Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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5

An diesem eisigen Dezemberabend saßen Silvine und Prosper allein mit Karlchen in der großen Küche des Hofes; sie nähte, und er war dabei, sich eine schöne Peitsche zurechtzumachen. Es war sieben Uhr; um sechs hatten sie gegessen, ohne auf Vater Fouchard zu warten, der sich wohl in Raucourt verspätet hatte, wo es an Fleisch fehlte; und Henriette, die heute Nachtwache im Lazarett hatte, war fortgegangen und hatte Silvine ans Herz gelegt, ja nicht zu Bett zu gehen, ohne noch einmal Kohlen auf Jeans Ofen zu schütten.

Draußen lag der Himmel sehr dunkel über dem weißen Schnee. Kein Laut kam aus dem eingeschneiten Orte; in dem großen Raume war nur Prospers Messer zu hören, das geschickt Rauten und Rosetten in den Stiel aus Kornelkirschenholz einschnitzte. Zuweilen hielt et inne und sah auf Karlchen, dessen dicker Blondkopf vor Müdigkeit hin und her baumelte. Nachdem das Kind schließlich eingeschlafen war, schien das Schweigen noch eindringlicher zu werden. Sanft rückte die Mutter die Kerze zur Seite, damit ihr Kleiner nicht den hellen Schein auf die Augenlider bekäme; dann nähte sie weiter und verfiel in tiefe Träumerei.

Und nun faßte Prosper einen Entschluß, nachdem er erst noch ein wenig gezaudert hatte.

»Hört mal, Silvine, ich muß Euch was sagen ... Ja, ich habe gewartet, bis ich mit Euch allein wäre ...«

Sie wurde sofort unruhig und hob die Augen.

»Die Sache ist die ... Verzeiht mir, wenn ich Euch wehtue, aber es ist besser, Ihr seid gewarnt ... Ich habe heute morgen in Remilly an der Ecke bei der Kirche Goliath gesehen, so wahr ich Euch jetzt vor mir sehe. Oh! Bei hellem Tageslicht; ein Irrtum war da gar nicht möglich!«

Sie wurde sehr blaß, die Hände zitterten ihr und sie stöhnte nur eine dumpfe Klage.

»Mein Gott! Mein Gott!«

Prosper fuhr in vorsichtigen Ausdrücken fort, ihr alles, was er den Tag über gehört hatte, zu erzählen, indem er einen oder den andern gefragt hatte. Kein Mensch zweifelte länger daran, daß Goliath ein Spion sei, daß er sich schon früher im Lande niedergelassen habe, um seine Straßen, seine Hilfsmittel, seine kleinsten Lebensbedingungen kennenzulernen. Die Leute riefen sich seinen Aufenthalt auf dem Hofe Vater Fouchards ins Gedächtnis zurück, die plötzliche Art und Weise, wie er weggegangen war, die Stellen, die er nachher in der Gegend von Beaumont und Raucourt eingenommen habe. Und jetzt war er wieder da und hatte bei der Kommandantur in Sedan eine recht unbestimmte Stellung inne; er lief abermals durch die Ortschaften, als wäre er damit beauftragt, die einen anzuzeigen, die andern zu schröpfen und auf das richtige Eingehen der Anforderungen zu achten, mit denen man die Einwohner schröpfte. Heute morgen hatte er Remilly wegen einer Mehllieferung in Schrecken versetzt, die unvollständig war und zu langsam einging.

»Ihr seid nun gewarnt,« sagte Prosper zum Schluß, »und wißt ja nun, was Ihr zu tun habt, wenn er hierher kommt ...«

Sie unterbrach ihn mit einem Schreckensruf.

»Glaubt Ihr, er kommt hierher?«

»Natürlich, es kommt mir ganz bestimmt so vor ... Er wäre doch recht wenig neugierig; er hat doch den Kleinen noch nicht gesehen und weiß doch, daß er da ist ... Und dann seid Ihr am Ende doch auch noch da, auch nicht gerade häßlich und ganz ansehnlich.«

Mit einer flehenden Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. Karlchen war durch das Geräusch aufgewacht und hob den Kopf. Mit unsichern Blicken rief er sich, wie aus einem Traume auffahrend, das Schimpfwort wieder ins Gedächtnis zurück, das er von einem Spaßvogel im Dorfe gelernt hatte, und erklärte mit dem ganzen Ernst eines dreijährigen Kerlchens:

»Schweinehunde, die Preußen!«

Wie närrisch drückte seine Mutter ihn in ihre Arme und setzte ihn dann auf ihr Knie. Ach! Das arme Wesen, ihre Freude und ihre Verzweiflung, das sie von ganzer Seele liebte und doch nicht ansehen konnte, ohne zu weinen, dies Kind ihres Fleisches, das sie zu ihrem Schmerz von den gleichaltrigen kleinen Burschen, wenn sie auf der Straße mit ihm spielten, in häßlicher Weise den Preußen nennen hörte! Sie küßte ihn, als wollte sie die Worte wieder in seinen Mund hineindrängen.

»Wer hat dir die häßlichen Worte beigebracht? Das darfst du nicht, so was mußt du nicht wieder sagen, mein Liebling!«

Mit kindlicher Dickköpfigkeit wollte Karlchen vor Lachen ersticken und sing schleunigst wieder an:

»Schweinehunde, die Preußen!«

Als er dann aber seine Mutter in Tränen ausbrechen sah, fing er auch an zu weinen und hing sich an ihren Hals. Mein Gott, was für ein neues Unglück drohte ihr da wieder? Hatte sie mit Honoré noch nicht genug verloren, die einzige Hoffnung ihres Lebens, die Gewißheit, daß sie vergessen dürfe und noch einmal glücklich werden würde? Nun mußte der andere wieder erscheinen und sie vollends unglücklich machen.

»Komm,« flüsterte sie, »komm schlafen, mein Liebling! Ich hab' dich trotz allem lieb, denn du weißt ja nicht, was für Kummer du mir machst!«

Sie ließ Prosper einen Augenblick allein, der, um ihr mit seinen Blicken nicht peinlich zu werden, so getan hatte, als ob er sehr sorgfältig an seinem Peitschengriff schnitzte.

Aber ehe Silvine Karlchen zu Bett legte, brachte sie ihn wie gewöhnlich erst noch zum Gutenachtsagen zu Jean, denn das Kind war sehr gut Freund mit ihm. Als sie heute abend mit ihrer Kerze eintrat, sah sie, daß der Verwundete aufrecht saß und mit weit offenen Augen in die Finsternis hineinstarrte. Sieh! Also er schlief noch nicht? Nein, wahrhaftig nicht, er träumte von allen möglichen Dingen, wie er so allein in dieser stillen Winternacht dasaß. Und während sie den Ofen voll Kohlen schüttete, spielte er einen Augenblick mit Karlchen, der sich wie ein junges Kätzchen auf seinem Bett herumkugelte. Er kannte Silvines Geschichte und fühlte so etwas wie Freundschaft für dies tüchtige, unterwürfige, im Unglück so erprobte Mädchen, wie sie nun um den einzigen Mann trauerte, den sie geliebt hatte, und keinen andern Trost besaß als diesen Kleinen, der ihr zugleich von seiner Geburt an soviel Qual verursachte. Als sie näher kam, nachdem sie den Ofen zugedeckt hatte, um ihm den Kleinen aus den Armen zu nehmen, bemerkte er auch an ihren roten Augen, daß sie geweint hatte. Was war denn los? Hatte ihr wieder jemand Kummer gemacht? Aber sie mochte ihm keine Antwort geben: später wollte sie es ihm mal sagen, wenn es überhaupt der Mühe wert wäre. Mein Gott, war denn das Dasein für sie jetzt nicht ein ständiger Kummer?

Endlich brachte Silvine Karlchen weg, als sich auf dem Hofe vor dem Hause das Geräusch von Schritten und Stimmen hören ließ. Und auch Jean horchte voller Überraschung hin.

»Was gibt's denn? Das ist doch nicht Vater Fouchard, der da kommt; ich habe doch die Räder des Karrens nicht gehört.«

In der Stille seiner entlegenen Kammer hatte er sich schließlich daran gewöhnt, sich auf diese Weise das innere Leben auf dem Hofe zu erklären, und seine geringsten Laute waren ihm vertraut geworden. Er spitzte also die Ohren und hörte sofort:

»Ach ja, das sind die Leute, die Franktireurs aus dem Walde von Dieulet, die sich Vorräte holen wollen.«

»Rasch!« flüsterte Silvine im Weggehen und ließ ihn aufs neue im Dunkel, »ich muß mich beeilen, damit sie ihr Brot kriegen!«

Richtig hämmerten Fäuste gegen die Küchentür, und Prosper, der allein geblieben war und sich darüber ärgerte, zögerte und verhandelte mit ihnen. Wenn der Herr nicht zu Hause war, machte er nicht gern auf aus Furcht vor Schaden, für den er verantwortlich gemacht werden könnte. Jetzt aber kam zu seinem Glück gerade im selben Augenblick Vater Fouchards Karren die abschüssige Straße herab, der Trab des Pferdes war durch den Schnee gedämpft worden. Und nun nahm der Alte die drei Männer in Empfang.

»Ah, schön! Ihr drei seid's ... Was bringt ihr mir denn da auf dem Karren?«

Sambuc, der magere Schnapphahn, hatte sich in eine blauleinene, viel zu weite Bluse eingewickelt und hörte gar nicht auf ihn, denn er ärgerte sich über Prosper, seinen ehrenhaften Herrn Bruder, wie er ihn nannte, der sich jetzt erst hatte entschließen können, die Tür aufzumachen.

»Sag mal, du, hältst du uns für Bettler, daß du uns bei einem derartigen Wetter so da draußen stehen läßt?«

Aber Prosper blieb ganz ruhig; er zuckte, ohne zu antworten, die Achseln und zog das Pferd und den Karren herein, während Vater Fouchard sich abermals über den Schiebkarren beugte und dazwischenfuhr.

»Ach so, das sind zwei verreckte Hämmel, die ihr mir da bringt ... 's ist nur gut, daß es friert, sonst würden sie wohl nicht gut riechen.«

Cabasse und Ducat, Sambucs zwei Leutnants, die ihn auf allen seinen Unternehmungen begleiteten, wandten sich gegen ihn.

»Oh!« meinte der erste mit dem lebhaften Geschrei des Provenzalen, »die sind noch keine drei Tage alt ... Die Viecher sind auf Raffins' Hof gestorben, da haben sie ein scheußliches Sterben unter dem Vieh.«

»Procumbit humi bos«, sagte der andere her, der frühere Gerichtsvollzieher, den sein lebhafter Geschmack für kleine Mädchen heruntergebracht hatte und der lateinische Brocken liebte.

Vater Fouchard fuhr mit einem Kopfnicken fort, die Ware herunterzusetzen, und tat so, als sei sie schon zu weit. Und indem er mit den drei Männern in die Küche trat, schloß er:

»Schließlich müssen sie wohl damit zufrieden sein ... Gut, daß sie in Raucourt auch kein Rippenstück mehr haben. Wenn man Hunger hat, nicht wahr, dann ißt man alles!«

Und im Grunde entzückt, rief er rasch nach Silvine, die gerade wiederkam, nachdem sie Karlchen zu Bett gebracht hatte.

»Gib uns Gläser, wir wollen eins auf Bismarcks Verrecken trinken!«

So unterhielt Fouchard gute Beziehungen zu den Franktireurs aus dem Walde von Dieulet, die seit beinahe drei Monaten in der Dämmerung aus ihrem Dickicht herauskamen und dann herumstreiften, überall die Preußen auf den Straßen umbrachten und ausraubten, wo sie sie nur überraschen konnten, und sich dann auf die Höfe schlugen und die Bauern brandschatzten, sobald es an feindlichem Wild zu fehlen begann. Sie waren der Schrecken der Dörfer, und das um so mehr, als für jeden Angriff auf einen Begleittrupp, für jeden ermordeten Posten die deutschen Behörden sich an den umliegenden Flecken rächten, die sie des Einverständnisses beschuldigten, und sie mit Bußen belegten, außerdem aber die Ortsvorsteher gefangen wegschleppten und die Weiler verbrannten. Und wenn die Bauern Sambuc und seine Bande trotz ihrer Neigung dazu nicht auslieferten, so geschah es einfach aus Furcht, an irgendeiner Wegebiegung eine Kugel abzukriegen, wenn die Sache schief ging.

Er, Fouchard, war auf den ungewöhnlichen Gedanken verfallen, mit ihnen Handel zu treiben. Da sie das Land nach jeder Richtung durchstreiften, und zwar die Gräben sowohl als die Ställe, so waren sie seine Versorger mit verrecktem Vieh geworden. Kein Rind oder Hammel kam im Umkreise von drei Meilen um, ohne daß sie das Aas nachts aufhoben und ihm zuschleppten. Er bezahlte sie in Mundvorrat, Brot vor allem; ganze Öfen voll mußte Silvine besonders für sie backen. Und wenn er die Franktireurs übrigens auch nicht besonders gern hatte, so bewunderte er sie doch heimlich als geschickte Galgenvögel, die ihre Geschäfte unbekümmert um alle Welt besorgten; und wenn er auch aus seinem Handel mit den Preußen ein Vermögen zog, so lachte er doch innerlich wild auf, wenn er hörte, daß wieder einer von ihnen am Wege mit durchschnittener Kehle gefunden war. »Eure Gesundheit!« begann er wieder und stieß mit den drei Männern an.

Dann wischte er sich die Lippen mit der umgekehrten Hand ab:

»Sagt mal, die haben ja eine ganze Geschichte daraus gemacht, aus den beiden Ulanen, die sie da dicht bei Villecourt ohne Kopf gefunden haben ... Ihr wißt doch, Villecourt steht seit gestern in Flammen: den Urteilsspruch haben sie über das Dorf verhängt, wie sie sagen, um sie dafür zu strafen, daß sie euch aufgenommen haben ... Müßt verständig sein, wißt ihr, und nicht gleich wieder hingehen. Wir bringen euch euer Brot da hinten hin.«

Sambuc spottete laut und zuckte die Achseln. Ach, Quatsch! Die Preußen mochten laufen. Mit einemmal aber wurde er ärgerlich und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Gottsdonnerwetter! Die Ulanen, das ist noch was Ordentliches; aber der andere da, den möchte ich wohl mal so unter vier Augen vornehmen, den andern, den Spion, der bei Euch gedient hat ...«

»Goliath«, sagte Vater Fouchard.

Silvine, die eben ihre Näherei wieder aufgenommen hatte, hielt ganz ergriffen ein und hörte zu.

»Richtig, Goliath! ... Ach, der Gauner! Der kennt die Wälder um Dieulet wie ich meine Tasche; der ist dazu fähig, uns da eines Morgens packen zu lassen; und gerade weil er heute im Malteserkreuz damit geprahlt hat, er wollte es uns schon vor acht Tagen arg besorgen! ... Das Dreckschwein hat damals bei Beaumont ganz sicher die Bayern geführt, nicht wahr? Ihr da?«

»So wahr, wie die Kerze da uns Licht gibt!« bestätigte Cabasse.

»Per amica silentiae Lunae«, setzte Ducat hinzu, dessen Aussprüche sich manchmal etwas verhedderten.

Aber Sambuc brachte den Tisch mit einem abermaligen Faustschlage zum Erzittern.

»Er ist verurteilt, wir haben über ihn zu Gericht gesessen, der Strolch! ... Wenn Ihr mal eines Tages merkt, wo er durchkommt, dann sagt mir doch Bescheid, und sein Kopf soll die Ulanenschädel in der Maas wiederfinden, ach, Gottsdonnerwetter! Jawohl! Dafür bürge ich Euch.«

Nun entstand Stillschweigen. Silvine sah sie mit starren Augen an, ganz blaß.

»Das sind doch alles solche Geschichten, von denen man nicht reden sollte,« fing Vater Fouchard schlau wieder an. »Eure Gesundheit und auf Wiedersehen! Guten Abend!«

Sie hatten die zweite Flasche geleert. Prosper war aus dem Stalle zurückgekommen und legte auch mit Hand an, um von Silvine in einen Sack gesteckte Brote an Stelle der beiden Hammel auf den Karren legen zu helfen. Aber er antwortete nicht einmal und drehte sich um, als sein Bruder und die beiden andern weggingen und mit dem Karren im Schnee verschwanden, indem sie erwiderten:

»Gleichfalls schönen guten Abend und viel Vergnügen!«

Als Vater Fouchard sich am nächsten Tage nach dem Frühstück allein befand, sah er mit einem Male Goliath selbst, groß, dick, mit seinem ruhigen Lächeln auf dem rosigen Gesicht, vor sich. Wenn er sich von dessen plötzlichem Erscheinen auch überrascht fühlte, so ließ er sich das doch nicht merken. Er plierte mit den Augenlidern, während der andere herantrat und ihm bieder die Hand schüttelte.

»Guten Tag, Vater Fouchard!«

Er tat so, als ob er ihn nun erst erkenne.

»Sieh, du bist's, mein Junge! ... Oh! Du bist noch kräftiger geworden! Wie fett du bist!«

Und nun sah er ihn von oben bis unten an, wie er da so mit einer Art Rock aus dickem, blauem Tuch und einer Mütze aus demselben Stoffe vor ihm stand, großartig und selbstzufrieden. Er sprach übrigens ohne jede fremde Betonung mit der etwas klebenden Langsamkeit der Bauern jener Gegend.

»Gewiß, ich bin's, Vater Fouchard ... Ich wollte doch nicht wieder herkommen, ohne Euch mal guten Tag zu sagen.«

Der Alte blieb mißtrauisch. Was hatte er vor, der Mensch da? Hatte er davon gehört, daß die Franktireurs gestern auf dem Hofe gewesen wären? Er wollte schon sehen. Aber trotzdem, solange der da höflich blieb, war es besser, seine Höflichkeit zu erwidern.

»Das war recht, mein Junge, und weil es sehr nett von dir ist, laß uns erst mal einen nehmen.«

Er machte sich die Mühe, selbst zwei Gläser und eine Flasche zu holen. All der Wein, der so getrunken wurde, machte ihm das Herz bluten; aber beim Geschäft mußte man es verstehen, auch einmal etwas anzubieten. Und so wiederholte sich der Vorgang vom Abend vorher, sie stießen mit denselben Bewegungen und denselben Worten miteinander an.

»Eure Gesundheit, Vater Fouchard!«

»Die deinige, mein Junge!«

Dann ließ sich Goliath als alter Freund gehen. Er sah um sich her wie jemand, der sich mit Freuden alle Vorgänge wieder ins Gedächtnis zurückruft. Er sprach übrigens gar nicht über die Vergangenheit, ebensowenig wie über die Gegenwart. Das Gespräch drehte sich lediglich um die große Kälte, die doch Feldarbeiten stark beeinträchtigen müsse; der Schnee hatte glücklicherweise auch sein Gutes, denn er tötete die Insekten. Kaum daß er ganz leise einen gewissen Kummer zum Ausdruck brachte, indem er auf den dumpfen Haß anspielte, die furchtsame Mißachtung, die man ihm in den übrigen Häusern von Remilly bewiesen. Nicht wahr? Jeder gehört doch nun einmal seinem Vaterlande an, und man dient doch einfach seinem Lande, so gut man es versteht. Aber in Frankreich gab es doch allerlei, worüber sich die Leute sonderbare Gedanken machten. Und der Alte sah ihn an und hörte so verständig und so milde zu mit seinem breiten, fröhlichen Gesicht, als sage er sich, der Mann kann doch sicher nicht in übler Absicht zu mir gekommen sein.

»Seid Ihr denn heute ganz allein, Vater Fouchard?«

»O nein, Silvine ist da drin und gibt den Kühen Futter ... Möchtest du Silvine mal sehen?«

Goliath fing an zu lachen.

»Ja gewiß... Ich will Euch ganz offen sagen, ich komme nur Silvines halber.«

Da stand Vater Fouchard ganz beruhigt auf und rief mit voller Stimme:

»Silvine! Silvine! ... Hier ist jemand für dich.«

Dann ging er weg, denn nun hatte er keine Angst mehr, das Mädchen würde das Haus schon beschützen. Wenn das jemand so lange noch festhält, nach Jahren noch, dann ist er verratzt.

Silvine war nicht überrascht, bei ihrem Hereintreten Goliath vorzufinden, der sitzengeblieben war und sie mit einem gutmütigen, etwas verlegenen Lächeln ansah. Sie hatte ihn erwartet und blieb nun, nachdem sie über die Schwelle getreten war, einfach stehen, und ihr ganzes Wesen erstarrte. Und Karlchen, der hinter ihr hergelaufen war, hing sich an ihre Röcke und war höchst erstaunt über den Mann, den er da fand und den er gar nicht kannte.

Ein paar Sekunden lang herrschte verlegenes Schweigen.

»Das ist also der Kleine?« fragte Goliath schließlich mit seiner milden Stimme.

»Ja«, antwortete Silvine hart.

Das Schweigen begann aufs neue. Er war im siebenten Monat ihrer Schwangerschaft fortgegangen und wußte zwar, daß er ein Kind habe, aber er sah es jetzt zum erstenmal. Als verständiger Junge, der überzeugt ist, daß er gute Gründe für sich hat, wollte er sich auch mit ihr auseinandersetzen.

»Sieh mal, Silvine, ich verstehe wohl, daß du auf mich noch böse bist. Aber gerecht ist das doch nicht ... Wenn ich wegging und dir so großen Kummer machte, dann mußtest du dir doch sagen, daß das nur geschah, weil ich nicht mein eigener Herr war. Wenn man Vorgesetzte hat, muß man ihnen gehorchen, nicht wahr? Hätten sie mich hundert Meilen weit zu Fuß weggeschickt, ich wäre gegangen. Und ich konnte doch natürlich nicht reden; es hat mir das Herz abgedrückt, so ohne gute Nacht zu sagen von dir weggehen zu müssen ... Heute, mein Gott! Ich will dir gar nicht erzählen, daß ich ganz sicher wiedergekommen wäre. Ich habe indessen stets darauf gerechnet, und da bin ich, siehst du ...«

Sie hatte den Kopf abgewendet und sah durch das Fenster nach dem Schnee im Hofe, als wäre sie fest entschlossen, nicht auf ihn zu hören. Da ihn diese Mißachtung, dies hartnäckige Schweigen besorgt machte, unterbrach er seine Erklärungen, indem er sagte:

»Weißt du, du bist noch schöner geworden!«

Sie war tatsächlich wunderschön in ihrer Blässe, mit den prachtvollen großen Augen, die ihr ganzes Gesicht leuchten ließen. Ihre schweren schwarzen Haare bedeckten ihren Kopf wie ein Helm ewiger Trauer.

»Komm, sei nett! Du mußt doch merken, daß ich dir nichts Böses tun will ... Wenn ich dich nicht lieb hätte, wäre ich doch sicher nicht wiedergekommen ... Wo ich aber doch nun mal hier bin und alles wieder in die Reihe kommt, werden wir uns doch wiedersehen, nicht wahr?«

Mit einer raschen Bewegung war sie zurückgewichen und sah ihm nun ins Gesicht:

»Niemals!«

»Wieso niemals? Bist du denn nicht meine Frau, und ist denn das nicht unser Kind?«

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als sie langsam sagte:

»Hört, wir machen besser sofort Schluß damit ... Ihr habt Honoré gekannt, ich liebte ihn und habe niemals einen andern als ihn geliebt. Er ist tot, Ihr habt ihn mir dort unten getötet ... Nie wieder werde ich die Eure! Niemals!«

Sie hatte die Hand zum Schwur erhoben, und schwur nun mit einem derartigen Haß in der Stimme, daß er einen Augenblick ganz sprachlos blieb und dann leise fortfuhr, wobei er sie aber nicht länger duzte:

»Ja, ich wußte es, Honoré ist tot. Er war ein recht netter Kerl. Aber was wollt Ihr? Andere sind auch gefallen in diesem Kriege ... Und dann schien mir doch von dem Augenblicke an, wo er tot war, da gäbe es doch kein Hindernis mehr; denn schließlich, laßt Euch mal daran erinnern, Silvine, ich war doch nicht roh, Ihr habt doch selbst eingewilligt ...«

Aber er brachte den Satz nicht zu Ende, so gänzlich fassungslos sah er sie plötzlich vor sich, beide Hände vorm Gesicht, als wollte sie sich zerreißen.

»Ah ja, das ist es ja! Das ist es, was mich ganz verrückt macht! Warum habe ich denn nur eingewilligt, wo ich Euch doch nicht liebhatte? ... Ich kann mich nicht mehr drauf besinnen, ich war so traurig, so krank über Honorés Weggang, und es kam vielleicht, weil Ihr von ihm spracht und es so aussah, als hättet Ihr ihn gern ... Mein Gott! Wie viele Nächte habe ich zugebracht, um alle Tränen meines Leibes zu weinen, wenn ich daran dachte! Es ist scheußlich, wenn man etwas getan hat, was man doch nicht wollte und sich nachher nicht erklären kann, warum man es getan hat... Und er hat mir vergeben, er hat mir gesagt, daß, wenn diese Schweinehunde von Preußen ihn nicht umbrächten, dann wollte er mich trotzdem heiraten, sobald er vom Dienst frei wäre ... Und Ihr glaubt, ich könnte wieder zu Euch zurückkommen? Ah! Seht! Unter dem Messer würde ich noch nein sagen, nein, niemals!«

Diesmal verdüsterte sich Goliaths Miene. Er hatte sie als so unterwürfig gekannt und fand sie nun so unerschütterlich, von wilder Entschlossenheit. So ein guter Kerl er auch war, er wollte sie haben, und wenn es auch mit Gewalt wäre, nun er der Herr war; und wenn er ihr seinen Willen nicht mit Gewalt aufzwang, so geschah das aus angeborener Klugheit, aus gefühlsmäßiger, geduldiger Schlauheit. Der Riese mit den dicken Fäusten liebte keine Aufregungen. Er dachte auch schon an ein anderes Mittel, um sie zur Unterwerfung zu bringen.

»Schön! Wenn Ihr nichts mehr von mir wissen wollt, dann nehme ich den Kleinen mit.«

»Wieso, den Kleinen?«

Karlchen, an den sie nicht gedacht hatte, war an seiner Mutter Röcken hängen geblieben und mußte an sich halten, um nicht bei ihrem Streit in Schluchzen auszubrechen. Und Goliath, der nun von seinem Stuhle aufstand, trat näher.

»Nicht wahr? Du bist doch mein Kleiner, ein kleiner Preuße ... Komm, ich will dich mitnehmen!«

Aber Silvine hatte ihn schon zitternd in ihre Arme gerissen und drückte ihn gegen ihre Brust.

»Er ein Preuße? Nein! Ein Franzose ist er, in Frankreich geboren!«

»Ein Franzose? Seht ihn doch mal an, und dann seht mich an! Er ist doch mein Ebenbild! Sieht er Euch denn etwa ähnlich?«

Nun erst sah sie auf den großen blonden Burschen mit seinem krausen Bart und Haar, dem dicken, rosigen Gesicht, in dem die dicken blauen Augen wie aus Porzellan blinkerten. Und es war ja wahr, der Kleine hatte denselben gelben Schopf, dieselben Backen, dieselben hellen Augen, die ganze Rasse von drüben in sich. Sie fühlte, wie sie selbst anders beschaffen war mit ihren schwarzen Ringelhaaren, die ihr aus dem Haarknoten ungeordnet über die Schulter herabglitten.

»Ich habe ihn gemacht und mir gehört er!« fing sie voller Wut wieder an. »Ein Franzose, der niemals ein Wort vom Eurem dreckigen Deutsch verstehen wird, ja! Ein Franzose, der eines Tages losziehen und Euch alle totschlagen wird, um die zu rächen, die ihr getötet habt!«

Karlchen fing an zu weinen und zu schreien und krampfte sich um ihren Hals.

»Mama, Mama, ich bin bange, bring' mich weg!«

Da trat Goliath, der offenbar keinen Lärm erregen wollte, wieder zurück und sagte nur noch mit harter Stimme, während er sie aufs neue duzte:

»Paß genau auf das, was ich dir jetzt sage, Silvine ... Ich weiß alles, was hier vorgeht. Ihr nehmt die Franktireurs aus dem Walde von Dieulet auf, den Sambuc da, der ein Bruder eures Knechts ist, einen Strolch, den ihr mit Brot versorgt. Und ich weiß, daß der Knecht, der Prosper, ein Chasseur d'Afrique ist, ein Fahnenflüchtiger, der uns gehört; und ich weiß auch, daß ihr einen Verwundeten verbergt, einen andern Soldaten, den ein Wort von mir auf die Festung nach Deutschland bringt. Nicht wahr? Siehst du, ich bin gut unterrichtet ...«

Sie hörte ihn jetzt stumm, erschreckt an, während Karlchen an ihrem Halse mit seiner kleinen Stimme immer wieder stammelte:

»O Mama, Mama! Bring' mich weg, ich bin so bange!«

»Na schön!« begann Goliath wieder, »ich bin wahrhaftig kein Bösewicht und habe auch nicht gern Stänkereien, das mußt du selbst sagen; aber ich schwöre dir, ich lasse sie alle verhaften, Vater Fouchard und die andern, wenn du nicht nächsten Montag in deiner Kammer auf mich wartest ... Und den Kleinen da nehme ich auch und schicke ihn dort unten hin zu meiner Mutter, die sehr froh sein wird, wenn sie ihn hat; denn von dem Augenblicke an, wo du mit mir brechen willst, gehört er mir ... Nicht wahr? Ich brauche bloß zu kommen und ihn zu holen, denn hier ist ja dann niemand mehr. Ich bin hier Herr und tue, was mir Spaß macht ... Was wirst du nun tun, sag'!«

Aber sie antwortete nicht, sie preßte nur ihr Kind stärker an sich, als befürchtete sie, er möchte es ihr sofort entreißen; und in ihren großen Augen stiegen Furcht und Abscheu auf.

»Schön, ich lasse dir drei Tage zum Nachdenken ... Du läßt das Kammerfenster offen, das nach dem Obstgarten hinausgeht ... Finde ich das Fenster Montag abend um sieben Uhr nicht offen, lasse ich am nächsten Tage alle deine Leute verhaften und ich komme und hole den Kleinen. Auf Wiedersehen, Silvine!«

Er ging ruhig fort; sie aber blieb wie angewurzelt auf derselben Stelle stehen; der Kopf summte ihr von so mächtigen, so schrecklichen Gedanken, daß sie sich ganz blödsinnig vorkam. Und während des ganzen Tages tobte dieser Sturm in ihr weiter. Zunächst kam ihr der Gedanke, das Kind auf den Arm zu nehmen und gerade vor sich fortzugehen, einerlei wohin: nur was sollte werden, wenn es Nacht würde? Wie sollte sie für ihn und sich einen Lebensunterhalt gewinnen? Und dabei rechnete sie noch gar nicht einmal mit, daß doch die Preußen alle Wege unsicher machten, sie vielleicht festnehmen, zurückbringen würden. Dann tauchte der Plan in ihr auf, mit Jean zu sprechen und Prosper und selbst Vater Fouchard zu benachrichtigen; aber von neuem zögerte sie und scheute zurück: war sie denn der Freundschaft dieser Leute so sicher, um die Gewißheit zu haben, sie würden sie nicht einfach ihrer aller Sicherheit zum Opfer bringen? Nein, nein, sie wollte niemand etwas sagen, sie wollte sich allein aus der Gefahr ziehen, die sie ja auch allein durch ihre starrköpfige Weigerung veranlaßt hatte. Aber was konnte sie aussinnen? Wie sollte sie dies Unglück verhindern? Denn ihre Ehrlichkeit bäumte sich auf; nie hätte sie es sich verziehen, wenn durch ihre Schuld das Verhängnis über so viele Leute hereingebrochen wäre, vor allem über Jean, der sich so nett gegen Karlchen benahm.

Die Stunden liefen hin, der nächste Tag verrann und sie hatte noch nichts gefunden. Sie ging wie gewöhnlich ihren Geschäften nach, fegte die Küche aus, versorgte die Kühe, kochte Suppe. Und was sie bei ihrem völligen Schweigen, bei dem schrecklichen Schweigen, das sie hartnäckig weiter beobachtete, immer mehr in sich aufsteigen fühlte, und was sie von Stunde zu Stunde mehr vergiftete, das war ihr Haß gegen Goliath. In ihm lag ihre Sünde, ihre Verdammung. Ohne ihn hätte sie auf Honoré gewartet, würde Honoré noch am Leben und sie selbst glücklich sein. Mit was für einem Tone hatte er ihr zu verstehen gegeben, daß er jetzt der Herr sei! Das war übrigens wahr, es gab keine Gendarmen mehr, keine Richter, an die sie sich hätte wenden können; nur die Macht hatte noch Recht. Oh! Die Stärkere zu sein, ihn zu packen, wenn er käme, ihn, der davon redete, die andern zu packen! Für sie gab es nur das Kind, das von ihrem Fleische war. Dieser Zufallsvater rechnete gar nicht mit, hatte nie gerechnet. Sie war nicht seine Frau; sie fühlte sich im Gegenteil von einem rasenden Zorn, von dem Widerwillen der Überwundenen aufgestachelt, sobald sie nur an ihn dachte. Ehe sie sich ihm hingäbe, würde sie eher das Kind und dann sich selbst umbringen. Und das hatte sie ihm ja auch gesagt: dies Kind, mit dem er ihr nur ein Geschenk des Hasses gemacht hatte, das wünschte sie bereits erwachsen zu sehen, fähig, sie zu verteidigen; sie sah es schon später mit der Waffe ausziehen und ihnen allen dort drüben das Fell durchbohren. Ah! Jawohl, ein Franzose mehr, ein Franzose, der Preußen töten könnte!

Indessen blieb ihr nur noch ein Tag, und sie mußte einen Entschluß fassen. Gleich in der ersten Minute war ihr in der Fassungslosigkeit ihres armen kranken Hirns ein grausiger Gedanke durch den Sinn gefahren: die Franktireurs zu benachrichtigen und Sambuc den Fingerzeig zu geben, auf den er lauerte. Aber der Gedanke war flüchtig und undeutlich geblieben und sie hatte ihn als zu ungeheuerlich von sich gescheucht; sie mochte auch gar nicht über ihn nachdenken: war denn dieser Mensch nicht schließlich doch der Vater ihres Kindes? Sie konnte ihn nicht ermorden lassen. Dann aber war der Gedanke wiedergekommen, hatte sie allmählich gefangengenommen, war dringlicher geworden; und jetzt drängte er sich ihr mit all der sieghaften Kraft seiner Einfachheit, seiner Unbedingtheit auf. Sobald Goliath tot war, hatten Jean, Prosper, Vater Fouchard nichts mehr zu befürchten. Sie selber konnte Karlchen behalten und niemand ihn ihr mehr streitig machen. Und da war noch etwas, etwas ganz Tiefes, ihr selbst Unbekanntes, das aus der Tiefe ihres Wesens emporstieg: die Notwendigkeit, zu einem Ende zu kommen, die Vaterschaft durch den Untergang des Vaters auszulöschen, die wilde Freude, sich endlich sagen zu können, dann würde sie dastehen, als sei ihr Fehltritt von ihr genommen, wenn sie als Mutter die einzige Herrin über das Kind wäre, ohne Teilhaberschaft irgendeines männlichen Wesens. Noch einen ganzen Tag lang wälzte sie diesen Plan im Kopfe herum und fand nicht mehr die Kraft, ihn von sich zustoßen; wider Willen kam sie auf alle Einzelheiten eines Hinterhaltes zurück, dachte sich seine geringsten Einzelheiten aus und legte sie zurecht. Jetzt wurde er zu einer ganz bestimmten Vorstellung, zu einer Vorstellung, die Boden gefaßt hat, die man nicht weiter abwägt; und als sie schließlich zum Handeln überging, diesem Drange, dem unwiderstehlichen, zu gehorchen, da ging sie wie im Traume umher, unter dem Willen eines andern Wesens, eines, das sie nie zuvor in sich gekannt hatte.

Am Sonntag hatte Vater Fouchard in seiner Unruhe die Franktireurs wissen lassen, daß er ihnen ihren Sack mit Brot in die Steinbrüche von Boisville bringen lassen würde, einem sehr einsamen, zwei Kilometer entfernten Winkel; und da Prosper zu tun hatte, schickte er Silvine mit dem Schiebkarren hin. Führte da nicht das Schicksal selbst die Entscheidung herbei? Hier sah sie einen Ratschluß des Geschickes; sie sprach mit Sambuc und gab ihm ein Stelldichein für den nächsten Abend mit klarer Stimme, ohne fieberhafte Aufregung, als hätte sie gar nicht anders gekonnt. Am nächsten Tage fand sie noch mehr Zeichen, ganz bestimmte Hinweise darauf, daß die Menschen, die Dinge selbst den Mord wollten. Zunächst wurde Vater Fouchard ganz unvermutet nach Raucourt gerufen und ließ den Befehl zurück, sie sollten ohne ihn zu Abend essen, da er voraussah, daß er vor acht Uhr nicht wieder zu Haufe sein könne. Dann bekam Henriette, die erst wieder am Mittwoch Nachtwache haben sollte, sehr spät noch die Nachricht, sie müsse am Abend die plötzlich unwohl gewordene Diensttuerin vertreten. Und da Jean seine Kammer nicht verließ, einerlei, was für Geräusche er auch hörte, so blieb nur noch Prospers Dazwischenkommen zu befürchten. Er war nicht dafür zu haben, zu mehreren einen Menschen umzubringen. Als er aber seinen Bruder mit seinen beiden Leutnants daherkommen sah, da trat der Widerwillen gegen diese ekelhaften Gesellen vor seinem Abscheu gegen die Preußen zurück: gewiß, retten würde er keinen von ihnen, von diesen Drecklümmeln, und würde es ihm in noch so widerlicher Weise besorgt; und so zog er es vor, zu Bett zu gehen und den Kopf in den Kissen zu vergraben, um nichts zu hören und damit nicht in die Versuchung zu kommen, sich als Soldat benehmen zu müssen.

Es war ein viertel vor sieben, und Karlchen wollte und wollte nicht einschlafen. Für gewöhnlich fiel ihm der Kopf auf den Tisch, sobald er seine Suppe gegessen hatte.

»Komm, schlaf', mein Liebling,« wiederholte Silvine, die ihn in Henriettes Kammer gebracht hatte; »siehst du, hier hast du es gut in der großen Baba deiner lieben Freundin.«

Aber das Kind geriet über dies unverhoffte Vergnügen erst recht außer sich vor Entzücken; es strampelte und lachte zum Ersticken.

»Nein, nein ... Bleib', kleine Mutti! ... Spiel' mit mir, kleine Mutti!«

In ihrer Geduld zeigte sie sich von äußerster Sanftmut und wiederholte aufs zärtlichste:

»Nun mach' baba, mein Liebling ... mach' baba, mir zuliebe!«

Und schließlich schlief das Kind mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Sie nahm sich nicht die Mühe, es auszuziehen, sondern deckte es nur warm zu und ging fort, ohne den Schlüssel umzudrehen, da es für gewöhnlich fest schlief.

Nie hatte Silvine sich so ruhig gefühlt, so klaren und lebhaften Sinnes. Sie hatte eine Raschheit des Entschlusses, eine Leichtigkeit in ihren Bewegungen, wie losgelöst von ihrem Körper, als handelte sie unter dem Antriebe dieses andern, das sie nicht kannte. Bereits hatte sie Sambuc mit Cabasse und Ducat hereingelassen und ihnen größte Vorsicht anempfohlen; und dann führte sie sie in ihre Kammer und stellte sie rechts und links vom Fenster auf, das sie trotz der großen Kälte offen ließ. Es herrschte tiefe Finsternis; der Raum wurde nur durch den Widerschein des Schnees erhellt; Todesschweigen lag über der Landschaft; unendlich rannen die Minuten dahin. Bei dem leichten Geräusch näherkommender Schritte ging Silvine heraus, um sich wieder in die Küche zu setzen, wo sie unbeweglich, ihre großen Augen auf die Kerzenflamme geheftet, wartete.

Es dauerte noch recht lange; Goliath strich erst um den Hof, ehe er sich weiterwagte. Er glaubte die junge Frau zu gut zu kennen und wagte es deshalb, nur mit einem Revolver im Gurt herzukommen. Aber ein gewisses Unbehagen warnte ihn; er stieß das Fenster ganz auf und rief leise, indem er den Kopf vorstreckte:

»Silvine! Silvine!«

Da er das Fenster offen fand, hatte sie es sich also überlegt und nachgegeben. Das freute ihn sehr, wenn er es auch lieber gesehen hätte, sie hätte ihn selbst empfangen, um es ihm zu versichern. Zweifellos hatte Vater Fouchard sie zurückgerufen, um irgend etwas fertigzumachen. Er hob seine Stimme ein wenig.

»Silvine! Silvine!«

Nichts antwortete, kein Hauch. Nun kletterte er über die Fensterbrüstung mit der Absicht ins Zimmer, sich sofort in das Bett hineinzuwühlen und sie unter der Decke zu erwarten; so kalt war es.

Plötzlich entstand ein wütendes Gedränge, Füßetrampeln, Ausrutschen unter ersticktem Fluchen und Röcheln. Sambuc und die beiden andern hatten sich auf Goliath gestürzt; aber trotz ihrer Überzahl konnten sie den Riesen nicht überwältigen, dessen Kräfte die Gefahr verzehnfachte. In der Finsternis hörte man das Krachen ihrer Gliedmaßen, die ächzenden Anstrengungen ihres Ringens. Glücklicherweise war ihm der Revolver entfallen. Eine Stimme, die Cabasses, stammelte ganz erstickt: »Die Stricke, die Stricke!« während Ducat Sambuc das Bündel Stricke hinreichte, mit dem sie sich vorsichtigerweise versehen hatten. Nun kam es zu einem wilden, sich unter Fußtritten und Faustschlägen abspielenden Vorgange; zuerst wurden ihm die Beine gebunden, dann die Arme gegen die Seiten, dann der ganze Körper unter Hin- und Hertasten und allen möglichen plötzlichen Seitensprüngen mit einem derartigen Aufwand an Umschlingungen und Knoten umschnürt, daß der Mann wie in einen Netz gefangen war, dessen Maschen ihm ins Fleisch schnitten. Er schrie fortwährend, und Ducats Stimme fing immer dagegen an: »Halt doch's Maul!« Die Schreie hörten auf, Cabasse hatte ihm roh ein altes blaues Taschentuch über den Mund gebunden. Endlich verpusteten sie sich und trugen ihn wie einen Ballen in die Küche, wo sie ihn auf den großen Tisch neben die Kerze legten.

»Ah, der Dreckpreuße!« fluchte Sambuc und wischte sich die Stirn ab, »der hat uns schön zu schaffen gemacht! ... Sagt mal, Silvine, steckt doch mal eine zweite Kerze an, damit man es ordentlich sehen kann, das Herrgottsschwein da!«

Mit weit aufgerissenen Augen in dem bleichen Gesicht war Silvine aufgestanden. Sie äußerte kein Wort, sie steckte eine andere Kerze an und stellte sie sogleich neben Goliaths Kopf, der nun lebhaft erhellt zwischen den beiden Wachskerzen sichtbar wurde. Und in diesem Augenblick trafen ihre Blicke zusammen: er flehte sie betäubt, von Furcht gepackt an; aber sie schien ihn nicht zu verstehen; sie wich bis an die Anrichte zurück und blieb aufrecht mit verbissener, eisiger Miene stehen.

»Der Teufel hat mir den halben Daumen abgebissen,« schimpfte Cabasse, dem die Hand blutete. »Muß ihm dafür irgend was wieder zerbrechen!«

Er hob schon den Revolver, den er wieder aufgenommen hatte, als Sambuc ihn entwaffnete.

»Nein, nein, keine Dummheiten! ... Wir sind doch keine Räuber, wir sind doch Richter ... Hörst du, du Preußenschwein, wir wollen über dich zu Gericht sitzen; brauchst nicht bange sein, wir achten auch das Recht auf Verteidigung ... Selbst sollst du dich allerdings nicht verteidigen, denn wenn wir dir den Maulkorb abnehmen, schreist du uns ja die Ohren kaputt. Aber ich will dir sofort einen Anwalt geben, und zwar einen berühmten!«

Dann holte er drei Stühle und setzte sie in eine Reihe, worauf er, wie er sagte, einen Gerichtshof einsetzte, sich selbst in die Mitte und rechts und links neben sich seine beiden Leutnants. Alle drei setzten sich, und dann stand er wieder auf und fing nun mit einer spöttischen, allmählich breiter und breiter werdenden Langsamkeit an zu reden, die jedoch mit dem flammenden Zorne des Rächers durchsetzt war.

»Ich bin Vorsitzender und öffentlicher Ankläger zugleich. Das ist zwar nicht ganz ordnungsmäßig, aber wir sind hier zu wenig ... Also ich klage dich an, daß du nach Frankreich gekommen bist, um uns auszuspionieren, so daß du das an unsern Tischen gegessene Brot mit schmutzigstem Verrat bezahlt hast. Du bist doch die Hauptursache unseres Unglücks, du Verräter du, denn du hast die Bayern nach dem Gefecht bei Nouart in der Nacht durch die Wälder von Dieulet und Beaumont geführt. Man muß schon lange in unserm Lande gelebt haben, um auch die kleinsten Wege so zu kennen; und wir sind unerschütterlich überzeugt, daß du gesehen hast, wie du die Artillerie über geradezu scheußliche Wege geführt hast, die schon derart in Schlammströme verwandelt waren, daß acht Pferde vor jedes Geschütz gespannt werden mußten. Wenn man sich die Wege ansieht, sollte man es nicht für möglich halten, daß ein Armeekorps hier hat durchkommen können ... Ohne dich, ohne dein Verbrechen, daß du es dir erst bei uns gemütlich gemacht und uns nachher verkauft hast, hätte die Überraschung bei Veaumont nicht stattgefunden, wir wären nicht nach Sedan gegangen und hätten am Ende euch verhauen. Ich rede gar nicht von dem ekelhaften Geschäft, das du jetzt hier treibst, von der Frechheit, mit der du hier als Sieger wieder auftrittst und nun arme Leute anzeigst und vor dir zittern machst ... Du bist ein hundsgemeiner Strolch, und ich beantrage die Todesstrafe.«

Alles schwieg. Er hatte sich wieder hingesetzt und sagte endlich:

»Ich übertrage Ducat das Amt als dein Verteidiger ... Er ist Gerichtsvollzieher gewesen und hätte es ohne seine kleinen Leidenschaften sehr weit gebracht. Du siehst, wir verweigern dir nichts und sind sehr zuvorkommend.«

Goliath, der keinen Finger rühren konnte, wandte die Augen zu seinem Stegreifverteidiger. Nur seine Augen ließen erkennen, daß er noch lebte, diese Augen voll glühendsten Flehens unter der leichenblassen Stirn, von der trotz der Kälte der Angstschweiß in dicken Tropfen herablief.

»Meine Herren,« begann Ducat seine Verteidigung, nachdem er aufgestanden war, »mein Schutzbefohlener ist tatsächlich der ekelhafteste aller Strolche, und ich würde mich nicht dazu hergeben, ihn zu verteidigen, wenn ich nicht zu seiner Entschuldigung anführen müßte, daß sie dort drüben in seinem Lande alle so sind ... Sehen Sie ihn nur an, und Sie können an seinen Augen sehen, wie erstaunt er darüber ist. Er begreift sein Verbrechen gar nicht. In Frankreich fassen wir unsere Spione nur mit Zangen an; dort drüben dagegen ist Spionieren ein ehrenwerter Beruf, eine verdienstvolle Art, dem Lande zu dienen ... Ich möchte mir sogar gestatten zu sagen, meine Herren, sie haben vielleicht gar nicht so unrecht damit. Unsere edlen Gefühle machen uns alle Ehre, aber das Schlimme ist eben, daß wir uns haben schlagen lassen. Wenn ich mich so ausdrücken darf, quos vult, perdere Jupiter dementat... Sie werden verstehen, meine Herren.«

Er setzte sich wieder, und dann begann Sambuc aufs neue:

»Und du, Cabasse, hast du nichts für oder wider den Angeklagten vorzubringen?«

»Ich möchte sagen,« schrie der Provenzale, »daß wir mit dem Satan da manches ins reine zu bringen haben ... Ich habe allerlei Arger in meinem Dasein gehabt; aber mit Gerichtssachen mag ich keinen Spaß treiben, das bringt Unglück ... Den Tod! Den Tod!«

Feierlich war Sambuc wieder aufgestanden.

»Also das ist euer beider Urteilsspruch ... der Tod?«

»Jawohl! Jawohl! Der Tod!«

Die Stühle wurden zurückgestoßen, er trat zu Goliath und sagte:

»Das Urteil ist gesprochen, du mußt sterben.«

Die beiden Kerzen brannten wie Wachskerzen mit langen Dochten rechts und links neben dem verfallenen Gesicht Goliaths. Er machte eine solche Anstrengung, um sie um Gnade anzuflehen, um Worte herauszubrüllen, an denen er erstickte, daß das blaue Taschentuch über seinem Munde sich mit Schaum durchtränkte; es war schrecklich, dieser zum Stillschweigen gezwungene Mensch, der mit einer Flut von in der Kehle steckengebliebener Erklärungen und Bitten sterben sollte.

Cabasse lud den Revolver.

»Soll ich ihm den Schädel zerschmettern?« fragte er.

»Ah nein, nein!« rief Sambuc, »das könnte ihm gerade so passen.«

Und dann wandte er sich wieder zu Goliath:

»Du bist kein Soldat, du verdienst nicht die Ehre, mit 'ner Kugel im Kopfe loszukommen ... Nein! Du sollst als das Dreckschwein von Spion verrecken, das du nun mal bist.«

Er drehte sich wieder um und fragte höflich:

»Silvine, ich möchte Euch nichts befehlen, aber ich möchte wohl einen Kübel haben.«

Silvine hatte sich während der Gerichtsverhandlung nicht gerührt. In der Zwangsvorstellung, die sie schon seit zwei Tagen vorwärts trieb, wartete sie mit starrem Gesicht wie geistesabwesend. Und als er nun von ihr einen Kübel verlangte, gehorchte sie ohne weiteres und verschwand eine Minute in der Vorratskammer nebenan; dann kam sie mit dem großen Kübel wieder, in dem sie Karlchens Wäsche zu waschen pflegte.

»Halt! Setzt ihn hier mal unter den Tisch, an den Rand.«

Sie setzte ihn dorthin, und als sie sich wieder erhob, trafen ihre Augen abermals auf Goliaths Augen. In dem Blicke des Elenden lag ein letztes Flehen, aber auch das Aufbäumen eines Menschen, der nicht sterben will. In ihr jedoch war in diesem Augenblicke nichts als die Frau, nichts als das Verlangen nach diesem Tode, auf den sie wie auf eine Erlösung wartete. Wieder wich sie bis an die Anrichte zurück und blieb dort stehen.

Sambuc machte den Tischaufzug auf und nahm ein großes Küchenmesser heraus, mit dem Speck geschnitten wurde.

»Weil du einmal ein Schwein bist, will ich dich auch wie ein Schwein abstechen.«

Er beeilte sich gar nicht, sondern überlegte mit Cabasse und Ducat, wie sie das Abschlachten auf die passendste Weise vornehmen könnten. Sie zankten sich sogar noch darüber, weil Cabasse behauptete in seinem Lande, in der Provence, stächen sie die Schweine mit dem Kopfe nach unten ab, während Ducat ärgerlich dagegen schrie, das müsse er als eine barbarische und unbequeme Art und Weise ansehen.

»Zieht ihn über den Tischrand her, über den Kübel, damit wir keine Flecken machen.«

Sie schoben ihn vorwärts, und Sambuc ging nun ganz ruhig und ordnungsmäßig zu Werke. Mit einem einzigen Schnitt des großen Messers schlitzte er ihm die Gurgel querüber auf. Aus der durchschnittenen Schlagader begann das Blut sofort mit dem leisen Geräusch eines Wasserhahnes in den Kübel zu laufen. Er hatte die Wunde möglichst klein gehalten; kaum ein paar Tropfen spritzten unter dem Drucke des Herzens über. Wenn der Tod hierdurch um so langsamer eintrat, so machten sich dafür so gut wie gar keine Zuckungen bemerkbar, denn die Stricke waren fest, und der Körper blieb vollkommen unbeweglich. Keine Erschütterung, kein Röcheln. Nur auf dem Gesicht konnten sie den Todeskampf verfolgen, auf der von Todesangst zerwühlten Larve, aus der das Blut Tropfen für Tropfen zurücktrat, deren Hautfarbe allmählich zu der Weiße eines Leintuches verblaßte. Auch die Augen wurden leer. Sie wurden trübe und erloschen.

»Sagt mal, Silvine, einen Schwamm müssen wir aber doch wohl haben.«

Aber sie antwortete nicht; sie hielt beide Arme in einer unbewußten Bewegung gegen ihre Brust gedrückt und blieb wie angenagelt, die Kehle wie von einem eisernen Bande zusammengeschnürt, auf den Fliesen stehen. Mit einem Male bemerkte sie dann, daß Karlchen auch da war und an ihren Röcken hing. Er war zweifellos aufgewacht und hatte sich die Tür aufmachen können; niemand hatte die leichten Tritte des neugierigen Knirpses hereinkommen hören. Wie lange mochte er wohl schon hier sein, so halb verborgen hinter seiner Mutter? Auch er sah zu. Mit seinen großen blauen Augen und dem gelben Schopfe sah er das Blut fließen, den dünnen roten Strahl, der den Kübel allmählich vollfüllte. Hatte er zuerst nichts begriffen? Wurde er jetzt von einem Hauche des Entsetzlichen gestreift, begriff er gefühlsmäßig das Abscheuliche, bei dem er dabei war? Er stieß plötzlich einen entsetzten Schrei aus.

»O Mama! O Mama! Bring' mich weg! Ich bin so bange!«

Silvine empfand einen Stoß, der sie ganz und gar in Verwirrung brachte. Das war zuviel, es brach etwas in ihr zusammen; endlich nahm der Schrecken diese Kraft, diese Überreizung von ihr, mit der ihre Zwangsvorstellung sie zwei Tage lang aufrechtgehalten hatte. Das Weib in ihr wurde wieder lebendig; sie brach in Tränen aus und bewegte sich wie eine Verrückte, indem sie Karlchen in die Höhe riß und ihn heftig ans Herz drückte. Und dann lief sie wie rasend mit ihm fort; sie konnte nichts mehr hören, nichts mehr sehen; sie hatte nur noch den einen Drang, irgendwie zu verschwinden, sich in dem ersten besten Loch zu verbergen, das sie fände.

Gerade jetzt war auch Jean zu dem Entschluß gekommen, leise seine Tür zu öffnen. Obwohl er sich sonst nie über Geräusche auf dem Hofe beunruhigt gefühlt hatte, waren ihm doch schließlich das viele Gehen und Kommen und die mancherlei Stimmen, die er gehört hatte, sonderbar erschienen. Und gerade bei ihm, in seiner ruhigen Kammer, brach Silvine zusammen, mit fliegenden Haaren, schluchzend und so von Schmerz übermannt, daß er zunächst ihre abgerissen zwischen den Zähnen hervorgestotterten Worte gar nicht verstehen konnte. Sie wiederholte immer dieselbe Bewegung, wie um eine häßliche Erscheinung von sich wegzuscheuchen. Endlich begriff er und sah nun auch seinerseits den Hinterhalt, das Halsabschneiden, die Mutter dabeistehend, den Kleinen an ihren Röcken hängend und zusehend, wie seinem Vater die Kehle abgeschnitten wurde und das Blut herabfloß; und ganz vereist blieb auch er stehen, sein Bauern- und Soldatenherz von Jammer überwältigt. Ach! Der Krieg, dieser abscheuliche Krieg, der all die armen Leute in wilde Bestien verwandelte, der den scheußlichsten Haß säte, den Sohn vom Blute des Vaters bespritzt werden ließ und so den Rassenstreit verewigte; er mußte ja später in einem derartigen Abscheu gegen die väterliche Familie heranwachsen, daß er vielleicht eines Tages ausziehen würde, um sie zu vernichten! Saaten des Verbrechens, aus denen eine Ernte des Schreckens hervorgehen mußte.

Auf einen Stuhl gesunken und Karlchen mit wilden Küssen bedeckend, wiederholte Silvine ohne Ende ein und denselben Ausdruck, den Schrei ihres blutenden Herzens.

»Ach, mein armer Junge, jetzt können sie dich nicht länger einen Preußen schimpfen ... Ach, mein armer Junge, jetzt können sie dich nicht länger einen Preußen schimpfen!«

Jetzt trat auch Vater Fouchard gerade in die Küche. Er hatte als Herr des Hauses angeklopft, und sie mußten ihm wohl öffnen. Er fühlte sich nicht gerade angenehm überrascht, als er den Toten auf seinem Tische fand und einen Kübel voll Blut darunter. Natürlich wurde er bei seiner wenig geduldigen Sinnesart wütend.

»Sagt mal, ihr Schweinigel, hättet ihr eure Schmutzereien nicht auch draußen vornehmen können? Was? Haltet ihr denn mein Haus für einen Misthaufen, daß ihr mir meine Sachen mit solchen Geschichten verschmiert?«

Als Sambuc sich nun entschuldigte und ihm den Vorgang erklärte, wurde der Alte von Furcht ergriffen und fuhr nur noch aufgeregter fort:

»Und dann denkt ihr wohl, ich soll ihn beiseite schaffen, euren Toten da? Haltet ihr das für anständig, bei jemand einen Toten abzuladen, ohne ihn zu fragen, was er mit ihm machen will? Laßt nur mal 'nen Streiftrupp hereinkommen, und ich läge schön drin! Ihr macht euch nichts draus, ihr fragt nicht danach, ob ich nicht mein Fell dabei lassen muß ... O ja! Da kriegt ihr es aber mit mir zu tun, wenn ihr mir euren Toten da nicht sofort mitnehmt! Hört ihr! Nehmt ihn beim Kopf, bei den Pfoten, wo ihr wollt; aber daß da nichts liegen bleibt und daß hier in drei Minuten auch kein Haar mehr von ihm zu finden ist!«

Schließlich erhielt Sambuc von Vater Fouchard einen Sack, obwohl ihm das Herz blutete, daß er noch auch etwas dafür hergeben sollte. Er suchte ihn unter den schlechtesten aus und sagte dabei, ein Sack mit Löchern drin wäre immer noch gut genug für einen Preußen. Nun hatten Cabasse und Ducat unglaubliche Mühe, Goliath in den Sack hineinzuzwängen: der Körper war zu dick und zu lang, die Füße standen immer nach drüber hinaus. Dann brachten sie ihn hinaus und luden ihn auf den Karren, der ihnen zum Wegbringen ihres Brotes diente.

»Ich gebe Euch mein Ehrenwort,« erklärte Sambuc, »wir besorgen ihn richtig in die Maas.«

»Vor allem«, bestand Vater Fouchard, »bindet ihm ein paar ordentliche Steine an die Pfoten, damit der Satan nicht wieder hochkommt.«

Und in der Nacht, die so dunkel über dem bleichen Schnee dalag, zog der kleine Zug von dannen und verschwand ohne weiteres Geräusch als das leise klagende Quietschen des Schiebkarrens.

Sambuc wird stets beim Haupte seines Vaters schwören, er hätte ihm ein paar ordentliche Steine an die Pfoten gebunden. Indessen, der Körper kam wieder hoch; die Preußen fanden ihn nach drei Tagen bei Pont-Maugis in den dichten Sträuchern; und sie hatten eine gewaltige Wut, als sie diesen Toten aus dem Sack hervorholten, der wie ein Schwein am Halse abgestochen war. Es hagelte die schrecklichsten Drohungen, Quälereien, Haussuchungen. Zweifellos mußten wohl ein paar Einwohner geschwatzt haben; denn eines Abends wurden der Ortsvorsteher von Remilly und Vater Fouchard verhaftet und des Unterhaltens von Beziehungen zu den Franktireurs beschuldigt, denen man diese Tat zur Last legte. Und Vater Fouchard benahm sich in dieser Notlage wirklich großartig mit seinem Gleichmut eines alten Bauern, der ganz genau weiß, welch unüberwindliche Kraft Ruhe und Schweigen innewohnt. Sie würden schon sehen. Im Lande hieß es, er hätte aus den Preußen bereits ein mächtiges Vermögen herausgezogen, ganze Säcke von Talern, die er irgendwo vergraben hätte, einen nach dem andern, wie er sie gewonnen hätte.

Als Henriette diese Geschichte hörte, wurde sie schrecklich unruhig. Jean fürchtete von neuem, seine Wirte bloßzustellen, und wollte fort, obwohl der Doktor ihn noch viel zu schwach fand; aber sie blieb fest, daß er noch etwa vierzehn Tage warten müsse; denn sie fühlte sich selbst angesichts der Notwendigkeit der so baldigen Trennung von doppelter Traurigkeit erfüllt. Nach der Verhaftung hatte Jean entweichen können und sich tief in der Scheune versteckt; aber schwebte er nicht trotzdem dauernd in Gefahr, entdeckt und weggeführt zu werden, falls neue Nachforschungen angestellt werden sollten? Sie zitterte übrigens auch für das Schicksal ihres Ohms. So entschloß sie sich denn eines Morgens, nach Sedan zu gehen und die Delaherches aufzusuchen, die bei sich, wie ihr bestätigt wurde, einen sehr einflußreichen preußischen Offizier wohnen hatten.

»Silvine,« sagte sie beim Weggehen, »paßt gut auf unsern Kranken, gebt ihm mittags seine Brühe und laßt ihn um vier Uhr seine Arznei einnehmen.«

Die Magd war über ihren gewohnten Beschäftigungen wieder ganz das mutige, unterwürfige Mädchen geworden und leitete den Hof jetzt in Abwesenheit ihres Herrn, während Karlchen um sie herum lachte und sprang.

»Seien Sie unbesorgt, Frau Weiß, es soll ihm an nichts fehlen. Ich will ihn schon hätscheln.«


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