Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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4

Als Mathieu am nächsten Morgen daran ging, die delikate Aufgabe zu erfüllen, die er auf sich genommen, erinnerte er sich der beiden Hebammen, deren Namen er neulich bei den Séguin aus dem Munde der Zofe Céleste vernommen hatte. Er ließ vorerst Madame Rouche beiseite, von der das Mädchen so eigentümlich gesprochen hatte, indem sie sagte, daß es bei ihr »sehr schnell gehe«, und daß sie sich der Sache »mit großem Eifer annehme«. Aber er wollte sich über Madame Bourdieu erkundigen, die Hebamme, die in der Rue Miromesnil ein ganzes kleines Haus bewohnte, wo sie Pensionärinnen annahm. Und er glaubte sich zu erinnern, daß diese seinerzeit, damals am Anfange ihrer Tätigkeit, Madame Morange von ihrer Tochter Reine entbunden hatte, was ihm den Gedanken gab, vorerst einmal bei Morange anzufragen.

Dieser, der in seinem Bureau bereits arbeitete, schien bei der ersten Frage in Verwirrung zu geraten. »Ja, eine Freundin hatte meiner Frau Madame Bourdieu empfohlen. ... Aber warum fragen Sie mich das?«

Er sah ihn angstvoll an. als ob der Name dieser Madame Bourdieu wie ein Blitzstrahl durch seine Gedanken fahre, als wäre er bei etwas Verbotenem auf frischer Tat ertappt worden. Diese Erwähnung gab vielleicht irgendeinem finsteren Gespenst Körper, das ihn verfolgte, rührte vielleicht alle die qualvollen Für und Wider auf, zwischen denen er bisher noch nicht vermocht hatte, eine Entscheidung zu treffen. Er war blaß geworden, und seine Lippen bebten.

Dann, als Mathieu ihm gesagt hatte, daß es sich darum handle. Norine unterzubringen, entschlüpfte ihm ein unwillkürliches Geständnis. »Gerade heute früh hat meine Frau von Madame Bourdieu gesprochen ... Ja, ich weiß nicht, wie sie darauf kam. Was eine Auskunft betrifft, es ist so lange her, wissen Sie, daß wir Genaues nicht mehr sagen können. Aber es hat den Anschein, daß sie sehr erfolgreich gewesen ist, und daß sie heute einem sehr hübschen Hause vorsteht. Ueberzeugen Sie sich selbst, Sie werden dort ohne Zweifel finden, was Sie suchen.«

Mathieu folgte diesem Rat. Da er sich indessen erinnerte, gehört zu haben, daß die Unterkunft bei Madame Bourdieu teuer sei, änderte er seinen Entschluß und begab sich vorerst nach der Rue de Rocher, um sich durch eignen Augenschein über Madame Rouche zu unterrichten. Schon der Anblick des Haufes stieß ihn ab: ein schwarzes Haus des alten Paris, an der Stelle gelegen, wo die Straße steil abfällt; durch den dunkeln, übelriechenden Torweg kam man in einen engen Hof, auf welchen die Fenster der wenigen, armseligen Zimmer sahen, die die Hebamme bewohnte. Das roch nach der Kloake und dem Verbrechen. Oberhalb der Einfahrt trug ein schlechtgemaltes gelbes Schild in dicken Lettern bloß den Namen der Madame Rouche. Als er klingelte, führte ihn ein Dienstmädchen mit schmutziger Schürze in einen kleinen Salon von dem Charakter eines Hotelzimmers, der von Küchenduft erfüllt war; und alsbald erschien eine Dame von fünf- bis sechsunddreißig Jahren, schwarz gekleidet, von hagerer Gestalt, mit bleifarbenem Teint, dünnen, farblosen Haaren und einer großen Nase, die das ganze Gesicht beherrschte. Mit ihrer langsamen und leisen Sprechweise, ihren vorsichtig katzenhaften Bewegungen, ihrem stereotypen, säuerlich-süßen Lächeln machte sie auf ihn den Eindruck einer schrecklichen Frau, deren Geschäft das Ersticken ohne Gewaltanwendung war, der geräuschlose Daumendruck, der das ungeborene Leben der Vernichtung anheimgibt. Sie sagte ihm übrigens, daß sie Pensionärinnen erst acht bis zehn Tage vor der Niederkunft annehme, da sie nicht über die nötigen Einrichtungen verfüge; dies machte weitere Erkundigungen überflüssig, und Mathieu eilte fort, von Ekel ergriffen, das Herz von Angst zusammengeschnürt.

In der Rue Miromesnil bot das kleine dreistöckige Haus, welches Madame Bourdieu innehatte, wenigstens einen freundlichen Anblick mit seiner hellen Fassade und den weißen Musselinvorhängen an den Fenstern. Ein hübsches Schild kündigte eine Hebamme erster Klasse an, eine Entbindungsanstalt mit Pension für Damen. Der Laden des Erdgeschosses war von einem Kräuterhändler eingenommen, dessen Warenpakete einen angenehmen Duft verbreiteten. Daneben war das Haustor stets geschlossen, wie das eines Privathauses; der sauber gehaltene Hausflur mündete in einen ziemlich geräumigen Hof, der von einer hohen grauen Mauer abgeschlossen war, hinter welcher die Kaserne der Nachbarstraße sich befand. Dies war sogar recht lustig; und es wurde als Annehmlichkeit hingestellt, daß man die Trommeln und Trompeten gedämpft durch die dicke Mauer höre, ohne davon belästigt zu werden. Im ersten Stock befanden sich längs des Ganges der Salon und das Arbeitszimmer der Madame Bourdieu, ihr Schlafzimmer, das gemeinschaftliche Eßzimmer und die Küche; im zweiten und dritten Stock befanden sich sodann die Zimmer der Pensionärinnen, ein Dutzend im ganzen, einige für drei oder vier Betten, andre für eines, diese natürlich teurer. Und Madame Bourdieu, zurzeit zweiunddreißig Jahre alt, herrschte hier, eine hübsche, brünette Frau, etwas kurz und dick, aber mit einem großen und heiteren Gesichte von sehr weißer Hautfarbe, welches ihr in bemerkenswerter Weise mit zu ihrem Erfolge geholfen hatte, und zu dem Rufe der Anständigkeit, den sie und ihr Hans genoß. Man sagte allerdings, daß man nicht allzu genau untersuchen dürfe; aber es war eben ihr Beruf als solcher, welcher derlei böse Nachrede herausforderte. Nie noch waren wirklich häßliche Dinge über sie vernommen worden. Sie war vor kurzem von der Verwaltung der öffentlichen Armenpflege anerkannt worden, welche ihr Frauen, die ihrer Niederkunft entgegensahen, in Pflege gab, wenn es in den Spitälern an Platz mangelte. Und dies schien ein entscheidendes Zeugnis für die Ehrbarkeit des Hauses zu sein, so daß dessen Kunden, wie man sagte, sich nun aus den besten und anständigsten Kreisen rekrutierten.

Mathieu war genötigt, mit Madame Bourdieu zu unterhandeln, denn sie verlangte zuerst zweihundert Franken monatlich von ihm; und da er dies als zu viel erklärte, war sie im Begriffe, sich zu entrüsten und erhob die Stimme, obgleich sie im Grunde eine gutmütige Frau war.

»Aber, werter Herr, wie soll ich denn da meine Rechnung finden? Keine von uns wird reich. Wir müssen erst zwei Jahre in einer Gebäranstalt verbringen, um das Diplom zu bekommen, und das kostet uns tausend Franken jährlich. Dann kommen die Kosten der Einrichtung, alle die Entbehrungen, die man durchmachen muß, ehe man sich einen Kundenkreis schafft, wodurch es begreiflich wird, daß so viele von uns auf Abwege geraten. Und selbst wenn man, Gott weiß unter welchen Anstrengungen, es dahin gebracht hat, ein Haus wie das meinige zu schaffen, so hören die Unannehmlichkeiten noch nicht auf: keine Stunde Ruhe, eine unausgesetzte Verantwortlichkeit, das Bewußtsein, welch schwere Folgen die kleinste Unachtsamkeit, die geringste Vergeßlichkeit haben kann. Ganz zu schweigen von der Überwachung durch die Polizei, den unvorhergesehenen Besuchen der Inspektoren, einer Menge von Vorsichtsmaßregeln, zu denen man verpflichtet ist, wovon Sie sich gar keinen Begriff machen.«

Sie konnte sich aber nicht enthalten, zu lächeln, als Mathieu ihr durch eine Gebärde zu verstehen gab, daß er in diesen Dingen unterrichtet sei und recht wohl wisse, daß die polizeilichen Inspektionen noch keiner Hebamme Ungelegenheiten verursacht hätten.

»Nun ja, natürlich, man richtet sich ein. Aber hierher können Sie jeden Tag kommen, sie werden mich nie bei etwas Unrechtem ertappen. Anständig zu sein ist noch immer die beste Art, um gute Geschäfte zu machen. Ich habe daher auch von meinen dreißig Betten fünfundzwanzig besetzt, und zwar von Damen aller Stände. Wenn sie sich der Hausordnung unterwerfen und ihre Pension zahlen, oder die Armenverwaltung sie für sie bezahlt, so frage ich sie nicht einmal, woher sie kommen; weder Namen noch Adresse, das Berufsgeheimnis würde mir verbieten, selbst das weiterzusagen, was ich durch Zufall erführe. Sie sind frei, sie haben nichts zu fürchten, und wenn wir in bezug auf die Dame, in deren Namen Sie mich aufsuchen, zu einer Einigung kommen, so haben Sie mir sie lediglich an dem bestimmten Tage zuzuführen, und sie wird bei mir das diskreteste und gesündeste Asyl finden.«

Mit ihrer großen Erfahrung hatte sie wohl auf den ersten Blick die Natur des Falles erkannt: irgendein Mutter gewordenes Mädchen, das ein Herr anständig versorgen wollte. Das waren die einträglichen Geschäfte. Und als sie erfuhr, daß es sich um einen Aufenthalt von vier Monaten handelte, wurde sie entgegenkommend und begnügte sich schließlich mit einem Pauschalbetrag von sechshundert Franken, unter der Bedingung, daß die Dame ein Zimmer mit drei Betten mit zwei andern teile. Es wurde alles abgemacht, und die neue Pensionärin noch desselben Abends eingeführt.

»Sie heißen Norine, mein Kind. Sehr wohl, das genügt. Sobald Ihr Köfferchen heraufgebracht ist, werde ich Sie in Ihr Zimmer führen. Sie sind schön wie ein Engel, und ich weiß schon jetzt, wir werden gute Freundinnen werden.«

Erst fünf Tage später kam Mathieu wieder zu Madame Bourdieu, um zu sehen, wie sich Norine befand. Wenn er an seine Frau dachte, deren glückliche Schwangerschaft er mit so zarter Aufmerksamkeit, mit einem Kultus der Anbetung und Zärtlichkeit umgab, so empfand er ein schmerzliches Gefühl, ein unendliches Mitleid für alle verschämten, verborgenen, beschimpften Schwangerschaften, für alle die unglücklichen Frauen, denen es furchtbare Qualen bereitet, Mutter zu sein. Der Gedanke an das Entsetzen und die Schmach, in welche die Mutterschaft die Frau stürzen kann, bis in den Kot, bis ins Verbrechen, peinigte ihn wie eine Entweihung; und nie hatte er, in seinem leidenschaftlichen allmenschlichen Gefühl, sich so von Güte und Hilfswillen durchwärmt gefühlt. Er hatte noch einmal mit Beauchêne kämpfen müssen, der sich widersetzt hatte, als er hörte, daß eine Fünfhundertfrankennote nicht genüge. Aber es war ihm gelungen, seine Einwilligung zu allem zu erlangen, und sogar noch etwas Geld für Wäsche und ein kleines Taschengeld von zehn Franken monatlich. Er wollte dem armen Mädchen nun die ersten zehn Franken bringen.

Knapp nach neun Uhr betrat Mathieu wieder das Haus in der Rue Miromesnil. Ein Dienstmädchen, welches hinaufgegangen war, um Norine zu benachrichtigen, kam zurück und sagte, sie befinde sich noch im Bett, aber Monsieur könne hinaufgehen, da Madame allein im Zimmer sei. Sie führte ihn hinauf und öffnete eine Tür im dritten Stock, indem sie sagte: »Madame, da ist Monsieur.«

Als sie Mathieu sah, lachte Norine fröhlich. »Sie hält Sie für den Vater, wissen Sie! Und es tut mir leid, daß es nicht wahr ist, denn Sie sind sehr liebenswürdig.«

Sie saß im Bette aufrecht, in ein weißes Kamisol gehüllt, ihre schönen Haare sorgfältig frisiert und rückwärts in einen Knoten vereinigt, sehr sauber, sehr weiß, ein anständiges und vernünftiges Mädchen. Sie zog sogar die Decke etwas höher hinauf mit einer jener instinktiven Gebärden der Schamhaftigkeit, die verrieten, daß sie sich in ihrem Falle noch Unverdorbenheit bewahrt hatte.

»Sind Sie krank?« fragte er sie.

»O nein, ich lasse es mir nur wohl sein. Es ist erlaubt, im Bette zu bleiben, und so schlafe ich in den Tag hinein. Das ist mir etwas Neues, die ich sonst jeden Tag um sechs Uhr bei einer Hundekälte aufstehen mußte, um in die Fabrik zu gehen. Sie sehen, ich habe Feuer; und sehen Sie nur das Zimmer an, ich wohne da wie eine Prinzessin.«

Er sah sich um. Es war ein geräumiges Zimmer, mit perlgrauer, blaugeblümter Tapete bekleidet. Von den drei kleinen Eisenbetten standen zwei nebeneinander, das dritte querüber, eins vom andern durch ein Nachtkästchen und einen Stuhl getrennt. Die Einrichtung bestand dann noch aus einer Kommode, einem Kleiderschrank und sonstigem zusammengetragenem Mobiliar eines Hotelzimmers. Aber durch die zwei Fenster, die auf die graue Mauer sahen, hinter welcher sich die Kaserne befand, fiel um diese Stunde heller Sonnenschein herein, dessen Strahlenbündel ihren Weg zwischen zwei hohen Häusern der Nachbarschaft fanden.

»Ja, es ist nicht übel,« sagte er.

Er hatte sich gegen das dritte Bett gewendet und hielt inne, als er, vor diesem Bette stehend, eine lange, schwarze Gestalt gewahrte, die er bisher nicht bemerkt hatte. Es war ein großes Mädchen von unbestimmbarem Alter, dürr und mager, mit ernstem Gesichte, matten Augen und blassem Munde. Sie hatte weder Hüften noch Brust, einen flachen Leib, gleich einem halbbearbeiteten Brett. Sie war im Begriffe, die Riemen eines Koffers zu schließen, der neben einem Reisesack auf dem offenen Bette lag. Als sie sich sodann der Tür zuwendete, ohne auch nur einen Blick auf den Besucher zu werfen, hielt Norine sie an. »Sie sind also fertig und gehen nun, Ihre Rechnung bezahlen?«

Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie verstand, und antwortete dann ruhig, mit starkem englischen Akzent: » Yes, bezahlen.«

»Aber Sie kommen wieder herauf, nicht wahr, damit ich Ihnen Adieu sagen kann?«

» Yes, yes.«

Als sie draußen war, sagte Norine, daß sie Amy heiße, daß sie ein wenig Französisch verstehe, aber kaum einige Worte sprechen könne. Und sie hätte die ganze Geschichte erzählt, wenn sich nicht Mathieu zu ihr ans Bett gesetzt und sie unterbrochen hätte. »Ich sehe also, daß bei Ihnen alles gut geht und daß Sie zufrieden sind?«

»Oh, ich bin sehr zufrieden! Nie im Leben habe ich's so gut gehabt, gutes Essen, gute Pflege, von früh bis abends nichts zu tun, als sich zu hätscheln. Ich habe nur den einen Wunsch, daß es so lange als möglich dauern möge.«

Sie lachte fröhlich, unbekümmert um die Zukunft, ohne auch nur an das kleine Wesen zu denken, welches sie unterm Herzen trug. Vergebens suchte er das Muttergefühl in ihr zu wecken, indem er sie fragte, was sie dann tun werde, welche Pläne sie habe. Sie verstand ihn nicht einmal, glaubte, daß er von dem Vater spreche, zuckte die Achseln und sagte, daß sie sich nicht um ihn kümmere, daß sie nie so dumm gewesen sei, auf ihn zu rechnen. Ihre Mutter hatte sie am Tage nach ihrer Aufnahme besucht. Aber dieser gutherzige Besuch erweckte ihr keinerlei Täuschung, sie rechnete auch auf ihre Familie nicht, wo es nicht Brot für alle gab. Du lieber Gott, sie werde schon sehen. Ein hübsches Mädchen in ihrem Alter sei nicht in Verlegenheit. Sie streckte sich behaglich in ihrem weißen Bette aus, glücklich, sich jung und begehrenswert zu wissen, bereits besiegt von dieser warmen Trägheit, von dem Verlangen erfaßt, nur mehr solche wohlige Morgen zu haben, nun sie ihre weiche Annehmlichkeit gekostet hatte.

Dann kam sie wieder stolz auf den feinen Ton, auf die hohe Anständigkeit des Hauses zu sprechen, als ob ihr selbst dadurch ein höherer Glanz verliehen würde. Sie stieg dadurch um eine Klasse. »Man hört keinen Streit, kein lautes Wort. Alles ist hier sehr anständig. Es ist entschieden das bestgehaltene Haus des Viertels, Sie können in alle Winkel sehen und werden nirgends Schmutz finden. Natürlich kommen keine Prinzessinnen hierher, aber von dem Augenblicke, da man sich zu benehmen weiß, ist es gleichgültig, woher man kommt, nicht wahr?«

Sie wollte ein Beispiel anführen.

»Sehen Sie, das dritte Bett dort, neben dem der Engländerin, das gehört einem achtzehnjährigen Dienstmädchen. Sie hat ihren wahren Namen angegeben, Victoire Coquelet, und sie macht kein Geheimnis aus ihrer Geschichte. Gleich nach ihrer Ankunft aus ihrem Heimatsdorfe gerät sie in das Haus eines Mannes, der sich mit allerlei dunkeln Geschäften befaßt, und dessen Sohn, ein langer Bengel von zwanzig Jahren, verführt sie in der Küche, fünf Tage nach ihrer Ankunft. Was wollen Sie? Sie war ganz unerfahren, sie ist noch heute ganz betäubt von der Sache und weiß nicht recht, was geschehen ist. Natürlich hat die Mutter des langen Bengels sie fortgejagt. Die arme Kleine ist auf der Straße aufgelesen worden, und die Armenverwaltung hat sie hier untergebracht. Aber ich kann Ihnen versichern, daß sie sehr brav ist, sehr arbeitsam und so tapfer, daß sie sich, trotz ihres Zustandes, in den Dienst einer andern jungen Pensionärin gestellt hat, die ein eignes Zimmer da hinter der Zwischenwand bewohnt. Das ist erlaubt, die Armen dürfen sich an die Reichen verdingen. – Was jene andre betrifft, die nur den Namen Rosine angegeben hat, oh, das ist eine Geschichte, die Victoire im Vertrauen erfahren hat –«

Sie wurde durch das Oeffnen der Tür unterbrochen und rief aus: »Ah, da kommt gerade Victoire!«

Mathieu sah ein kleines, blasses Mädchen eintreten, die das Aussehen einer kaum Fünfzehnjährigen hatte, mit roten, zerzausten Haaren, einer Stumpfnase, kleinen Augen, großem Munde; sie sah aus, als hätte sie die Bestürzung über ihren Unfall noch nicht verwunden, als wollte sie alle Leute um Aufklärung bitten. Und hinter dem armen Geschöpfe sah er in einer plötzlichen Vision Tausende ihrer Schicksalsgefährtinnen, die die Provinz auf das Pariser Pflaster schickt, und deren Geschichte die gleiche ist, ein langer Zug verführter und dann im Namen der bürgerlichen Tugend davongejagter Dienstmädchen. Was würde aus dieser da werden? An welch endloser Zahl von Plätzen würde sie dienen, und wieviel Schwangerschaften erwarteten sie noch?

»Amy ist doch noch nicht fort?« sagte sie. »Ich will ihr Adieu sagen.«

Nachdem sie den Koffer auf dem Bette bemerkt, und nachdem Norine ihr Mathieu als einen diskreten Freund vorgestellt hatte, erzählten die beiden Mädchen ihm die Geschichte der Engländerin. Man konnte freilich nichts Genaues sagen, sie radebrechte fürchterlich und war überdies so wenig mitteilsam, daß man von ihrem Leben gar nichts wußte. Aber man erzählte sich, daß sie schon vor drei Jahren im Hause gewesen sei, um sich eines ersten Kindes zu entledigen. Und das zweite- wie das erstemal war sie eines schönen Morgens erschienen, ohne sich vorher angekündigt zu haben, acht Tage vor ihrer Niederkunft; und nachdem sie drei Wochen im Bette geblieben war und das Kind hatte verschwinden lassen, indem sie es dem Findelhause übergab, kehrte sie ruhig mit demselben Schiffe, das sie hergebracht hatte, in ihre Heimat zurück. Sie bewerkstelligte sogar eine kleine Ersparnis, indem sie jedesmal mit einem Retourbillett reiste.

»Das ist sehr bequem,« sagte Norine; »es scheint, daß ihrer eine Menge so aus dem Auslande hierher kommen. Wenn das Ei in Paris gelegt wird, so müßte einer sehr schlau sein, um die Schalen zu finden. – Ich glaube, daß diese da eine Art Nonne ist, nicht eine solche, wie wir sie in Frankreich haben, sondern eine von den Frauen, die in einem Haus beisammen leben, so eine Art Betschwester. Sie steckt ihre Nase den ganzen Tag in Gebetbücher.«

»In jedem Fall,« sagte Victoire mit Ueberzeugung, »ist sie sehr wohlerzogen, nichts weniger als schön natürlich, aber sehr höflich und nicht schwatzhaft.«

Sie schwiegen, Amy trat ein. Mit erwachter Neugierde betrachtete sie Mathieu. Wie sonderbar, dieses große, so wenig für die Liebe geschaffene Mädchen, dieses gelbe, dürre, eckige Weib, das von Zeit zu Zeit nach Paris kam, um zwischen zwei Schiffen entbunden zu werden! Und mit welch gelassener Herzenshärte ging sie fort, ohne jede Bewegung, ohne einen Gedanken an das Kind, das sie zurückließ! Sie warf nicht einmal einen letzten Blick auf dieses Zimmer, wo sie gelitten hatte, und wollte einfach ihr leichtes Gepäck aufnehmen und gehen, als die beiden andern, viel bewegter als sie, den Wunsch aussprachen, ihr noch einen Abschiedskuß zu geben. »Lassen Sie es sich gut gehen,« sagte Norine. »Glückliche Reise!«

Die Engländerin hielt ihr die Wange hin und berührte dann mit ihren Lippen das Haar dieses hübschen, üppigen Mädchens, wobei sie eine gewisse Schamhaftigkeit zu überwinden schien.

» Yes, gut, gut. Sie auch.«

»Und denken Sie an uns, und auf Wiedersehen, ja?« fügte Victoire unbedacht hinzu, nachdem sie ihr zwei feste Küsse auf den Mund gegeben hatte.

Dieses Mal verzog Amy ihre Lippen zu einem matten Lächeln und antwortete nichts. Dann ging sie, ohne sich umzudrehen, mit ihrem ruhigen, festen Schritte hinter dem kleinen, aufgeregten Dienstmädchen hinaus, die an der Tür ausrief: »Bin ich dumm, ich bin ja eigens hereingekommen. um Ihnen zu sagen, daß Mademoiselle Rosine sich von Ihnen verabschieden will! Schnell, schnell, kommen Sie mit hinüber!«

Als sie sich mit Mathieu allein befand, nahm Norine, nachdem sie mit einer hübschen, schamhaften Bewegung die Decke hinaufgerückt hatte, die beim Abschiednehmen herabgeglitten war, ihre Erzählungen wieder auf.

»Was das Abenteuer Mademoiselle Rosinens betrifft, von dem ich Ihnen gesagt habe, und das mir Victoire erzählt hat, so ist es wirklich nicht schön. Denken Sie sich, sie ist die Tochter eines sehr reichen Juweliers. Natürlich wissen wir seinen Namen nicht, noch selbst, in welchem Viertel er sein Geschäft hat. Sie ist eben achtzehn geworden, sie hat einen Bruder von fünfzehn Jahren, und der Vater ist ein Mann von vierundvierzig Jahren. Ich sage Ihnen die Alter, Sie werden gleich sehen, warum. Da verliert also der Juwelier seine Frau, und Sie erraten wohl nicht, welchen Weg er einschlug, um sie zu ersetzen! Zwei Monate nach der Beerdigung geht er eines schönen Abends ruhig ins Zimmer seiner Tochter und entehrt sie. Das ist stark, was? Bei den armen Leuten ist das nichts Seltenes, und ich kenne in Grenelle mehr als eine, der es ebenso gegangen ist. Aber bei Bürgerlichen, bei Leuten, die Geld genug haben, um sich alle Weiber zu bezahlen, die sie wollen – was sagen Sie dazu? Und was mich besonders empört, das ist nicht, daß die Väter das verlangen, sondern daß die Töchter es gewähren. – Nun ist freilich Mademoiselle Rosine so sanft und liebenswürdig, daß sie wahrscheinlich ihren Vater nicht kränken wollte. Gleichviel, nun haben sie beide ihr Teil. Man hat sie hier wie in ein Gefängnis gesteckt, niemand kommt zu ihr; und Sie können sich wohl vorstellen, ob Befehl gegeben wurde, das Kind verschwinden zu lassen. Es würde eine hübsche Figur in der Welt machen, dieses Produkt!«

Ein lebhaftes Gespräch, das an der Tür hörbar wurde, unterbrach sie. Sie legte einen Finger an die Lippen, denn sie erkannte die Stimme Mademoiselle Rosinens, die Amy begleitete. »Wollen Sie sie sehen?« fragte sie leise.

Ehe Mathieu noch antworten konnte, rief sie sie. Mathieu, den die Geschichte zur Starrheit entsetzt hatte, sah mit Ueberraschung ein entzückendes Kind eintreten, eine Brünette von seltener jungfräulicher Schönheit, mit schwarzem, gescheiteltem Haar und blauen Augen voll unbefangener Reinheit. In ihrem Blicke lag eine erstaunte Unschuld, eine unendlich holde Keuschheit. Sie schien noch nichts von ihrem Zustande zu wissen, die sich bereits im siebenten Monate der Schwangerschaft befand, ungefähr so wie Norine. Welch ein Jammer, großer Gott! und welch entsetzliche Mutterschaft, mit dem Fluch des Skandals und des Verbrechens belastet, die die Liebe besudelte, das Leben entweihte, und dieses unselige Kind der Blutschande zur Welt bringen würde, das man sozial vernichten mußte wie ein schädliches Tier!

Norine drang in sie, sich neben sie zu setzen. »Bitte, bleiben Sie doch ein wenig. Dieser Herr ist ein Verwandter, der mich besucht. Sie wissen, welche Freude Sie mir machen.«

Mathieu war erstaunt über die Vertraulichkeit, die sich so rasch zwischen diesen Frauen herausgebildet hatte, welche aus allen Klassen, aus allen Weltgegenden hierhergekommen waren. Selbst zwischen Rosine und Victoire, zwischen Herrin und Magd, bestand eine sichtbare Intimität, entstanden aus ihrem gleichen Schicksale, demselben entstellten Leibe, demselben unter Leiden sprossenden Leben. Die Unterschiede verschwanden in diesem Hause, hier waren sie alle nur Frauen, die meisten ohne Namen, die aus dem Unbekannten hierher zusammengeweht worden, jetzt nur mehr schmerzensvolle Geschöpfe, einander gleich durch das Unglück und das Vergehen. Von den dreien, die hier gegenwärtig waren, behandelten zwei die dritte ohne Zweifel mit der respektvollen Zärtlichkeit von gesellschaftlich Untergeordneten; gleichwohl fühlte sich diese, die eine gute Erziehung genossen hatte, die Klavier spielte, zu ihnen wie zu Freundinnen hingezogen, plauderte mit ihnen stundenlang, vertraute ihnen selbst ihre kleinen Geheimnisse an.

So kam es auch, daß die drei, nachdem sie Mathieu vergessen hatten, alsbald dabei waren, die häuslichen Vorgänge miteinander zu besprechen.

»Sie wissen ja,« sagte Victoire, »daß Madame Charlotte, die feine Dame, die das nächste Zimmer bewohnt, diese Nacht entbunden worden ist.«

»Man hätte taub sein müssen, um es nicht zu hören,« versetzte Norine.

»Ich habe nichts gehört,« sagte Mademoiselle Rosine mit ihrer unschuldigen Miene.

»Das kommt daher, daß unser Zimmer zwischen Ihrem und dem der Dame liegt,« erklärte Victoire. »Aber das ist nicht alles. Das merkwürdigste ist, daß Madame Charlotte im Begriffe ist, das Haus zu verlassen. Man hat eben nach einem guten Wagen für sie geschickt.«

Die beiden andern entsetzten sich. Sie wollte sich also umbringen! Eine Frau, deren Entbindung so schmerzhaft gewesen zu sein schien, und welche, noch ungeheilt, aufstand, einen Wagen nahm und nach Hause zurückkehrte! Das mußte ja mit Sicherheit zu einer Bauchfellentzündung führen. War sie denn toll?

»Ja,« fuhr das Mädchen fort, »sie kann aber nicht anders, wenn sie sich nicht dem größten Unglück aussetzen will. Sie können sich wohl denken, daß die arme Dame es vorziehen würde, ruhig in ihrem Bett zu bleiben. Aber Sie erinnern sich ja an das, was man sich erzählt hat. Nicht wahr, Mademoiselle Rosine, Sie wissen alles, die Dame hat Sie ja ins Herz geschlossen und Ihnen ihre Lebensgeschichte vertraut?«

In der Tat, Rosine mußte zugeben, daß sie viele Dinge wußte. Und es war wieder eine entsetzliche Geschichte, die Mathieu mit anhörte, während sich ihm das Herz zusammenkrampfte. Madame Charlotte, eine Brünette von dreißig Jahren, großgewachsen, mit feinen Zügen, schönen, weichen Augen und einem Munde voll Liebreiz und Güte, hieß vermutlich Madame Houry, was man aber nicht sicher wußte; sicher schien jedoch, daß ihr Mann ein Handelsreisender war, der nach Persien und Indien reiste, um dort für ein großes Haus Teppiche, Stickereien und Tapeten einzukaufen. Man sagte, er sei brutal, von wilder Eifersucht beherrscht, behandle seine Frau schlecht, fahre sie bei der geringsten Veranlassung roh an. Sie hatte der trostverheißenden, süßen Lockung nachgegeben, sich einen Geliebten zu nehmen, einen ganz jungen Mann, einen einfachen, kleinen Angestellten, der sie mit Zärtlichkeit überschüttete. Das Unglück wollte, daß sie schwanger wurde. Anfangs beunruhigte sie dies nicht zu sehr, denn ihr Mann war für ein Jahr verreist; sie hatte es sich ausgerechnet, sie würde bis zu seiner Rückkehr entbunden und genesen sein. Sie begnügte sich also damit, ihre hübsch eingerichtete Wohnung in der Nähe der Rue de Rennes zu verlassen, als sie fürchtete, daß ihr Zustand sichtbar werden könnte, und sich aufs Land zurückzuziehen. Und hier erhielt sie, zwei Monate vor ihrer wahrscheinlichen Niederkunft, einen Brief ihres Mannes, worin er ihr ankündigte, daß er seine Rückkehr vermutlich beschleunigen werde. Man kann sich nun vorstellen, in welch qualvollem Seelenzustande die arme Frau sich von da ab befand. Sie rechnete wieder und wieder, geriet in Verwirrung, wurde zu Tode geängstigt durch Möglichkeiten, welche aus Tatsachen folgten, deren sie sich nicht mehr genau erinnerte. Endlich, als sie glaubte, daß ihre Niederkunft in höchstens vierzehn Tagen erfolgen würde, suchte sie Zuflucht bei Madame Bourdieu unter dem Schutze tiefsten Geheimnisses. Hier vermehrten sich ihre Qualen, denn ein neuer Brief ihres Mannes teilte ihr mit, daß er am fünfundzwanzigsten dieses Monats in Marseille eintreffen werde. Man schrieb den sechzehnten, neun Tage noch. Sie zählte die Tage, dann zählte sie die Stunden. Würde ihr ein kleiner Vorsprung gegönnt sein, würde es zu spät werden? Es war ihre Rettung oder ihr Verderben, was sich entschied, unabhängig von ihrem Willen, während sie aus einem Weinkrampf in den andern fiel, in steigender tödlicher Angst dem Wahnsinn nahe kam. Ein jedes Wort der Hebamme machte sie am ganzen Körper zittern, und sie befragte sie jede Minute aufs neue mit ihrem armen, angstverzerrten Gesichte. Nie hatte ein unglückseliges Geschöpf die Freude, eine Stunde geliebt worden zu sein, mit solchen Höllenqualen bezahlt. Endlich, am Morgen des fünfundzwanzigsten, als sie schon in hoffnungslose Verzweiflung verfallen war, traten die ersten Wehen auf, und sie küßte vor Freude darüber Madame Bourdieu die Hände, trotzdem sie schrecklich litt. Um das Unglück voll zu machen, dauerten die Wehen den ganzen Tag und fast die ganze Nacht; sie wäre nach allem nun doch verloren gewesen, wenn ihr Mann nicht hätte in Marseille übernachten müssen. Er würde erst die folgende Nacht eintreffen; und gegen fünf Uhr morgens entbunden, hatte sie also eine Gnadenfrist bis zum Abend, um ihre Wohnung zu erreichen, eine Krankheit vorzuschützen, irgendeinen plötzlichen Blutverlust, der sie zwinge, im Bett zu bleiben. Aber welch grauenhaftes Aufstehen vom Wochenbett, welch verzweifelter Todesmut, um sich so halbtot zu erheben und wieder nach Hause zurückzukehren!

»Oeffnen Sie die Tür,« bat Norine, »ich möchte sie vorbeigehen sehen.«

Victoire öffnete die Tür, die auf den Gang führte. Seit einigen Minuten hörte man Geräusch im Nebenzimmer. Und bald darauf erschien Charlotte, taumelnd wie betrunken, von zwei Frauen gestützt, die sie fast trugen. Ihre schönen, weichen Augen, ihr reizender und gütiger Mund drückten nur mehr Schmerz und Verzweiflung aus; und die vornehme Haltung ihrer zarten Gestalt war vernichtet von der Wucht ihres namenlosen Unglücks. Als sie jedoch die Tür offen sah, hielt sie an und rief Rosine mit schwacher Stimme, ein schattenhaftes Lächeln auf den Lippen.

»Kommen Sie, mein Kind, ich möchte Ihnen noch einen Kuß geben. Ach, ich bin nicht sehr stark, aber vielleicht führe ich es doch durch. Leben Sie wohl, mein Kind, und auch Sie, meine Lieben. Seien Sie glücklicher!«

Man trug sie weiter, sie verschwand.

»Sie hat einen Knaben gehabt, wissen Sie,« sagte Victoire. »Und sie hatte sich so lange nach einem gesehnt! Aber sie hatte sich so abgehärmt, daß er zwei Stunden nach seiner Geburt starb.«

»Ein großes Glück für sie,« sagte Norine.

»Gewiß,« stimmte Rosine sanft mit ihrer jungfräulichen Miene bei. »Kinder, die unter solchen Umständen geboren werden, machen niemand Freude.«

Mathieu hörte fassungslos zu. Seine Augen behielten noch die entsetzliche, die unvergeßliche Vision dieses Gespenstes, das da vorbeigezogen war, dieser unbekannten Dulderin, die mit der offenen Wunde von dannen ging, dieser tragischen Märtyrerin der geheimen und schuldigen Niederkunft. Und er sah auch die andern drei vor sich: Amy, die Abwesende, die ihre Last so gefühllos auf der fremden Erde abwarf; Victoire, die betäubte Sklavin, Gegenstand des Vergnügens für den Herrn, dem sie zufällt, mit einem Kind morgen, dann wieder eins, und wieder eins; Rosine, die willfährige Blutschänderin, dieses wohlerzogene, sanfte Mädchen, das mit harmlosem Lächeln das Monstrum trug, das man vernichten würde, damit sie später eine geschändete und geachtete Ehefrau werden könne. In welche Hölle war er da geraten, in welchen Pfuhl der Scheußlichkeit, der Laster und der Leiden? Und diese Entbindungsanstalt war die beste, die anständigste des Viertels! Es war also wahr, man bedurfte solcher Zufluchtsstätten für die gesellschaftlichen Greuel, geheimer Asyle, wohin unselige schwangere Frauen sich zurückziehen konnten! Es war dies also das notwendige Sicherheitsventil, die tolerierte Einrichtung, womit der Kindsmord und das Abortieren bekämpft werden sollten. Die göttliche Mutterschaft wurde in dieser versteckten Pfütze vernichtet, die triumphierende Tat des Lebens fand in dieser Kloake ihr Ende. Man müßte sie mit religiöser Weihe umgeben, und statt dessen wurde sie zum schmutzigen Geschäft eines schmutzigen Hauses, wurde die Mutter entwürdigt, besudelt, hinausgejagt, das Kind gehaßt, verwünscht, verstoßen. Der ganze ewige Strom der Befruchtung, der durch die Adern der Welt rollt, alle die keimende Menschheit, die die Körper der Frauen schwellt, wie die weite Erde im Frühjahr geschwellt wird – alle diese Saat wurde entehrt, im voraus herabgewürdigt, der Schmach überliefert. Wie viel Kraft und Gesundheit und Schönheit gingen hier verloren! Er sah sie nun alle aus dem Unbekannten hierher auf dem Wege, sah sie mit tiefstem Mitleid, die unglücklichen schwangeren Frauen, die, welche ihre Armut auf die Straße setzte, sowie die, welche sich verbergen mußten, die Heimlichen, die Schuldigen, die falsche Namen angaben und im geheimen Kinder gebaren, welche man in das dunkle Elend zurückschleuderte, dem sie entstammten. Dann überkam ihn, inmitten des Jammers, der ihm das Herz zusammenschnürte, ein weicheres Gefühl: war nicht auch das Leben, trotz allem und allem, mußte man nicht jedes sprießende Reis in dem großen Menschheitswalde willkommen heißen? Und waren es nicht häufig die mächtigsten Eichen, die unter widrigen Umständen gewachsen waren, deren Wurzeln zwischen Steinen ihren Weg hatten suchen müssen?

Als Norine sich wieder mit Mathieu allein befand, bat sie ihn, bei Madame für sie zu sprechen, daß sie ihr Kaffee zum Mittagstisch gebe. Da er ihr zehn Franken monatlich als Taschengeld bringen werde, so wolle sie ihn lieber bezahlen. Sie bat ihn dann, sie im Salon unten zu erwarten, bis sie angekleidet sei.

Im ersten Stock irrte sich Mathieu zuerst und öffnete die Tür des gemeinschaftlichen Eßzimmers, eines großen Raumes, dessen Mitte ein langer Tisch einnahm, und in welchen aus der benachbarten Küche der Geruch eines schlecht gehaltenen Ausgusses herüberkam. Im Wartezimmer gegenüber, das mit Mahagoni- und verschossenen Ripsmöbeln eingerichtet war, fand er zwei Frauen im Gespräch, die ihm sagten, daß Madame Bourdieu in Anspruch genommen sei. Er setzte sich sodann in einen Fauteuil und zog eine große Zeitung aus der Tasche, um zu lesen. Bald jedoch wurde er auf das Gespräch der beiden Frauen aufmerksam und hörte mit Interesse zu. Die eine war offenbar eine der Pensionärinnen des Hauses und befand sich im letzten Stadium einer schmerzhaften Schwangerschaft, die sie zugrunde gerichtet und entkräftet, ihr Gesicht entstellt hatte. Und die andre, die ebenfalls vor der Entbindung stand, hatte sich, wie er dem Gespräche entnahm, soeben mit der Hebamme verständigt, und wollte morgen eintreten. Sie befragte die erste, um zu erfahren, ob man sich hier wohl befinde, wie das Essen und die Wartung sei.

»Oh, Sie werden sich hier nicht schlecht befinden, besonders da Sie etwas Geld haben,« sagte langsam die arme leidende Frau. »Mich hat die Armenverwaltung hierhergebracht, und ich würde mich hier gewiß hundertmal besser befinden als bei mir zu Hause, wenn ich nicht so von Unruhe wegen meiner Kinder gequält wäre, die ich habe verlassen müssen. Ich habe Ihnen schon erzählt, daß ich drei habe, und Gott weiß, wie es denen ergeht, denn mein Mann ist nicht sehr brav. Jedesmal, wenn ich in die Wochen komme, ist es dasselbe: er wird nachlässig in der Arbeit, er trinkt, er läuft Weibern nach, so daß ich nicht einmal sicher bin, ihn wiederzufinden, wenn ich nach Hause komme. Es ist gerade so, als ob meine Kinder auf der Straße wären. Sie können sich also denken, wie ich mich in Ungeduld verzehre, wenn ich hier alles habe, was ich brauche, gutes Essen, ein warmes Zimmer, während meine armen Würmer dort vielleicht weder Brot noch Feuer haben. ... Wie, es lohnt sich wohl, wieder eines zu haben, damit es unser aller Unglück noch vergrößert!«

»Freilich, freilich,« sagte die andre, die kaum zugehört hatte, nur mit sich selbst beschäftigt. »Mein Mann ist Angestellter, und wenn ich hierherkomme, so ist es nur, weil unsre Wohnung so klein und eng ist, daß uns das zu Hause zu viel Umstände machen würde. Ich habe übrigens nur noch ein Kind, ein Mädchen von zwei Jahren, das wir zu einer Cousine in Pflege gegeben haben. Wir werden sie dann zurücknehmen müssen, um das Neugeborene an ihrer Statt dorthin zu bringen. Wieviel Geld man ausgeben muß, mein Gott!« Sie wurden durch den Eintritt einer schwarzgekleideten, verschleierten Dame unterbrochen, welche von dem Dienstmädchen, das sie einführte, gebeten wurde, hier zu warten. Mathieu war im Begriff, sich zu erheben, als er, bei einer Wendung, im Spiegel Madame Morange erkannte. Nach einem kurzen Zögern fühlte er sich durch diese schwarze Toilette, diesen dichten Schleier bewogen, sich wieder in seinen Fauteuil zurückzulehnen, als ob er in die Zeitung vertieft wäre. Sie sah ihn offenbar nicht, und er beobachtete verstohlenen Blickes jede ihrer Bewegungen durch den Spiegel.

»Was mich bewogen hat, hierher zu kommen, obgleich es hier teuer ist,« fuhr die Frau des Angestellten fort, »das ist, daß ich mir geschworen hatte, mich nie mehr in die Hände der Hebamme zu begeben, die mich von meinem ersten Kinde entbunden hat. Ich hatte genug von ihr, von ihrem Schmutz und ihrer Abscheulichkeit gesehen.«

»Wer ist denn das?« fragte die andre.

»Oh, ein scheußliches Weib, das ins Zuchthaus gehört! Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine elende Höhle ist, ein Haus, feucht wie ein Brunnen, schmutzige Zimmer, ekelhafte Betten, und dieses Essen, und diese Wartung! Außerdem gibt es keine Mördergrube, wo mehr Verbrechen begangen worden wären. Es ist unbegreiflich, daß die Polizei da nicht einschreitet. Ich habe mir von Mädchen, die häufige Gäste des Hauses waren, erzählen lassen, daß man, wenn man zu dieser Frau gehe, sicher sein könne, ein totes Kind zur Welt zu bringen. Die Totgeburt, das ist die Spezialität des Hauses. Sie hat dort ihren festen Preis. Ich weiß bestimmt, daß während meiner Anwesenheit dort drei Frauen zu ihr gekommen sind, die sie mit einem Instrument entbunden hat.«

Mathieu sah, daß Valérie, die unbeweglich, ohne sich zu rühren, dastand, mit leidenschaftlichem Interesse zuhörte. Sie wendete nicht einmal den Kopf gegen die Sprecherinnen, aber unter dem Schleier funkelten ihre schönen Augen fieberisch.

»Hier,« sagte die Arbeiterfrau, »werden Sie nichts dergleichen sehen. Madame Bourdieu hütet sich wohl, sich in gefährliche Dinge einzulassen.«

Die andre dämpfte die Stimme: »Und doch hat man mir erzählt, daß sie sich dazu hat bereit finden lassen, ja, für eine Gräfin, die eine hohe Persönlichkeit ihr zugeführt hat! Und es soll nicht einmal so lange her sein.«

»Ja freilich, wenn es sich um sehr reiche Leute handelt, dann glaub' ich's wohl. Alle leihen die Hand dazu, das ist sicher. ... Trotzdem ist das Haus sehr anständig.«

Abermals trat Schweigen ein; dann fuhr sie ohne Uebergang fort: »Wenn ich nur bis zuletzt hätte arbeiten können! Aber diesmal befinde ich mich leider in einem solchen Zustande, daß ich seit vierzehn Tagen jede Arbeit habe aufgeben müssen. Und ich werde mich wahrlich nicht pflegen, ich werde von hier fortgehen, auch wenn ich noch nicht ganz gesund bin, sobald ich mich nur auf den Füßen halten kann. Meine Kleinen erwarten mich. ... Wissen Sie, daß es mir nach dem, was Sie mir erzählt haben, fast leid tut, daß ich nicht zu dieser Hexe gegangen bin? Sie hätte mich befreit. Wo wohnt sie denn?«

»Die Rouche ist es, die Hebamme, die alle Dienstmädchen und alle Dirnen des Viertels sehr gut kennen. Sie hat ihre Höhle am unteren Ende der Rue du Rocher, ein verpestetes Haus, in welches ich nicht mehr wagen würde, bei Tage einzutreten, seitdem ich weiß, was dort für Scheußlichkeiten vorgehen.«

Sie schwiegen und entfernten sich. Madame Bourdieu erschien auf der Schwelle ihres Arbeitszimmers. Und während Mathieu, durch die Rücklehne des Fauteuils verdeckt, sich nicht bewegte, trat Valérie zu der Hebamme ein. Bis zuletzt hatte sie begierig auf das Gespräch der beiden Frauen gehorcht. Er ließ die Zeitung sinken und verlor sich in entsetzenvolles Sinnen, tief erregt durch die Schicksale dieser Frauen, schaudernd bei dem Gedanken an all das Grauenhafte, das sich im Dunkel barg. Wieviel Zeit verging ihm so? Er hatte dafür kein Bewußtsein, als er durch Stimmen, die an sein Ohr drangen, aus seinem Nachdenken aufgestört wurde.

Madame Bourdieu geleitete Valérie. Sie zeigte ihr gewöhnliches gutes, volles Gesicht, lächelte sogar mit mütterlichem Ausdruck; aber die junge Frau, die offenbar geschluchzt hatte, bebte am ganzen Körper, und ihr Gesicht war glühend vor Kummer und Scham.

»Sie sind unvernünftig, liebes Kind, Sie sprechen mir von törichten Dingen, die ich nicht hören will. Kehren Sie schnell nach Hause zurück, und seien Sie gescheit.«

Nachdem Valérie ohne ein Wort fortgegangen war, bemerkte Madame Bourdieu mit Erstaunen Mathieu, der sich erhoben hatte. Sie wurde plötzlich ernst, ohne Zweifel bedauernd, daß sie in seiner Gegenwart so gesprochen hatte. Aber gleichzeitig kam auch Norine, und es entwickelte sich ein heiteres Gespräch, denn die Hebamme gestand gern ihre besondere Vorliebe für hübsche Mädchen. Wenn man hübsch sei, sagte sie, so erkläre das wenigstens die Dinge. Der schwarze Kaffee wurde erlaubt, da Norine sich erbot, ihn extra zu bezahlen. Und nachdem Mathieu Norine noch versprochen hatte, sie bald wieder zu besuchen, empfahl er sich.

»Nächstes Mal bringen Sie mir Orangen mit, ja?« rief ihm das Mädchen, ganz rosig und glücklich, noch über die Treppe nach.

Als Mathieu die Rue La Boëtie hinabging, blieb er plötzlich stehen. An der Ecke dieser Straße sah er Valérie im Gespräch mit einem Manne; und in diesem Manne erkannte er Morange, den Gatten. Eine plötzliche Gewißheit durchfuhr ihn: Morange war mit seiner Frau gekommen und hatte sie auf der Straße erwartet, während sie zu Madame Bourdieu hinaufgegangen war; und jetzt standen sie beide da, fassungslos, verzweifelt, unschlüssig, und berieten sich. Sie fühlten nicht einmal, daß die Vorübergehenden sie anstießen, sie glichen Unglücklichen, die in einen tosenden Wirbel gestürzt sind, die, paralysiert durch die Gewißheit des Todes, widerstandslos ihrem Schicksal zutreiben. Ihre Seelenangst war ihnen deutlich anzusehen, irgendein furchtbarer Kampf spielte sich in ihnen ab. Zehnmal veränderten sie den Platz, von den Furien getrieben, die ihnen im Nacken saßen. Sie gingen hin und her, bewegten sich in fieberischer Hast, blieben wieder stehen, flüsterten leise miteinander, unbeweglich, wie erstarrt durch ihre Ohnmacht gegenüber den unerbittlichen Tatsachen. Einen Augenblick atmete Mathieu erleichtert auf, er hielt sie schon für gerettet, denn sie waren um die Ecke der Rue La Boëtie gebogen und wendeten sich gegen Grenelle, mit zögernden und resignierten Schritten. Aber sie hielten abermals inne und wechselten wieder einige in Verzweiflung gestammelte Worte. Und sein Herz krampfte sich zusammen, als er sah, daß sie wieder umkehrten, die Rue La Boëtie hinabgingen und die Rue de la Pépinière bis zur Rue du Rocher durchschritten.

Mathieu war ihnen gefolgt, ebenso zitternd und mit zerrissener Seele wie sie selbst. Er wußte, wohin sie gingen, aber er wollte die schreckliche Gewißheit haben. Dreißig Schritte vor dem elenden schwarzen Hause des alten Paris, an der Stelle, wo der abschüssige Teil der Rue du Rocher sich zu senken beginnt, blieb er stehen und verbarg sich in einem Haustore, denn er ahnte, daß das unselige Paar sich noch einmal umsehen werde. Und so geschah es auch: als die Morange vor dem dunkeln und übelriechenden Torweg angekommen waren, gingen sie zuerst daran vorbei, indem sie einen scheuen Blick auf das schlecht gemachte gelbe Schild warfen, und kehrten dann um, um sich zu überzeugen, daß niemand sie sehe. Sie zögerten nicht mehr, sie betraten die Schicksalspforte, die Frau zuerst, dann der Mann, denn sie wollte offenbar, daß er auch mit dabei sei. Das alte, rissige Haus, das eine Atmosphäre von Kloake und Verbrechen ausströmte, hatte sie verschlungen.

Bebend gleich ihnen, blieb Mathieu auf dem Platze und folgte ihnen im Geiste, an der Hand seiner Erinnerungsbilder. Er sah sie, wie sie sich den Torweg entlang tasteten, den feuchten Hof durchschritten, von dem Dienstmädchen mit schmutziger Schürze eingelassen, und in dem kleinen, einem vernachlässigten Hotelzimmer ähnlichen Salon von Madame Rouche empfangen wurden, der Frau mit der großen Nase der schlauen Mörderin und dem stereotypen sauersüßen Lächeln. Und das Geschäft wurde besprochen, und man einigte sich. Hier handelte es sich nicht mehr bloß um die heimlichen und verwünschten Mutterschaften, die schuldbeladenen und entehrenden Geburten, die ihm bei Madame Bourdieu das Herz zusammengeschnürt hatten; es war der feige und gemeine Mord, was man hier praktizierte. Verführte Mädchen, die in dem Verführer nicht den Vater angeben können, Dienstmädchen, für die das Kind eine unerträgliche Last ist, verheiratete Frauen, die um keinen Preis Mütter werden wollen, mit oder ohne Einverständnis des Gatten, kamen verstohlen in diese Höhle, stürzten sich alle in diesen mörderischen Schlund, diese Werkstätte der Verderbnis und der Vernichtung. Das abscheuliche Instrument der Henkerin verrichtete lautlos sein Werk, und Tausende von Leben fielen in den Abgrund.

Während unter der strahlenden Sonne der Strom der Lebewesen schwoll und überquoll, der Lebenssaft in unzählbaren Röhrchen nach oben stieg, zerstörten die kleinen, dürren Hände der Rouche die Keime im Hintergrunde dieser finsteren Mördergrube. Es gab keine verbrecherischere Entweihung, keine schändlichere Vergewaltigung der ewigen Fruchtbarkeit der Erde.


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