Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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5

Am andern Morgen, dem 26., fühlte Maurice sich beim Aufstehen ganz steif; die Schultern waren ihm von der Nacht im Zelte wie zermalmt. Er war auch nicht an den harten Erdboden gewöhnt; und da am Abend vorher den Leuten verboten worden war, die Schuhe auszuziehen, und die Sergeanten im Dunkeln herumliefen und nachfühlten, um sich zu vergewissern, daß alle Schuhe und Gamaschen anbehalten hätten, war sein Fuß nicht gerade besser geworden; er schmerzte und brannte vor Fieber; daß er sich die Beine erkältet hatte, rechnete er nicht mit, denn er war unklug genug gewesen, sie unter der Leinwand hervorzustecken, um sie ausstrecken zu können.

Jean sagte ihm sofort:

»Junge, wenn's heute weitergeht, gehst du besser zum Stabsarzt und läßt dich auf einen Wagen packen.«

Aber niemand hatte eine Ahnung; die widersprechendsten Gerüchte liefen umher. Einen Augenblick schien es, als sollte der Weitermarsch aufgenommen werden; das Lager wurde abgebrochen, das ganze Armeekorps setzte sich in Bewegung und zog durch Vouziers; auf dem linken Aisneufer wurde nur eine Brigade der zweiten Division zurückgelassen, um die Straße nach Monthois weiter zu beobachten. Auf der andern Seite der Stadt am rechten Ufer wurde dann plötzlich gehalten und die Gewehre wurden auf den Feldern und Wiesen zusammengestellt, die sich auf beiden Seiten der Straße nach Grand-Pré ausdehnen. Der Abmarsch der vierten Husaren, die in diesem Augenblick im scharfen Trab auf dieser Straße abzogen, führte zu allen möglichen Schlußfolgerungen.

»Wenn wir hierbleiben, warte ich«, sagte Maurice, den der Gedanke an den Stabsarzt und den Ambulanzwagen abstieß.

Bald wurde es tatsächlich klar, daß sie dort lagern würden, bis General Douay sich bestimmte Aufklärung über die Bewegungen des Feindes verschafft hätte. Seitdem er am Abend vorher die Division Margueritte auf Chêne hatte losziehen sehen, befand er sich in wachsender Angst, da er nun wußte, er stehe ungedeckt da, kein Mensch bewache mehr die Argonnenpässe, so daß er von einem Augenblick zum andern angegriffen werden konnte. Daher schickte er jetzt die vierten Husaren bis zu den Übergängen von Grand-Pré und Croix-aux-Bois auf Erkundigung mit dem Befehl, um jeden Preis Auskunft zu bringen.

Abends vorher hatten, dank der Geschäftigkeit des Ortsvorstehers von Vouziers, Brot, Fleisch und Futtermittel verteilt werden können; gegen zehn Uhr morgens durften die Leute Suppe kochen, da man befürchtete, sie würden später keine Zeit mehr dazu haben, als der Aufbruch einer zweiten Truppe, der Brigade Bordas, die den von den Husaren eingeschlagenen Weg nahm, alle Gemüter von neuem beschäftigte. Was nun? Ging es weiter? Konnten sie wieder nicht ruhig essen, nun der Kessel schon auf dem Feuer stand? Aber ein paar Offiziere erklärten, die Brigade Bordas habe nur die Aufgabe, das einige Kilometer entfernte Buzancy zu besetzen. Andere sagten mit mehr Wahrheitsliebe, die Husaren wären auf eine große Anzahl feindlicher Schwadronen gestoßen und die Brigade solle sie wieder heraushauen.

Das gab ein paar köstliche Ruhestunden für Maurice. Er hatte sich im Lager auf halber Höhe hingestreckt, wo sein Regiment biwakierte; stumpf vor Müdigkeit, blickte er über das grüne Aisnetal, die mit Baumgruppen bestandenen Wiesen, durch deren Mitte der Fluß schläfrig dahinlief. Vor ihm zog sich als Abschluß des Tales Vouziers übereinandergelagert in die Höhe, und breit lagen seine Dächer da, von der Kirche mit ihrem zierlichen Dachreiter und ihrem von einem runden Helm gekrönten Turm beherrscht. Unten in der Nähe der Brücke tauchten die hohen Schornsteine der Gerbereien; am andern Ende aber zwischen dem Grün am Rande des Flusses zeigten sich die mit Mehl bepuderten hohen Gebäude einer großen Mühle. Dieser Überblick über die kleine, im Grünen verlorene Stadt erschien ihm voll süßen Reizes, als habe er seine empfindsamen Träumeraugen wiedergefunden. Seine Jugend stieg wieder vor ihm empor, die Reisen, die er nach Vouziers unternommen hatte, als er noch in seinem Geburtsorte Chêne lebte. Eine Stunde lang vergaß er alles um sich her.

Die Suppe war längst gegessen, die Rast dauerte immer noch an, als sich gegen halb drei im ganzen Lager eine immer mehr zunehmende dumpfe Bewegung bemerkbar machte. Befehle liefen um, die Wiesen wurden geräumt, sämtliche Truppen erstiegen die Höhen zwischen den beiden vier oder fünf Kilometer voneinander entfernten Ortschaften Chestres und Falaise und gingen dort in Stellung. Die Pioniere hoben bereits Schützengräben aus und richteten Schulterwehren ein, während auf dem linken Flügel die Reserve-Artillerie auf einen Hügel hinaufzog. Es verbreitete sich das Gerücht, General Bordas habe einen Meldereiter mit der Nachricht geschickt, er sei bei Grand-Pré auf überlegene feindliche Kräfte gestoßen und gezwungen worden, auf Buzancy zurückzugehen, was befürchten ließ, daß seine Rückzugslinie auf Vouziers bald abgeschnitten sein würde. Da der Kommandant des siebenten Korps ebenfalls an einen unmittelbar bevorstehenden Angriff glaubte, ließ er seine Leute Gefechtsstellungen einnehmen, um den ersten Stoß aufzufangen, und wartete auf Unterstützung durch den Rest der Heeresgruppe; und einer seiner Adjutanten war bereits mit einem Briefe an den Marschall unterwegs, um ihm die Lage zu erklären und seine Hilfe zu erbitten. Da er schließlich auch durch den gewaltigen, in der Nacht wieder zum Korps gestoßenen Troß gehindert zu werden befürchtete, den er nun abermals mitschleppen mußte, ließ er ihn auf der Stelle wieder in Schwung bringen und leitete ihn auf gut Glück in der Richtung auf Châgny. Das bedeutete die Schlacht.

»Herr Leutnant, die Geschichte wird wohl ernst?« erlaubte sich Maurice, Rochas zu fragen.

»Jawohl! verdammt nochmal!« antwortete der Leutnant und schwenkte seine langen Arme. »Sie sollen mal sehen, es wird gleich hübsch warm hergehen.«

Die Soldaten waren alle begeistert. Seit sich die Schlachtordnung von Chestres bis Falaise hinzog, war die Erregung im Lager noch gestiegen, eine fieberhafte Ungeduld bemächtigte sich der Leute. Endlich sollten sie nun die Preußen sehen, von denen die Zeitungen erzählten, wie matt sie von ihren Märschen wären, wie von Krankheiten erschöpft, verhungert und in Lumpen gekleidet. Und die Hoffnung, sie beim ersten Anlauf über den Haufen zu rennen, fachte in allen Mut an.

»Es ist schließlich kein Unglück, wenn man sich mal wiederfindet,« erklärte Jean. »Lange genug spielen wir nun schon Verstecken, seit wir uns da unten an der Grenze nach ihrer Schlacht verloren hatten ... Aber sind es wohl die, die Mac Mahon geschlagen haben?«

Maurice zögerte und fand keine Antwort. Nach dem, was er in Reims gelesen hatte, schien es ihm schwierig, daß die dritte vom Kronprinzen von Preußen kommandierte Gruppe bei Vouziers sein könne, nachdem sie kaum zwei Tage vorher noch bei Vitry-le-Français gelagert hatte. Es wurde indessen auch von einer dem Befehl des Kronprinzen von Sachsen unterstellten vierten Armee gesprochen, die gegen die Maas vorgehen sollte: die war es zweifellos, obwohl ihn die so plötzliche Besetzung Grand-Prés der Entfernung wegen in Erstaunen versetzte. Seine Gedanken gerieten aber endgültig in Verwirrung und er fühlte sich ganz betroffen, als er den General Bourgain-Desfeuilles einen Bauern aus Falaise fragen hörte, ob die Maas nicht durch Buzancy flösse und ob es da feste Brücken gäbe, übrigens erklärte der General mit ahnungslosem Gleichmut, sie würden von einer über Grand-Pré kommenden Gruppe von hunderttausend Mann angegriffen werden, während eine zweite von sechzigtausend von Sainte-Ménehould kommen würde.

»Und dein Fuß?« fragte Jean Maurice.

»Ich fühle jetzt nichts,« erwiderte der lachend; »wenn wir fechten, muß es gehen.«

Wirklich hielt ihn eine derartige nervöse Erregung aufrecht, daß er sich vorkam wie über die Erde erhoben. Sich sagen zu müssen, daß er im ganzen Feldzug noch keine Patrone abgebrannt hatte! Er war an die Grenze gegangen, hatte die schreckliche Angstnacht vor Mülhausen durchgemacht, ohne einen Preußen zu sehen, ohne einen Schuß abzugeben; bis Belfort, bis Reims hatte er zurückgehen müssen, marschierte jetzt seit fünf Tagen von neuem gegen den Feind, und noch immer war sein Chassepot jungfräulich, ungebraucht. Eine zunehmende Wut, eine langsame Erbitterung führte ihn in Versuchung, anzulegen, wenigstens zu zielen, um seine Nerven zu beruhigen. Vor fast sechs Wochen hatte er sich in einem Taumel von Begeisterung gestellt, von Kampf am nächsten Morgen träumend; aber bisher hatte er nichts getan, als seine armen zarten Füße gebraucht, um weit allen Schlachtfeldern aus dem Wege zu gehen und auf der Stelle hin und her zu treten. In der allgemeinen fieberhaften Erwartung gehörte er zu denen, die mit der größten Ungeduld die schnurgerade, zwischen schönen Bäumen ins Unendliche verlaufende Straße nach Grand-Pré ausforschten. Unterhalb seiner Stellung breitete sich das Tal aus, lief die Aisne wie ein silbernes Band zwischen Weiden und Pappeln dahin; aber unwiderstehlich zog es seine Blicke wieder auf die Straße dort unten.

Gegen vier Uhr entstand Lärm. Die vierten Husaren kamen nach einem langen Umweg zurück; immer üppiger aufgebauschte Geschichten von Gefechten mit Ulanen liefen umher und bestärkten in allen die Gewißheit eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs. Zwei Stunden später kam abermals ein Meldereiter vom General Bordas, ganz verstört, und meldete, dieser wage Grand-Pré nicht mehr zu verlassen, da er überzeugt sei, die Straße nach Vouziers sei abgeschnitten. Das war sie aber noch nicht, denn der Meldereiter konnte ungehindert durchkommen. Von Minute zu Minute aber konnte es der Fall sein, und General Dumont, der die Division führte, ging sofort mit der ihm noch verbleibenden Brigade, um die andere, die sich in einer schwierigen Lage befand, zu entlasten. Die Sonne ging hinter Vouziers unter, dessen Dächer sich schwarz von einer großen roten Wolke abhoben. Lange konnte man der Brigade zwischen den beiden Baumreihen folgen, bis sie sich schließlich in der zunehmenden Dunkelheit verlor.

Oberst von Vineuil wollte sich von der guten Stellung seines Regiments für die Nacht vergewissern. Er war erstaunt, den Hauptmann Beaudouin nicht auf seinem Posten zu finden; und als dieser im selben Augenblick aus Vouziers zurückkam und sich damit entschuldigte, er habe bei der Baronin von Ladicourt gefrühstückt, erhielt er einen mächtigen Rüffel, den er übrigens mit der ordnungsmäßigen Haltung eines guten Offiziers schweigend anhörte.

»Kinder,« wiederholte der Oberst, als er durch seine Leute dahinschritt, »wir werden zweifellos heute nacht angegriffen oder sicher morgen früh bei Tagesanbruch... Seid bereit und denkt daran, daß die 106er noch nie zurückgegangen sind.«

Alles rief ihm zu, alle wollten lieber »einen mit dem Scheuerlappen«, um Schluß zu machen, so sehr waren Müdigkeit und Entmutigung seit dem Aufbruch in sie gefahren. Sie sahen ihre Gewehre nach und legten frische Zündnadeln ein. Da es morgens Suppe gegeben hatte, begnügten sie sich jetzt mit Kaffee und Zwieback. Es wurde befohlen, nicht zu schlafen. Feldwachen wurden auf fünfzehnhundert Meter ausgestellt, einzelne Posten bis an die Aisne vorgeschoben. Alle Offiziere blieben an den Lagerfeuern wach. Und vor einer kleinen Mauer konnte man bei dem flackernden Licht eines dieser Feuer gelegentlich die betreßten Uniformen des kommandierenden Generals oder seines Stabes unterscheiden, deren Schatten sich zitternd bewegten, wenn sie nach der Straße zu liefen und in der tödlichen Angst um das Schicksal der dritten Division auf den Tritt von Pferden horchten.

Gegen ein Uhr morgens wurde Maurice auf Einzelposten an den Rand eines Feldes voller Pflaumenbäume, zwischen der Straße und dem Flusse, geschickt. Die Nacht war schwarz wie Tinte. Als er sich in dem erdrückenden Schweigen der schlafenden Landschaft allein befand, fühlte er eine Art von Furcht über sich kommen, eine scheußliche Furcht, die er nicht kannte und nicht überwinden konnte, obwohl er vor Zorn und Scham über sie zitterte. Er hatte sich umgedreht, um durch den Anblick der Wachtfeuer seine Sicherheit wiederzugewinnen; aber ein kleines Gehölz mußte sie ihm verdecken, hinter ihm lag nichts als ein Meer von Finsternis; nur in Vouziers brannten in großer Entfernung noch immer ein paar Lichter, da seine Einwohner, schaudernd in dem Gedanken an die ihnen ohne Zweifel angekündigte Schlacht, sich nicht niedergelegt hatten. Was ihn aber endgültig zu Eis erstarren ließ, war die Feststellung, daß, wenn er sein Gewehr anlegte, er nicht einmal das Korn erkennen konnte. Nun begann die grausamste Art von Warten, in der alle Kräfte seines Wesens sich im Gehör allein anspannten und seine auf kaum wahrnehmbare Geräusche horchenden Ohren sich schließlich mit donnerndem Tosen füllten. Das Rauschen des Wassers in der Ferne, die leichte Bewegung eines Blattes, das Hüpfen eines Käfers lösten einen riesigen Widerhall aus. War das nicht der Galopp von Pferden, unendliches Rollen von Artillerie, das von da drüben gerade vor ihm herüberkam? Hörte er nicht links von sich leises Flüstern, unterdrückte Stimmen, einen im Dunkel herankriechenden Vorposten, der es auf Überrumpelung abgesehen hatte? Dreimal war er nahe daran, einen Lärmschuß abzugeben. Die Furcht, sich zu täuschen und sich dadurch lächerlich zu machen, vermehrte sein Unbehagen. Er war niedergekniet und lehnte die linke Schulter gegen einen Baum; es kam ihm vor, als ob er stundenlang so daläge, als ob man ihn vergessen hätte, als ob das Heer ohne ihn weiterzöge. Plötzlich aber hatte er keine Furcht mehr; er unterschied ganz klar auf der Straße, die sich, wie er wußte, zweihundert Meter vor ihm dahinzog, den regelmäßigen Tritt marschierender Soldaten. Sofort wurde es ihm zur Gewißheit, daß dies die so ungeduldig erwarteten, hart bedrängten Truppen seien und General Dumont die Brigade Bordas zurückbringe. In diesem Augenblick wurde er abgelöst; seine Wache hatte kaum die vorschriftsmäßige Stunde gedauert. Tatsächlich war es die dritte Division, die ins Lager zurückkehrte! Die Erlösung war riesig. Aber alle Vorsichtsmaßregeln wurden verdoppelt, denn die eingebrachten Erkundigungen bestätigten alles, was man über die Annäherung des Feindes zu wissen glaubte. Ein paar mitgebrachte Gefangene, düstere, in ihre Riesenmäntel eingehüllte Ulanen, verweigerten jede Auskunft. Der Morgen stieg mit der bleigrauen Dämmerung eines regnerischen Tages herauf, und die Spannung mit ihrer entnervenden Ungeduld dauerte fort. Seit fast vierzehn Stunden wagten die Leute nicht zu schlafen. Gegen sieben Uhr erzählte Leutnant Rochas, Mac Mahon käme mit dem ganzen Heere. In Wahrheit hatte General Douay als Antwort auf seine Depesche vom Abend vorher, in der er einen Kampf vor Vouziers als unvermeidlich hinstellte, einen Brief vom Marschall erhalten, der ihm auftrug, sich gut zu halten, bis er ihm helfen könnte; der Vormarsch war eingestellt, das erste Korps bewegte sich auf Terron, das fünfte auf Buzancy, während das zwölfte bei le Chêne in zweiter Linie liegenbleiben sollte. Die Erwartung wuchs infolgedessen noch, denn nun war es kein einfaches Gefecht mehr, das sie liefern sollten, jetzt wurde es eine große Schlacht, an der das ganze Heer teilnahm, das sich jetzt von der Maas zurück gegen Süden ins Aisnetal wandte. Man wagte immer noch nicht, die Leute abkochen zulassen; sie mußten sich mit Kaffee und Zwieback begnügen, denn »der mit dem Scheuerlappen« galt nun, wie alle wiederholten, ohne zu wissen warum, für den Mittag. Gerade eben war ein Adjutant an den Marschall abgeschickt, um das Herankommen der Hilfe zu beschleunigen, da das Eintreffen der beiden feindlichen Armeen immer mehr zur Gewißheit wurde. Drei Stunden später ging ein zweiter Offizier im Galopp nach Chêne ab, wo das große Hauptquartier sich befand, um unmittelbare Befehle von dort einzuholen; so sehr war die Unruhe infolge der von einem Ortsvorsteher überbrachten Meldungen angewachsen, der hunderttausend Mann bei Grand-Pré gesehen haben wollte, während weitere hunderttausend über Buzancy herankamen.

Um Mittag war immer noch kein einziger Preuße da. Um ein, um zwei Uhr noch keiner. Nun aber traten Müdigkeit und Zweifel auf. Spöttische Stimmen begannen über die Generäle herzuziehen. Vielleicht hatten sie ihren Schatten an der Wand gesehen. Brillen wurden ihnen empfohlen. Ulkige Brüder, alle Welt zu belästigen, wenn nichts los war! Ein Spaßvogel schrie:

»Hier soll's wohl wieder gehen wie da unten bei Mülhausen?«

Bei diesen Worten krampfte sich Maurices Herz in angstvoller Erinnerung zusammen. Er rief sich die kindische Flucht ins Gedächtnis zurück, die Panik, die das siebente Korps zehn Meilen von bannen riß, ohne daß ein Deutscher sichtbar wurde. Und dasselbe Abenteuer ging jetzt wieder los, das fühlte er ganz klar und bestimmt. Daß der Feind sie vierundzwanzig Stunden nach dem Scharmützel bei Grand-Pré nicht angriff, lag einfach daran, daß die vierten Husaren nur auf aufklärende Kavallerie gestoßen waren. Die eigentlichen Kolonnen mußten noch weit, vielleicht zwei Tagemärsche entfernt stehen. Dieser Gedanke jagte ihm einen plötzlichen Schrecken ein, wenn er sich überlegte, wieviel Zeit sie verloren hätten. In drei Tagen hatten sie nicht die zwei Kilometer von Contreuve nach Vouziers zurückgelegt. Am 25. und 26. waren die andern Armeekorps nach Norden hinaufgezogen unter dem Vorwande, sich mit Vorräten versorgen zu müssen; und jetzt, am 27., gingen sie wieder nach Süden, um eine Schlacht zu liefern, die ihnen niemand anbot. Ebenso wie die vierten Husaren hatte sich die Brigade Bordas auf den verlassenen Argonnenübergängen für verloren gehalten und zog ohne Not erst die ganze Division, dann das siebente Korps und schließlich die ganze Heeresgruppe zur Hilfe auf sich. Maurice dachte daran, welchen unschätzbaren Preis jede Stunde habe in diesem törichten Plan, Bazaine die Hand zu reichen, ein Plan, den nur ein geistvoller Führer mit zuverlässigen Soldaten unter der Bedingung hätte ausführen können, daß er im Sturm geradeaus über alle Hindernisse weggeschritten wäre.

»Wir sind verloren!« sagte er, von Verzweiflung ergriffen, in einer blitzartig über ihn kommenden Erleuchtung, zu Jean.

Als dessen Augen sich dann erweiterten, weil er das nicht verstehen konnte, fuhr er fort, ihm mit halber Stimme von den Führern zu erzählen: »Sie sind eher dumm als schlecht, das ist sicher, und haben kein Glück. Sie wissen nichts, sehen nichts kommen, sie haben keinen Plan, keine Gedanken, nicht einen einzigen glücklichen Einfall ... Ach, alles kehrt sich gegen uns, wir sind verloren!«

Und diese Entmutigung, über die Maurice, der kluge und gebildete Junge, nachsann, sie wuchs und lagerte sich allmählich schwer auf die Truppe, die ohne Grund in einer verzehrenden Spannung unbeweglich, fest dalag. Im Verborgenen waren der Zweifel, das Vorgefühl der Lage in den dicken Schädeln an der Arbeit; und da war kein Mann, so beschränkt er auch sein mochte, der nicht das Unbehagen empfunden hätte, schlecht geführt zu werden, unrichtig verschleppt und auf gut Glück in das unseligste aller Abenteuer hineingestoßen zu werden. Guter Gott, was hatten sie da noch zu tun, wenn die Preußen doch nicht kamen? Entweder sollte man sofort fechten oder sie irgendwo ruhig schlafengehen lassen. Sie hatten genug. Seit der letzte Adjutant nach Befehlen abgegangen war, war die Erregung von Minute zu Minute gewachsen; es bildeten sich Gruppen und man sprach und stritt ganz laut. Die von dieser Bewegung angesteckten Offiziere wußten nicht, was sie den Soldaten antworten sollten, die es wagten, sie zu fragen. Um fünf Uhr, als sich das Gerücht verbreitete, der Adjutant sei zurück und es ginge wieder rückwärts, entrang sich jeder Brust die Erleichterung in einem Seufzer tiefer Freude.

Also hatte doch die Partei der Vernunft die Oberhand behalten. Der Kaiser und der Marschall, die nie für den Marsch auf Verdun gewesen waren und nun unruhig wurden, als sie erfuhren, daß sie aufs neue überflügelt waren und sie die Heeresgruppen des Kronprinzen von Preußen sich gegenüber hatten, verzichteten auf die unwahrscheinliche Vereinigung mit Bazaine und zogen sich auf die festen Plätze im Norden zurück, um sich nachher auf Paris zurückbewegen zu können. Das siebente Korps erhielt Befehl, über le Chêne wieder nach Chagny hinaufzusteigen, während das fünfte Korps auf Poix, das erste und zwölfte auf Vendresse marschieren sollten. Wenn es nun doch also zurückging, warum war man dann bis zur Aisne vorgestoßen, warum soviel verlorene Tage voller Müdigkeit, wenn es von Reims aus so leicht gewesen wäre, so folgerichtig, sofort feste Stellungen im Marnetal einzunehmen? War denn gar keine Leitung da, keine militärische Veranlagung, kein gesunder Menschenverstand? Aber sie fragten gar nicht mehr, sondern verziehen alles in ihrer Freude über diesen vernunftgemäßen Entschluß, den einzigen, der sie aus dem Wespennest herausziehen konnte, in das man sie gesteckt hatte. Von den Generälen bis zu den einfachen Soldaten herunter hatten alle dies Gefühl, nun wieder stark, vor Paris geradezu unüberwindlich zu werden, so daß man die Preußen notwendig schlagen müsse. Vouziers aber mußte bei Tagesanbruch geräumt werden, damit sie unterwegs gegen le Chêne wären, ehe sie angegriffen würden, und sofort füllte sich das Lager mit einer ungewöhnlichen Bewegung, Hörner ertönten und Befehle kreuzten sich; das Gepäck und der Verwaltungstrain dagegen zogen schon voraus, um die Nachhut nicht zu belasten.

Maurice war entzückt. Als er dann versuchte, Jean die beabsichtigte Rückzugsbewegung zu erklären, entschlüpfte ihm ein Schmerzensschrei; seine Erregung hatte nachgelassen, er fühlte wieder, wie ihm sein Fuß schwer wie Blei am Beine hing.

»Nanu? geht's wieder los?« fragte der Korporal trostlos.

Mit seinem praktischen Verstande kam er auf einen Gedanken.

»Hör' mal, Junge, du hast mir erzählt, du kennst Leute da in der Stadt. Du solltest dir vom Stabsarzt die Erlaubnis geben lassen, mit einem Wagen nach le Chêne zu fahren, wo du eine gute Nacht in einem guten Bett verbringen kannst. Wenn es dir morgen besser geht, holen wir dich beim Durchmarsch wieder... Na, ist das nicht recht?«

Gerade in Falaise, dem Dorf, bei dem sie lagerten, hatte Maurice einen alten Freund seines Vaters wiedergefunden, einen kleinen Pachter, der seine Tochter zu einer Tante nach le Chéne bringen wollte und dessen Pferd, vor einen leichten Wagen gespannt, wartete.

Bei dem Stabsarzt Bouroche nahm aber die Geschichte nach den ersten Worten eine üble Wendung.

»Herr Doktor, mein Fuß hat sich wundgerieben...« Mit einem Löwengebrüll schüttelte Bouroche seinen mächtigen Kopf und schrie:

»Ich bin nicht Herr Doktor ... Wer jagt mir denn da so einen Dämlack zu?«

Und da Maurice voller Bestürzung eine Entschuldigung stammelte, fing er wieder an:

»Ich bin der Herr Stabsarzt, hören Sie wohl, Sie Viech!«

Als er dann aber sah, mit wem er es zu tun hatte, mochte er sich wohl etwas schämen; aber das machte ihn erst recht ärgerlich.

»Ihr Fuß, die alte Geschichte! ... Ja, ja, ich erlaube es Ihnen! Gehen Sie mit einem Wagen oder einem Luftballon! Wir haben genug Hinkebeine und Nachzügler!«

Als Jean Maurice half, sich in den Wagen hinaufzuziehen, wandte er sich, um ihm zu danken, und die beiden Männer fielen sich in die Arme, als ob sie sich nie wiedersehen sollten. Wußte man das denn auch inmitten des Aufbruchs zum Rückzug, nun die Preußen da waren? Maurice fühlte sich ganz überrascht über die starke Zuneigung, die ihn bereits zu dem großen Kerl da erfüllte. Zweimal wandte er sich noch zurück, um ihm mit der Hand Lebewohl zuzuwinken; und so ließ er das Lager hinter sich, in dem die Leute sich anschickten, großes Feuer anzuzünden, um den Feind zu täuschen, wenn man im tiefsten Stillschweigen vor Tagesanbruch abmarschierte.

Der kleine Pächter hörte unterwegs nicht auf, über die Schlechtigkeit der Zeit zu klagen. Er hatte nicht den Mut, gehabt, in Falaise zu bleiben; jetzt bedauerte er schon, nicht dageblieben zu sein, und wiederholte, er wäre zugrunde gerichtet, wenn sein Haus abbrennen würde. Seine Tochter, ein großes blasses Geschöpf, weinte. Maurice aber war so schlaftrunken, daß er nicht zuhörte; er schlief im Sitzen, von dem lebhaften Trab des kleinen Pferdchens eingewiegt, das die vier Meilen zwischen Vouziers und le Chêne in weniger als anderthalb Stunden zurücklegte. Es war noch nicht sieben Uhr, die Dämmerung begann gerade hereinzubrechen, als der junge Mann, erstaunt und zusammenschauernd, an der Brücke über den Kanal auf dem Platze abstieg, gegenüber dem kleinen gelben Hause, in dem er geboren war, in dem er zwanzig Jahre seines Daseins verbracht hatte. Ganz ohne nachzudenken ging er nun darauf zu, obwohl das Haus seit achtzehn Monaten an einen Tierarzt verkauft war. Dem Pächter antwortete er auf seine Frage, er wisse genau, wohin er zu gehen habe, und dankte ihm tausendmal für sein Entgegenkommen.

Mitten auf dem kleinen dreieckigen Platz nahe beim Brunnen blieb er indessen unbeweglich stehen, betäubt, ohne jede Erinnerung. Wo wollte er denn hin? Plötzlich kam er darauf, daß er zu dem Notar gehen sollte, dessen Haus an das stieß, in dem er aufgewachsen war, und dessen Mutter, die alte, herzensgute Frau Desroches, ihn als gute Nachbarin verzogen hatte, als er noch klein war. Aber er erkannte le Chêne kaum wieder bei der außergewöhnlichen, durch die Anwesenheit eines Armeekorps in der sonst so toten kleinen Stadt hervorgerufenen Unruhe, das vor ihren Toren lagerte und die Straßen mit Offizieren, Meldereitern, Leuten aus dem Gefolge, Herumstreichern und Nachzüglern jeder Art anfüllte. Den Kanal, der die Stadt von einem Ende zum andern durchschnitt, so daß er mitten durch den Platz ging und mit seiner schmalen, steinernen Brücke die beiden Dreiecke verband, fand er wohl; da war ja wieder drüben auf dem andern Ufer die Markthalle mit ihrem moosbedeckten Dach, die Rue Berond, die links abfiel, und die Straße nach Sedan, die sich rechts hinzog. Auf der Seite aber, wo er stand, mußte er in die Höhe sehen und zunächst den schieferbedeckten Turm über dem Hause des Notars suchen, um sicher zu sein, daß dies die einsame Ecke sei, in der er Marmel gespielt hatte; ein derartiges Summen dichter Menschenströme erfüllte die Rue de Bouziers vor ihm bis ans Stadthaus. Es kam ihm vor, als ob auf dem Platz ein leerer Raum geschaffen würde, als ob jemand die Neugierigen auseinandertriebe. Und da, einen mächtigen Raum hinter dem Brunnen einnehmend, bemerkte er zu seinem Erstaunen einen ganzen Wagenpark, Gepäckwagen und Karren, ein ganzes Lager, das er sicher schon einmal gesehen hatte.

Jetzt versank die Sonne in dem geradeauslaufenden blutroten Wasser des Kanals, und Maurice faßte gerade einen Entschluß, als eine neben ihm stehende Frau, die ihn einen Augenblick genau angesehen hatte, ausrief:

»Aber ist es die Möglichkeit, sind Sie nicht der junge Levasseur?«

Da erkannte er Frau Combette, die Gattin des Apothekers, dessen Laden jenseits des Platzes lag. Als er ihr erklärte, daß er Frau Desroches um ein Bett bitten wollte, zog sie ihn erregt beiseite.

»Nein, nein, kommen Sie zu uns. Ich muß Ihnen sagen ...«

Als sie dann in der Apotheke sorgfältig die Tür geschlossen hatte:

»Wissen Sie denn nicht, mein lieber Junge, daß der Kaiser bei den Desroches abgestiegen ist?... Das Haus ist für ihn mit Beschlag belegt; sie sind gar nicht sehr glücklich über die Ehre, kann ich Sie versichern. Wenn man bedenkt, daß die arme alte Mama, eine Frau von über siebzig Jahren, ihre Kammer abgeben und zum Schlafen unters Dach in ein Dienstmädchenbett klettern mußte! ... Sehen Sie, alles, was Sie da auf dem Platze sehen, gehört dem Kaiser, nur sein Gepäck, wissen Sie!«

Nun kamen Maurice tatsächlich all diese Personen- und Gepäckwagen, der ganze stolze Troß des kaiserlichen Haushalts wieder ins Gedächtnis, den er ja in Reims gesehen hatte.

»Ach, mein lieber Junge, wenn Sie ahnten, was sie da herausgeholt haben, Silbergeschirr und Weinflaschen und Körbe voll Vorräte und so schönes Leinenzeug und alles! Zwei Stunden lang hörte das gar nicht auf. Ich frage mich immer, wo sie das alles haben hinstecken können, denn das Haus ist doch nicht groß ... Sehen Sie, sehen Sie nur, haben die in der Küche ein Feuer angezündet!«

Er sah nach dem kleinen zweistöckigen, weißen Hause hinüber, das eine Ecke zwischen dem Platze und der Rue de Vouziers bildete, ein Haus von bürgerlich ruhigem Aussehen, dessen Inneres, den Mittelflur unten, die vier Zimmer in jedem Stock, er sich ins Gedächtnis zurückrufen konnte, als wäre er noch gestern abend drinnen gewesen. Das Eckfenster des ersten Stockes nach dem Platze hinaus war schon hell, und die Apothekerfrau erklärte ihm, das wäre das Zimmer des Kaisers. Aber, wie sie sagte, vor allem war die Küche erleuchtet, deren Fenster im Erdgeschoß nach der Rue de Vouziers herausgingen. Nie hatten die Einwohner von le Chêne ein derartiges Schauspiel gesehen. Ein ununterbrochen sich erneuernder Strom von Neugierigen versperrte die Straße und stand offenen Mundes vor diesem Herde, auf dem das Abendessen des Kaisers briet und kochte. Die Köche hatten die Fenster weit aufgemacht, um etwas Luft zu haben. Zu dritt bewegten sie sich in blendend weißen Jacken vor den auf einen Riesenbratspieß gesteckten Hühnern und rührten die Tunken in gewaltigen Töpfen, deren Kupfer wie Gold leuchtete. Die ältesten Leute erinnerten sich nicht, jemals im Silbernen Löwen, auch bei den größten Schlemmereien nicht, so ein Riesenfeuer und so viele Sachen auf einmal kochen gesehen zu haben.

Combette, der Apotheker, ein kleiner, trockener, beweglicher Mann, kam ganz aufgeregt über alles, was er gesehen und gehört hatte, nach Hause. Er schien mit allem vertraut zu sein, da er Beigeordneter des Ortsvorstehers war. Gegen halb vier hatte Mac Mahon an Bazaine telegraphiert, die Ankunft des Kronprinzen von Preußen bei Chalons zwänge ihn zum Zurückgehen auf die festen Plätze des Nordens; eine zweite Depesche ging an den Kriegsminister ab und kündigte ihm gleichfalls den Rückzug an, indem sie ihm die schreckliche Gefahr schilderte, in der sich die ganze Heeresgruppe befinde, abgeschnitten und vernichtet zu werden. Die Depesche an Bazaine konnte ruhig laufen, wenn sie gute Beine hatte; denn alle Verbindungen mit Metz schienen seit ein paar Tagen unterbrochen. Die andere Depesche aber war ernster, und der Apotheker dämpfte seine Stimme, als er erzählte, wie er einen höheren Offizier hätte sagen hören: »Wenn die in Paris das hören, sind wir futsch!« Jedermann wußte, mit welcher Schärfe die Kaiserin-Regentin und der Ministerrat den Vormarsch betrieben. Die Verwirrung wuchs übrigens von Stunde zu Stunde; die merkwürdigsten Nachrichten über die Annäherung der deutschen Heeresgruppen liefen ein. Der Kronprinz von Preußen in Chalons, war das möglich? Und auf was für Truppen war denn das siebente Korps in den Argonnenübergängen gestoßen?

»Im Generalstabe wissen sie nichts,« fuhr der Apotheker fort und schlenkerte verzweifelt die Arme. »Ach, was für ein Wirrwarr! ... Schließlich geht noch alles gut, wenn nur das Heer morgen zurückgeht.«

Dann, da er im Grunde ein tapferer Kerl war:

»Sagen Sie mal, mein junger Freund, ich will Ihnen Ihren Fuß verbinden, und dann essen Sie mit uns und schlafen oben in der kleinen Kammer meines Lehrlings; der ist ausgerissen.«

Aber Maurice wollte vor allem, unter dem qualvollen Drang zu sehen und zu hören, unbedingt seinem ersten Gedanken folgen und die alte Frau Desroches gegenüber besuchen. Er war überrascht, an der Türe nicht angehalten zu werden, die bei dem Gewühl des Platzes offengeblieben und nicht einmal bewacht war. Fortwährend gingen Menschen ein und aus, Offiziere, Leute vom Dienst, und es sah aus, als hätte die Hetzjagd in der flammenden Küche das ganze Haus ergriffen. Treppenbeleuchtung gab es indessen nicht und er mußte sich nach oben fühlen. Im ersten Stock blieb er einige Sekunden mit klopfendem Herzen vor der Türe des Zimmers stehen, in dem sich, wie er wußte, der Kaiser befand; aber kein Laut ertönte aus dem Zimmer, es herrschte Todesschweigen. Oben an der Schwelle des Mädchenzimmers, in das sie sich hatte flüchten müssen, bekam die alte Frau Desroches zuerst Angst vor ihm. Aber dann erkannte sie ihn: »Ach, mein Kind, in was für einem schrecklichen Augenblick müssen wir uns wiederfinden! ... Ich hätte dem Kaiser ja gern mein Haus gegeben; aber er hat zu schlecht erzogene Menschen um sich! Wenn Sie wüßten, was sie alles weggenommen haben, und sie werden noch alles in Brand stecken, so ein Feuer machen sie! ... Er, der arme Mann, sieht ja aus wie einer, den sie wieder ausgegraben haben, und so traurig ...«

Als der junge Mann sie dann beim Weggehen beruhigen wollte, begleitete sie ihn und beugte sich über das Treppengeländer.

»Sehen Sie, von hier kann man ihn sehen,« sagte sie leise ... »Ach, wir sind alle verloren. Gehen Sie mit Gott, mein Kind!«

Und Maurice blieb wie angewurzelt im Finstern auf einer Treppenstufe stehen. Mit vorgebeugtem Halse übersah er durch ein Oberlicht ein Schauspiel, das er als unvergeßliches Andenken mitnahm.

Im Hintergrunde des spießbürgerlichen, kalten Zimmers saß der Kaiser vor einem kleinen für ihn gedeckten Tisch, an dessen Ecken zwei Leuchter standen. Zwei Adjutanten standen stumm an der Wand. Ein Tafeldiener stand neben dem Tisch und wartete auf. Das Glas war unbenutzt, das Brot unberührt, ein Stück weißes Hühnerfleisch wurde auf seinem Teller kalt. Der Kaiser starrte unbeweglich auf das Tischtuch mit den unsichern, trüben, tränenerfüllten Augen, die er schon in Reims gesehen hatte. Aber er schien müde, und als er sich endlich entschlossen und wie mit einer gewaltigen Anstrengung zwei Bissen zum Munde geführt hatte, schob er den Rest mit der Hand weg. Er hatte gegessen. Ein Ausdruck heimlich ausgestandenen Leidens ließ sein blasses Gesicht noch bleicher erscheinen.

Als Maurice unten am Eßzimmer vorbeikam, wurde dessen Tür heftig aufgerissen und er sah im Kerzenschimmer durch den Dunst der Schüsseln eine Tafel voller Stallmeister, Adjutanten, Kammerherren, unter lautem Stimmengewirr im Begriff, die Flaschen aus dem Gepäckwagen zu leeren, Geflügel zu verschlingen und Tunken aufzuwischen. Die Gewißheit, daß es zurückgehe, nachdem die Depesche des Marschalls abgegangen war, begeisterte all diese Leute. In acht Tagen wollten sie in Paris wieder in einem ordentlichen Bette liegen.

Da fühlte Maurice sich plötzlich von schrecklicher Müdigkeit niedergedrückt; es war sicher, das ganze Heer ging zurück, und er brauchte nur noch schlafen und auf den Durchzog des siebenten Korps zu warten. Er ging wieder über den Platz zum Apotheker Combette, wo er wie im Traume saß. Dann kam es ihm so vor, als werde sein Fuß verbunden und er nach oben in eine Kammer gebracht. Und dann war dunkle Nacht, das Nichts. Er schlief erschöpft, ohne zu atmen. Aber nach einer unendlichen Zeit, Stunden oder Jahrhunderten, lief ein Schauder durch seinen Schlaf; er setzte sich im Dunkeln aufrecht. Wo war er? Was war das für ein ununterbrochen rollender Donner, der ihn aufgeweckt hatte? Sofort erinnerte er sich und lief ans Fenster, um nachzusehen. Unten in der Finsternis zog auf dem für gewöhnlich zur Nachtzeit so ruhigen Platze Artillerie in einem nicht endenwollenden Trabe von Menschen, Pferden und Kanonen vorbei, so daß die kleinen Häuser erzitterten. Eine ihm unverständliche Unruhe ergriff ihn bei diesem plötzlichen Aufbruch. Wieviel Uhr mochte es sein? Auf dem Stadthause schlug es vier. Und er zwang sich zur Ruhe, indem er sich sagte, dies sei einfach der Beginn der Ausführung der Rückzugsbefehle vom Abend vorher, als bei einer Drehung des Kopfes ein neues Schauspiel ihn abermals in Angst versetzte: das Eckfenster beim Notar war immer noch hell, und die Gestalt des Kaisers zeichnete sich in regelmäßigen Pausen klar als dunkler Schattenriß darauf ab.

Lebhaft fuhr Maurice in die Hosen, um nach unten zu gehen. Aber Combette kam schon mit einer Kerze in der Hand unter heftigen Gebärden nach oben.

»Ich sah Sie von unten, als ich vom Ortsvorsteher zurückkam, und wollte Ihnen erzählen ... Denken Sie mal, sie haben mich noch nicht schlafen lassen; seit zwei Stunden arbeiten wir schon an neuen Anforderungen, der Ortsvorsteher und ich ... Ja, alles ist mal wieder umgedreht. Ach, der Offizier, der die Depesche nach Paris nicht abgehen lassen wollte, der hatte verdammt recht!«

Und so fuhr er lange in abgebrochenen, ungeordneten Sätzen fort, und schließlich begriff der junge Mann alles, stumm, mit zusammengekrampftem Herzen. Gegen Mitternacht war eine Depesche des Kriegsministers als Antwort auf die des Marschalls gekommen. Der genaue Wortlaut war nicht bekannt; aber ein Adjutant hatte im Stadthause ganz laut gesagt, daß die Kaiserin und der Ministerrat eine Revolution in Paris befürchteten, wenn der Kaiser zurückkäme und Bazaine im Stiche ließe. Die Depesche, die über die wahren Stellungen der Deutschen schlecht unterrichtet war und an einen Vorsprung der Heeresgruppe von Châlons zu glauben schien, den diese gar nicht mehr besaß, forderte unter einem ungewöhnlichen Leidenschaftsausbruch den Vormarsch trotz allem.

»Der Kaiser hat den Marschall rufen lassen,« fügte der Apotheker hinzu, »und sie haben sich fast eine Stunde lang zusammen eingeschlossen. Ich weiß natürlich nicht, was sie sich zu sagen hatten, aber alle Offiziere haben mir wiederholt, daß es nicht weiter zurückgeht und daß der Marsch an die Maas wieder aufgenommen wird ... Alle Backöfen der Stadt haben wir eben für das erste Korps beschlagnahmt, das morgen früh hier das zwölfte ersetzen soll, dessen Artillerie gerade nach la Besace abgeht, wie Sie sehen ... Diesmal ist's Schluß, es geht in die Schlacht.«

Er hielt inne. Auch er blickte nun nach dem hellen Fenster beim Notar hinüber. Dann sagte er mit halber Stimme in einer neugierig-nachdenklichen Stimmung:

»Ja, was konnten sie sich erzählen? ... Es ist doch komisch, um sieben Uhr abends vor einer drohenden Gefahr zurückzugehen und um Mitternacht mit gesenktem Kopfe wieder in sie hineinzulaufen, wenn die Lage ganz dieselbe bleibt.«

Maurice hörte unten in der kleinen schwarzen Stadt immer nur das Rollen der Geschütze, den ununterbrochenen Trab des sich gegen die Maas ergießenden Menschenstromes, den unbekannten Schrecken des morgigen Tages entgegen. Und wieder sah er auf den spießbürgerlichen kleinen Fenstervorhängen den Schatten des Kaisers regelmäßig hin und her gehen, das Auf und Ab dieses Kranken, den die Schlaflosigkeit außer Bett hielt und ihn trotz seines Leidens zur Bewegung zwang, während sein Ohr von dem Lärm aller dieser Pferde und Menschen erfüllt war, die er in den Tod gehen ließ. So hatten ein paar Stunden genügt; das Unglück war jetzt entschieden, wurde hingenommen. Was konnten der Kaiser und der Marschall sich wirklich sagen, wo sie alle beide das Unglück, in das sie hineinmarschierten, vorher wußten, wo sie abends, angesichts der fürchterlichen Umstände, in denen das Heer sich befinden mußte, von einer Niederlage überzeugt waren, nachdem sie am Morgen ihren Plan nicht mehr hatten ändern können und die Gefahr nun von Stunde zu Stunde wuchs? Der Plan des Generals Palikao, der zerschmetternde Marsch auf Montmédy, der am 23. schon verwegen, am 25. mit zuverlässigen Soldaten unter einem geistvollen Führer vielleicht noch möglich war, wurde am 27. zu einer Tat reinen Wahnsinns angesichts des fortgesetzten Zauderns im Oberbefehl und der wachsenden Entmutigung der Truppen. Wenn alle beide das wußten, warum gaben sie dann den mitleidlosen Stimmen nach, die ihre Unentschlossenheit aufpeitschten? Der Marschall war am Ende nichts als eine beschränkte, gehorsame Soldatennatur, groß nur in seiner Selbstverleugnung. Und der Kaiser, der keine Befehlsgewalt mehr besaß, erwartete sein Schicksal. Man forderte von ihnen ihr Leben und das des Heeres: sie gaben es hin. Das war die Nacht des Verbrechens, die Nacht des scheußlichen Mordes an einem ganzen Volke; denn von nun an befand sich das Heer in höchster Not, waren hunderttausend Mann auf die Schlachtbank geschickt.

Während er verzweifelt und bebend an all dies dachte, folgte Maurice dem Schatten auf der leichten Leinwand der guten Frau Desroches, dem fieberhaft hin und her gleitenden Schatten, den die unerbittliche Stimme aus Paris vorwärts zu treiben schien. Verlangte die Kaiserin in dieser Nacht nicht den Tod des Vaters, damit der Sohn herrschen könne? Vorwärts! vorwärts! ohne nach rückwärts zu blicken, durch den Regen, durch den Schmutz, in die Vernichtung, damit dieses letzte Spiel des Kaiserreiches mit dem Tode bis zur letzten Karte gespielt werde. Vorwärts, vorwärts, stirb als Held auf dem Leichenhaufen deines Volkes, zwinge die ganze Welt zu Rührung und Bewunderung, wenn sie deiner Nachkommenschaft vergeben soll! Ohne Zweifel ging der Kaiser in den Tod. Die Küche unten leuchtete nicht mehr, die Stallmeister, die Adjutanten, die Kammerherren schliefen, das ganze Haus war dunkel, während einzig und allein der Schatten ging und kam, ohne Unterlaß, ergeben in das Geschick des Opfers, unter dem betäubenden Lärm des zwölften Korps, das in der Finsternis weiter vorbeizog.

Plötzlich dachte Maurice daran, daß, wenn der Vormarsch wieder aufgenommen würde, das siebente Korps nicht wieder durch le Chêne kommen könne, und er sah sich schon, wie er zurückgelassen, von seinem Regiment getrennt, seinen Posten verlassen hatte. Er fühlte seinen Fuß nicht länger brennen: ein geschickter Verband, ein paar Stunden voller Ruhe hatten sein Fieber niedergeschlagen. Als Combette ihm ein Paar von seinen eigenen Schuhen gegeben hatte, ein Paar leichte, bequeme Schuhe, wollte er fort, augenblicklich fort, da er hoffte, das 106. Regiment noch auf der Straße von le Chêne nach Vouziers zu treffen. Vergeblich suchte der Apotheker ihn zurückzuhalten; er beschloß, ihn persönlich mit seinem kleinen Wagen zurückzubringen und sich auf gut Glück auf den Weg zu machen, als Fernand, sein Lehrling, erschien und erklärte, er habe nur mal seine Kusine umarmen wollen. Er war ein großer blasser Bursche von hasenfüßigem Aussehen, der nun anspannte und Maurice fuhr. Es war noch nicht vier Uhr; ein sintflutartiger Regen rauschte von dem tintenschwarzen Himmel hernieder; die Wagenlampen gingen fast aus und erhellten kaum den Weg inmitten der weiten, ertrunkenen Landschaft, die voll ungeheurer Geräusche war, so daß sie alle Kilometer anhielten in dem Glauben, eine ganze Armee zöge vorbei.

Währenddessen hatte Jean da unten vor Vouziers überhaupt nicht geschlafen. Seit Maurice ihm erklärt hatte, wie dieser Rückzug die Lage retten werde, wachte er und verhinderte seine Leute, sich zu zerstreuen, weil er den Marschbefehl erwartete, den die Offiziere von einer Minute zur andern geben konnten. Gegen zwei Uhr tönte in der tiefen Finsternis, die die Feuer mit roten Sternen durchblinkten, ein mächtiges Geräusch von Pferden durchs Lager: das war die Kavallerie, die als Vorhut gegen Ballay und Quatre-Champs aufbrach, um die Wege nach Boult-aux-Bois und Croix-aux-Bois zu sichern. Eine Stunde später kamen Infanterie und Artillerie gleichfalls in Bewegung und verließen endlich die Stellungen von Falaise und Chestres, die sie seit zwei langen Tagen in der Einbildung gegen einen Feind verteidigten, der gar nicht kam. Der Himmel hatte sich bedeckt, die Nacht war dunkel, und jedes Regiment zog in tiefem Schweigen dahin, ein Schattenzug, der sich auf dem Hintergrunde der Finsternis abrollte. Aber alle Herzen schlugen vor Freude, als ob sie einem Hinterhalt entronnen wären. Man sah sich schon vor Paris und die Vergeltung bevorstehend.

Jean blickte in der tiefen Nacht umher. Die Straße war mit Bäumen eingefaßt, und es kam ihm so vor, als ob sie durch weite Wiesen zögen. Dann ging es aufwärts und wieder abwärts. Sie kamen an ein Dorf, das Ballay sein mußte, als die schwere Wolke, die den Himmel verdunkelte, in einem heftigen Regen losbrach. Die Leute hatten schon so viel Wasser bekommen, daß sie gar nicht weiter ärgerlich wurden, sondern nur die Schultern hochhoben. Aber dann war Ballay durchschritten, und je naher sie Quatre-Champs kamen, desto wütender wurden die Böen. Als sie darüber hinaus auf die Hochebene kamen, deren kahles Gelände sich bis Noirval erstreckt, wurde der Orkan rasend und peitschte sie mit schrecklichen Sintfluten. Mitten in dieser Weite erging der Befehl zum Halten nacheinander an alle Regimenter. Das ganze siebente Korps, dreißig und etliche tausend Mann, fand sich hier wieder versammelt, als der Tag anbrach, ein Tag voll Schmutz und rauschendem, grauem Wasser. Was ging vor? Wozu diese Rast? Schon lief Unruhe durch die Reihen und einzelne behaupteten, die Marschrichtung wäre wieder mal abgeändert. Mit dem Verbot, auseinanderzugehen und sich zu setzen, ließ man sie das Gewehr bei Fuß nehmen. Von Zeit zu Zeit fegte der Wind die Hochebene mit solcher Gewalt, daß sie sich aneinanderdrängen mußten, um nicht umgerissen zu werden. Der Regen blendete sie und machte ihre Haut schlüpfrig; eisig sickerte er unter ihren Kleidern hindurch. Zwei Stunden liefen so in unendlichem Warten dahin und man wußte nicht warum, während die Angst ihnen aufs neue die Herzen zusammenschnürte.

Je heller es wurde, desto eifriger suchte Jean sich zurechtzufinden. Im Nordwesten hatte man ihm auf der andern Seite von Quatre-Champs den Weg von le Chêne her gezeigt, der über eine Höhe lief. Warum also wandten sie sich nach rechts, anstatt sich nach links zu wenden? Dann erregte es seine Aufmerksamkeit, daß der Generalstab sich in la Converserie, einem am Rande der Hochebene gelegenen Hofe, eingerichtet hatte. Man schien dort recht bestürzt: Offiziere liefen mit heftigen Gebärden sich unterhaltend hin und her. Und es kam doch nichts; worauf warteten sie also? Die Hochebene bildete eine Art Kreis von unendlichen Stoppelfeldern, im Norden und Osten von bewaldeten Höhen beherrscht; gegen Süden dehnten sich dichte Wälder aus, während man durch eine Lücke im Westen das Aisnetal mit den weißen Häusern von Vouziers überblickte. Unterhalb von la Converserie ragte der Schieferturm von Quatre-Champs spitz in die Höhe, wie ertränkt in der wütenden Wasserflut, unter der die paar armseligen moosbedeckten Dächer des Dorfes zu schmelzen schienen. Und als Jean den Blick über die ansteigende Straße gleiten ließ, bemerkte er ganz deutlich einen kleinen Wagen auf der steinigen, in einen Wildbach verwandelten Straße in scharfem Trabe herankommen.

Es war Maurice, der endlich bei einer Wegbiegung von dem gegenüberliegenden Hügel aus das siebente Korps entdeckt hatte. Seit zwei Stunden jagte er über Land, getäuscht von den Aussagen eines Bauern, wütend über die sauertöpfische Unwilligkeit seines Begleiters, der aus Angst vor den Preußen Fieber bekam. Als er den Hof erreicht hatte, sprang er vom Wagen und fand sofort sein Regiment.

Jean schrie ganz verdutzt:

»Was, du bist da! Warum denn? Wir holen dich doch ab!«

Maurice drückte seine Wut und seinen Schmerz durch eine Gebärde aus.

»Ach! jawohl ... Wir gehen nicht mehr da hinauf, wir gehen dort unten hin und verrecken da alle!«

»Gut!« sagte der andere nach einem Stillschweigen. »Dann lassen wir uns wenigstens zusammen den Schädel einschlagen.«

Und als ob sie sich verloren gehabt hätten, fanden sich die beiden Männer in einer Umarmung wieder. Unter fortgesetzt klatschendem Regen trat der einfache Soldat wieder in die Reihen ein, und der Korporal diente ihm zum Vorbild, triefend, ohne Klage.

Aber jetzt lief die Nachricht als sicher um: es ging nicht zurück auf Paris, es ging wieder gegen die Maas. Ein Adjutant des Marschalls hatte eben dem siebenten Korps den Befehl überbracht, bei Nouart Lager zu beziehen, während das fünfte sich gegen Beauclair wendend den rechten Flügel des Heeres bilden und das erste das zwölfte in le Chêne zum Marsch auf la Besace, den linken Flügel, ablösen sollte. Wenn aber diese etlichen dreißigtausend Mann hier seit fast drei Stunden das Gewehr bei Fuß in wütenden Regenböen warteten, so verursachte das Schicksal des am Abend vorher auf Chagny vorausgeschickten Trosses dem General Douay die lebhafteste Unruhe inmitten des Wirrwarrs dieses neuen unerwarteten Richtungwechsels. Bis der wieder zum Korps gestoßen war, mußte er warten. Es hieß, daß sein Troß bei le Chêne von dem des zwölften Korps durchquert worden sei. Anderseits kam ein Teil des Gerätes, alle Feldschmieden der Artillerie dadurch, daß sie sich im Wege geirrt hatten, von Terron über die Straße nach Vouziers wieder zurück, wo sie ganz sicher den Deutschen in die Hände gefallen wären. Niemals war die Unordnung größer und die Angst lebhafter. Unter den Soldaten herrschte daher auch wahre Verzweiflung. Viele wollten sich in dem Dreck der aufgeweichten Hochebene auf ihre Tornister setzen und im Regen auf den Tod warten. Sie verhöhnten und beleidigten ihre Führer: ach! seine Führer, ohne Hirn, die abends wieder umschmissen, was sie morgens fertiggebracht hatten, bummelten, wenn der Feind nicht da war, und ausrissen, sowie er erschien. Äußerste Entmutigung versetzte schließlich das Heer in den Zustand einer Herde ohne jede Überzeugung, ohne jede Manneszucht, die man, wie der Weg sich gerade bot, ins Schlachthaus führte. Unten in der Richtung gegen Vouziers begann Gewehrfeuer zu ertönen, zwischen den Vorposten des siebenten Korps und denen der deutschen Truppen gewechselte Schüsse; und im Handumdrehen wandten sich alle Blicke gegen das Aisnetal, wo, als der Himmel etwas aufklärte, dicke schwarze Rauchwolken aufstiegen: sie wußten, das Dorf Falaise brannte, von Ulanen in Brand gesteckt. Wut bemächtigte sich der Mannschaften. Was? Da waren nun die Preußen! Zwei Tage hatte man auf sie gewartet, um ihnen Zeit zu lassen, heranzukommen. Dann riß man wieder aus. In der Seele der Allerbeschränktesten stieg dunkel der Zorn über den nicht wieder gut zu machenden Fehler auf, den man mit diesem blödsinnigen Warten begangen hatte, die Falle, in die man hineingelaufen war: Aufklärer der vierten Heeresgruppe verulkten die Brigade Bordas, hielten nacheinander alle Korps der Gruppe von Châlons auf und legten sie fest, um dem Kronprinzen von Preußen das Herankommen mit der dritten Gruppe zu ermöglichen. Und dank der Unwissenheit des Marschalls, der noch nicht wußte, welche Truppen er vor sich hatte, vollzog sich die Vereinigung zu eben dieser Stunde, und das siebente und fünfte Korps wurden nun dauernd von drohender Vernichtung beunruhigt.

Maurice sah am Horizont Falaise emporflammen. Aber einen Trost hatte er: der verloren geglaubte Troß tauchte auf dem Wege von le Chêne auf. Während die erste Division in Quatre-Champs blieb, um den nicht enden wollenden Durchzug des Gepäcks abzuwarten und zu beschützen, setzte sich die zweite sofort in Bewegung und gewann durch den Wald Boult-aux-Bois, während die dritte sich links auf den Höhen von Belleville aufstellte, um die Verbindungen zu sichern. Und als endlich die 106er im Augenblick, als der Regen verdoppelt wieder einsetzte, die Hochebene verließen und den verbrecherischen Marsch gegen die Maas ins Unbekannte hinein wieder aufnahmen, da sah Maurice wieder den Schatten des Kaisers in trauriger Gangart auf den kleinen Vorhängen der alten Frau Desroches hin und her ziehen. Ach, dies verzweifelte, dies verlorene Heer, das man in gewissen Untergang schickte um des Heiles eines Herrscherhauses willen! Vorwärts, vorwärts, ohne rückwärts zu blicken, durch den Regen, den Schmutz in die Vernichtung!


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