Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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Am Tage nach Sedan begannen die deutschen Heere, ihre Menschenfluten weiter gegen Paris vor zu wälzen; die Maasabteilung kam vom Norden durchs Marnetal, während sich die Gruppe des Kronprinzen von Preußen, nachdem sie die Seine bei Villeneuve-Saint-George überschritten hatte, auf Versailles zu wandte, indem sie südlich an der Stadt entlangzog. Und als General Ducrot an dem lauen Septembermorgen, an dem ihm das kaum gebildete vierzehnte Korps anvertraut war, sich zu einem Angriff auf diese letztere während ihres Flankenmarsches entschloß, da erhielt Maurice, der mit seinem neuen Regiment, dem hundertundfünfzehnten, in den Wäldern links von Meudon lagerte, den Befehl zum Vorgehen erst, als das Unglück schon entschieden war. Ein paar Granaten hatten genügt, um in einem aus Rekruten gebildeten Zuavenregiment eine derartige Panik hervorzubringen, daß der Rest der Truppen in Auflösung mitgerissen wurde und der Strom der Fliehenden erst hinter den Wällen in Paris wieder zum Stehen kam, wo die Aufregung gewaltig war. Alle Stellungen außerhalb der Südforts waren verloren; und noch am selben Abend wurde der letzte, die Stadt mit Frankreich verbindende Draht, der Telegraph der Westbahn, durchschnitten. Paris war von der Welt abgeschnitten.

Für Maurice war dies ein Abend voll entsetzlicher Trauer. Hätten die Deutschen nur es wagen mögen, sie hätten diese Nacht auf dem Karussellplatz lagern können. Aber sie waren unbedingt vorsichtige Leute und hatten sich für eine Belagerung in den hergebrachten Formen entschieden; sie hatten schon die einzelnen Punkte der Einschließung festgelegt, die Stellungen der Maasabteilung im Norden von Croissy an der Marne sich durch Epinay ziehend, eine andere Linie für die dritte Heeresgruppe im Süden von Chennevières bis Châtillon und Bougival, wahrend das große Hauptquartier der Preußen, der König Wilhelm, Herr von Bismarck und der General von Moltke, die Leitung von Versailles ausüben würden. Die Riesenbelagerung, an die man nicht hatte glauben wollen, war nun zur Tatsache geworden. Diese Stadt mit ihrer acht und eine halbe Meile langen befestigten Umwallung, mit ihren fünfzehn Forts und sechs vorgeschobenen Außenwerken sollte sich nun wie in einem Gefängnis befinden. Das Verteidigungsheer zählte nur das dreizehnte Korps, das durch General Vinoy gerettet und herangeführt worden war, das noch in der Bildung begriffene und General Ducrot anvertraute vierzehnte, die zusammen einen Bestand von achtzigtausend Mann aufwiesen, zu denen noch vierzehntausend Marinemannschaften hinzutraten, und fünfzehntausend Mann Freikorps, hundertfünfzehntausend Mobilgarden, von den dreihunderttausend Nationalgarden gar nicht zu reden, die auf die neun Abschnitte der Wälle verteilt waren. Wenn das auch ein ganzes Volk darstellte, so fehlte es doch an kriegsgewohnten Soldaten voller Manneszucht. Man rüstete die Leute aus und übte sie ein; Paris war nur noch ein mächtiges, befestigtes Lager. Die Vorbereitungen zur Verteidigung wurden von Stunde zu Stunde fieberhafter, die Wege abgeschnitten, die Häuser im Festungsgürtel niedergelegt, die zweihundert schwerkalibrigen Geschütze und die zweitausendfünfhundert andern instand gesetzt, weitere gegossen, für die eine ganze Werkstatt unter der mächtigen vaterländischen Anstrengung des Ministers Dorian aus der Erde emporschoß. Nach Abbruch der Verhandlungen von Ferrières, als Jules Favre die Forderungen Herrn von Bismarcks kennengelernt hatte, die Abtretung des Elsaß, die Besatzung von Straßburg kriegsgefangen, drei Milliarden Entschädigung, da erhob sich ein Schrei des Zornes; die Fortsetzung des Krieges, äußerster Widerstand wurde als für das Leben Frankreichs unerläßliche Bedingung ausgerufen. Selbst ohne Hoffnung auf Sieg mußte Paris sich verteidigen, damit das Vaterland leben könne.

An einem Sonntage gegen Ende September wurde Maurice auf Arbeitsdienst nach dem andern Ende der Stadt geschickt, und die Straßen, denen er folgte, die Plätze, über die er kam, erfüllten ihn mit neuer Hoffnung. Es schien ihm, als hätten sich die Herzen seit der Flucht von Chatillon zu der großen Notwendigkeit emporgeschwungen. Ach! dies Paris, das er als so vergnügungssüchtig gekannt hatte, so voll von den übelsten Fehlern, das fand er nun so einfach, voll so heiterer Tapferkeit, da alle ihre Opfer auf sich nahmen. Man traf nur noch Uniformen an; auch die Gleichgültigsten trugen das Käppi der Nationalgarden. Das öffentliche Leben war wie ein Uhrwerk mit gebrochener Feder stehengeblieben, Industrie, Handel, die Staatsgeschäfte; nur eine Leidenschaft blieb übrig, der Wille zu siegen, der einzige Gegenstand, von dem man noch sprach, der in den öffentlichen Versammlungen Herzen und Sinne ebenso entflammte wie während der Nachtwachen der Besatzungstruppen oder bei den ständigen Ansammlungen der Menge, die die Fußsteige versperrten. So zum Allgemeingut geworden, riß die Einbildung die Seelen mit, und die Spannung trieb das Volk zu edelmütigen, aber gefährlichen Torheiten. Es machte sich bereits ein gewisser Höhepunkt krankhafter Nervenschwäche geltend, eine fieberhafte Sucht, Furcht wie Vertrauensseligkeit zu übertreiben und die Bestie im Menschen beim geringsten Hauch zu entfesseln. Und in der Rue des Martyrs wohnte Maurice einem Vorgange bei, der auch ihn in Leidenschaft versetzte: eine wütende Bande stürzte sich in raschem Anlauf auf ein Haus, in dem man eins der oberen Fenster die ganze Nacht lebhaft von einer Lampe erhellt gesehen hatte, augenscheinlich ein Zeichen für die Preußen in Bellevue außerhalb Paris. Von dieser Gespensterfurcht heimgesucht, lebten manche Bürger nur noch auf ihren Dächern, um die Umgebung abzusuchen. Am Tage vorher hatte man einen Unglücklichen, der auf einen offen auf einer Bank liegenden Stadtplan sah, in einem der Wasserbecken im Tuileriengarten ertränken wollen. Diesen krankhaften Verdacht zog Maurice, der sonst so freier Sinnesart gewesen war, sich ebenfalls zu bei der Erschütterung alles dessen, woran er bisher geglaubt hatte. Er war nicht länger verzweifelt wie am Abend der panischen Flucht von Chatillon, als er besorgt war, ob die französische Armee wohl je soviel männlichen Geist wiederfinden werde, daß sie sich schlagen könne: der Ausfall am 30. September auf l'Hay und Chevilly, der vom 13. Oktober, bei dem die Mobilgarden Bagneur nahmen, endlich der vom 21., bei dem sein Regiment sich einen Augenblick des Parks von Malmaison bemächtigte, stellten seinen Glauben, die ihn verzehrende Flamme seiner Hoffnung, die ein Funke wieder beleben konnte, wieder her. Wenn die Preußen ihr auch überall Einhalt boten, die Truppe hatte sich doch tapfer geschlagen, sie verstand noch zu siegen. Aber Maurices Leiden rührte davon her, wie dies große Paris von höchster Einbildung zur schlimmsten Entmutigung umsprang und trotz alles Dranges, zu siegen, von der Furcht vor Verrat heimgesucht wurde. Mußten nach dem Kaiser und dem Marschall Mac Mahon nicht General Trochu und General Ducrot nur mittelmäßige Führer bilden, ahnungslose Werkführer der Niederlage? Die gleiche Bewegung, die das Kaiserreich weggefegt hatte, drohte nun auch die Regierung der nationalen Verteidigung bei der Ungeduld ein paar Gewalttätiger mit sich zu reißen, die die Macht an sich reißen wollten, um Frankreich zu retten. Jules Favre und ihre andern Mitglieder waren dem Volke schon verhaßter als die gestürzten früheren Minister Napoleons III. Da sie die Preußen nicht schlagen wollten, mußten sie andern Platz machen, den Umstürzlern, die gewiß waren, zu siegen, indem sie die Erhebung der Massen ausschrieben und Erfindern ihr Ohr liehen, die die Bannmeile unterminieren oder den Feind durch einen neuartigen Regen griechischen Feuers zu vernichten gedachten.

Am Abend vor dem 31. Oktober wurde Maurice auf diese Weise von dem Übel träumerischer Mutlosigkeit heimgesucht. Er gab sich jetzt Einbildungen hin, über die er früher gelacht hätte. Warum nicht? Herrschten denn nicht Blödsinn und Verbrechen schrankenlos? Konnte nicht inmitten der Umwälzungen, die die ganze Welt auf den Kopf stellten, ein Wunder möglich werden? Seit langem hatte sich in ihm der Groll aufgespeichert, seit der Stunde, als er dort unten vor Mülhausen von Fröschweiler erfahren hatte; an Sedan blutete sein Herz noch wie aus einer frischen, stets aufs neue gereizten Wunde, die der geringste Anstoß wieder aufreißen konnte; die Erschütterung jeder neuen Niederlage schwang in ihm nach, sein Körper wurde immer jämmerlicher, der Kopf schwächer von einer so langen Reihe von Tagen ohne Brot, Nächten ohne Schlaf; er fühlte sich durch dies Leben wie in einem Alpdruck so verwirrt, daß er gar nicht mehr wußte, lebte er überhaupt noch; und der Gedanke, all dies Leid könne schließlich nur in einer neuen, nicht wieder gut zu machenden Umwälzung ihr Ende finden, machte ihn ganz närrisch, machte aus diesem gebildeten Manne ein Wesen, das nur noch in einer Gefühlswelt lebte, wieder zum Kinde wurde, das unaufhörlich sich nur von der Erregung des Augenblicks antreiben ließ. Alles, Vernichtung, Ausrottung lieber, als einen Sou, einen Zoll von Frankreichs Boden hergeben! In ihm vollzog sich jetzt die Umwälzung, die unter dem Eindruck der ersten verlorenen Schlachten die Napoleonssage vernichtet hatte, den gefühlsseligen Bonapartismus, den er den heldengedichtartigen Erzählungen seines Großvaters verdankte. Er blieb auch schon gar nicht mehr bei einer wissenschaftlichen, verständigen Republik stehen, er gab sich bereits mit dem gewaltsamen Umsturz ab und glaubte an die Notwendigkeit des Schreckens, um alle Unfähigen und Verräter wegzufegen, die das Vaterland abschlachten wollten. So war er am 31. mit dem Herzen auch bei den Aufrührern, als neue Unheilsnachrichten sich Schlag auf Schlag überstürzten: der Verlust von Le Bourget, das durch die Freiwilligen der Presse in der Nacht vom 27. auf den 28. so tapfer erobert worden war; die Ankunft Herrn Thiers' in Versailles, seine Rückkunft von der Reise durch die Hauptstädte Europas, von der er zurückkehrte, um, wie es hieß, im Namen Napoleons III. zu verhandeln; endlich die Übergabe von Metz, von der er unter all den bereits umlaufenden undeutlichen Gerüchten schreckliche Gewißheit erhielt, der letzte Keulenschlag, ein neues Sedan, bei dem aber die Schande noch größer war. Als er am nächsten Tage von den Vorgängen im Stadthaus hörte, wie die Meuterer einen Augenblick siegreich gewesen wären, die Mitglieder der Regierung der nationalen Verteidigung bis vier Uhr morgens gefangengehalten hätten, die dann nur durch einen Stimmungswechsel in der zunächst gegen sie wild erregt gewesenen, dann aber beim Gedanken an einen siegreichen Aufstand unruhig gewordenen Bevölkerung gerettet worden seien, da tat es ihm leid um diesen Fehlschlag, um die Kommune, von der vielleicht noch das Heil zu erwarten war, der Ruf zu den Waffen, das Vaterland in Gefahr, all die alten Andenken der Geschichte an ein freies Volk, das nicht sterben will. Herr Thiers wagte gar nicht, nach Paris hereinzukommen, und man war nach Abbruch der Verhandlungen so weit, daß man die Stadt festlich beleuchten wollte.

So lief der Monat November in fieberhafter Ungeduld dahin. Es fanden kleinere Gefechte statt, an denen Maurice nicht teilnahm. Sein Lager befand sich jetzt nach der Seite von Saint-Ouen hinüber; er brannte bei jeder Gelegenheit durch, verzehrt von einem ewigen Hunger nach Neuigkeiten. Wie er selbst, wartete auch Paris in sorgenvoller Spannung. Die Wahlen zum Bezirksvorsteher schienen die politischen Leidenschaften beruhigt zu haben; aber fast alle Gewählten gehörten den am weitesten links stehenden Parteien an, und darin lag ein furchtbares Anzeichen für die Zukunft. Und worauf Paris in dieser neuen Ruhe wartete, das war der große, so lange angekündigte Massenausfall, der Sieg, die Befreiung. Abermals ließ das gar keinen Zweifel zu: sie würden die Preußen über den Haufen rennen, über ihre Leichen gehen. Auf der Halbinsel von Gennevilliers wurden Vorbereitungen getroffen, da man diesen Punkt als den für einen Durchbruch geeignetsten ansah. Dann kam eines Morgens die tolle Freude über die gute Nachricht von Coulmiers, Orleans wäre wieder genommen, die Loireabteilung unterwegs und lagerte schon bei Etampes, wie es hieß. Nun war alles ganz verwandelt; es handelte sich nur noch darum, ihr von der andern Seite der Marne her die Hand zu reichen. Die militärischen Kräfte waren umgebildet, es waren drei Abteilungen geschaffen worden, die eine unter dem Befehl des Generals Clément Thomas aus Bataillonen der Nationalgarde zusammengesetzt, die nächste aus dem dreizehnten und vierzehnten Korps gebildet und um alle möglichst guten, von überallher zusammengeholten Bestandteile vermehrt, die General Ducrot bei dem großen Angriff führen sollte; die letzte schließlich, die Reserve, war lediglich aus Mobilgarden gebildet und unterstand General Vinoy. Unbedingter Glaube hob Maurice empor, als er am 28. November mit den 115ern im Gehölz von Vincennes lagerte. Die drei Korps der zweiten Abteilung lagen dort; manche Leute erzählten sich, das Zusammentreffen mit der Loiregruppe sei auf den nächsten Tag bei Fontainebleau festgesetzt. Dann aber traten sofort die gewöhnlichen dummen Zufälle und Fehler auf; ein plötzliches Hochwasser machte es unmöglich, eine Schiffsbrücke zu schlagen, ärgerliche Befehle verzögerten alle Bewegungen. Die folgende Nacht gingen die 115er als eins der ersten über den Fluß; und von zehn Uhr an war Maurice unter schrecklichem Feuer bei dem Durchbruch durch das Dorf Champigny. Er war wie verrückt; sein Chassepot verbrannte ihm trotz der starken Kälte die Finger. Seit es losging, war sein einziger Wille darauf gerichtet, immer weiter so vorwärts zu dringen, bis sie die Waffenbrüder aus der Provinz dort draußen erreicht hätten. Aber gegenüber Champigny und Bry stieß die Abteilung mit einemmal auf die Mauern des Parks von Coeuilly und Villiers, einen halben Kilometer lange Mauern, die die Preußen zu uneinnehmbaren Festungen gemacht hatten. An dieser Schranke mußte jeder Mut scheitern. Von da an gab es nur noch Zaudern und Rückwärtsfließen; das dritte Korps kam zu spät; das erste und zweite, die sich schon festgerannt hatten, verteidigten Champigny noch zwei Tage lang, bis sie es in der Nacht des zweiten Dezembers nach einem unfruchtbaren Siege im Stiche lassen mußten. In dieser Nacht bezog die ganze Gruppe wieder Lager unter den von Rauhfrost weißen Bäumen des Parks von Vincennes; Maurice weinte, die Füße abgestorben, das Gesicht gegen den eisigen Boden.

Ach! Die jammervollen, trübseligen Tage, die auf diesen Fehlschlag nach so gewaltigen Anstrengungen folgten! Der seit so langer Zeit vorbereitete große Ausfall, der unwiderstehliche Stoß, der Paris befreien sollte, war gescheitert; drei Tage später kündigte ein Brief Herrn von Moltkes an, die Loireabteilung sei geschlagen und Orleans abermals aufgegeben. So war der Kreis, der sich immer enger zusammenzog, jetzt unmöglich mehr zu durchbrechen. Aber Paris schien in dem Fieber seiner Verzweiflung neue Kräfte zu finden. Hungersnot begann zu drohen. Von Mitte Oktober an wurde das Fleisch eingeteilt. Im Dezember war von den großen Rinder- und Hammelherden, die man im Bois de Boulogne im Staube ihres beständigen Getrabes hatte frei laufen lassen, kein Tier mehr übrig, und man mußte anfangen Pferde zu schlachten. Die Getreidevoräte und das später beschlagnahmte Mehl und Getreide sollten Paris Brot für vier Monate liefern. Als das Mehl zu Ende war, mußten auf den Bahnhöfen Mühlen errichtet werden. Auch Brennstoff fehlte; er wurde für das Getreidemühlen, Brotbacken und zur Waffenherstellung aufgespart. Und dies Paris ohne Gas, das nur noch von einigen spärlichen Petroleumlampen erhellt wurde, das unter seinem Eismantel zitterte, dem sein schwarzes Brot und sein Pferdefleisch zugeteilt wurde, dies Paris hoffte trotz alledem und redete von Faidherbe im Norden, Chanzy an der Loire, Bourbaki im Osten, als müßte ein Wunder sie siegreich unter seine Mauern heranführen. Vor den Bäckereien und Schlächtereien warteten endlose Züge im Schnee und munterten sich noch zuweilen an erfundenen großen Siegen auf. Nach der auf jede Niederlage folgenden Niedergeschlagenheit stand die Einbildung hartnäckig wieder auf und flammte sogar höher empor unter dieser Menge, die infolge Leiden und Hunger an Wahnvorstellungen litt. Auf dem Platze vor dem Chateau d'Eau wurde ein Soldat, der von Übergabe sprach, von Vorübergehenden fast umgebracht. Während die Truppe mit ihrem Mute zu Ende war und das Ende herankommen fühlte und nach Frieden verlangte, forderte die Bevölkerung immer wieder den Massenausfall, den Ausfall wie ein Bergstrom; das ganze Volk mit Weibern und Kindern sogar sollte sich auf die Preußen stürzen wie ein aus den Ufern getretener Strom, der alles über den Haufen stürzt und mitreißt.

Und Maurice sonderte sich ab von seinen Gefährten; er fühlte einen wachsenden Haß gegen seinen Soldatenberuf, der ihn als unnützen Schwätzer im Schutze des Mont-Valérien festhielt. Er suchte auch nach Gelegenheiten, um möglichst rasch nach Paris auskneifen zu können, wo sein Herz war. Nur inmitten der Menge fühlte er sich wohl; er versuchte sich zu zwingen, mit ihr zu hoffen. Oft sah er die Ballons abfahren, die alle zwei Tage am Nordbahnhof aufstiegen und Brieftauben und Depeschen mitnahmen. Die Ballons stiegen in den traurigen Winterhimmel und verschwanden; und alle Herzen krampften sich vor Angst zusammen, wenn der Wind sie auf Deutschland zu trieb. Viele mußten verlorengegangen sein. Er selbst hatte zweimal an seine Schwester Henriette geschrieben und wußte nicht, ob sie die Briefe bekommen habe. Das Andenken an seine Schwester, das Andenken an Jean lagen so tief auf dem Hintergrunde der weiten Welt, aus der nichts mehr zu ihm drang, verborgen, daß er nur sehr selten noch an sie dachte wie an geliebte Wesen, die er in einer andern Welt zurückgelassen habe. Sein Dasein war ganz erfüllt durch den fortwährenden Sturm von Niedergeschlagenheit und Aufregung, in dem er jetzt lebte. Von den ersten Tagen des Januar an war es dann eine neue Wut, die ihn aufpeitschte, nämlich über die Beschießung der Stadtviertel auf dem linken Ufer. Er hatte die Verzögerung schließlich dem Menschlichkeitsgefühl der Preußen zugeschrieben, während sie doch nur durch Schwierigkeiten bei der Einrichtung verursacht war. Wenn jetzt eine Granate zwei kleine Mädchen im Val-de-Grâce tötete, war er voll wütender Verachtung gegen die Barbaren, die Kinder töteten und Museen und Bibliotheken zu verbrennen drohten. Nach dem Schrecken der ersten Tage nahm Paris übrigens trotz der Granaten sein Dasein heldenhafter Hartnäckigkeit wieder auf.

Seit dem Stoße bei Champigny war nur auf der Seite nach Le Bourget hin ein neuer unglücklicher Versuch unternommen worden; und an dem Abend, als das Feuer der schweren Geschütze auf den Forts lag und die Hochebene des Avron geräumt werden mußte, verfiel auch Maurice in die Reizbarkeit, die mit größter Heftigkeit die ganze Stadt erfüllte. Der Sturm wachsenden Mißfallens, der General Trochu und die Regierung der nationalen Verteidigung wegzufegen drohte, wuchs durch sie bis zu einem Punkte, der sie zwang, eine letzte, wenn auch unnütze Anstrengung zu unternehmen. Warum weigerten sie sich, die dreihunderttausend Mann Nationalgarden ins Feuer zu führen, die sich immer wieder anboten und ihren Anteil an der Gefahr verlangten? Das war der Ausfall wie ein Bergstrom, den sie schon seit dem ersten Tage forderten, bei dem Paris seine Deiche zerbrach und die Preußen unter der riesigen Flut seiner Bevölkerung ertränkte. Diesem Gelübde von Tapferkeit mußten sie wohl trotz der Gewißheit einer neuen Niederlage nachgeben; um aber das Gemetzel einzuschränken, begnügten sie sich damit, neben der aktiven Truppe die neunundfünfzig Bataillone der mobilisierten Nationalgarde dazu zu verwenden. Und am Abend vor dem 19. Januar war es wie vor einem Fest: eine gewaltige Menschenmenge sah auf den Boulevards und in den Champs-Elysées die Regimenter vorüberziehen, die mit Musik an der Spitze vaterländische Lieder sangen. Kinder und Frauen liefen nebenher, Männer stiegen auf die Bänke, um ihnen flammende Siegeswünsche zuzurufen. Am folgenden Tage wälzte sich dann die ganze Menge nach dem Triumphbogen hin; eine verrückte Hoffnung packte sie, als am Morgen die Nachricht von der Einnahme von Montretout eintraf. Erzählungen wie Heldengedichte liefen umher über den unwiderstehlichen Schwung der Nationalgarden; die Preußen wären einfach über den Haufen gerannt, vor Abend noch würde Versailles genommen sein. Und dann die Bestürzung, als mit sinkender Nacht der unvermeidliche Gegenstoß bekannt wurde. Während die linke Kolonne Montretout besetzte, brach die mittlere, die die Parkmauer von Buzenval durchbrochen hatte, vor einer zweiten, inneren in sich zusammen. Es war Tauwetter eingetreten; ein feiner, anhaltender Regen hatte alle Wege durchweicht, und die Geschütze, die mit Hilfe allgemeiner Unterstützung gegossen waren, in die Paris seine ganze Seele dahingegeben hatte, die konnten nicht kommen. Rechts blieb die Abteilung General Ducrots, die zu spät eingesetzt war, im Rückstand. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, General Trochu mußte den Befehl zum allgemeinen Rückzug geben. Sie gaben Montretout auf, sie gaben Saint-Cloud auf, das die Preußen in Brand steckten. Und als es dunkle Nacht wurde, war am Horizont von Paris nichts mehr zu sehen als diese gewaltige Feuersbrunst.

Jetzt fühlte Maurice selbst, dies bedeute das Ende. Er hatte unter dem schrecklichen Feuer der preußischen Befestigungen vier Stunden lang mit den Nationalgarden im Park von Buzenval gelegen; und nachdem er wieder hereingekommen war, lobte er in den folgenden Tagen ihren Mut aufs höchste. Die Nationalgarde hatte sich in der Tat tapfer gehalten. War also nicht notwendigerweise die Niederlage auf die Torheit und den Verrat der Führer zurückzuführen? In der Rue de Rivoli traf er auf Ansammlungen, die: »Nieder mit Trochu! Hoch die Kommune!« riefen. Das bedeutete das Erwachen der Leidenschaften des Umsturzes, den Trieb einer neuen, derart beunruhigenden Auffassung, daß die Regierung der nationalen Verteidigung, um nicht von ihm weggefegt zu werden, den General Trochu zwingen zu müssen glaubte, zurückzutreten, und ihn durch General Vinoy ersetzte. Maurice hörte an diesem Tage auch in einer öffentlichen Versammlung in Belleville, in die er hineinging, abermals den Massenangriff fordern. Der Gedanke war verrückt, das wußte er, und trotzdem klopfte ihm das Herz, angesichts dieser Hartnäckigkeit zu siegen. Wenn alles zu Ende ist, darf man dann nicht noch auf ein Wunder hoffen? Die ganze Nacht träumte er von Wunderdingen.

Weder verliefen acht lange Tage. Paris lag im Todeskampf ohne Klage da. Läden wurden nicht mehr geöffnet; die wenigen Fußgänger trafen in den verlassenen Straßen auf kein Fuhrwerk mehr. Vierzigtausend Pferde waren schon aufgezehrt; es war soweit gekommen, daß Hunde, Katzen und Ratten teuer bezahlt wurden. Seit es an Getreide fehlte, war das aus Reis und Hafer hergestellte Schwarzbrot ganz klitschig und schwer zu verdauen; und um die einem nach der Verteilung zustehenden dreihundert Gramm zu erhalten, wurde das Warten in Reihen vor den Bäckerläden rein tödlich. Ach! Diese schmerzlichen Zeiten der Belagerung, wenn die armen Frauen im Platzregen mit den Füßen in dem eisigen Schmutz zitterten, als das heldenhaft ertragene Elend der großen Stadt, die sich nicht ergeben wollte! Die Sterblichkeit verdreifachte sich, die Theater wurden in Lazarette umgewandelt. Nachts versanken die früheren Prunkviertel bei der tiefen Finsternis in traurige Ruhe, wie die Vorstädte einer verfluchten, von der Pest heimgesuchten Stadt. In diesem Schweigen, dieser Finsternis hörte man nichts mehr als den dauernden Lärm der Beschießung, sah man nichts mehr, als die Blitze aus den Geschützrohren den Winterhimmel in Flammen setzen.

Plötzlich, am 29. Januar, erfuhr Paris, daß Jules Favre seit zwei Tagen mit Herrn von Bismarck über einen Waffenstillstand verhandele; und gleichzeitig wurde bekannt, daß es nur noch Brot für zehn Tage gäbe und kaum Zeit genug für die Wiederversorgung der Stadt übrigbliebe. Das hieß also, die Übergabe wurde in der rohesten Form erzwungen. Paris verfiel angesichts der Wahrheit, die man ihm nun endlich sagte, in trübe Starrheit und ließ alles über sich ergehen. Am selben Tage ertönte um Mitternacht der letzte Schuß. Als dann am 29. die Deutschen die Forts besetzt hatten, bezog Maurice mit den 115ern wieder Lager nach Montrouge hinüber, innerhalb der Befestigungen. Und nun begann für ihn ein unbestimmtes Dasein voller Faulheit und Fieberhaftigkeit. Die Manneszucht hatte sich stark gelockert, die Leute zerstreuten sich und bummelten herum in der Erwartung, heimgeschickt zu werden. Er aber verblieb in einer verwirrten, düsteren Gereiztheit, in einer Unruhe, die sich beim geringsten Anlaß in Verzweiflung verwandelte. Gierig las er die Tageszeitungen des Umsturzes, und dieser Waffenstillstand auf drei Wochen, nur geschlossen, um Frankreich die Einberufung einer Versammlung zu gestatten, die Frieden schließen könnte, kam ihm wie eine Falle vor, ein letzter Verrat. Selbst wenn Paris gezwungen war, sich zu übergeben, dann war er mit Gambetta für Fortsetzung des Krieges im Norden und an der Loire. Das Unglück des sich selbst überlassenen Ostheeres, das nach der Schweiz übertreten mußte, versetzte ihn in Wut. Die dann folgenden Wahlen machten ihn vollends verrückt: das war ja, was er vorausgesehen hatte; die Provinz war feige, sie war über den Widerstand von Paris gereizt und verlangte unter allen Umstanden nach Frieden; sie wollte die Monarchie unter dem Schutze der noch gerichteten preußischen Geschütze wieder einsetzen. Nach den ersten in Bordeaux abgehaltenen Sitzungen wurde Thiers, der nach seiner Wahl in sechsundzwanzig Bezirken zum Vorsitzenden der Ausführenden Gewalt ausgerufen war, in seinen Augen zum Ungeheuer, zu dem Mann aller Lügen und Verbrechen. Sein Zorn ging auch nicht zurück; der von dieser monarchischen Versammlung abgeschlossene Friede erschien ihm als der Gipfel der Schande; er raste schon, wenn er nur an die harten Bedingungen dachte, die Entschädigung von fünf Milliarden, die Abtretung von Metz, das Imstichelassen des Elsaß, an all das Gold und Blut Frankreichs, das nun aus dieser unheilbaren Seitenwunde dahinlief.

In den letzten Februartagen entschloß sich Maurice daher, die Fahne zu verlassen. Ein Satz des Vertrages besagte, die in Paris lagernden Mannschaften sollten entwaffnet und heimgeschickt werden. Das wartete er nicht ab; es schien ihm, als würde ihm das Herz ausgerissen, wenn er das ruhmreiche Pariser Pflaster hinter sich lassen müsse, das nur der Hunger hatte bezwingen können; er verschwand und mietete sich in der Rue des Orties oben auf der Butte des Moulins in einem sechsstöckigen Hause ein enges eingerichtetes Zimmer, eine Art Aussichtspunkt, von wo man über das schrankenlose Dächermeer von den Tuilerien bis nach der Bastille sah. Ein früherer Studiengefährte aus der Rechtsfakultät lieh ihm hundert Francs. Sobald er sich übrigens eingerichtet hatte, ließ er sich in ein Bataillon Nationalgarde einschreiben, und die dreißig Sous Lohn mußten ihm genügen. Der Gedanke an ein ruhiges, selbstzufriedenes Dasein in der Provinz jagte ihm Angst ein. Selbst die Briefe seiner Schwester Henriette, an die er am Tage nach dem Waffenstillstand geschrieben hatte, ärgerten ihn mit ihren flehenden Bitten, ihrem glühenden Wunsch, ihn sich in Remilly zur Ruhe setzen zu sehen. Er weigerte sich; er wollte später kommen, wenn die Preußen nicht mehr da wären.

In immer zunehmendem Fieber wurde Maurices Leben unstet, geschwätzig. Er litt keinen Hunger mehr; das erste Weißbrot hatte er mit Wonne verzehrt. Das unter Alkohol gesetzte Paris, in dem es nie an Branntwein und Wein gefehlt hatte, lebte jetzt in Völlerei und verfiel in dauernde Betrunkenheit. Aber es war immer noch ein Gefängnis; seine Tore wurden von den Deutschen bewacht, und verwickelte Förmlichkeiten hinderten einen am Verlassen. Das öffentliche Leben hatte noch nicht wieder angefangen, es gab noch keine Arbeit, keine Staatsgeschäfte; das ganze Volk lag hier voller Erwartung in Nichtstun und geriet schließlich im hellen Sonnenschein des auflebenden Frühlings auf falsche Bahnen. Während der Belagerung machte der Militärdienst wenigstens ihnen die Glieder müde und beschäftigte die Köpfe; jetzt dagegen glitt die Bevölkerung bei ihrer Losgelöstheit von der ganzen übrigen Welt mit einem Male in ein Dasein gänzlicher Faulheit hinab. Er bummelte ebenso wie die übrigen vom Morgen bis zum Abend herum und atmete die von allen möglichen sich aus der Menge erhebenden Wahnsinnskeimen vergiftete Luft ein. Die unbeschränkte Freiheit, die man jetzt genoß, zerstörte schließlich alles von Grund auf. Er las Zeitungen, besuchte öffentliche Versammlungen, zuckte wohl auch gelegentlich über zu grobe Eseleien die Achseln und ging schließlich heim, während ihm Gewalttätigkeiten im Gehirn spukten und er zu verzweifelten Handlungen bereit war, um das, was er für Wahrheit und Gerechtigkeit hielt, zu verteidigen. Und in seiner kleinen Kammer, von der aus er über die Stadt hinwegsah, träumte er immer noch von Sieg und sagte sich, man könne Frankreich, die Republik noch retten, solange der Friede noch nicht unterzeichnet sei.

Am 1. März sollten die Preußen in Paris einziehen, und ein langgezogener Schrei des Abscheus und Zornes entrang sich den Herzen aller. Maurice wohnte keiner öffentlichen Versammlung mehr bei, ohne daß er die Gesetzgebende Versammlung, Thiers, die Männer des 4. Septembers anklagen hörte, sie hätten der heldenmütigen Stadt nicht einmal diesen Gipfel der Schande ersparen wollen. Er selbst ließ sich eines Abends so weit hinreißen, das Wort zu ergreifen und hinauszuschreien, ganz Paris müsse eher auf den Wällen sterben, als einen einzigen Preußen einziehen zu lassen. Unter dieser durch die Monate des Hungers und der Sorgen auf falsche Bahnen gelenkten Bevölkerung keimte, seitdem sie nun in eine von Alpdrücken beeinflußte Redseligkeit verfiel und vom Argwohn gegen selbstgeschaffene Gespenster gepeinigt wurde, ganz natürlicherweise der Aufruhr und bereitete sich am helllichten Tage vor. Es war dies einer jener geistigen Wendepunkte, die man immer als Folge großer Belagerungen beobachten kann, wo ein Übermaß an betrogener Vaterlandsliebe sich, nachdem sie die Seelen umsonst entstammt hat, in blinden Drang nach Rache und Zerstörung verwandelt. Der Hauptausschuß, den die Abgeordneten der Nationalgarde gewählt hatten, erhob gegen jeden Versuch einer Entwaffnung Einspruch. Es kam zu einer großen Kundgebung auf dem Bastillenplatz mit roten Fahnen und flammenden Reden, dem Zusammenfluß einer Riesenmenge, dem Mord eines armseligen Polizeibeamten, den man, auf ein Brett gebunden, in einen Kanal geworfen und dann mit Steinwürfen umgebracht hatte. Und zwei Tage später wurde Maurice nachts durch Trommeln und Sturmläuten aufgeweckt, er sah Banden von Männern und Weibern Geschütze über den Boulevard des Batignolles ziehen und spannte sich selbst mit einem Haufen anderer vor eins davon, während es um ihn herum hieß, das Volk hätte sich diese Geschütze selbst vom Wagramplatz geholt, damit die Nationalversammlung sie nicht den Preußen auslieferte. Es waren hundertsiebzig, die Bespannungen fehlten, das Volk zog sie in der wilden Begeisterung einer Barbarenhorde, die ihre Götter retten will, an Stricken und schob sie mit den Fäusten bis oben auf den Gipfel des Montmartre. Als die Preußen sich am 1. März damit begnügen mußten, einen Tag lang das Viertel der Champs-Elysees zu besetzen und innerhalb der Schlagbäume wie eine Herde sehr beunruhigter Sieger zu lagern, da rührte Paris sich nicht aus seiner düstern Stimmung; die Straßen lagen verlassen da, die Häuser blieben geschlossen, die ganze Stadt war wie tot, in einen riesigen Trauerschleier eingehüllt.

Zwei weitere Wochen gingen hin, und Maurice wußte gar nicht mehr, wie sein Leben eigentlich in der Erwartung dieses Unendlichen, Ungeheuerlichen, das er kommen fühlte, dahinflösse. Der Friede war endgültig geschlossen; die Nationalversammlung sollte sich am 20. März in Versailles einrichten; für ihn stand indessen noch gar nichts fest, irgendein schreckliches Rachewerk mußte beginnen. Als er am 18. März aufstand, erhielt er einen Brief von Henriette, in dem sie ihn wieder einmal anflehte, sie in Remilly zu treffen, und ihm zärtlich drohte, sie würde sich selbst auf den Weg machen, wenn er zu lange damit wartete, ihr diese große Freude zu machen. Dann sprach sie von Jean und erzählte ihm, wie er, nachdem er sie gegen Ende Dezember verlassen hätte, um zum Nordheere zu stoßen, in einem belgischen Krankenhause an einem bösartigen Fieber erkrankt wäre; erst in der vorhergehenden Woche habe er ihr schreiben können, er gehe trotz seines Schwächezustandes nach Paris, wo er wieder in Dienst treten wolle. Henriette schloß mit der Bitte an ihren Bruder, ihr möglichst genaue Nachricht über Jean zu geben, sobald er ihn gesehen hätte. Nun wurde Maurice mit dem offenen Briefe vor Augen von einer zärtlichen Träumerei ergriffen. Henriette, Jean, seine so heiß geliebte Schwester und sein Bruder durch Kummer und Elend, mein Gott! wie fern lagen diese geliebten Wesen seinen Gedanken, seitdem der Sturm in seinem Innern hauste. Da jedoch seine Schwester ihm mitteilte, sie habe Jean die Adresse in der Rue des Orties nicht geben können, so nahm er sich vor, ihn heute noch aufzusuchen und in die Militärbureaus zu gehen. Aber er war kaum herunter und über die Straße Saint-Honoré gegangen, als zwei Genossen aus seinem Bataillon ihm die Vorgänge der Nacht und des Morgens auf Montmartre erzahlten. Nun gingen sie alle drei in Laufschritt über und verloren den Kopf.

Ach, mit welcher entscheidenden Erregung erfüllte Maurice dieser Tag des 18. März! Später konnte er sich nicht mehr klar daran erinnern, was er gesagt, getan hatte. Zunächst sah er sich voller Wut dahinrennen über die vor Tagesanbruch versuchte militärische Überraschung, durch die Paris entwaffnet werden sollte, indem man die Geschütze vom Montmartre wieder herunterholte. Augenscheinlich plante Thiers, der aus Bordeaux zurückgekommen war, diesen Streich seit zwei Tagen, damit die Nationalversammlung ohne jede Gefahr in Versailles die Monarchie ausrufen könne. Dann sah er sich selbst gegen neun Uhr auf dem Montmartre, erhitzt durch die Schilderungen von dem Siege, die man ihm machte, wie die Truppen verstohlen herangekommen seien, die glückliche Verspätung der Bespannung es den Nationalgarden erlaubt habe, sich zu bewaffnen, wie die Soldaten nicht gewagt hätten, auf Frauen und Kinder zu schießen, und den Kolben in die Luft gehoben hätten, um sich mit dem Volke zu verbrüdern. Dann sah er sich wieder durch Paris laufen; seit Mittag sah er ein, Paris gehöre der Kommune ohne Kampf. Thiers und die Minister waren aus dem Ministerium des Auswärtigen, wo sie sich versammelt hatten, entflohen, die ganze Regierung befand sich auf der Flucht nach Versailles, die dreißigtausend Mann, die in der Eile herangebracht waren, hatten über fünftausend der Ihrigen auf den Straßen liegen lassen. Gegen halb sechs sah er sich ferner an der Ecke eines der äußern Boulevards inmitten einer Gruppe Rasender und hörte ohne jeden Widerwillen die abscheuliche Geschichte von dem Morde der Generale Lecomte und Clément Thomas. Ah, Generale! Er dachte wieder an die von Sedan, die unfähigen Genießer! Einer mehr oder weniger, was lag daran! Und der Rest des Tages lief unter der gleichen, alles entstellenden Erregung dahin; das Pflaster selbst schien nach Aufruhr zu verlangen, der anwuchs und mit einem Schlage durch ein unvorhergesehenes Verhängnis als Herr dastand, und als Siegesfeier fiel das Stadthaus um zehn Uhr abends den Mitgliedern des Hauptausschusses zu, die ganz erstaunt waren, sich hier wiederzufinden.

Ein Punkt aber blieb doch ganz klar in Maurices Gedächtnis haften: sein plötzliches Wiedersehen mit Jean. Dieser letztere befand sich seit drei Tagen in Paris, wo er ohne einen Sou angekommen war, noch ganz abgezehrt und erschöpft von den zwei Fiebermonaten, die ihn im Krankenhause in Brüssel festgehalten hatten; und da er fast unmittelbar darauf einen ehemaligen Hauptmann der 106er gefunden hatte, den Hauptmann Ravaud, so hatte er sich bei der neuen Kompanie der 124er einstellen lassen, die dieser befehligte. Er hatte seine Korporalstreifen wieder bekommen und verließ an diesem Abend gerade als letzter mit seiner Korporalschaft die Kaserne Prinz Eugen, um aufs linke Ufer hinüberzugelangen, wo sich ein ganzes Heer sammeln sollte, als ein Menschenstrom seine Leute auf dem Boulevard Saint-Martin fest aufhielt. Unter Geschrei wurde davon geredet, sie zu entwaffnen. Er erwiderte ganz ruhig, sie sollten ihn in Ruhe lassen, ihn ginge das alles gar nichts an, er hätte einfach seinen Befehl auszuführen, ohne jemandem dabei wehtun zu wollen. Aber er stieß einen Ruf der Überraschung aus, Maurice war nähergetreten, er warf sich ihm an den Hals und küßte ihn wie ein Bruder den andern.

»Was, du bist's? ... Meine Schwester hat mir's geschrieben. Und ich wollte dich heute morgen auf den Kriegsbureaus nachfragen!«

Jeans Augen wurden trübe vor dicken Freudentränen.

»Ach, mein armer Junge! Wie freue ich mich, dich wiederzusehen ... Ich suchte ja auch nach dir; aber wo sollte ich dich finden in dieser großen Lumpenstadt?«

Die Menge schimpfte immer noch, so daß Maurice sich umdrehte.

»Bürger, laßt mich doch mal mit ihnen reden! Das sind brave Leute, ich stehe für sie ein.«

Er nahm seinen Freund bei beiden Händen und sagte leise:

»Nicht wahr, du bleibst bei uns?«

Jeans Gesicht drückte tiefste Überraschung aus.

»Bei euch, wieso?«

Dann hörte er einen Augenblick zu, wie Maurice sich über die Regierung aufregte, über die Truppe, deren Leiden er ihm ins Gedächtnis zurückrief, ihm auseinandersetzte, sie müßten schließlich doch die Herren bleiben, um die Unfähigen und Feigen zu strafen und die Republik zu retten. Und je mehr er sich anstrengte, all dies zu begreifen, desto mehr verdüsterte sich sein ruhiges, ungebildetes Bauerngesicht unter wachsendem Kummer.

»Ach nein, nein, mein Junge! Ich bleibe nicht, wenn es sich um derartige nette Geschichten handelt ... Mein Hauptmann hat mir gesagt, ich solle mit meinen Leuten nach Vaugirard gehen, und ich gehe hin. Und wenn ich da Gottsdonnerwetter fände, ich ginge doch hin! Das ist doch ganz natürlich, das mußt du doch fühlen.«

In seiner Herzenseinfalt hatte er wieder angefangen zu lachen. Er setzte hinzu:

»Du solltest mit uns kommen.«

Aber da ließ Maurice mit einer Gebärde wütender Abneigung seine Hände los. Beide blieben noch ein paar Sekunden Auge in Auge stehen, der eine ganz unter dem Einflusse des Wahnsinnes, der ganz Paris mit sich riß, dieses weither stammenden Übels, dieses Fäulnisstoffes aus der früheren Regierung, der andere stark in seinem gesunden Menschenverstand und seiner Unwissenheit, gesund durch sein Aufwachsen da draußen, auf dem Boden der Arbeit und der Sparsamkeit. Und doch waren sie beide Brüder, ein festes Band verknüpfte sie miteinander, und es gab ihnen einen Riß, als plötzlich ein Gedränge entstand, das sie voneinander trennte.

»Auf Wiedersehen, Maurice!«

»Auf Wiedersehen, Jean!«

Es war ein Regiment, die 79er, dessen geschlossene Masse aus einer der Seitenstraßen herauskam und die Menge auf die Bürgersteige zurückdrängte. Abermals gab es großes Geschrei, aber sie wagten doch nicht, den von ihren Offizieren geführten Soldaten den Weg zu versperren. Und so wurde die kleine Korporalschaft der 124er losgeeist und konnte ihnen folgen, ohne weiter aufgehalten zu werden.

»Auf Wiedersehen, Jean!«

»Auf Wiedersehen, Maurice!«

Sie grüßten sich noch mit der Hand und gaben dem Schicksal nach, das sie so plötzlich gewaltsam trennte; aber ihr Herz blieb doch eins vom andern erfüllt.

In den folgenden Tagen vergaß Maurice alles inmitten der außerordentlichen, sich nun überstürzenden Vorgänge. Am 19. wachte Paris ohne Regierung auf und war mehr überrascht als erschreckt, als es von der Panik erfuhr, die während der Nacht die Truppen, die öffentliche Verwaltung, die Ministerien nach Versailles geblasen hatte; und da an diesem Märzsonntag prachtvolles Wetter war, stieg ganz Paris ruhig in die Straßen hinunter, um sich die Barrikaden anzusehen. Ein mächtiger weißer Anschlag des Hauptausschusses, der das Volk zu Gemeindewahlen rief, schien sehr verständig; man war nur sehr erstaunt, ihn von ein paar gänzlich unbekannten Namen unterzeichnet zu sehen. Jetzt in der Dämmerung der Kommune war Paris bei dem Groll über das Erlittene und dem Argwohn, der in ihm spukte gegen Versailles, übrigens bedeutete dies völlige Anarchie, den Kampf zwischen den Bezirksvorstehern und dem Hauptausschuß; die ersteren versuchten ganz unnütz, sich auszusöhnen, während der andere, der sich noch nicht ganz sicher war, obwohl die ganze neugegründete verbündete Nationalgarde für ihn sei, fortfuhr, ganz bescheiden nur Freiheit der Ämter zu verlangen. Die gegen die Friedenskundgebung auf dem Vendômeplatze abgefeuerten Schüsse, die paar Opfer, deren Blut das Straßenpflaster rötete, warfen einen ersten Schreckensschauer über die Stadt. Und während der siegreiche Aufruhr sich endgültig aller Ministerien und aller öffentlichen Verwaltungsgebäude bemächtigte, herrschten zu Versailles großer Zorn und Schrecken; die Regierung beeilte sich, schleunigst genügende militärische Kräfte zusammenzuziehen, um einen Angriff, den sie schon bevorstehen fühlte, zurückschlagen zu können. Die besten Truppen des Nordheeres und der Loireabteilung wurden eiligst herangerufen; etwa zehn Tage genügten, um gegen achtzigtausend Mann zu sammeln, und das Vertrauen kehrte so rasch zurück, daß bereits am 2. April zwei Divisionen die Feindseligkeiten eröffnen und den Föderierten Puteaux und Courbevoie abnehmen konnten.

Erst am nächsten Tage sah Maurice, als er mit seinem Bataillon zur Eroberung von Versailles ausrückte, Jeans trauriges Gesicht unter seinen fieberhaften Erinnerungen vor sich wieder auftauchen, wie er ihm auf Wiedersehen zurief. Der Angriff der Versailler hatte die Nationalgarde zuerst in Erstarrung versetzt und dann erregt. Etwa hundertfünfzigtausend Mann stürzten sich am Morgen in drei Säulen über Bougival und Meudon los, um sich der monarchistischen Versammlung und Thiers, des Meuchelmörders, zu bemächtigen. Das war der während der Belagerung so glühend geforderte Ausfall wie ein Bergstrom, und Maurice fragte sich, ob er Jean wohl anders wiedersehen werde als dort draußen unter den Toten des Schlachtfeldes. Aber die Auflösung trat pünktlich ein; Maurices Bataillon hatte kaum die Hochfläche des Bergères an der Straße nach Rueil erreicht, als plötzlich vom Mont-Valérien geschleuderte Granaten in seine Reihen fielen. Sie waren starr; einige glaubten, das Dorf befände sich im Besitz ihrer Genossen, andere erzählten, der Befehlshaber hätte sich verpflichtet, nicht zu schießen. Wahnsinniger Schrecken bemächtigte sich der Leute, die Bataillone lösten sich auf und rannten im Galopp wieder nach Paris hinein, während die Spitze der Abteilung, durch eine Umgehungsbewegung General Vinoys' erfaßt, sich in Rueil niedermetzeln lassen mußte.

Von nun an empfand Maurice, der dem Morden entronnen war, nur noch Haß gegen diese sogenannte Regierung der Ordnung und der Gesetzmäßigkeit, die sich bei jedem Zusammentreffen mit den Preußen niederschlagen ließ, aber jetzt den Mut fand, Paris zu überwinden. Und die deutschen Heere standen noch von Saint-Denis bis Charenton und wohnten dem Schauspiel der Vernichtung eines Volkes bei. Und in dem dunklen Hange zur Zerstörung, der jetzt über ihn kam, billigte er auch die ersten Gewaltmaßregeln, die Errichtung von Straßen und Plätze versperrenden Barrikaden, die Verhaftung von Geiseln, des Erzbischofs, von Priestern und ehemaligen Beamten. Schon kam es hier wie dort zu Grausamkeiten: Versailles erschoß seine Gefangenen; Paris kündigte an, es werde für jedes Haupt seiner Kämpfer drei der Geiseln fallen lassen; und das bißchen Verstand, das Maurice sich noch aus all den Erschütterungen und Trümmern gerettet hatte, ging nun in dem überall blasenden Sturmhauch der Wut verloren. Die Kommune kam ihm wie eine Rächerin all der erlittenen Schändungen vor, wie eine Befreierin, die das Eisen mit sich führt, das abtrennt, und das Feuer, das reinigt. Das stand zwar nicht sehr klar vor seinem Geiste; der gebildete Mensch in ihm rief sich einfach geschichtliche Vorbilder ins Gedächtnis zurück, wie freie Städte triumphiert, Bünde reicher Provinzen der Welt Gesetze auferlegt hatten. Falls Paris den Sieg davontrug, sah er es schon im Ruhmesschein ein Frankreich der Gerechtigkeit und der Freiheit wieder aufrichten, eine neue Gesellschaft wieder aufbauen, nachdem es die verfaulten Überreste der alten weggefegt hatte. In Wahrheit hatten die Namen der Mitglieder der Kommune ihn nach den Wahlen etwas durch die merkwürdige Mischung von Gemäßigten, Umstürzlern und Sozialisten aller Richtungen, denen nun das große Werk sich anvertraut fand, überrascht. Mehrere der Männer kannte er und hielt sie für höchst mittelmäßig. Würden sich die Besten nicht in der Verwirrung der von ihnen vertretenen Gedanken zerreiben, vernichten müssen? Aber am Tage, als die Kommune auf dem Platze vor dem Stadthause feierlich aufgerichtet wurde, während das Geschütz donnerte und die roten Fahnen als Siegeszeichen in den Lüften knatterten, da wollte er alles vergessen, weil ihn eine neue schrankenlose Hoffnung emporhob. Und nun begann seine Einbildung wieder zu wirken in der scharfen Wendung seiner Krankheit zum äußersten Grad infolge der Lügen der einen und des übertriebenen Vertrauens der andern.

Während des ganzen Aprilmonats schoß Maurice sich in der Gegend von Neuilly herum. Ein vorzeitiger Frühling brachte den Flieder zum Blühen, und sie fochten im zarten Grün der Garten; die Nationalgarden kamen abends mit Blumensträußen auf dem Gewehr heim. Jetzt waren die in Versailles zusammengezogenen Truppen so zahlreich, daß zwei Abteilungen hätten gebildet werden können, eine erster Linie unter dem Befehl des Marschalls Mac Mahon, die andere als Reserve unter dem General Vinoys. Die Kommune dagegen hatte fast hunderttausend Mann mobilisierte Nationalgarden und fast ebenso viele Ansässige für sich; aber höchstens fünfzigtausend waren tatsächlich gefechtstüchtig. Jeden Tag trat nun der Plan der Versailler klarer hervor: nach Neuilly besetzten sie das Schloß Bécon, dann Asnières, einfach um die Einschließungslinie immer enger zu schnüren; denn sie rechneten darauf, über den Point-de-Jour einzudringen, sobald sie nur hier durch Zusammenfassung des Feuers vom Mont-Valérien und dem Fort Issy die Umwallung bezwingen konnten. Der Mont-Valérien gehörte ihnen bereits; alle ihre Anstrengungen richteten sich also darauf, sich des Forts von Issy zu bemächtigen, das sie unter Benutzung der früheren preußischen Werke angriffen. Seit Mitte April hörten Gewehr- und Geschützfeuer gar nicht mehr auf. In Levallois und Neuilly gab es unaufhörliche Kämpfe, fortdauernd tönte das Geschützfeuer Tag und Nacht. Schwere, auf gepanzerten Eisenbahnwagen aufgestellte Geschütze liefen auf der Umgehungsbahn entlang und feuerten über Levallois weg auf Asnières. Aber bei Vanves und vor allem bei Issy war das Feuer so rasend, daß alle Fensterscheiben in Paris davon wie an den schlimmsten Tagen der Belagerung erzitterten. Und als am 9. Mai das Fort von Issy nach einem plötzlichen Überfall endgültig in die Hände der Versailler fiel, da bedeutete das für die Kommune die sichere Niederlage, und ein panischer Schrecken trieb sie nun zu den schlimmsten Entschlüssen.

Maurice billigte die Einsetzung eines Ausschusses für öffentliche Wohlfahrt. Seiten aus der Geschichte tauchten wieder vor ihm auf; schlug jetzt nicht die Stunde für tatkräftige Maßnahmen, wenn man das Vaterland noch retten wollte? Von allen Gewalttätigkeiten schnürte nur eine ihm das Herz vor Kummer zusammen, der Abbruch der Vendômesäule; diesen klagte er als Zeichen kindischer Schwache an; er hörte ja immer noch seinen Großvater von Marengo, Austerlitz, Jena, Eylau, Friedland, Wagram, der Moskwa erzählen, diese Heldengesänge, vor denen er noch erschauerte. Aber daß man das Haus Thiers', des Meuchelmörders, niederriß, daß man die Geiseln als Sicherheit und Drohung behielt, waren das nicht ganz gerechte Vergeltungsmaßregeln angesichts der wachsenden Wut von Versailles gegen Paris, das es beschoß, wo die Granaten auf den Dächern platzten und Frauen töteten? Je näher das Ende seines Traumes kam, um so düsterer stieg in ihm der Zerstörungstrieb empor. Mußte der Gedanke an Gerechtigkeit und Vergeltung schon in Blut untergehen, möchte sich dann doch die Erde auftun, möchte dann doch eine jener Weltenumwälzungen emporsteigen, die neues Leben aufsprießen lassen! Möchte ganz Paris vergehen, möchte es verbrennen wie der riesige Scheiterhaufen eines Opfers, eher als daß es seinen Lastern und seinem Elend wieder überlassen würde, der alten, von so abscheulicher Ungerechtigkeit befleckten Gesellschaft! Und ein anderer mächtiger, schwarzer Traum kam über ihn: die Riesenstadt in Asche, nichts weiter als rauchende Brände auf beiden Ufern, die Heilung der Wunde durch Feuer, eine namenlose, beispiellose Umwälzung, aus der ein neues Volk hervorgehen sollte. Die umlaufenden Erzählungen erhöhten sein Fieber nur noch weiter: die Stadtviertel unterminiert, die Katakomben voll Pulver gestopft, die Baudenkmäler fertig zum In-die-Luft-Sprengen, alle Minenkammern durch elektrische Drähte verbunden, so daß ein Funke sie alle gleichzeitig entzünden konnte, mächtige Vorräte an brennbaren Stoffen, vor allem Petroleum, um die Straßen und Plätze in Ströme, in Meere von Flammen zu verwandeln. Die Kommune hatte geschworen, daß, wenn die Versailler einzögen, keiner über die Barrikaden kommen sollte, die die Straßenkreuzungen absperrten; die Straßen sollten sich öffnen, die Gebäude zusammenstürzen, Paris sollte in Flammen aufgehen und eine Welt verschlingen.

Und wenn Maurice sich diesem verrückten Traum in die Arme stürzte, geschah das aus dumpfer Unzufriedenheit mit der Kommune selbst. Er verzweifelte an ihren Männern, er fühlte sie unfähig, von zuviel sich widersprechenden Bestandteilen hin und her gezerrt; sie verzweifelte an sich selbst, wurde unzusammenhängend und töricht, je schwerer sie bedroht wurde. Von all den von ihr versprochenen allgemeinen Verbesserungen hatte sie auch nicht eine durchführen können, und er war sich schon gewiß, sie werde kein einziges dauerndes Werk hinter sich zurücklassen. Ihr größtes Übel aber rührte aus den Zwiespältigkeiten her, die sie zerrissen, aus dem nagenden Verdacht, unter dem jedes ihrer Mitglieder lebte. Viele, die Gemäßigten, unruhig Gewordenen nahmen bereits gar nicht mehr an den Sitzungen teil. Andere handelten nur unter der Peitsche der Ereignisse, sie zitterten vor einer möglichen Gewaltherrschaft und befanden sich schon in dem Zustande, wo die einzelnen Gruppen der Umsturzversammlungen sich gegenseitig auszurotten beginnen, um das Vaterland zu retten. Nach Cluseret, nach Dombrowski war jetzt die Reihe des Verdächtigtwerdens an Rossel. Delescluze, der zum Zivilabgeordneten für den Krieg ernannt worden war, vermochte trotz seines großen Ansehens selbst nichts. Und der große soziale Aufschwung, an den man gedacht hatte, verzettelte sich immer mehr zum Fehlschlag, je mehr die Vereinsamung sich von Stunde zu Stunde um diese zu Ohnmacht verurteilten, von Verzweiflung niedergeschlagenen Männer ausbreitete.

In Paris wuchs der Schrecken. Paris, das sich erst noch unter den Leiden der Belagerung schauernd gegen Versailles gereizt fühlte, löste sich jetzt von der Kommune los. Die gewaltsame Einberufung, eine Bestimmung, die alle Männer über vierzig Jahre einbezog, ärgerte die ruhigen Bürger und bestimmte sie zur Massenflucht: verkleidet gingen sie über Saint-Denis mit falschen Papieren als Elsässer davon; sie kletterten mit Hilfe von Stricken und Leitern in die Festungsgräben hinunter, wenn die Nacht dunkel genug war. Schon lange waren die reichen Bürger fortgezogen. Keine Fabrik, keine Werkstatt hatte ihre Tore wieder geöffnet. Es gab keinen Handel, keine Arbeit; dies Schwätzerdasein lief in unruhiger Erwartung der unvermeidlichen Lösung so weiter. Und das Volk lebte ausschließlich von dem Solde als Nationalgarden, den dreißig Sous, die jetzt aus den von der Bank eingeforderten Millionen bezahlt wurden, den dreißig Sous, für die viele fochten, eine der Hauptursachen und Beweggründe zum Aufruhr. Ganze Stadtviertel hatten sich entleert, die Läden waren geschlossen, die Straßenseiten der Häuser tot. In dem wundervollen, mächtigen Sonnenschein des Maimonats traf man auf den verödeten Straßen nur noch den wilden Prachtaufwand von Leichenbegängnissen von vorm Feind getöteten Verbündeten, Züge ohne Priester, die Särge mit roten Fahnen bedeckt, gefolgt von Massen Strohblumensträuße Tragender. Die geschlossenen Kirchen verwandelten sich jeden Abend in Klubsäle. Nur umstürzlerische Zeitungen erschienen, alle andern waren unterdrückt worden. So war Paris zerstört, das große, unglückliche Paris, das auch als republikanische Hauptstadt seine Abneigung gegen die Nationalversammlung bewahrte und in dem jetzt der Schrecken vor der Kommune anwuchs, die Ungeduld, von ihr befreit zu werden, während fürchterliche Geschichten umherliefen von täglicher Verhaftung neuer Geiseln, von Tonnen von Pulver, die in die Kanäle geschüttet wären, wo, wie es hieß, Leute mit Fackeln nur auf das verabredete Zeichen warteten.

Maurice, der nie getrunken hatte, fand sich nun von der allgemeinen Trunkenheit erfaßt und wie ertränkt. Jetzt kam es wohl bei ihm vor, daß, wenn er von irgendeinem vorgeschobenen Posten vom Dienst kam, oder mehr noch, wenn er nachts mit auf Wache ging, daß er dann ein kleines Glas Kognak trank. Nahm er ein zweites, so wurde er aufgeregt von dem ihm über das Gesicht hinwehenden Alkoholdunst. Diese dauernde Betrunkenheit war eine ansteckende Seuche, eine Hinterlassenschaft der ersten Belagerung, aber durch die zweite verschlimmert, wo die Bevölkerung kein Brot mehr hatte, Branntwein und Wein aber fässerweise, und sich daran ersättigte, so daß sie schon beim geringsten Tropfen ins Rasen geriet. Zum erstenmal in seinem Leben kam Maurice am Sonntag, dem 21., abends betrunken in die Rue de Orties, wo er von Zeit zu Zeit schlief. Er hatte den Tag wieder in Neuilly verbracht, mit den Genossen schießend und trinkend in der Hoffnung, dadurch die gewaltige Ermüdung zu bekämpfen, die ihn niederdrückte. Dann verlor er den Kopf und warf sich mit einer letzten Anstrengung in seinem kleinen Zimmer aufs Bett, wo er sich noch gefühlsmäßig hingefunden hatte, denn er konnte sich nie darauf besinnen, wie er nach Hause gekommen war. Und am nächsten Tage stand die Sonne schon hoch, als ihn der Lärm der Sturmglocken, der Trommeln und Hörner weckte. Die Versailler hatten am Tage vorher am Point-de-Jour ein Tor unbewacht gefunden und waren unbehelligt in Paris eingedrungen.

Sobald er sich eiligst angezogen hatte, das Gewehr umgehängt und hinuntergegangen war, erzählte ihm eine Gruppe bestürzter Genossen, die sich auf dem Amtshause ihres Bezirks zusammengefunden hatten, die Vorgänge vom Abend und während der Nacht, aber unter derartiger Verwirrung, daß es ihm zuerst schwer wurde, sie überhaupt zu verstehen. Das Tor von Saint-Cloud war, seitdem das Fort von Issy und die große Batterie von Montretout mit Unterstützung des Mont-Valérien die Umwallung zehn Tage lang beschossen hatten, unhaltbar geworden; und der Angriff sollte am nächsten Tage stattfinden, als gegen fünf Uhr ein Vorüberkommender sah, daß kein Mensch das Tor bewachte, und einfach durch Zeichen die Posten aus den kaum fünfzig Meter entfernten Laufgräben heranlief. Ohne Säumen drangen zwei Kompanien des siebenunddreißigsten Linienregiments ein. Hinter ihnen her war dann das ganze vierte Korps, von General Ducrot geführt, hereingekommen. Die ganze Nacht durch war ein ununterbrochener Strom von Truppen eingedrungen. Um sieben Uhr zog bereits die Division Vergé gegen die Grenellebrücke hinunter und drang bis zum Trokadero vor. Um neun Uhr nahm General Clinchant Passy und La Muette. Um drei Uhr morgens lagerte das erste Korps im Bois de Boulogne; und im selben Augenblick überschritt die Division Bruat die Seine, um das Sèvrestor zu nehmen und dem zweiten Korps den Eintritt zu erleichtern, das unter dem Befehl General Cisseys eine Stunde später das Viertel von Grenelle besetzen sollte. So waren die Truppen Versailles am 22. mittags Herren des Trokadero und von La Muette auf dem rechten Ufer und von Grenelle auf dem linken; und das zum Erstarren, zum Zorn und zur Verwirrung der Kommune, die schon wieder nach Verrat zu schreien begann, da sie beim Gedanken an die unausbleibliche Vernichtung ganz den Kopf verlor.

Das war auch Maurices erstes Gefühl, als er alles begriffen hatte: das Ende war da, nun brauchte er sich nur noch töten zu lassen. Aber die Sturmglocken läuteten mit vollem Schwünge, die Trommler trommelten immer stärker, Weiber und sogar Kinder arbeiteten an den Barrikaden, die Straßen erfüllten sich mit dem Fieber der in aller Hast zusammengerufenen, auf ihre Gefechtsstellungen eilenden Bataillone. Aber von Mittag an stieg die ewige Hoffnung wieder in den Herzen der aufgeregten, zum Siege entschlossenen Kommunekämpfer auf, als sie feststellen konnten, daß die Versailler sich kaum vom Fleck gerührt hatten. Diese Truppen, von denen sie gefürchtet hatten, sie in zwei Stunden in den Tuilerien zu sehen, gingen mit ungewöhnlicher Vorsicht zu Werke, da sie aus ihren Niederlagen gelernt hatten und nun die ihnen von den Preußen so hart eingeblaute Fechtweise noch übertrieben. Beim Stadthause richteten der Wohlfahrtsausschuß und Delescluze, der Abgeordnete für den Krieg, die Verteidigung ein und leiteten sie. Es hieß, sie hätten einen letzten Versöhnungsversuch mit Verachtung zurückgewiesen. Das entstammte den Mut, Paris' Sieg erschien wieder gesichert, überall würde wilder Widerstand herrschen, wie auch der Angriff mit Unversöhnlichkeit vor sich gehen würde bei dem durch Lügen und Grausamkeiten angestachelten Haß, der in den Herzen beider Heere brannte. Diesen Tag verbrachte Maurice in der Gegend des Marsfeldes und der Invaliden, wo sie sich langsam, beständig feuernd, von Straße zu Straße zurückzogen. Er hatte sein Bataillon nicht wiederfinden können und schlug sich nun unter unbekannten Genossen, die ihn mit auf das linke Ufer hinübergerissen hatten, ohne sich im geringsten in acht zu nehmen. Um vier Uhr verteidigten sie eine Barrikade, die die Universitätsstraße an ihrem Austritt auf die Esplanade abschloß; sie gaben sie erst in der Dämmerung auf, als sie erfuhren, daß die Division Bruat am Kai entlanggegangen wäre und sich der Gesetzgebenden Versammlung bemächtigt habe. Beinahe wären sie gefangen worden, und sie erreichten die Rue de Lille nur mit Mühe, dank einem weiten Umweg über die Rue Saint-Dominique und Rue Bellechasse. Als die Nacht hereinbrach, besetzten die Versailler Truppen eine Linie, die vom Vanvestor ausging, über die Gesetzgebende Versammlung, den Elyséepalast, die Kirche Saint-Augustin, den Saint-Lazarebahnhof verlief und beim Asnièrestor endete.

Der folgende Tag, der 23., ein Frühlingsmittwoch voll hellen, warmen Sonnenscheins, wurde für Maurice zum Schreckenstag. Ein paar hundert Föderierte, zu denen er gehörte und die aus Leuten verschiedener Bataillone bestanden, hielten noch das ganze Viertel vom Kai bis zur Rue Saint-Dominique. Aber die meisten hatten in der Rue de Lille, in den großen Hotelgärten dort gelagert. Er selbst hatte auf einem Rasen neben dem Palast der Ehrenlegion tief geschlafen. Morgens früh glaubte er, die Truppen würden aus der Gesetzgebenden Versammlung hervorbrechen, um sie hinter die starken Barrikaden in der Rue du Bac zurückzutreiben. Aber Stunden liefen hin, ohne daß es zu einem Angriff kam. Sie wechselten nur verlorene Kugeln von einem Ende der Straße zum andern. Der Plan der Versailler rollte sich nun in vorsichtiger Langsamkeit ab; er bestand in dem wohlgefaßten Entschluß, sich nicht den Schädel an der furchtbaren Festung einzurennen, die die Aufrührer aus den Tuilerienterrassen gemacht hatten, in der Ausführung eines getrennten Marsches links und rechts an den Wällen entlang, um sich auf diese Weise erst des Montmartres und des Observatoriums zu bemächtigen, dann umzukehren und die inneren Bezirke mit einem einzigen Zuge zu nehmen. Gegen zwei Uhr hörte Maurice davon erzählen, die dreifarbige Fahne flattere auf dem Montmartre: von drei Armeekorps gleichzeitig angegriffen, die ihre Bataillone auf die Höhe im Norden und Westen über die Rue Lepic, des Saules und Mont-Cenis herangeführt hatten, war die große Batterie bei Moulin de la Galette genommen worden; und nun strömten die Sieger auf Paris herab, nahmen den Place Saint-George, Notre-Dame-de-Lorette, das Bezirkshaus in der Rue Drouot, die neue Oper; zu gleicher Zeit gewann die vom Montparnasse ausgehende Schwenkung auf dem linken Ufer den Place d'Enfer und den Pferdemarkt. Diese Nachrichten, der so rasche Fortschritt der Truppen, wurden mit Erstarrung, mit Zorn und Schrecken aufgenommen. Was! Montmartre in zwei Stunden genommen, das ruhmreiche, uneinnehmbare Bollwerk des Aufstandes! Nun sah Maurice auch ganz gut, wie die Reihen sich lichteten; zitternd glitten die Genossen lautlos davon, wuschen sich die Hände und zogen voller Schrecken vor Vergeltungsmaßnahmen eine Bluse an. Es lief das Gerücht um, sie sollten über Croix-Rouge umgangen werden, auf das sich ein Angriff vorbereite. Die Barrikaden in der Rue Martignac und Bellechasse waren schon genommen; man konnte schon am Eingang der Rue de Lille rote Hosen sehen. Und bald blieben nur noch die ganz Überzeugten, die Verbissensten übrig, Maurice und etwa fünfzig andere, die entschlossen waren zu sterben, nachdem sie möglichst viele von den Versaillern getötet hätten, die die Verbündeten wie Räuber behandelten und ihre Gefangenen hinter der Schlachtlinie erschossen. Der scheußliche Haß war seit gestern abend noch gewachsen; jetzt drehte es sich zwischen diesen Aufständischen, die für ihren Traum in den Tod gingen, und der Truppe, in der es von rückschrittlichen Leidenschaften schwelte und die außer sich darüber war, immer noch fechten zu müssen, nur noch um Ausrottung.

Als Maurice und seine Genossen sich gegen fünf Uhr endgültig hinter die Barrikaden in der Rue du Bac zurückzogen und die Rue de Lille fortwährend feuernd von Tür zu Tür zurückwichen, da sah er plötzlich aus einem der offenen Fenster des Palastes der Ehrenlegion eine dicke schwarze Rauchwolke hervorbrechen. Das war die erste in Paris angelegte Feuersbrunst; und unter dem Einfluß der wütenden, alles mit sich fortreißenden Raserei entstand wilde Freude über sie. Nun schlug also die Stunde, zu der die ganze Stadt wie ein großer Scheiterhaufen aufflammen sollte, damit das Feuer die Welt reinigte! Aber da setzte ihn plötzlich eine Geistererscheinung in Erstaunen: fünf oder sechs Männer stürzten Hals über Kopf aus dem Palast hervor, an ihrer Spitze ein großer Bursche, in dem er Chouteau erkannte, seinen alten Regimentsbruder von den 106ern. Er hatte ihn schon einmal nach dem 18. März mit einem goldstrotzenden Käppi gesehen und fand ihn im Range befördert, ganz mit Tressen bedeckt, dem Stabe irgendeines nicht fechtenden Generals zugeteilt. Eine Geschichte, die er von ihm hatte erzählen hören, kam ihm wieder in den Sinn: der Chouteau da hatte sich im Palast der Ehrenlegion untergebracht und lebte dort in Gesellschaft seiner Geliebten in fortdauerndem Wohlleben; er flegelte sich mit den Stiefeln in den großen Prunkbetten herum und zertrümmerte die Spiegel mit Revolverschüssen, um was zu lachen zu haben. Es wurde sogar versichert, seine Geliebte führe unter dem Vorwand, ihre Einkäufe in den Hallen machen zu wollen, jeden Morgen in einem der Prunkwagen aus und nähme große Ballen gestohlenes Leinen, Uhren und sogar Möbel mit. Und als Maurice ihn jetzt so mit seinen Leuten, die Petroleumkanne in der Hand, herumlaufen sah, empfand er ein heftiges Unbehagen, einen schrecklichen Zweifel, in dem er seinen ganzen Glauben schwanken fühlte. Konnte das Schreckenswerk doch wohl schlecht sein, da ein solcher Mensch es ausführen durfte?

Stunden liefen so noch dahin und er focht nur noch mit Kummer im Herzen, denn in ihm hielt sich nur noch der düstere Wunsch, zu sterben, aufrecht. Wenn er sich getäuscht hatte, wollte er seinen Fehler wenigstens mit seinem Blute bezahlen. Die Barrikade, die die Rue de Lille in Höhe der Rue du Bac abschloß, war sehr stark; sie bestand aus Säcken und Fässern mit Erde, und ein tiefer Graben lief vor ihr her. Er verteidigte sie mühsam mit etwa einem Dutzend anderer Föderierter, alle halb liegend und mit sicherem Schuß jeden Soldaten niederstreckend, der sich zeigte. Bis zum Einbruch der Nacht wich er nicht und verschoß schweigend in hartnäckiger Verzweiflung seine Patronen. Er sah die mächtigen Rauchwolken aus dem Palast der Ehrenlegion anwachsen; der Wind drückte sie halb in die Straße hinunter, ohne daß er bei dem abnehmenden Tageslicht schon Flammen sehen konnte. Eine andere Feuersbrunst war in einem benachbarten Hotel ausgebrochen. Und plötzlich kam ein Genosse und erzählte ihm, die Soldaten wagten nicht, die Barrikade von vorn zu nehmen, und bahnten sich einen Weg durch die Gärten und Häuser, sie schlügen die Mauern mit der Hacke ein. Das war das Ende, sie konnten von einem Augenblick zum andern dort hervorbrechen. Und tatsächlich kam ein Schuß von oben aus einem Fenster, und er sah Chouteau mit seinen Gehilfen wieder wie verrückt rechts und links in den Eckhäusern mit ihrem Petroleum und ihren Fackeln nach oben rennen. Nach einer halben Stunde stammten unter dem dunklen Nachthimmel sämtliche Häuser an der Straßenkreuzung empor; er aber lag immer noch hinter den Fässern und Säcken und machte sich die bedeutende Helligkeit zunutze, unvorsichtige Soldaten umzulegen, die sich in die Straßenflucht über die Haustüren hinaus vorwagten.

Wie lange konnte Maurice noch schießen? Er hatte jedes Bewußtsein von Zeit und Ort verloren. Es mochte neun Uhr sein, vielleicht zehn Uhr. Das greuliche Geschäft, das er besorgte, erstickte ihn jetzt bis zum Übelwerden, so wie einem ein schlechter Wein in der Trunkenheit wieder hochkommt. Die um ihn herum in Flammen stehenden Häuser begannen ihn mit unerträglicher Hitze zu umfangen, die Luft war heiß zum Ersticken. Die Straßenkreuzung war mit dem Haufen von Pflastersteinen, der sie abschloß, zu einem befestigten Lager geworden, das unter einem Regen von Feuerbränden durch die Feuersbrünste verteidigt wurde. Lauteten die Befehle nicht so? Die Viertel anzuzünden, wenn sie die Barrikaden im Stich lassen müßten, und die Truppen durch eine Reihe verzehrender Gluthaufen aufzuhalten, Paris zu verbrennen, soweit sie es dem Feinde überlassen müßten? Er fühlte auch schon, daß nicht allein die Häuser der Rue du Bac brannten. Hinter sich sah er den Himmel in einer mächtigen roten Glut, er hörte ein entferntes Brausen, als stände die ganze Stadt in Brand. Rechts an der Seine entlang mußten weitere Riesenbrände ausgebrochen sein. Schon vor langer Zeit hatte er Chouteau auf der Flucht vor den Kugeln verschwinden sehen. Selbst die Verbissensten unter seinen Genossen rissen einer nach dem andern aus vor Furcht, sie könnten im nächsten Augenblick umgangen werden. Endlich blieb er ganz allein zwischen den Säcken liegen und dachte nur an sein Schießen, als die Soldaten, die sich einen Weg durch die Gärten und Höfe gebahnt hatten, durch eins der Häuser in die Rue du Bac heraustraten und sich weiter vorschoben.

In der Aufregung dieses letzten Kampfes hatte Maurice seit zwei Tagen nicht mehr an Jean gedacht. Und Jean hatte, nachdem er mit seinem Regiment zur Verstärkung der Division Bruat in Paris eingerückt war, ebenso keine Minute sich Maurices erinnert. Am Tage vorher hatte er sich auf dem Marsfelde und der Invaliden-Esplanade herumgeschossen. Heute nun war er erst gegen Mittag von dem Platze vor dem Palais Bourbon aufgebrochen, um die Barrikaden des Viertels bis zur Rue des Saints-Pères aufzuheben. Trotz seiner Ruhe regte ihn dieser brudermörderische Krieg unter so vielen ehemaligen Waffengefährten, deren glühendster Wunsch es war, nach all diesen Monaten der Abspannung endlich zur Ruhe zu kommen, allmählich auf. Die aus Deutschland zurückkommenden und wieder eingestellten Gefangenen konnten sich über Paris gar nicht beruhigen; und dazu brachten ihn noch die Erzählungen von den Grausamkeiten der Kommunarden außer sich, denn sie verletzten seine Anschauungen des Schicklichen und seinen Hang zur Ordnung. Er war der wahre Urgrund des Volkes geblieben, der verständige Bauer, der den Frieden herbeisehnte, damit er wieder an seine Arbeit gehen könnte, damit er wieder verdienen, wieder ins alte Gleis kommen könnte. Aber bei dem wachsenden Zorn, der auch seine zartesten Hoffnungen dahinriß, brachten ihn vor allem die Brandstiftungen zum Rasen. Häuser, Paläste in Brand stecken, weil sie sich nicht länger überlegen fühlten, o nein! Das ging doch zuweit! Nur Räuber waren zu so etwas fähig. Und er, dem die Massenhinrichtungen am Tage vorher das Herz abgedrückt hatten, war nicht länger Herr seiner selbst, er wurde wild, die Augen traten ihm aus dem Kopfe, er stieß heulend um sich.

Rasend bog Jean mit ein paar Leuten seiner Korporalschaft in die Rue du Vac ein. Zuerst sah er niemand und glaubte, die Barrikade sei geräumt worden. Dann bemerkte er, wie sich ganz unten zwischen den Säcken noch ein Kommunard bewegte, der anlegte und in die Rue de Lille hineinfeuerte. Unter dem wütenden Zwange des Schicksals lief er hin und nagelte den Mann mit einem Bajonettstich an der Barrikade fest.

Maurice hatte keine Zeit gehabt, sich umzudrehen. Er stieß einen Schrei aus, als er den Kopf hob, und erkannte Jean. Die Brände leuchteten ihnen mit blendender Helligkeit.

»O Jean, mein alter Jean, bist du das?«

Sterben wollte er, darauf wartete er mit wütender Ungeduld. Aber sterben von der Hand seines Bruders, das war zuviel, das vergällte ihm den Tod, vergiftete ihn mit abscheulicher Bitterkeit.

»Bist du es denn, mein alter Jean?«

Wie vom Blitz getroffen, ganz ernüchtert blickte Jean auf ihn. Sie waren allein; die übrigen Soldaten hatten sich bereits auf die Verfolgung der Fliehenden begeben. Um sie herum flammten die Feuersbrünste höher empor, die Fenster spien mächtige Flammen aus, während man im Innern die brennenden Decken einstürzen hörte. Und Jean stürzte schluchzend neben Maurice nieder, er tastete an ihm herum und versuchte ihn aufzuheben, um zu sehen, ob er ihn nicht noch retten könne.

»Oh, mein Junge, mein armer Junge!«


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