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Wieder vergingen Jahre, und Mathieu zählte bereits achtundsechzig Jahre, Marianne fünfundsechzig, als mitten in dem wachsenden Gedeihen, das sie ihrem Glauben an das Leben, ihrem ausdauernden Hoffnungsmute dankten, ein letzter Kampf, der schmerzvollste ihres Lebens, sie beinahe niedergeworfen, und sie verzweifelt, trostlos ins Grab gebracht hätte.
Marianne hatte sich eines Abends zu Bett gelegt, tief verwundeten Herzens, von Fieberschauern geschüttelt. In der Familie war eine Spaltung eingetreten und vergrößerte sich von Tag zu Tag. Ein unseliger Streit, der immer abscheulicher wurde, hatte die Mühle, wo Grégoire regierte gegen den Hof erbittert, wo Gervais und Claire herrschten; und, als Schiedsrichter aufgerufen, hatte Ambroise von seinem Kontor in Paris aus noch Oel ins Feuer gegossen, indem er mit der kurzen Entschiedenheit des großen Geschäftsmannes urteilte, ohne den entzündeten Leidenschaften Rechnung zu trafen. Eben von einem Gange zu ihm zurückgekehrt, den sie in dem mütterlichen Wunsche nach Frieden unternommen, hatte Marianne sich zu Bette legen müssen, ins Herz getroffen, voll Angst vor der Zukunft. Er hatte sie fast angefahren, und sie war nun heimgekehrt mit dem qualvollen Bewußtsein, daß ihr eigen Fleisch und Blut, ihre undankbaren Söhne feindselig gegeneinander standen und gegeneinander wüteten. Sie hatte nicht wieder aufstehen wollen, bat Mathieu, niemand etwas zu sagen, versicherte ihm, daß ein Arzt nutzlos sei, schwor ihm, daß sie kein körperliches Leiden habe, daß sie nicht krank sei. Aber er fühlte wohl, daß sie erlosch, daß sie ihn jeden Tag mehr verließ, von ihrem schweren Kummer verzehrt. War es denn möglich? Diese liebenden und geliebten Kinder, die in ihren Armen, unter ihrer Zärtlichkeit aufgewachsen waren, die der Stolz, die Freude ihres Sieges waren, alle diese ihrer Liebe entsprossenen, in ihrer Treue vereinten Kinder, diese geschwisterliche und geheiligte Schar, die sie enge umgab! sie stoben nun auseinander und trachteten, sich haßerfüllt zu zerfleischen! Es war also wahr, was man sagte, daß, je größer eine Familie werde, desto stärker auch die Saat der Undankbarkeit wachse, und wie wahr auch, daß man kein erschaffenes Wesen vor der Stunde seines Todes glücklich oder unglücklich nennen könne!
»Ach,« sagte Mathieu, am Bette sitzend und die fieberische Hand Mariannens in der seinigen haltend, »nachdem wir so viel gekämpft, so viel gesiegt haben, sollen wir an diesem letzten Schmerz zugrunde gehen müssen, an dem, der uns am härtesten trifft! Bis zum letzten Atemzuge muß der Mensch kämpfen, und das Glück wird nur durch Leid und Tränen gewonnen! Wir müssen weiter hoffen, und weiter kämpfen, und siegen, und leben!«
Marianne hatte allen Mut verloren, sie war wie vernichtet.
»Nein, ich habe keine Kraft mehr, ich bin besiegt. Die Wunden, die mir von außen geschlagen wurden, die habe ich alle überstanden. Aber diese Wunde kommt von meinem Blute, sie blutet nach innen, und ich ersticke. Unser ganzes Werk ist zerstört. Am letzten Tage erweisen sich unsre Freude, unsre Gesundheit, unsre Kraft als Lug und Trug!«
Und von dem Schmerz über dieses Unglück überwältigt, ging Mathieu ins nächste Zimmer, um dort zu weinen, sah sie schon tot, sah sich allein.
Der unselige Streit, der zwischen Mühle und Hof ausgebrochen war, drehte sich um die Heiden Lepailleurs, um die Enklave, die die Besitzung Chantebled durchschnitt. Schon seit Jahren bestand die alte romantische, von Efeu überwucherte Mühle mit ihrem moosbedeckten Rade nicht mehr. Grégoire hatte endlich den Gedanken seines Vaters ausgeführt, sie niedergerissen, und eine große Dampfmühle mit weitläufigen Nebengebäuden an ihre Stelle gebaut, welche durch eine Flügelbahn mit der Station Janville verbunden war. Und er selbst, im Begriffe, ein schönes Vermögen zu erwerben, seitdem alle Frucht der Umgebung in seine Mühle kam, war erstaunlich vernünftig geworden, ein dicker, gewichtiger Mann, nahe den Vierzigern, dem von seiner tollen Jugend nichts geblieben war, als ein heftiger Jähzorn, dessen Ausbrüche seine Frau Thérèse, die Kluge und Liebevolle, allein sänftigen konnte. Zwanzigmal war er nahe daran gewesen, mit seinem Schwiegervater Lepailleur zu brechen, der das Vorrecht seiner siebzig Jahre mißbrauchte. Der alte Müller, der trotz seiner Prophezeiungen des sicheren Ruins die Neubauten nicht hatte hindern können, fuhr gleichwohl fort, hämisch zu lächeln, zog über die gedeihende große Mühle los, wütend, daß er unrecht hatte. Er war zum zweitenmal geschlagen: nicht nur widerlegten die reichen Ernten von Chantebled den Bankrott der Erde, dieser Metze von Erde, von der er, der in altem Herkommen befangene, nach leichtem Erfolg gierige, schlaff gewordene Bauer behauptet hatte, daß sie nichts mehr wachsen lasse; nun war auch seine alte Mühle, die er verachtet, ein nutzloses Gerümpel genannt hatte, wiedererstanden, wuchs ins Riesige, wurde von seinem Schwiegersohn zu einem Werkzeug großen Reichtums gemacht. Und das ärgste war, daß er beharrlich weiterlebte, um Niederlage auf Niederlage mit anzusehen, ohne sich je für besiegt erklären zu wollen. Eine einzige Freude war ihm geblieben, das Wort, das Grégoire ihm gegeben hatte, und das er auch hielt, die Enklave dem Hof nicht abzutreten. Ja, er hatte von ihm sogar erreicht, daß er sie nicht bebauen ließ. Der Anblick dieses Stückes dürr gebliebener Heide, die mit einem trostlosen Streifen die schönen grünen Felder von Chantebled durchschnitt, erfüllte ihn mit boshafter Freude, gleich einem Widerspruch gegen die benachbarte Fruchtbarkeit. Man sah ihn oft sich dort ergehen, ein alter König der Kiesel und des Unkrautes, seine hagere Gestalt hochaufgerichtet, mit grimmiger Befriedigung auf die Wüstenei blickend. Und offenbar suchte er dabei auch nach irgendeinem Vorwande für einen möglichen Zwist, denn er war es, der auf einem dieser herausfordernden Spaziergänge einen Uebergriff derer vom Hofe entdeckte, den er in so übertriebener Weise darstellte, und der so unglückliche Folgen nach sich zog, daß er eine Zeitlang das Glück der Froment zerstörte.
Grégoire war in Geschäftssachen rauh und kurz angebunden und verzichtete auch nicht auf das Kleinste von dem, was er für sein Recht hielt. Als sein Schwiegervater ihm erzählte, daß der Hof nahezu drei Hektar seines Heidegrundes bebaut habe, offenbar mit der Absicht, diesen langsamen Diebstahl fortzusetzen, wenn man ihm nicht Einhalt tat, ging er sogleich daran, sich von der Tatsache zu überzeugen, da er sich ein derartiges Eindringen nicht gefallen lassen wollte. Unglücklicherweise fand man aber die Grenzsteine nicht. Der Hof konnte daher füglich behaupten, daß er im guten Glauben gehandelt, ja, daß er seine Grenzen überhaupt nicht überschritten habe. Aber Lepailleur behauptete wütend das Gegenteil, zeigte genau, wo die Grenze gewesen sei, zog sie mit seinem Stocke nach, indem er schwor, daß sie auf zehn Zentimeter stimmen müsse. Und die ganze Sache nahm vollends eine schlimme Wendung bei einer Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Gervais und Grégoire, in deren Verlauf der letztere in Zorn geriet und unverzeihliche Worte sagte. Am nächsten Tage machte er den Bruch vollständig und begann einen Prozeß. Gervais antwortete sogleich mit der Drohung, kein einziges Korn Getreide mehr in die Mühle zu senden, und das war ein schwerer Schlag für die Mühle, denn die Kundschaft Chantebleds hatte in Wirklichkeit das Gedeihen der neuen Mühle verursacht. Von da ab verschlimmerte sich die Lage von Tag zu Tag, jede Versöhnung wurde bald unmöglich, um so mehr, als Ambroise, der damit betraut worden, einen Verständigungsmodus zu finden, sich seinerseits ereiferte und nichts erreichte, als beide Teile noch mehr aufzubringen. Der abscheuliche Bruderkrieg fraß immer weiter, nun standen einander schon drei Brüder feindselig gegenüber. Und war das nicht das Ende von allem, würde nicht die ganze Familie von dieser Zerstörungswut ergriffen werden, in diesem Sturm von Haß und Wahnsinn zugrunde gehen, nach so vielen Jahren voll weiser Vernunft, voll gesunder und starker Liebe?
Mathieu versuchte natürlich einzugreifen. Aber bei den ersten Worten hatte er gefühlt, daß, wenn er scheiterte, wenn seine väterliche Autorität nicht anerkannt würde, der endgültige Zusammenbruch erfolgen müsse. Er wartete also, ohne seinerseits noch den Kampf aufgegeben zu haben, gedachte irgendeine günstige Gelegenheit zu benutzen. Aber jeder Tag der Zwietracht, der dahinging, vermehrte seine Seelenangst. Sein ganzes Werk, das kleine Volk, das er gezeugt hatte, das kleine Königreich, das er unter der gütigen Sonne gegründet hatte, war plötzlich von Zerstörung bedroht. Kein Werk kann gedeihen ohne Liebe, die Liebe, die es gegründet hat, kann ihm allein Dauer verleihen, es stürzt zusammen, sobald das Band brüderlicher Gemeinsamkeit zerreißt. Anstatt das seinige blühend in Güte, Glück und Kraft zurückzulassen, sollte er es vernichtet, zerbröckelt, beschmutzt, tot sehen, noch ehe er selbst tot war. Und welch ein segensreiches und herrliches Werk bis jetzt, dieses Chantebled, dessen überquellende Fruchtbarkeit von Ernte zu Ernte wuchs, diese so groß und blühend gewordene Mühle selbst, die seinem Geiste entsprungen war, ohne von den großen Reichtümern zu sprechen, die seine erobernden Söhne anderwärts, in Paris, in fernen Ländern erworben hatten! Und dieses wunderbare Werk, das entstanden war durch den Glauben an das Leben, sollte nun durch einen brudermörderischen Angriff auf das Leben zerstört werden!
Eines Abends, um die trübe Dämmerung eines der letzten Septembertage, ließ Marianne die Chaiselongue ans Fenster schieben, auf der sie in wortlosem Kummer dahinsiechte. Sie wurde nur von Charlotte betreut, sie hatte nur noch ihren jüngsten Sohn Benjamin bei sich in dem nun zu groß gewordenen Wohnhause, das den ehemaligen Jagdpavillon ersetzt hatte. Seitdem der Familienzwist ausgebrochen war, hatte sie dessen Türen geschlossen, sie wollte sie nur allen ihren Kindern zugleich wieder öffnen, wenn sie sich versöhnt hatten, wenn sie ihr eines Tages das große Glück bereiten würden, einander wieder alle bei ihr zu umarmen. Aber sie verzweifelte an dieser Heilung, an der einzigen Freude, die sie hätte wiederaufleben lassen. Und als nun Mathieu im fahlen Licht der Dämmerung sich neben sie setzte und ihre Hand in seine nahm, wie das ihre Gewohnheit war, sprachen sie zuerst nicht, sahen hinaus auf die weitgedehnte Ebene, auf die Felder, die sich im Nebel der Ferne verloren, auf die Mühle unten am Ufer der Yeuse mit ihrem rauchenden Schornstein, auf Paris selbst, unter dem Horizonte, aus welchem der schwarzgraue Qualm einer riesigen Esse aufstieg.
Die Minuten vergingen. Mathieu hatte im Lauf des Nachmittags, um seine Seelenqual zu erleichtern, einen weiten Marsch bis an die Höfe von Mareuil und Lillebonne gemacht. Und er sagte endlich, halblaut, wie zu sich selbst: »Noch nie waren alle Vorbedingungen für die Arbeiten günstiger. Dort oben auf dem Plateau ist die Erde durch die neue Bebauungsart noch besser geworden, der Humus der ehemaligen Sümpfe hat sich unter dem Pfluge aufgelockert; und ebenso hat sich hier an den Hängen der Sandboden stark bereichert infolge der durch Gervais erdachten neuen Verteilung der Quellen. Seitdem der Besitz sich in seinen und Claires Händen befindet, hat sich sein Wert fast verdoppelt. Es ist ein unaufhörlich wachsendes Gedeihen, der Sieg durch die Arbeit ist grenzenlos.«
»Was hilft's, wenn die Liebe nicht mehr da ist?« sagte Marianne.
»Dann,« fuhr Mathieu nach einem Stillschweigen fort, »bin ich an die Yeuse hinabgegangen und habe von weitem gesehen, daß Grégoire die neue Maschine bekommen hat, die Denis für ihn gebaut hat. Sie wurde eben im Hofe abgeladen. Wie ich höre, vermehrt sie die Leistungsfähigkeit des Werkes und erspart dabei ein gutes Drittel der Kraft. Wenn man solche Werkzeuge hat, kann die Erde Ozeane von Getreide für unzählbare Völker hervorbringen; alle werden Brot haben. Und so wird diese Maschine mit ihren starken, gleichmäßigen Atemstößen wieder neuen Reichtum hervorbringen.«
»Was hilft's, wenn man sich haßt?« sagte Marianne wieder.
Mathieu schwieg. Aber wie er es auf seinem Spaziergang beschlossen hatte, sagte er seiner Frau beim Schlafengehen, daß er morgen den Tag in Paris verbringen werde; und da er ihr Erstaunen sah, schützte er ein Geschäft vor, eine alte Schuld, die er einkassieren wolle. Er konnte es nicht mehr ertragen, es zerriß ihm das Herz, Marianne so langsam sterben zu sehen. Er wollte handeln, alles daransetzen, um die Versöhnung herbeizuführen.
Als er am nächsten Vormittag um zehn Uhr den Zug in Paris verließ, fuhr Mathieu vom Bahnhof unmittelbar in die Fabrik nach Grenelle. Er wollte vorerst mit Denis sprechen, der bis jetzt in dem Streite keine Partei ergriffen hatte. Seit Jahren schon, seit kurzer Zeit nach dem Tode Constances, war Denis mit seiner Frau und seinen drei Kindern in das Wohnhaus am Kai übersiedelt. Damit war die Besitzergreifung der Fabrik vollendet, ihr Herr residierte nun in dem prächtigen Herrenhause, das ihm gebührte. Beauchêne lebte indessen noch mehrere Jahre; aber sein Name war aus der Firma gelöscht, er hatte sein letztes Eigentumsrecht gegen eine Rente abgetreten, die ihm ausgezahlt wurde. Eines Abends erfuhr man sodann, daß er bei jenen Damen, der Tante und der Nichte, gestorben sei, nach einem reichen Mittagessen vom Schlage gerührt; und er schien im Zustande der Kindheit geendet zu haben, er hatte zuviel gegessen, zuviel andern Genüssen gehuldigt, die seinem Alter nicht mehr gemäß waren. Es war der Tod des unterschlagenden, auf Straßenabenteuer ausgehenden Gatten, das schimpfliche Ende in der Gosse, womit sein Geschlecht erlosch.
»Sieh da, welcher gute Wind führt dich her?« rief Denis fröhlich, als er seinen Vater erblickte. »Willst du mit mir essen? Ich bin noch Strohwitwer, erst Montag werde ich Marthe und die drei Kinder aus Dieppe abholen, wo sie einen wundervollen September verbracht haben.«
Als er aber von der Krankheit seiner Mutter hörte, daß sie in Gefahr sei, wurde er ernst und betrübt.
»Was sagst du? Mama krank, in Gefahr? Ich glaubte, sie sei nur ein wenig schwach, ein Unwohlsein ohne Bedeutung. Sag einmal, Vater, was gibt es? Ihr habt irgendeinen Kummer, den ihr verheimlicht?«
Er hörte die einfache und vollständige Darlegung, die Mathieu ihm hierauf von den Ereignissen gab, in starker Erregung an. Er sah plötzlich die Möglichkeit einer Katastrophe vor sich, deren Drohung ihm das Leben unerträglich machte. Er geriet in Zorn.
»Wie, solches richten also meine Brüder mit ihrem albernen Streite an? Ich habe wohl gehört, daß sie sich entzweit haben, man hat mir Einzelheiten berichtet, die mich betrübten, aber ich hätte nie gedacht, daß du und Mama davon so betroffen seid, daß ihr euch einschließt und daran sterbt! Ah nein, das muß anders werden! Ich gehe sogleich zu Ambroise. Wir wollen beide bei ihm essen, und dann muß dieser Sache ein Ende gemacht werden!«
Da Denis noch einige Befehle zu erteilen hatte, so ging Mathieu einstweilen in den Hof hinab, um ihn zu erwarten. Und während der zehn Minuten, die er hier in Gedanken versunken auf und ab schritt, tauchte die ganze Vergangenheit in seinem Geiste auf. Er sah sich wieder als Angestellten, wie er jeden Morgen, aus Janville kommend, diesen Hof überschritt, mit den dreißig Sous für sein Mittagessen in der Tasche. Es war noch derselbe Teil des großen Komplexes, das Hauptgebäude mit der großen Uhr, die Werkstätten, die Wagenschuppen, eine kleine Stadt grauer Gebäude von zwei riesigen, unaufhörlich qualmenden Schornsteinen überragt. Sein Sohn hatte diese Arbeitsstadt noch erweitert, Neubauten bedeckten nun den letzten Teil des rechtwinkeligen Terrains zwischen der Rue de la Fédération und dem Boulevard de Grenelle. Und in der Ecke, am Kai, sah er auch das vornehme Wohnhaus mit der Ziegel- und Steinfasaade, worauf Constance so stolz gewesen war, und wo sie als Fürstin der Industrie in ihrem kleinen, mit gelbem Atlas ausgeschlagenen Salon empfangen hatte. Achthundert Arbeiter waren hier beschäftigt, der Boden erbebte unter der unausgesetzten Arbeit der Maschinen, das Haus war das bedeutendste in Paris geworden, aus ihm gingen die großen landwirtschaftlichen Maschinen, die mächtigen Bearbeiter der Erde hervor. Und sein Sohn war unbestrittener Fürst des Maschinenbaues geworden, und seine Schwiegertochter empfing in dem gelben Atlassalon, umgeben von ihren drei schönen, gesunden Kindern.
Als dann Mathieu, durch die Erinnerung bewegt, nach rechts blickte, auf das Häuschen, das er einst mit Marianne bewohnt hatte, wo Gervais geboren worden war, wurde er von einem vorübergehenden alten Arbeiter gegrüßt.
»Guten Morgen, Monsieur Froment.« Er erkannte Victor Moineaud, schon fünfundfünfzig Jahre alt, noch mehr durch die Arbeit ruiniert, als sein Vater damals gewesen war, da die Mutter Moineaud hierherkam, um dem Moloch das noch zu junge Fleisch ihrer Söhne anzubieten. Mit sechzehn Jahren eingetreten, hatte auch er nun schon nahezu vierzig Jahre an der Esse und am Amboß hinter sich. Es war die unablässige Wiederholung desselben unbarmherzigen Schicksals; alle erdrückende Arbeit fällt auf das Lasttier, nach dem Vater wird der Sohn betäubt, zermalmt von der Mühle des Elends und der Ungerechtigkeit.
»Guten Morgen, Victor. Es geht Ihnen immer gut, ja?«
»Oh, Monsieur Froment, ich bin nicht mehr jung. Ich werde wohl daran denken müssen, irgendwo ein Ruheplätzchen zu finden. Wenn es nur nicht unter einem Omnibus ist!«
Er deutete damit auf den Tod des Vaters Moineaud hin, den man in der Rue de Grenelle unter den Rädern eines Omnibus mit gebrochenen Beinen und zerschmettertem Kopfe aufgelesen hatte.
»Uebrigens,« fuhr er fort, »an dem oder jenem sterben! Das geht sogar schneller... Der Vater hat Glück gehabt, daß er Norine und Cécile gefunden hat. Sonst hätte ihm nicht ein Omnibus, sondern sicherlich der Hunger das Genick gebrochen.«
»Geht es Norine und Cécile gut?« fragte Mathieu.
»Ja, Monsieur Froment. Soviel ich weiß, denn wir sehen uns nicht sehr oft, wie Sie sich wohl denken können. Die zwei und ich, das sind alle, die noch von uns übrig sind, wenn ich Irma nicht rechne, die uns verleugnet hat, seitdem sie eine große Dame geworden ist. Euphrasie hat das Glück gehabt zu sterben, und der Taugenichts von Alfred ist verschwunden, was mir eine große Erleichterung ist, denn ich habe immer gefürchtet, ihn eines Tages im Zuchthaus zu sehen. Wenn ich etwas von Norine und Cécile höre, so habe ich doch eine Freude. Sie wissen ja, daß Norine älter ist als ich, sie ist nun bald sechzig Jahre alt. Aber sie war immer kräftig, und ihr Sohn macht ihr viel Freude, höre ich. Und beide arbeiten noch, Cécile ist noch immer rüstig, sie, die man mit einem Nasenstüber hätte umbringen können. Sie leben sehr nett und anständig beisammen, zwei Mütter für einen großen Sohn, aus dem sie einen anständigen Menschen gemacht haben.«
Mathieu nickte zustimmend und sagte dann heiter: »Aber auch Sie, Victor, haben Söhne und Töchter gehabt, die nun ihrerseits Väter und Mütter sein müssen.«
Der alte Arbeiter machte eine weite, unbestimmte Gebärde.
»Ich habe acht lebende, eins mehr als mein Vater. Alle sind sie fort, ihrerseits Väter und Mütter, wie Sie sagen, Monsieur Froment. Wie es eben kam, man muß ja leben. Es sind einige darunter, die kein Weißbrot essen, o nein. Und es fragt sich, ob ich, wenn ich einmal nichts mehr nutz bin, ein Kind finden werde, das mich aufnimmt, wie Norine und Cécile den Vater aufgenommen haben... Nun ja, was ist da zu machen? Es ist Unglückssaat und daraus kann nichts Gutes herauswachsen.«
Er schwieg einen Augenblick; dann setzte er seinen Weg gegen die Werkstätten fort, gebeugten Rückens, die arbeitsmüden Hände herabhängen lassend.
»Auf Wiedersehen, Monsieur Froment.«
»Auf Wiedersehen, Victor.«
Denis hatte seine Befehle erteilt und gesellte sich nun seinem Vater zu. Er schlug ihm vor, zu Fuß in die Avenue d'Antin zu gehen, und teilte ihm unterwegs mit, daß sie Ambroise vermutlich allein treffen würden, denn seine Frau und seine Kinder befanden sich auch in Dieppe, wo die beiden Schwägerinnen Andrée und Marthe die Saison miteinander verbracht hatten.
Das Vermögen Ambroises hatte sich in zehn Jahren verzehnfacht. Mit kaum fünfundvierzig Jahren beherrschte er den Pariser Markt. Nachdem er durch den Tod des Onkels du Hordel der Erbe und alleinige Herr des Kommissionshauses geworden war, hatte er es durch seinen Unternehmungsgeist noch bedeutend erweitert, es in ein wahres Welthaus verwandelt, durch welches Waren aus allen Kontinenten hindurchgingen. Die Grenzen bestanden für ihn nicht, er bereicherte sich an den Erzeugnissen der ganzen Erde, und das mit einer triumphierenden Kühnheit, mit einem so sicheren und weitschauenden Blicke, daß seine gewagtesten Unternehmungen siegreich endigten. Dieser Kaufmann, dessen fruchtbare Tätigkeit Schlachten gewann, mußte notwendigerweise die müßig gehenden, kraftlosen unfruchtbaren Séguin verschlingen. Und in dem Zusammenbruch ihres Vermögens, in dem Zerfall der Ehe und der Familie, hatte er sich sein Teil ausersehen, hatte er das Palais in der Avenue d'Antin verlangt. Séguin bewohnte es seit Jahren nicht mehr, denn nach der freundschaftlichen Trennung, die zwischen ihm und seiner Frau stattgefunden, hatte er die eigentümliche Idee gehabt, ganz in seinem Klub zu leben und dort ein eignes Zimmer zu bewohnen. Zwei seiner Kinder waren in der Ferne, Gaston jetzt Kommandant in einer entlegenen Garnison, und Lucie Nonne in einem Ursulinerinnenkloster. Und auch Valentine, die sich allein langweilte, und nicht mehr in der Lage war, ein Haus in entsprechendem Stile zu führen, hatte das Palais verlassen und eine sehr hübsche und elegante Wohnung auf dem Boulevard Malesherbes bezogen, wo sie ihr weltliches Leben als alte, fromme und immer sehr zarte Dame vollendete, Präsidentin des »Wohltätigkeitsvereins für Kinderausstattungen«, einzig mit den Kindern andrer beschäftigt, seitdem sie nicht verstanden hatte, sich die ihrigen zu erhalten. Und Ambroise hatte das leere Palais nur zu nehmen brauchen, das so schwer mit Hypotheken belastet war, daß ihm, wenn es einmal zur Erbschaftsteilung kam, Valentine, Gaston und Lucie sicherlich noch Geld schuldeten.
Und welche Erinnerungen erwachten wieder in Mathieu, als er nun mit Denis das fürstliche Palais in der Avenue d'Antin betrat! Er sah sich, wie in die Fabrik, hierher als armer Mann kommen, als dürftiger Mieter, der um die Ausbesserung des Daches bat, damit das Wasser des Himmels nicht die vier Kinder durchnässe, für die er in seinem sträflichen Leichtsinn schon die Sorge auf sich genommen hatte. Auf die Avenue blickte noch dieselbe stolze Renaissancefassade mit den hohen Fenstern in den zwei Stockwerken; dasselbe Bronze- und Marmorvestibül führte in die Salons des Erdgeschosses und den Wintergarten; und in der Mitte des ersten Stockwerkes befand sich noch immer das ehemalige Arbeitszimmer Séguins, das weite Gemach mit dem mächtigen Mittelfenster, in welches alte Glasmalereien eingefügt waren. Er erinnerte sich dieses Gemaches mit seiner überreichen, glänzenden Ausstattung an Antiquitäten, alten Stoffen, Goldarbeiten, Fayencen, mit seinen herrlichen Bucheinbänden und den berühmten modernen Zinnplastiken. Er erinnerte sich seiner in späterer Zeit, im Zustande der Vernachlässigung, des traurigen Verfalles, von Staub bedeckt, den langsamen Tod des Hauses verratend. Und nun fand er es wieder voll Pracht und Fröhlichkeit, mit einem solideren Luxus ausgestattet durch Ambroise, der drei Monate lang Maurer, Tischler und Tapezierer hier hatte arbeiten lassen. Das ganze Palais war zu neuem, noch reicherem Leben erwacht, erfüllte sich im Winter mit festlichem Treiben, war fröhlich belebt von dem Lachen der vier Kinder, strahlte vom Glanze dieses lebendigen Reichtums, den die erobernde Arbeit immer wieder erneuerte. Und nicht um den müßigen Séguin, den Bekenner der Lebensverneinung zu besuchen, kam Mathieu nun hierher, sondern seinen Sohn Ambroise, den Mann der schöpferischen Tatkraft, dessen Sieg die Lebenskräfte gewollt, und den sie hier im Hause des Besiegten als triumphierenden Herrn eingesetzt hatten.
Ambroise war abwesend und sollte erst zum Essen nach Hause kommen. Mathieu und Denis wollten ihn erwarten; und als ersterer das Vorzimmer wieder durchschritt, um die neue Einrichtung zu besehen, wurde er zu seiner Ueberraschung von einer Dame angesprochen, die hier gelassen wartete, und der er zuerst keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
«Ich sehe wohl, Monsieur Froment, daß Sie mich nicht wiedererkennen.«
Er machte eine unbestimmte Gebärde. Sie war eine dicke und starke Frau, offenbar jenseits der Sechzig, aber wohlgepflegt, lächelnd, mit einem langen und vollen Gesichte, das von ehrbaren grauen Haaren umgeben war. Man hätte sie für eine wackere Bürgersfrau aus der Provinz in Feiertagskleidung halten mögen.
»Céleste – Céleste, die ehemalige Zofe Madame Séguins.«
Nun erkannte er sie auf einmal und verbarg sein Erstaunen über ein so glückliches Ende. Er hatte sie in irgendeiner Kloake verkommen geglaubt. Und sie erzählte behaglich und frohgemut ihre Geschichte.
»Oh, ich bin sehr glücklich. Ich habe mich nach Rougemont in meine Heimat zurückgezogen und habe mich dort mit einem ehemaligen Marine-Offizier verheiratet, der eine hübsche Pension bezieht, abgesehen von einem kleinen Vermögen, das ihm seine erste Frau hinterlassen hat. Und da er zwei erwachsene Söhne hat, habe ich mir die Freiheit genommen, Monsieur Ambroise zu bitten, daß er den jüngeren in sein Geschäftshaus aufnimmt, was er so gut war, auch zu tun. Und da habe ich nun die nächste Gelegenheit abgewartet, die mich wieder nach Paris bringt, um ihm von ganzem Herzen zu danken.«
Sie erzählte nicht, in welcher Art sie den Marine-Offizier geheiratet hatte. Sie war zuerst als Mädchen für alles bei ihm eingetreten, war dann seine Geliebte geworden und schließlich seine legitime Frau, nach dem Tode seiner ersten Frau, deren Ende sie beschleunigt hatte. Aber sie machte ihn alles in allem ganz glücklich, sie befreite ihn sogar dank der schönen Verbindungen, die sie sich in Paris bewahrt hatte, von seinen beiden Söhnen, die ihm ziemlich lästig waren. Sie sprach nun lächelnd mit Mathieu, eine wackere Frau, die von den Erinnerungen an alte Zeiten gerührt wurde.
»Sie können sich nicht vorstellen, Monsieur, welche Freude ich hatte, als ich Sie vorhin erblickte. Oh, es ist eine hübsche Weile her, seit ich zum ersten Male das Vergnügen hatte, Sie hier zu sehen!... Erinnern Sie sich der Couteau? Auch sie lebt sehr zufrieden, sie hat sich mit ihrem Mann in ein hübsches Haus zurückgezogen, das ihnen gehört und wo sie sehr ruhig von ihren Ersparnissen leben. Sie ist nicht mehr jung, aber sie hat schon manchen begraben und wird noch manche begraben... Zum Beispiel Madame Menoux, Sie erinnern sich ja der Madame Menoux, der Krämerin von daneben? Die Arme hat kein Glück gehabt. Sie hat auch ihr zweites Kind verloren, sie hat ihren großen, schönen Mann verloren, den sie so leidenschaftlich liebte, und ist aus Kummer darüber sechs Monate später gestorben. Ich hatte vorübergehend daran gedacht, sie nach Rougemont mitzunehmen, wo die Luft so gut und so gesund ist. Wir haben Leute bei uns, die neunzig Jahre alt sind. Sehen Sie die Couteau an, die wird leben, solang sie will. Oh, es ist so angenehm bei uns, ein wahres Paradies!«
Und das scheußliche Rougemont, das blutige Rougemont erstand in der Erinnerung Mathieus, erhob seinen friedlichen Kirchturm über die Ebene, über den mit kleinen Parisern gepflasterten Friedhof, der unter seinen Blumen die mörderische Schlachtbank so vieler Leben verbarg.
»Sie haben keine Kinder in Ihrer Ehe?« fragte er, um etwas zu fragen, und da ihm nichts andres einfiel, während seine Gedanken bei diesen schrecklichen Bildern weilten.
Sie lachte wieder und zeigte ihre immer noch weißen Zähne.
»O nein, Monsieur Froment, dazu bin ich zu alt. Und dann gibt es Dinge, in die man sich nicht wieder einläßt... Apropos, Madame Bourdieu, die Hebamme, die Sie, glaube ich, gekannt haben, ist in unsrer Gegend gestorben, wohin sie sich schon vor langen Jahren auf eine ihr gehörige Besitzung zurückgezogen hatte. Sie hat mehr Glück gehabt, als die andre, die Rouche, die ja eine ganz brave Frau war, aber gleichwohl zu gefällig. Sie haben wohl von ihrem Prozeß in den Zeitungen gelesen, sie ist zu Gefängnisstrafe verurteilt worden, zugleich mit einem Arzt namens Saraille, mit dem zusammen sie wirklich unerlaubte Dinge angestellt hat.«
Die Rouche! Saraille! Freilich, Mathieu hatte den Prozeß dieser beiden sozialen Schädlinge verfolgt, die miteinander zusammengetroffen waren. Und welchen Widerhall aus der Vergangenheit erweckten diese Namen in ihm, indem sie ihn an jene andern beiden erinnerten! Valérie Morange! Reine Morange! Schon vorhin hatte er im Hofe der Fabrik das Gespenst Moranges vorbeiziehen sehen, des pünktlichen, furchtsamen und weichherzigen Buchhalters, den der Sturmwind des Unglücks und des Wahnsinns in dunkle Tiefen geschleudert hatte. Und nun erschien er plötzlich hier wieder, ein irrender Schatten, ein ruheloses Opfer all des unsinnigen Erfolghungers, der tollen Genußgier seiner Zeit, ein armer mittelmäßiger Mensch, der so entsetzlich für die Verbrechen andrer büßen mußte, daß er keine Ruhe fand in dem Grabe, in das er sich blutend, mit zerschmetterten Gliedern gestürzt hatte. Und Mathieu sah auch das Gespenst Sérafinens vorüberziehen, mit dem von Raserei und Schmerz verzogenen Antlitz der unfruchtbaren Begierde, die sich nicht ersättigen kann und die daran stirbt.
»Verzeihen Sie, Monsieur Froment, daß ich mir die Freiheit genommen habe, Sie anzusprechen. Ich bin sehr, sehr erfreut, Sie getroffen zu haben.«
Er sah sie immer noch an und sagte dann, als er ging, mit der Nachsicht seines Optimismus:
»Also viel Glück, da es Ihnen so gut geht. Das Glück muß wohl wissen, was es tut.«
Aber im Herzen war Mathieu verwirrt, schwer bedrückt von den Ungerechtigkeiten, die die gefühllose Natur geschehen ließ. Er dachte wieder an Marianne, die von einem so schweren Kummer betroffen war, die dem Gram über den lieblosen Streit ihrer Söhne unterlag. Und als Ambroise endlich kam, und ihn, nachdem er Célestens Dank entgegengenommen, fröhlich umarmte, wurde er von großer Herzensangst ergriffen vor dieser Schicksalsminute, die seinem Gefühle nach über das Heil der Familie entscheiden sollte.
Es kam übrigens rasch. Denis ging, nachdem er sich und den Vater zum Essen geladen hatte, ohne Umschweife auf sein Ziel los.
»Wir sind nicht bloß um des Vergnügens willen gekommen, mit dir zu essen. Mama ist krank, weißt du das?«
»Krank,« sagte Ambroise, »doch nicht ernstlich krank?«
»Ja, sehr krank, in Gefahr. Und weißt du, sie ist krank seit dem Tage, wo sie zu dir gekommen ist, um mit dir über den Streit zwischen Gervais und Grégoire zu sprechen und wo du, wie ich höre, sie fast grob behandelt hast.«
»Ich hätte sie grob behandelt? Wir haben von Geschäften gesprochen, und ich habe ihr als Geschäftsmann vielleicht etwas rauh geantwortet.«
Er wandte sich gegen Mathieu, der schweigend und blaß wartete.
»Ist das wahr, Vater, Mama ist krank und macht dir Sorge?«
Und da der Vater mit einem schweren Kopfnicken antwortete, geriet Ambroise in Erregung, wie früher Denis, im Augenblicke, da er die Wahrheit erfahren hatte.
»Ah, diese Geschichte wird aber nun schon zu albern! Nach meiner Ansicht hat Grégoire recht; aber mir ist das ganz alles eins, sie müssen sich versöhnen, wenn das der armen Mutter eine Minute Leides ersparen kann! Warum habt ihr denn nichts gesagt, warum euren Kummer nicht laut werden lassen? Dann wäre Ueberlegung gekommen und damit der Verstand.«
Er umarmte seinen Vater stürmisch, mit jener Plötzlichkeit der Entschließung, die ihm in seinen Geschäften so sehr zustatten kam, wenn er einmal das Richtige erkannt hatte.
»Und du bist noch der Klügste von uns allen, du bist der Wissende und Voraussehende... Selbst wenn Grégoire im Rechte ist, Gervais einen Prozeß zu machen, wäre es unsinnig, wenn er es täte, denn über diesem kleinen Interesse steht unser aller Interesse, das Interesse der Familie, welches ihr gebietet, einig, geschlossen, unantastbar zu bleiben, wenn sie unbesieglich bleiben will. Unsre größte Macht liegt in unsrer Gemeinsamkeit. Die Sache ist also ganz einfach. Wir werden in aller Eile essen, und dann fahren wir alle miteinander nach Chantebled. Heute abend noch muß der Friede hergestellt sein. Ich nehme es auf mich.«
Mathieu hatte ihm lächelnd, glücklich, sich endlich in seinen Söhnen wiederzufinden, seine Umarmung zurückgegeben. Ehe das Essen aufgetragen wurde, gingen sie noch in den Wintergarten hinab, den Ambroise hatte vergrößern lassen, um Feste geben zu können. Er gefiel sich darin, das Haus noch reicher auszustatten, mit fürstlichem Glanz darin zu residieren. Beim Essen entschuldigte er sich, daß er sie als Junggeselle empfange, trotzdem das Essen sehr gut war; er behielt während der Abwesenheit Andrées und der Kinder eine Köchin bei sich, da er eine wohlbegründete Abneigung gegen fremde Küchen hatte.
»Seit Berthe und die Kinder in Dieppe sind,« sagte Denis, »ist das Haus geschlossen und ich esse im Restaurant.«
»Das kommt, weil du ein Philosoph bist,« erwiderte Ambroise mit seiner ruhigen Offenheit. »Ich bin ein Genußmensch, wie du weißt. Jetzt trinkt schnell euren Kaffee und gehen wir.«
Sie kamen um zwei Uhr in Janville an. Ihr Plan war, sich zuerst nach Chantebled zu begeben, wo Ambroise und Denis vorerst mit Gervais sprechen wollten, der sanfterer Natur war und bei dem sie mehr Bereitwilligkeit zur Versöhnung zu finden hofften. Nachher wollten sie zu Grégoire gehen, ihm eine Strafpredigt halten und ihm die gemeinschaftlich festgestellten Friedensbedingungen aufzwingen. Aber je mehr sie sich dem Hofe näherten, desto größer und unüberwindlicher schienen ihnen die Schwierigkeiten. Die Sache würde doch nicht so leicht sein, als sie sich vorgestellt hatten. Sie bereiteten sich auf einen sehr harten Kampf vor.
»Wie wär's, wenn wir vorerst einmal zu Mama hinaufgingen,« schlug Denis vor. »Wir wollen sie umarmen, das wird uns Mut machen.«
Ambroise fand den Gedanken vortrefflich.
»Ja, ja, gehen wir hinauf, um so mehr, als Mama immer guten Rat gewußt hat. Sie wird uns einen Plan machen.« ^
Sie stiegen in den ersten Stock des Wohnhauses hinauf und wendeten sich dem großen Gemache zu, wo Marianne eingeschlossen, auf einer Chaiselongue beim Fenster ausgestreckt, ihre Tage verbrachte. Aber zu ihrer unsagbaren Verblüffung fanden sie sie aufrecht sitzend, vor ihr Grégoire, der ihre beiden Hände hielt, während auf der andern Seite Gervais und Claire freudig lächelnd standen.
»Was, wie?« rief Ambroise fassungslos. »Es ist geschehen!«
»Und wir haben daran gezweifelt, es zuwege zu bringen!« sagte Denis nicht minder verblüfft.
Mathieu, ebenso überrascht wie sie und hochbeglückt, erklärte den Anwesenden, die ihrerseits über das plötzliche Eintreffen der zwei Brüder erstaunt waren, wie das gekommen war.
»Ich bin diesen Morgen nach Paris gefahren, um sie zu holen, und ich bringe sie nun her, damit sie uns in einer großen allgemeinen Umarmung versöhnen!«
Daraus erfolgte ein Ausbruch fröhlichen Gelächters. Sie kamen zu spät, die großen Brüder! Man bedurfte weder ihrer Weisheit noch ihrer Diplomatie mehr. Und auch sie freuten sich und fühlten sich erleichtert, daß sie gesiegt hatten, ohne kämpfen zu müssen.
Marianne saß mit feuchten Augen und überglücklich da, so glücklich, daß sie fast geheilt schien, und erwiderte Mathieu:
»Du siehst, Liebster, es ist geschehen. Und ich weiß selber noch nicht mehr. Grégoire ist gekommen und hat mich geküßt und hat verlangt, daß ich sogleich Gervais und Claire holen lasse. Dann hat er ihnen aus freien Stücken gesagt, daß sie alle drei verrückt wären, daß sie mir so viel Kummer verursachten, und daß sie sich vertragen müßten. Dann haben sie sich auch geküßt. Es ist vorbei, alles ist wieder gut.«
Nun fiel Grégoire heiter ein:
»Hört einmal, ich nehme mich in dieser Sache zu schön aus, ich muß euch die Wahrheit sagen. Nicht ich habe den ersten Entschluß zur Versöhnung gefaßt, sondern meine Frau, Thérèse. Sie hat das beste Herz, zusammen mit dem härtesten Kopf, den man sich denken kann, und wenn sie sich einmal etwas in diesen Kopf gesetzt hat, so muß ich es schließlich und endlich tun. Gestern abend haben wir uns also gezankt, denn sie hat, ich weiß nicht wie, in Erfahrung gebracht, daß Mama vor Kummer krank ist, und sie war davon gequält, sie bemühte sich, mir zu beweisen, wie unsinnig dieser Streit sei, bei dem wir alle nur zu verlieren hätten. Heute früh hat sie natürlich wieder angefangen und hat mich überzeugt, um so mehr, als mich der Gedanke, daß unsre arme Mutter unsertwegen krank ist, kaum hat schlafen lassen. Aber es blieb noch Vater Lepailleur zu gewinnen. Thérèse hat auch das auf sich genommen, und sie hat sogar eine ganz großartige Idee gehabt, um dem Alten die feste Überzeugung beizubringen, daß er über alle einen großen Sieg davongetragen habe. Sie hat ihn überredet, auch endlich das schreckliche Stück Feld zu verkaufen, und zwar zu einem so tollen Preise, daß er seinen Triumph über alle Dächer wird schreien können.«
Und sich zu dem Herrn und der Herrin des Hofes wendend, fügte er in lustigem Tone hinzu:
»Mein lieber Gervais, meine liebe Claire, ich bitte euch, laßt euch übervorteilen. Es handelt sich um den Frieden meines Hauses. Macht meinem Schwiegervater die letzte Freude, ihn glauben zu lassen, daß er immer recht gehabt hat, und daß wir alle niemals etwas andres waren als Dummköpfe.«
»Oh, so viel Geld als er will,« versetzte Gervais lachend. »Diese Enklave ist übrigens eine Schande für unsre Felder, die sie wie mit einer Stein- und Unkrautnarbe verunstaltet. Schon lange war es unser Wunsch, diesen häßlichen Fleck beseitigt, den Erntesegen ohne Unterbrechung in der Sonne sich dehnen zu sehen. Chantebled kann seinen Stolz bezahlen.«
Damit war die Sache erledigt, und der Mühle sollten fortan wieder die Getreidemengen des Hofes zufließen, der sich um ein neues Feld vergrößerte. Und die Mutter würde gesund werden, denn die glückbringende Lebenskraft, das Liebesbedürfnis, die Erkenntnis, daß die Einigkeit für die ganze Familie notwendig sei, wenn sie den Sieg bewahren wollten, sie hatten ihren Einfluß geübt, forderten die Brüderlichkeit dieser Sühne, die toll genug gewesen waren, für eine Weile ihre Macht zu zerstören, indem sie sich gegenseitig zerfleischten. Die Freude aller, daß die großen Brüder Denis, Ambroise, Gervais, Grégoire und die große Schwester Claire nun hier vereinigt, versöhnt, unbesieglich waren, wurde noch erhöht, als Charlotte hereinkam und die drei andern Schwestern, die in der Umgebung verheiratet waren, Louise, Madeleine und Marguerite mitbrachte. Louise hatte von der Mutter Krankheit gehört und hatte ihre beiden Schwestern abgeholt, um gemeinschaftlich mit ihnen herbeizueilen und zu hören, was es gäbe. Sie wurden mit fröhlichem Lachen empfangen, als sie der Reihe nach eintraten.
»Alle beinander!« rief Ambroise heiter. »Die Familie ist vollzählig, eine Versammlung des großen Kronrates! Du siehst, Mama, du mußt gesund sein, dein ganzer Hof ist zu deinen Füßen und will dir nicht einmal eine einfache Migräne gestatten.«
Als aber nun Benjamin als letzter hinter den drei Schwestern hereinkam, verdoppelte sich die Heiterkeit.
»Und Benjamin! Den haben wir vergessen!« sagte Mathieu.
»Komm, mein Kleiner, küsse du mich auch,« sagte Marianne leise und zärtlich. »Weil du der letzte der Schar bist, machen sich diese Großen da lustig. Wenn ich dich verwöhne, so geht das nur uns beide an, nicht wahr? Sage ihnen, daß du den Vormittag mit mir verbracht hast, und daß du nur auf meinen Wunsch ein wenig spazieren gegangen bist.«
Benjamin lächelte sanft, ein wenig traurig.
»Ich war ja unten, Mama, und habe sie alle heraufgehen sehen, einen nach dem andern. Ich habe nur gewartet, bis die Umarmungen vorüber waren, um auch heraufzukommen.«
Er war nun einundzwanzig Jahre alt, von zarter Schönheit, mit weißer Gesichtshaut, großen braunen Augen, langen, gelockten Haaren und einem leichten, gekräuselten Barte. Obgleich er nie krank gewesen war, hielt ihn seine Mutter für schwach und pflegte ihn sehr. Im übrigen verhätschelten ihn alle ob seiner Anmut, des sanften Reizes seines Wesens. Er war in einer Art Träumerei aufgewachsen, von einem Verlangen erfüllt, dem er keinen Namen geben konnte, auf der Suche nach dem Unbekannten, dem Andern, dem, was er nicht hatte. Und als die Eltern sahen, daß er zu keinem Berufe eine Neigung fassen konnte, daß selbst der Gedanke an eine Heirat ihm unangenehm zu sein schien, widerstrebten sie dem nicht, faßten im Gegenteil den stillen Plan, ihn für sich zu behalten, dieses späte Geschenk des Schicksals, diesen Letztgeborenen, der so gut und so schön war. Hatten sie nicht alle andern hergegeben? War dieser Egoismus ihrer Liebe nicht verzeihlich, daß sie einen für sich, ganz für sich bewahren wollten, der sich nicht verheiraten würde, der nichts tun sollte, der nur zu dem köstlichen Zwecke auf die Welt gekommen wäre, von ihnen geliebt zu werden und sie zu lieben? Es war der Traum ihres Alters, der Teil, den sie, als Belohnung für ihre reiche Nachkommenschaft, aus dem gefräßigen Leben retten wollten, das alles gibt und alles wieder nimmt.
»Hör einmal, Benjamin,« sagte Ambroise plötzlich, »da du dich für unsern kühnen Nicolas interessierst, willst du Neues von ihm hören? Ich habe vorgestern Nachricht von ihm bekommen. Und es ist wohl auch nur billig, daß ich von ihm spreche, denn er ist der einzige der Schar, wie Mama sagt, der nicht hier sein kann.«
Benjamin zeigte sogleich ein leidenschaftliches Interesse. »Wirklich, er hat geschrieben? Was sagt er? Was macht er?«
Der tiefe Eindruck, den die Auswanderung Nicolas' nach dem Senegal auf Benjamin gemacht hatte, wirkte noch immer nach. Er war damals noch nicht zwölf Jahre alt gewesen, und es war nun beinahe neun Jahre her; aber der Vorgang stand noch immer lebhaft vor seiner Seele, mit dem Abschied für immer, mit dem Ausflug in die Unendlichkeit der Zeit und der Zukunftshoffnung.
»Wie ihr wißt,« erzählte Ambroise, »bin ich mit Nicolas in Geschäftsverbindung. Oh, wenn wir in unsern Kolonien einige Leute von seiner Klugheit und seiner Tatkraft hätten, so würden wir gar bald die Reichtümer, die in jenen jungfräulichen Ländern unbenutzt schlummern, scheffelweise einheimsen. Ich wenigstens – wenn mein Vermögen sich mehrt, so ist es, weil ich meine Scheuern mit diesen Reichtümern fülle. Unser Nicolas hat sich also in Senegal niedergelassen, mit seiner Lisbeth, einer Gefährtin, wie er sie brauchte. Mit den wenigen tausend Franken, die sie hatten, eröffneten sie ein Handlungshaus, und ihr Geschäft blühte. Aber ich fühlte wohl, daß ihnen das Feld noch immer viel zu eng sei, daß sie danach verlangten, mehr Raum zu gewinnen, mehr neue Erde zu erobern. Und plötzlich teilt mir Nicolas mit, daß er nach dem Sudan geht, in das eben erst eröffnete Tal des Niger. Er nimmt seine Frau mit, die vier Kinder, die er schon hat, und so ziehen sie aufs Geratewohl auf Eroberung aus, als kühne, tatenlustige Pioniere, die von dem Drang getrieben sind, eine neue Welt zu gründen. Mir hat das ein wenig den Atem verlegt, denn es war eine wahre Tollheit. Aber er ist unerschrocken, unser Nicolas, und mich hat schließlich diese lebendige Tatkraft begeistert, die prächtige Zuversicht dieses tapferen Bruders, der so nach einem unbekannten Lande auszieht, mit der ruhigen Sicherheit, daß er es unterjochen und bevölkern wird.«
Ein Schweigen folgte. Ein Hauch hatte über sie hingeweht, der Hauch aus der Unendlichkeit da drüben, aus dem Geheimnis der jungfräulichen Ebenen. Und die Familie folgte im Geiste dem Kinde, einem der ihrigen, der auszog, um die unter dem weitgespannten Himmel sich dehnende Wüste mit der menschlichen Saat zu besäen.
»Ach,« sagte Benjamin leise, seine schönen großen Augen geöffnet und weit damit hinausschauend, bis ans Ende der Erde, »ach, wie glücklich ist er, daß er andre Flüsse, andre Wälder, andre Sonnen sehen kann!«
Aber Marianne erschauerte. »Nein, nein, mein Kind, es gibt keine andern Flüsse als die Yeuse, keine andern Wälder, als unsre Wälder von Lillebonne, keine andre Sonne, als die Sonne von Chantebled. Komm, umarme mich noch einmal, umarmen wir uns alle noch einmal, und ich werde wieder gesund werden, und wir werden uns nie mehr voneinander trennen, nie mehr!«
Es gab wieder allseitige Umarmungen unter frohem Lachen. Es war ein großer Tag, der Tag eines Sieges, des entscheidendsten, desjenigen, den die Familie über sich selbst davongetragen hatte, indem sie nicht zuließ, daß die Zwietracht sie zersetze. Fortan war sie gebietend, unüberwindlich.
In der Abenddämmerung dieses Tages saßen Mathieu und Marianne wie am Abend vorher Hand in Hand am Fenster, von wo aus sie den Besitz sich bis zum Horizont hin erstrecken sahen, dem Horizont, hinter welchem Paris seinen gewaltigen Atem, die schwarzgraue Wolke seiner Riesenesse emporhauchte. Aber wie wenig glich dieser frohe Abend jenem andern, welches Glücksgefühl erfüllte sie nun, welche frohe Zuversicht auf das gute, fortan gesicherte Werk!
»Fühlst du dich besser! Fühlst du deine Kräfte wiederkehren, schlägt dein Herz leicht?« »Oh, mein Schatz, ich fühle mich wieder gesund, ich starb nur an meinem Kummer. Morgen werde ich wieder kräftig sein.«
Da versank Mathieu in tiefes Sinnen, angesichts seiner Schöpfung, dieser Besitzung, die sich endlos unter der sinkenden Sonne erstreckte. Und wieder stiegen die Erinnerungen in ihm auf, er gedachte des Morgens vor nun mehr als vierzig Jahren, wo er Marianne und die Kinder mit dreißig Sous in dem baufälligen Pavillon am Waldesrande zurückgelassen hatte, den sie der Billigkeit halber bewohnten. Sie hatten Schulden, ihrer war der frohgemute, der göttliche Leichtsinn, mit ihren vier stets hungrigen Kleinen, mit dem Strom von Knaben und Mädchen, den sie frei aus ihrer Liebe, ihrem Glauben an das Leben entfließen ließen. Dann erinnerte er sich seiner Heimkehr am Abend, der dreihundert Franken, die er als sein Gehalt mitbrachte, der Berechnungen, die er angestellt hatte, von feiger Angst ergriffen, sinnesverwirrt von dem vergifteten Egoismus, dessen Fieberschauer er aus Paris mitgebracht hatte. Die Beauchêne, mit ihrer Fabrik, mit ihrem kleinen Maurice, dem einzigen Sohne, den sie zum künftigen Geldfürsten erzogen, hatten ihm das traurigste Elend vorausgesagt, den Tod auf dem Stroh, mitsamt seiner Frau und seiner Schar von Kindern. Und die Séguin, damals seine Hauseigentümer, hatten ihre Millionen vor ihm ausgebreitet, ihr prächtiges, von Kostbarkeiten erfülltes Palais, hatten ihn erdrückt, hatten mitleidig und geringschätzig auf ihn herabgeblickt, sie, deren Weisheit sich auf einen Knaben und ein Mädchen zu beschränken verstand. Und selbst diese armen Morange hatten davon gesprochen, ihrer Tochter Reine eine fürstliche Mitgift zu geben, hatten von einer Stellung mit zwölftausend Franken Einkommen geträumt, voll Verachtung für das selbstgewollte Elend der zahlreichen Familien. Ja sogar die Lepailleur, die Müllersleute, zeigten sie nicht deutlich ihr Mißtrauen gegen diese Städter, die ihnen zwölf Franken für Eier und Milch schuldeten, fragten sie sich nicht, wie man seine Schulden bezahlen könne, wenn man sein Leben ruiniere, indem man ein Kind nach dem andern bekomme? Ach, sie hatten recht, er fühlte seinen Fehler, er sagte sich damals, daß er niemals eine Fabrik, noch ein Palais, noch selbst eine Mühle sein eigen nennen werde, ebensowenig als er je zwölftausend Franken verdienen werde. Die andern hatten alles, er hatte nichts. Die andern, die Reichen, waren weise genug, sich nicht mit Familie zu beladen, und er, der Arme, hängte sich Kinder an den Hals, eins nach dem andern, ohne zu rechnen. Es war der reine Wahnsinn. Und schließlich überkam ihn dann eine köstliche Erinnerung, an den Paroxysmus von Liebe und Hoffnung, welcher ihn nach all diesen klugen Betrachtungen in die Arme seiner Marianne, seiner tapferen und zuversichtlichen Marianne geworfen hatte, in einem Auflodern der göttlichen Begierde, die ein Kind mehr wollte, noch ein Wesen in der ewigen Entstehung der Wesen.
Und nun, nach vierzig Jahren, war sein Wahnsinn zur Weisheit geworden. Er hatte gesiegt durch seinen göttlichen Leichtsinn, der Arme hatte die Reichen geschlagen, der gute Sämann, der die Saat mit vollen Händen ausstreute, auf die Zukunft vertrauend, die die volle Ernte einheimsen würde. Und der letzte Tag, der schöne Tag, den er seit diesem Morgen durchlebte, rollte sich noch einmal mit allen seinen triumphierenden Eindrücken in seinem Geiste ab. Die Fabrik der Beauchêne, er besaß sie heute durch seinen Sohn Denis, er sah sie vor sich, eine Stadt der Arbeit, mit ihren sausenden Maschinen, ihren dröhnenden Amboßen, auf denen die Millionen für den Herrn geschmiedet wurden. Das Palais Séguin, er besaß es ebenfalls durch seinen Sohn Ambroise, prächtiger als je, bereichert durch die Gewinne an dem Handel mit allen Ländern der Erde. Die Mühle der Lepailleur, er besaß sie nicht minder durch seinen Sohn Grégoire, ins Zehnfache vergrößert, voll neuerblühten Gedeihens, wie ein letztes Geschenk des Glückes, das von selbst der Arbeit, der siegreichen Tatkraft zufällt. Ein furchtbares, maßloses Strafgericht hatte die bejammernswerten Morange in einen Abgrund von Blut und Wahnsinn geschleudert. Viele andern waren dahin, waren in die Gosse gesunken: Sérafine, nutzlos, in ihrer Genußgier vernichtet; die Moineaud zerstreut, verdorben, zerfressen von dem Gifthauch ihrer Lebenssphäre. Und er, Mathieu, stand allein noch aufrecht, Sieger im Verein mit Marianne, im Angesichte dieses Besitzes Chantebled, den sie den Séguin abgewonnen hatten, und wo nun ihre Kinder, Gervais und Claire, herrschten, die Dynastie ihres Geschlechtes fortpflanzten. Das war ihr Königreich, die Felder dehnten sich bis ans Ende des Gesichtskreises, wogten voll überquellend reichen Segens im schwindenden Licht des Abends, zeugten für den Kampf, für die heldenmütige Fruchtbarkeit ihres ganzen Daseins. Das war ihr Werk, das, was sie an Leben, Wesen und Dingen gezeugt hatten in ihrer machtvollen Liebe, in ihrer Tatfreudigkeit, liebend, wollend, handelnd, eine Welt schaffend.
»Sieh nur, sieh nur,« sagte Mathieu, »alles dies ist aus uns entsprossen, und wir müssen fortfahren, uns zu lieben, glücklich zu sein, damit das alles leben bleibe.«
»Oh,« erwiderte Marianne fröhlich, »das wird nun immer leben, da wir uns alle umarmt haben, da wir den Sieg errungen haben.«
Der Sieg! Der notwendige, natürliche Sieg der zahlreichen Familie! Dank der zahlreichen Familie, dem unaufhaltsamen Vorwärtsdringen der Vielen, hatten sie schließlich alles besetzt, alles sich zu eigen gemacht. Die Fruchtbarkeit war die gebietende, die unwiderstehliche Eroberin. Und diese Eroberung war ganz von selbst geschehen, sie hatten sie weder beabsichtigt noch vorbereitet, sie dankten sie, in ihrer fleckenlosen Ehrlichkeit, nur der in langer Arbeit erfüllten Pflicht. Und sie saßen nun Hand in Hand angesichts ihres Werkes, gleich bewunderungswürdigen Helden, umstrahlt von dem Ruhme, gut und stark gewesen zu sein, viele Kinder geboren, viel geschaffen zu haben, der Welt viel Freude, Gesundheit und Hoffnung gegeben zu haben inmitten der ewigen Kämpfe und der ewigen Tränen des Lebens.