guter Erziehung bestimmte.

Delaherche trat denn auch schließlich aus seiner kalten Haltung heraus. Die Bürgerfamilien hatten sich in ihren Wohnungen eingeschlossen und vermieden jeden Verkehr mit den Offizieren, die sie beherbergten. Er aber, den sein ewiger Hang zum Reden, zum Gefallen, zum Lebensgenuß antrieb, litt bereits unter der Rolle eines besiegten Schmollers. Sein großes, stummes, vereistes Haus, in dem jeder für sich in steifem Haßgefühl zu leben schien, lag ihm furchtbar schwer auf dem Herzen. Und so begann er eines Tages damit, daß er Herrn von Gartlauben auf der Treppe anhielt, um ihm für seine Gefälligkeiten zu danken. Allmählich wurde ihm das zur Gewohnheit; die beiden Männer wechselten jedesmal, wenn sie sich trafen, ein paar Worte, so daß sich der preußische Hauptmann eines Abends im Wohnzimmer des Fabrikanten in der Ecke neben dem Kamin sitzend fand, in dem riesige Eichenklötze brannten, und dort eine Zigarre rauchte, während er ganz freundschaftlich über die neuesten Nachrichten plauderte. Die ersten vierzehn Tage erschien Gilberte überhaupt nicht; er tat auch so, als wisse er gar nichts von ihrem Dasein, obwohl er beim leichtesten Geräusch seine Blicke auf die Tür des benachbarten Zimmers richtete. Es schien, als wolle er sie seine Stellung als Sieger vergessen machen; er zeigte eine umfassende, ungezwungene Gesinnung und scherzte gern über gewisse Anforderungen, die Stoff zum Lachen boten. So, als eines Tages ein Sarg und Verbandsachen angefordert wurden, waren ihm diese Verbände und der Sarg sehr spaßhaft. Für alles übrige, Steinkohlen, Öl, Milch, Zucker, Butter, Fleisch, Kleidungsstücke gar nicht gerechnet, Öfen, Lampen, kurz für alles, was zum täglichen Leben gehört, hatte er nur ein Achselzucken: mein Gott, was wollen Sie? Zweifellos war es ärgerlich, und er gab sogar zu, es werde zuviel verlangt; aber das war eben der Krieg, sie mußten doch auch in Feindesland leben. Delaherche, den die unaufhörlichen Anforderungen ärgerten, behielt seine freie Redeweise bei und zerpflückte sie jeden Abend, als ob er sein Haushaltsbuch prüfte. Sie hatten aber doch nur eine lebhafte Auseinandersetzung, nämlich hinsichtlich der Buße von einer Million, mit der der Präfekt von Rethel den Ardennenbezirk strafen wollte, unter dem Vorwand einer Entschädigung für Deutschland durch französische Kriegsschiffe verursachten Schaden und für die Austreibung in Frankreich ansässiger Deutscher. Nach dem Verteilungsplan sollte Sedan zweiundvierzigtausend Francs bezahlen. Und er erschöpfte sich in Versuchen, seinem Gaste begreiflich zu machen, die Lage der Stadt sei eine so außergewöhnliche, und sie habe schon zu schwer gelitten, als daß sie dies noch tragen könne, übrigens gingen beide aus diesen Auseinandersetzungen stets mit größerer Vertraulichkeit gegeneinander hervor; er, entzückt darüber, sich an seinem eigenen Redestrom berauschen zu können, und der Preuße vergnügt, daß er aufs neue seine Pariser Artigkeit hatte beweisen können.

Eines Abends trat Gilberte mit ihrer fröhlich unbesonnenen Miene zu ihnen herein. Sie blieb stehen und spielte die Überraschte. Herr von Gartlauben stand auf und war so zurückhaltend, sich fast sofort zurückzuziehen. Aber am folgenden Abend fand er Gilberte bereits vor und nahm seinen Platz am Kamin wieder ein. Nun begannen ganz reizende Abende, die sie im Arbeitszimmer und nicht im Empfangszimmer verbrachten, was eine außerordentlich seine Unterscheidung bedeutete. Selbst später, wenn die junge Frau Musik machen wollte, die er verehrte, ging sie stets allein in das danebenliegende Empfangszimmer und ließ nur einfach die Tür offenstehen. Bei dem rauhen Winter brannte das alte Eichenholz aus den Ardennen mit heller Flamme in dem hohen Kamin; gegen zehn Uhr nahmen sie eine Tasse Tee und plauderten dann noch ein wenig in der wohligen Wärme des großen Raumes. Herr von Gartlauben hatte sich sichtlich verrückt in die ewig lächelnde junge Frau verliebt, die mit ihm tändelte, wie sie es früher in Charleville mit den Freunden Hauptmann Beaudouins getan hatte. Er pflegte sich mehr und zeigte sich äußerst artig, war über die geringste Gunstbezeugung froh, denn ihn quälte nur die eine Sorge, man könne ihn für einen Barbaren halten, einen groben Soldaten, der Frauen vergewaltige.

So war das Leben in dem weiten dunklen Hause in der Rue Macqua vollständig in zwei Teile geteilt. Während bei den Mahlzeiten Edmond mit seinem hübschen Gesicht eines verwundeten Cherubs einsilbig auf das ununterbrochene Geschwätz Delaherches antwortete und errötete, wenn Gilberte ihn bat, ihr das Salz zu reichen, während abends im Arbeitszimmer Herr von Gartlauben mit ganz verzückten Augen eine Mozartsche Sonate anhörte, die die junge Frau für ihn nebenan im Empfangszimmer spielte, da blieb das dicht dabeiliegende Zimmer, in dem Oberst von Vineuil und Frau Delaherche lebten, immer still, die Fensterläden geschlossen, die Lampe ewig brennend, wie ein von einer Wachskerze erhelltes Grab. Der Dezember vergrub die Stadt im Schnee; verzweifelte Nachrichten häuften sich bei der großen Kälte. Nach der Niederlage General Ducrots bei Champigny, nach dem Verlust von Orleans blieb nur noch die eine düstere Hoffnung, die Erde Frankreichs möchte als Rächerin aufstehen, die Feinde als Vertilgerin vernichten. Wenn doch der Schnee in noch dickeren Flocken fiele, wenn doch der Erdboden sich unter Bissen des Frostes spaltete, ganz Deutschland in ihnen sein Grab fände! Und eine neue Besorgnis erfüllte Frau Delaherches Herz. Als ihr Sohn, in Geschäften nach Belgien abgerufen, eine Nacht abwesend war, hatte sie, als sie an Gilbertes Zimmer vorbeikam, dort ein leises Geräusch von Stimmen gehört, von erstickten Küssen, untermischt mit Lachen. Ganz ergriffen war sie voller Furcht vor dem Abscheulichen, das sie ahnte, wieder in ihr Zimmer zurückgegangen: nur der Preuße konnte dort sein, sie glaubte auch schon Blicke des Einverständnisses zwischen ihnen bemerkt zu haben und fühlte sich ganz vernichtet unter dieser letzten Schande. Ach, diese Frau, die ihr Sohn gegen ihren Willen ins Haus gebracht hatte, dies Freudenmädchen, dem sie schon einmal vergeben hatte, indem sie nach Hauptmann Beaudouins Tode nichts sagte! Und nun ging das wieder los, und dies war doch die größte Niedertracht! Was sollte sie machen? Eine derartige Ungeheuerlichkeit durfte unter ihrem Dache nicht fortdauern. In der Zurückgezogenheit ihres Daseins wuchs die Trauer darüber immer mehr, und sie machte Tage voller schrecklicher Kämpfe durch; wenn sie an einzelnen Tagen düsterer als sonst, stumm mit Tränen in den Augen zu dem Oberst hereinkam und so stundenlang dasaß, dann sah er sie an und bildete sich ein, Frankreich habe wieder eine neue Niederlage erlitten.

Um diese Zeit fiel Henriette eines Morgens in die Rue Macqua, um die Teilnahme der Delaherches an ihres Ohms Fouchard Geschick zu erregen. Sie hatte mit Lächeln von dem allmächtigen Einfluß gehört, den Gilberte über Herrn von Gartlauben besäße. Sie blieb auch ein wenig beschämt vor Frau Delaherche stehen, die sie als erste auf der Treppe antraf, als sie wieder zu dem Oberst hinaufging, und der sie den Zweck ihres Besuches erklären zu müssen glaubte.

»Ach, gnädige Frau, wie gut wäre es von Ihnen, wenn Sie sich da ins Zeug legen wollten! ... Mein Ohm befindet sich in einer schrecklichen Lage, und man spricht davon, ihn nach Deutschland zu schicken.«

Die alte Dame, die sie sehr gern hatte, machte eine zornige Bewegung.

»Aber mein liebes Kind, ich habe hier nichts zu sagen ... An mich müssen Sie sich nicht wenden ...«

Und dann weiter, trotz der Erregung, in der sie sie sah:

»Sie kommen in einem sehr ungünstigen Augenblicke; mein Sohn reist heute abend nach Brüssel ... Er ist übrigens ebenso wie ich ohne jeden Einfluß ... Wenden Sie sich nur an meine Schwiegertochter, die vermag alles.«

Und sie ließ Henriette sprachlos und fest überzeugt stehen, sie sei mitten in einen Familienzwist hineingeraten. Seit dem gestrigen Tage hatte Frau Delaherche den Entschluß gefaßt, ihrem Sohne vor seiner Abreise nach Belgien alles zu sagen, wo er in der Hoffnung, den Betrieb seiner Fabrik wieder aufnehmen zu können, über einen bedeutenden Ankauf von Öl verhandeln wollte. Unter keinen Umständen wollte sie dulden, daß während seiner neuen Abwesenheit diese Abscheulichkeit neben ihr wieder anfinge. Um zu reden wartete sie nur auf die Gewißheit, daß er seine Abreise nicht wieder auf einen andern Tag verschöbe, wie er es seit einer Woche getan hatte. Es bedeutete ja doch den Zusammenbruch des Hauses, der Preuße würde weggejagt, seine Frau gleichfalls auf die Straße geworfen, ihr Name schimpflich an die Wände angeschlagen werden, wie es jeder Französin angedroht war, die sich einem Deutschen hingeben würde.

Sowie Gilberte Henriette sah, stieß sie einen Freudenruf aus.

»Ach, bin ich froh, dich wieder zu sehen! ... Es kommt mir schon so lange vor, und man wird unter all diesen ekelhaften Geschichten so rasch alt!«

Sie hatte sie in ihr Zimmer gezogen und ließ sie sich auf das Ruhebett niedersetzen, wo sie sich dicht an sie schmiegte.

»Wart', du mußt mit uns frühstücken ... Aber erst laß uns plaudern! Du mußt mir ja so viel zu erzählen haben! ... Ich weiß, du bist ohne Nachrichten von deinem Bruder! Was? Der arme Maurice, wie beklage ich ihn da in Paris ohne Gas, ohne Holz, vielleicht ohne Brot! ... Und den Mann, für den du sorgst, der Freund deines Bruders? Du siehst, ich habe schon von dir schwatzen hören ... Kommst du seinethalben?«

Henriette zögerte mit ihrer Antwort, da eine große innere Unruhe sie erfaßte. Kam sie denn nicht im Grunde genommen Jeans wegen, um sicher zu sein, daß, wenn ihr Ohm erst einmal losgelassen, wäre, ihr lieber Kranker nicht mehr beunruhigt werben würde? Es stürzte sie in Verwirrung, als sie Gilberte so von ihm reden hörte, und sie wagte ihr nicht den wahren Grund ihres Besuches anzugeben; ihr Gewissen litt jetzt, und es widerstrebte ihr, den unsauberen Einfluß auszunutzen, den sie ihr zutraute.

»Also des Mannes wegen,« wiederholte Gilberte mit boshafter Miene, »hast, du uns nötig?«

Und als Henriette dann, in die Enge getrieben, endlich von Vater Fouchards Verhaftung sprach:

»Ach, das ist ja wahr! Bin ich dumm! Und ich sprach doch noch heute morgen darüber ... Oh, Liebste, da hast du sehr recht getan, daß du kamst; sofort müssen wir uns deines Ohms annehmen, denn die letzten Auskünfte, die ich bekommen habe, lauten gar nicht gut. Sie wollen ihn als Beispiel hinstellen.«

»Ja, da dachte ich an euch,« fuhr Henriette mit zögernder Stimme fort. »Ich dachte, du könntest mir wohl einen guten Rat geben, du könntest vielleicht etwas unternehmen ...«

Die junge Frau brach in ein wohlklingendes Lachen aus.

»Bist du dumm; ich werde deinen Ohm schon loskriegen, ehe drei Tage um sind. Hat man dir nicht gesagt, daß ich hier im Hause einen preußischen Hauptmann habe, der alles tut, was ich will? ... Weißt du, Liebste, der kann mir nichts abschlagen!«

Und sie lachte immer stärker, geradezu wie unsinnig über diesen Sieg ihrer Gefallsucht; sie hielt ihre Freundin bei beiden Händen und liebkoste sie, während diese in ihrem Unbehagen kein Wort des Dankes fand und von der Furcht gequält wurde, es läge ein Geständnis darin. Und dabei diese Heiterkeit, diese fröhliche Frische!

»Laß mich nur machen, du sollst heute abend schon zufrieden wieder nach Hause gehen!«

Als sie ins Speisezimmer hinübergingen, blieb Henriette voll Überraschung über Edmonds zarte Schönheit stehen, den sie noch nicht kannte. Er entzückte sie wie etwas sehr Niedliches. War es möglich, daß dieser Knabe schon gefochten hatte, und daß sie ihm den Arm hatten zerschmettern können? Die Sage von seiner großen Tapferkeit machte ihn überaus reizend, und Delaherche, der Henriette aufnahm wie jemand, der glücklich darüber ist, ein neues Gesicht um sich zu sehen, hörte, während Rippenstückchen mit Pellkartoffeln herumgereicht wurden, gar nicht auf, das Loblied seines Sekretärs zu singen, der ebenso tätig und wohlerzogen wie hübsch sei. Das Frühstück so zu vieren in dem wohlerwärmten großen Speisezimmer nahm einen Anstrich entzückender Vertraulichkeit an.

»Also Sie sind gekommen, um unsere Teilnahme an dem Geschick Vater Fouchards zu erregen?« fing der Fabrikant wieder an. »Recht ärgerlich, daß ich heute abend verreisen muß ... Aber meine Frau wird das schon in Ordnung bringen; sie ist unwiderstehlich, sie erreicht alles, was sie will.«

Er lachte und sprach mit vollkommener Gutmütigkeit darüber, einfach weil diese Macht ihm selbst schmeichelte und er in gewisser Weise stolz auf sie war. Dann meinte er plötzlich:

»Oh, bei der Gelegenheit, mein Liebling, hat Edmond dir übrigens schon von seinem Fund erzählt?«

»Nein, von was für einem Fund?« fragte Gilberte fröhlich und wandte ihre Augen voller Zärtlichkeit zu dem jungen Sergeanten.

Aber der wurde rot wie aus Übermaß an Freude, jedesmal wenn eine Frau ihn derartig ansah.

»Mein Gott, gnädige Frau, es handelt sich lediglich um ein paar alte Spitzen, die es Ihnen sicher leid tun würde, nicht als Besatz für Ihr malvenfarbiges Morgenkleid zu besitzen ... Ich hatte gestern das Glück, fünf Meter alte Brüsseler zu entdecken, wirklich wunderschön und sehr billig. Die Verkäuferin wird sie Ihnen gleich zeigen.«

Sie war entzückt und hätte ihn küssen mögen.

»Ach, wie sind Sie nett; dafür muß ich Sie belohnen!«

Als dann noch eine Schüssel in Belgien erstandener Gänseleberpastete herumgereicht wurde, wandte sich die Unterhaltung und blieb einen Augenblick dabei stehen, daß die Fische in der Maas jetzt an Vergiftung stürben; schließlich verfiel sie auf die Pestgefahr, die Sedan beim nächsten Tauwetter bedrohe. Schon im November waren einzelne Fälle der Seuche aufgetreten. Was nützte es, wenn nach der Schlacht sechstausend Francs für Reinigung der Stadt ausgegeben und alle Tornister, Patronentaschen und alle übrigen verdächtigen Überreste auf einem Haufen verbrannt wurden: die umliegenden Felder strömten trotzdem bei der geringsten Feuchtigkeit einen ekelerregenden Geruch aus, so waren sie mit kaum eingescharrten Leichen überfüllt, die manchmal nur mit wenigen Zentimetern Erde bedeckt waren. Überall erhoben sich Grabhügel auf den Feldern, der Erdboden spaltete sich unter dem innern Druck und die Jauche sickerte hervor und stank. Und gerade in den letzten Tagen hatte man in der Maas eine andere Ansteckungsquelle entdeckt, aus der indessen bereits über zwölfhundert Pferdekadaver entfernt worden waren. Die öffentliche Meinung hatte sich bereits dahin ausgesprochen, daß nun keine menschlichen Leichen mehr vorhanden wären, als ein Feldwächter, der genau hinsah, in über zwei Meter Wassertiefe etwas Weißes entdeckte, das für Steine gegolten hatte: das waren Haufen von Leichen, denen die Eingeweide bereits fehlten, so daß sie, da sie sich nicht mehr aufblähen konnten, nicht mehr an die Oberfläche geraten konnten. Seit länger als vier Monaten lagen sie da zwischen den Pflanzen im Wasser. Mit Haken brachte man dann Arme, Beine und Köpfe herauf. Die Kraft der Strömung genügte schon, eine Hand abzureißen und wegzutreiben. Das Wasser wurde trübe, große Gasblasen stiegen auf und verpesteten beim Platzen die Luft mit einem ansteckenden Gestank.

»Solange es friert, geht's ja noch,« bemerkte Delaherche. »Sobald aber der Schnee verschwindet, werden wir Vorkehrungen treffen müssen, um das alles unschädlich zu machen; sonst gehen wir alle drauf.«

Und als seine Frau ihn lachend bat, doch zu passenderen Gesprächsgegenständen überzugehen, solange sie äßen, da schloß er einfach:

»Natürlich, nun ist der Fisch aus der Maas auch für lange Zeit verdächtig!«

Aber sie waren fertig, es wurde Kaffee herumgereicht, als das Dienstmädchen meldete, Herr von Gartlauben bitte um die Gunst, einen Augenblick eintreten zu dürfen. Delaherche ließ ihn sofort hereinführen, denn er sah da eine gute Gelegenheit, die es ermöglichte, ihm Henriette bekanntzumachen. Und als der Hauptmann beim Eintreten noch eine zweite junge Dame vorfand, kehrte er seine Höflichkeit noch mehr hervor. Er nahm sogar eine Tasse Kaffee an und trank sie ohne Zucker, wie er das von vielen Leuten in Paris gesehen hatte. Wenn er übrigens darauf gedrungen hatte, empfangen zu werden, so geschah es nur, um der gnädigen Frau sofort mitteilen zu können, daß er das Glück gehabt habe, die Freisprechung eines ihrer Schützlinge zu erreichen, eines unglücklichen Fabrikarbeiters, der infolge eines Streites mit einem preußischen Soldaten gefangen gesetzt worden war.

Nun nahm Gilberte die Gelegenheit wahr, von Vater Fouchard zu sprechen.

»Herr Hauptmann, hier stelle ich Ihnen eine meiner liebsten Freundinnen vor ... Sie möchte sich unter Ihren Schutz stellen; sie ist die Nichte des Bauern, der in Remilly verhaftet wurde, wissen Sie, infolge der Geschichte da mit den Franktireurs.«

»Ach ja! Die Sache mit dem Spion, dem Unglücklichen, den man da in einem Sack gefunden hat ... Oh! das ist sehr ernst, sehr ernst! Ich fürchte, da werde ich nichts machen können.«

»Herr Hauptmann, Sie würden mir eine so große Freude machen!«

Sie sah ihn mit ihren zärtlichen Augen an, und er fühlte sich ganz selig vor Befriedigung und verbeugte sich in zuvorkommendem Gehorsam. Ganz wie sie wünschte!

»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, mein Herr«, brachte Henriette mühsam hervor, von einem unüberwindlichen Unbehagen ergriffen, als sie an den raschen Tod ihres Mannes, des armen, da unten in Bazeilles erschossenen Weiß, dachte.

Aber Edmond, der beim Eintreten des Hauptmannes bescheiden weggegangen war, kam wieder herein und sagte Gilberte etwas ins Ohr. Sie stand voller Lebhaftigkeit auf und erzählte die Geschichte von den Spitzen, die die Verkäuferin ihr brächte; sie entschuldigte sich und ging hinter dem jungen Manne her. Nachdem Henriette nun mit den beiden Männern allein geblieben war, konnte sie sich absondern und setzte sich in eine der Fensternischen, während die beiden ganz laut weiterredeten. »Herr Hauptmann, Sie nehmen doch ein kleines Glas ... Sehen Sie, ich nehme kein Blatt vor den Mund, ich sage Ihnen alles, weil ich Ihre weitherzige Gesinnung kenne. Na schön, ich versichere Sie, Ihr Präfekt tut Unrecht, wenn er die Stadt noch einmal um zweiundvierzigtausend Francs schröpfen will ... Denken Sie doch nur mal an die Gesamtsumme unserer Opfer von Anfang an. Zunächst am Tage vor der Schlacht ein ganzes französisches Heer erschöpft, ausgehungert. Dann kamen Sie und hatten auch keine langen Zähne. Allein die Durchzüge der Truppen, die Anforderungen, die Bußen, alle möglichen andern Ausgaben haben uns anderthalb Millionen gekostet. Setzen Sie die Beschädigungen, die die Schlacht verursacht hat, die Zerstörungen, die Brände ebensohoch ein: das macht drei Millionen. Endlich schätze ich den von Handel und Industrie erlittenen Verlust auch auf gut zwei Millionen ... Na, was sagen Sie dazu? Da kommen wir auf die Zahl von fünf Millionen für eine Stadt von dreizehntausend Einwohnern! Und nun verlangen Sie wieder eine Buße von zweiundvierzigtausend Francs unter ich weiß nicht was für einem Vorwand! Ist denn das gerecht? Ist das vernünftig?«

Herr von Gartlauben nickte mit dem Kopfe und begnügte sich zu antworten:

»Was wollen Sie? Das ist der Krieg, das ist der Krieg!«

Henriettes Warten zog sich hin, die Ohren summten ihr, alle möglichen unbestimmten und traurigen Gedanken schläferten sie halb ein in ihrer Fensternische, während Delaherche sein Ehrenwort darauf gab, Sedan hätte bei dem vollständigen Mangel an Bargeld einer derart gefährlichen Lage nicht mehr entgegensehen können ohne die glückliche Schöpfung eines örtlichen Vertrauensgeldes, Papiergeldes der industriellen Kreditkasse, das die Stadt vor dem geldlichen Zusammenbruch bewahrt habe.

»Herr Hauptmann, Sie nehmen doch wohl noch ein Glas Kognak?«

Und er sprang zu einem andern Gegenstand über.

»Frankreich hat doch diesen Krieg gar nicht angefangen, das war das Kaiserreich ... Ach, der Kaiser hat mich recht enttäuscht! Mit dem ist's gänzlich vorbei, eher ließen wir uns zerstückeln ... Sehen Sie mal! Ein einziger Mann hat das im Juli klar vor Augen gesehen, jawohl! Herr Thiers, und seine gegenwärtige Reise durch die europäischen Hauptstädte ist auch wieder eine Handlung von großer Klugheit und Vaterlandsliebe. Die Wünsche aller verständigen Leute begleiten ihn; möchte es ihm doch gelingen!«

Er führte seinen Gedanken durch eine Handbewegung zu Ende, denn vor einem Preußen, selbst einem noch so verständnisvollen, hätte er es für unschicklich gehalten, von Frieden zu sprechen. Aber der Wunsch glühte in ihm wie in der ganzen alten konservativen Bürgerschaft des Plebiszits. Sie würden am Ende ihres Geldbeutels und ihres Blutes stehen und Frieden schließen müssen; daher stieg in all den besetzten Provinzen ein dumpfer Groll gegen Paris hoch, das sich auf Widerstand erpichte. Und er schloß dann auch mit leiserer Stimme, während er auf die Bekanntmachungen Gambettas anspielte:

»Nein, nein, mit dem verrückten Wüterich können wir nicht gehen! Das führt ja zu einem wahren Gemetzel ... Ich gehe mit Herrn Thiers, der Wahlen ausschreiben will; und dann ihre Republik! Mein Gott, an der stoße ich mich ja nicht gerade, wir werden sie wohl behalten müssen, bis etwas Besseres kommt.«

Herr von Gartlauben fuhr fort, durchaus zustimmend mit dem Kopfe zu nicken, während er wiederholte:

»Zweifellos, zweifellos ...«

Henriettes Unbehagen wuchs, und sie konnte nicht länger bleiben. Ohne bestimmte Ursache fühlte sie sich gereizt, gezwungen, nicht länger hier sitzenzubleiben; und so stand sie leise auf, um nach Gilberte zu sehen, die sie so lange warten ließ.

Aber als sie in deren Schlafzimmer trat, blieb sie wie betäubt stehen, als sie ihre Freundin, in Tränen auf ihr Ruhebett hingestreckt fand, von einer außerordentlichen Erregung niedergeschmettert.

»Nanu? Was gibt's denn? Was ist denn vorgegangen?«

Die Tränen der jungen Frau strömten verdoppelt; sie wollte nicht antworten und verfiel jetzt in eine derartige Verwirrung, daß ihr alles Blut aus dem Herzen ins Gesicht stieg. Schließlich stotterte sie, indem sie beide Arme weit vorstreckte, um sich darin zu verbergen:

»Ach, Liebste, wenn du wüßtest ... Ich kann's dir nie sagen ... Und doch habe ich ja nur dich, nur du kannst mir vielleicht einen guten Rat geben ...«

Sie schauderte zusammen und stotterte noch mehr.

»Ich war mit Edmond ... Und gerade in dem Augenblick hat Frau Delaherche mich überrascht ...«

»Wieso, dich überrascht?«

»Ja, wir waren hier, und er hielt mich und küßte mich ...«

Und indem sie Henriette küßte und in ihre zitternden Arme schloß, beichtete sie ihr alles.

»Ach, Liebling, beurteile mich nicht zu hart! Du tust mir zu weh! ... Ich weiß wohl, ich hatte dir geschworen, ich wollte es nicht wieder anfangen. Aber du hast Edmond ja gesehen, er ist so tapfer und er ist so hübsch! Und dann denk' mal an, der arme junge Mensch, verwundet, krank und so weit von seiner Mutter! Und dabei ist er nicht etwa reich; sie haben bei ihm zu Hause alles verputzt, damit er nur lernen könnte! ... Wirklich ich konnte es ihm nicht abschlagen!«

Henriette hörte sie ganz verwirrt an und konnte sich noch nicht von ihrer Überraschung erholen.

»Was, mit dem kleinen Sergeanten also! ... Aber, Liebste alle Welt glaubt doch du wärst die Geliebte des Preußen!«

Mit einemmal stand Gilberte auf, und während sie sich die Augen trocknete, erhob sie Einspruch.

»Die Geliebte des Preußen! ... Ah nein, weißt du! Der ist widerlich, der ekelt mich! ... Wofür halten die Leute mich denn? Wie können sie mich einer solchen Niedertracht für fähig halten? Nein, nein, niemals! Lieber sterbe ich!«

In ihrer Aufwallung war Gilberte ganz ernst geworden und zeigte eine schmerzhafte und gereizte Schönheit, so daß sie ganz verwandelt erschien. Völlig unvermittelt jedoch kam ihre gefallsüchtige Fröhlichkeit, ihr unbesonnener Leichtsinn mit ihrem unüberwindlichen Lachen wieder.

»Ach doch, das ist wahr, ich treibe meinen Spaß mit ihm. Er betet mich an; ich brauche ihn nur anzusehen und er gehorcht ... Wenn du wüßtest, wie komisch das ist, sich über so einen dicken Menschen lustig zu machen, und wenn er dann immer so aussieht, als glaubte er, ich würde ihn endlich doch belohnen!«

»Das ist aber ein gefährliches Spiel«, sagte Henriette ganz ernsthaft.

»Meinst du? Was wage ich denn dabei? Wenn er erst mal sieht, daß er auf nichts rechnen darf, dann kann er sich doch höchstens ärgern und abziehen. Und dann – nein! Nie wird der das merken! Du kennst den Mann nicht; er gehört zu denen, mit denen die Frauen so weit gehen können, wie sie wollen, ohne jede Gefahr. Dafür, siehst du, habe ich ein Gefühl, das mir immer Bescheid sagt. Er ist viel zu eitel, er wird nie zugeben, daß ich mich über ihn lustig gemacht hätte ... Alles, was ich ihm gestatte, ist, daß er später ein Andenken von mir mitnehmen darf, und den Trost, daß er sich selbst sagen kann, er habe völlig richtig, wie jeder liebenswürdige Mensch gehandelt, der lange in Paris gelebt hat.«

Sie wurde wieder lustig und setzte hinzu:

»Unterdessen läßt er den Ohm Fouchard in Freiheit setzen und bekommt für seine Mühe nichts als eine Tasse Tee, von meiner Hand gezuckert.«

Aber mit einem Male kam ihre Furcht wieder und der Schrecken, überrascht worden zu sein. Tränen traten wieder unter dem Rand ihrer Augenlider hervor.

»Mein Gott! Und Frau Delaherche? ... Was soll daraus werden? Sie mag mich sowieso nicht recht, und sie ist fähig, meinem Manne alles zu sagen.«

Henriette hatte sich schließlich wieder erholt. Sie trocknete ihrer Freundin die Augen und zwang sie, ihre unordentliche Kleidung etwas wieder in Ordnung zu bringen.

»Höre, Liebste, ich habe nicht die Kraft, dich zu schelten, und doch weißt du, wie ich dich tadle! Aber sie hatten mich so bange gemacht mit deinem Preußen, ich fürchtete so häßliche Sachen zu hören, daß die andere Geschichte dagegen wahrhaftig ein reiner Trost ist ... Sei nur ruhig, es läßt sich wohl noch alles ins reine bringen.«

Das war sehr verständig, um so mehr, als Delaherche fast gleich darauf mit seiner Mutter ins Zimmer trat. Er erklärte ihnen, er habe einen Wagen holen lassen, der ihn nach Belgien bringen sollte, da er sich entschlossen habe, noch am selben Abend den Zug nach Brüssel zu erreichen. Er wollte daher seiner Frau Lebewohl sagen. Dann wendete er sich zu Henriette:

»Seien Sie ruhig; Herr von Gartlauben hat mir versprochen, als er wegging, er wolle sich die Sache mit Ihrem Ohm ansehen; und wenn ich auch nicht mehr da bin, meine Frau wird das übrige dann schon besorgen.«

Seit Frau Delaherche hereingetreten war, hatte Gilberte, das Herz vor Angst zusammengeschnürt, sie nicht aus den Augen gelassen. Würde sie nun sprechen und alles sagen, was sie gesehen hätte, und ihren Sohn abhalten, fortzugehen? Schweigend hielt die alte Dame ebenso schon von der Tür an ihre Blicke auf ihre Schwiegertochter gerichtet. In ihrer Strenge empfand auch sie zweifellos das als Trost, was Henriette so nachsichtig gemacht hatte. Mein Gott! Da es sich um den jungen Menschen handelte, einen Franzosen, der sich so tapfer geschlagen hatte, mußte sie ihr da nicht wohl verzeihen, wie sie ihr schon Hauptmann Beaudouins wegen verziehen hatte? Ihre Augen wurden milder, sie wandte den Kopf weg. Ihr Sohn konnte fortgehen, Edmond würde sie schon gegen den Preußen verteidigen. Sie ließ sogar ein schwaches Lächeln sehen, sie, die sie sich seit der guten Nachricht von Coulmiers über nichts mehr gefreut hatte.

»Auf Wiedersehen!« sagte sie und küßte Delaherche. »Bring' deine Geschäfte in Ordnung und komm' bald wieder zu uns!«

Und dann ging sie fort und trat von der andern Seite des Treppenabsatzes in die vermauerte Kammer, wo der Oberst in den Schatten jenseits des von der Lampe schwach erhellten Rundes stierte.

Henriette kehrte noch am selben Abend nach Remilly zurück; und drei Tage später hatte sie eines Morgens die Freude, Vater Fouchard ruhig auf den Hof kommen zu sehen, als käme er zu Fuß vom Abschluß eines Geschäftes in der Nachbarschaft nach Hause. Er setzte sich und aß ein Stück Brot mit Käse. Dann antwortete er auf alle Fragen ohne jede Hast mit der Miene jemandes, der niemals Furcht gekannt hat. Warum hatten sie ihn denn festhalten sollen? Er hatte doch nichts Böses getan. Er hatte doch den Preußen nicht umgebracht, nicht wahr? Er hatte auch den Behörden nichts weiter gesagt als: »Sucht doch, ich weiß von nichts.« Und sie hatten ihn wohl loslassen müssen, und den Ortsvorsteher auch, weil sie ja doch keine Beweise gegen sie hatten. Aber seine gerissenen, spöttischen Bauernaugen funkelten vor stummer Freude, daß er doch alle diese dreckigen Lumpen ordentlich reingelegt hatte, von denen er jetzt übrigens genug hatte, nun sie anfingen, ihm Scherereien wegen der Beschaffenheit seines Fleisches zu machen.

Der Dezember ging zu Ende und Jean wollte fort. Sein Bein war jetzt wieder kräftig, und der Doktor erklärte, er könne wieder fechten. Und das war ein großer Schmerz für Henriette, aber sie suchte ihn zu verbergen. Seit der unglücklichen Schlacht bei Champigny hatten sie keine Nachricht mehr aus Paris erhalten. Sie wußten nur, daß Maurices Regiment einem furchtbaren Feuer ausgesetzt gewesen sei und viele Leute verloren habe. Im übrigen immer nur dies tiefe Schweigen, kein Brief, keine Zeile für sie, während sie doch wußten, daß Familien in Raucourt und Sedan auf abgelegenen Wegen Depeschen erhalten hatten. Vielleicht war die Taube, die ihnen die so glühend ersehnte Nachricht heranbrachte, auf einen gefräßigen Sperber gestoßen; oder vielleicht war sie an irgendeinem Waldrande, von der Kugel eines Preußen durchbohrt, niedergefallen. Was ihnen aber vor allem wie ein Gespenst vor Augen stand, das war die Furcht, Maurice sei tot. Das Schweigen der großen Stadt dort hinten, die stumm in der Umklammerung der Einschließung lag, wurde in der Angst ihrer Erwartung zum Schweigen des Grabes. Sie hatten jede Hoffnung aufgegeben, noch etwas zu erfahren, und als Jean nun seinen ganz bestimmten Willen ausdrückte, fortzugehen, da hatte Henriette nur eine dumpfe Klage.

»Mein Gott! Dann ist's zu Ende, und ich bleibe ganz allein!«

Jeans Wunsch war, zum Nordheere zu stoßen, das General Faidherbe gerade frisch aufgestellt hatte. Seitdem General von Manteuffels Korps bis Dieppe vorgestoßen war, verteidigte diese Gruppe die drei vom übrigen Frankreich abgesonderten Bezirke, Nord, Pas-de-Calais und Somme; und Jeans leicht durchführbarer Plan ging dahin, Bouillon zu gewinnen und dann durch Belgien zu gehen. Er wußte, daß sie ein vollständiges Korps, das dreiundzwanzigste, aus all den alten Soldaten von Sedan und Metz aufstellten, die sie sammeln konnten. Er hatte auch erzählen hören, General Faidherbe wolle zum Angriff übergehen, und setzte daher seinen Fortgang endgültig auf den nächsten Sonntag fest, als er von der Schlacht bei Noyelle erfuhr, dieser Schlacht mit unentschiedenem Ausgange, die die Franzosen beinahe gewonnen hätten.

Wieder war es Doktor Dalichamp, der sich anbot, ihn mit seinem kleinen Wagen nach Bouillon zu bringen. Er war von unerschöpflichem Mut und Hochsinn. In Raucourt, das der durch die Bayern eingeschleppte Typhus verheerte, hatte er Kranke in allen Häusern, außer den beiden Lazaretten, die er zu besuchen hatte, dem in Raucourt selbst und dem in Remilly. Seine glühende Vaterlandsliebe, sein Drang, gegen unnütze Gewaltmaßregeln Verwahrung einzulegen, hatten schon zweimal dazu geführt, daß er von den Preußen festgenommen, nachher aber wieder freigelassen worden war. Am Morgen, als er erschien, um Jean mit seinem Fuhrwerk mitzunehmen, zeigte er sein gutherziges Lachen und war glücklich darüber, daß er wieder einem der Besiegten von Sedan zum Auskneifen verhelfen könne, all diesen armen, tapferen Leuten, wie er sagte, die er aus seiner eigenen Tasche verpflegte und unterstützte. Jean, der sehr unter der Geldfrage litt, da er wußte, wie arm Henriette sei, hatte die ihm vom Doktor für die Reise angebotenen fünfzig Francs angenommen.

Vater Fouchard machte seine Sache beim Abschied sehr gut. Er ließ durch Silvine zwei Flaschen Wein holen und verlangte, sie sollten alle zusammen noch ein Glas auf die Vernichtung der Deutschen trinken. Er war jetzt ein großer Herr und hielt seinen Schatz irgendwo verborgen; und da er sich beruhigt fühlte, seitdem die Franktireurs aus dem Walde von Dieulet verschwunden waren, nachdem man sie wie wilde Tiere gehetzt hatte, da fühlte er nur noch den einen Wunsch, sich des nahenden Friedens zu erfreuen, sobald er abgeschlossen wäre. In einer Anwandlung von Großmut hatte er Prosper sogar Lohn zugebilligt, natürlich nur, um den Burschen auf dem Hofe festzuhalten, den dieser übrigens gar nicht zu verlassen wünschte. Er stieß mit Prosper an und wollte auch mit Silvine anstoßen, die er sogar einen Augenblick zu seiner Frau zu machen gedachte, wenn er sie so verständig, so ganz bei ihrer Tätigkeit sah; aber wozu? Er fühlte ja doch, sie würde sich nicht stören lassen, sie würde auch noch dableiben, wenn Karlchen erwachsen wäre und als Soldat losziehen würde. Und nachdem er mit dem Doktor, mit Henriette und mit Jean angestoßen hatte, rief er:

»Auf unser aller Gesundheit! Mögt ihr alle Glück haben, und möge es keinem schlechter gehen als mir!«

Henriette wollte Jean unbedingt bis Sedan begleiten. Er war in bürgerlicher Kleidung, im Überzieher und runden Hut, die ihm der Doktor geliehen hatte. Bei der großen, fürchterlichen Kälte leuchtete heute die Sonne auf dem Schnee. Sie brauchten nur quer durch die Stadt; als Jean aber hörte, sein Oberst sei immer noch bei den Delaherches, da faßte ihn eine große Lust, den noch zu begrüßen; und zugleich wollte er dem Fabrikanten für seine Güte danken. Das war sein letzter Kummer in dieser Stadt des Unheils und Schmerzes. Als sie die Fabrik in der Rue Macqua erreichten, hatte dort gerade ein schmerzliches Ende das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Gilberte war ganz verwirrt. Frau Delaherche weinte große, stumme Tränen, während ihr Sohn, der aus den Werkstätten heraufgekommen war, seiner Überraschung laut Ausdruck verlieh. Sie hatten den Oberst auf dem Fußboden seiner Kammer wie eine leblose, niedergestürzte Masse tot aufgefunden. Nur die ewige Lampe brannte noch in dem geschlossenen Zimmer. Der eiligst herbeigerufene Arzt konnte es gar nicht begreifen, da er keine wahrscheinlich vorliegende Ursache, weder Herzerweiterung noch zu starken Blutandrang, fand. Der Oberst war tot, wie von einem Blitz erschlagen, über dessen Herkunft niemand etwas angeben konnte; am nächsten Tage erst fanden sie ein Stück einer alten Zeitung, die als Buchumschlag gedient hatte und auf dem sich eine Schilderung der Übergabe von Metz befand.

»Liebste,« sagte Gilberte zu Henriette, »als Herr von Gartlauben eben die Treppe hinunterging, nahm er vor dem Zimmer, in dem des Ohms Leiche liegt, seinen Helm ab ... Edmond hat es gesehen; er ist doch wirklich ein sehr netter Mensch, nicht wahr?«

Noch nie hatte Jean Henriette geküßt. Ehe er mit dem Doktor in den Wagen stieg, wollte er ihr für all ihre Fürsorge danken, dafür, daß sie ihn gepflegt und geliebt hatte wie einen Bruder. Aber er fand keine Worte, er öffnete die Arme und küßte sie schluchzend. Heftig erwiderte sie seinen Kuß. Als das Pferd anzog, wendete er sich zurück; ihre Hände zitterten, als sie stammelnd sich immer wieder zuriefen:

»Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!«

Als Henriette abends nach Remilly zurückkam, hatte sie Nachtdienst. Während ihrer langen Wache wurde sie wieder von einem heftigen Tränenstrom überwältigt, und sie weinte, weinte unendlich und erstickte ihren Schmerz zwischen den gefalteten Händen.


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