Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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Zwei Jahre gingen hin. Und während dieser zwei Jahre bekamen Mathieu und Marianne noch ein Kind, einen Knaben. Und diesmal vergrößerte sich zugleich mit der Familie auch die Besitzung Chantebled wieder, um alle die Heideflächen, die sich ostwärts bis zum Dorfe Vieux-Bourg ausdehnten. Damit war nun das letzte Stück erworben, die Eroberung des Besitzes war endlich vollendet, dieser ganzen fünfhundert Hektar früher unbebauten Landes, welche der Vater Séguins, der einstige Armeelieferant, gekauft hatte, um sie zu einem königlichen Herrensitz umzugestalten. Jetzt waren diese Ländereien von einem Ende zum andern urbar gemacht, eine ungeheuer reiche Fruchtbarkeit lohnte die unermüdliche menschliche Arbeit; und nur die den Lepailleur gehörige Enklave, welche diese eigensinnig nicht verkaufen wollten, durchschnitt diese grüne Ebene mit einem steinigen, trostlos dürren Streifen. Das Leben setzte seinen unaufhaltsamen Eroberungszug fort, die Fruchtbarkeit verbreitete sich unter der Sonne, die Arbeit schuf unausgesetzt, unermüdlich, trotz aller Hindernisse und Kümmernisse, füllte die Lücken der Verluste aus, goß zu jeder Stunde neue Kraft, neue Gesundheit und Freude in die Adern der Welt.

Blaise der nun ein Mädchen von zehn Monaten hatte, wohnte seit dem letzten Winter in der Fabrik, wo ihm das alte kleine Häuschen eingeräumt war, in welchem seine Mutter seinerzeit seinen Bruder Gervais zur Welt gebracht hatte. Charlotte, seine Frau, hatte die Beauchêne durch ihre Blondinenanmut, durch ihre duftige junge Frische so entzückt, daß Constance selbst, bezaubert, den Wunsch gehegt hatte, sie in ihrer Nähe zu haben. Madame Desvignes hatte aus ihren beiden Töchtern, Charlotte und Marthe, zwei entzückende Geschöpfe gemacht. Nach dem Tode ihres Mannes, Angestellten bei einem Börsenagenten, der die Dreißigjährige mit einem sehr verringerten Vermögen zurückließ, hatte sie die Klugheit gehabt, ihre kleine Rente flüssig zu machen und sich nach Janville, woher sie stammte, zurückzuziehen, wo sie sich dann ganz ihren Töchtern widmete. Da sie wußte, daß sie fast ohne Mitgift waren, hatte sie sich bemüht, ihnen eine sehr gute Erziehung zuteil werden zu lassen, in der Hoffnung, daß dies dazu helfen werde, sie zu verheiraten, welche Hoffnung der Zufall erfüllt hatte. Ein innig freundschaftlicher Verkehr hatte sich zwischen ihnen und den Froment entwickelt, die Kinder spielten zusammen, der unschuldige Liebesroman, der dann zur Heirat Blaises und Charlottens führte, reichte auf diese ersten Spiele zurück; und als Charlotte mit achtzehn Jahren verheiratet war, wurde ihre Schwester Marthe, die vierzehn Jahre zählte, die unzertrennliche Freundin Rose Froments, die gleichen Alters mit ihr, ebenso hübsch war wie sie, ebenso brünett, wie sie blond. Charlotte, von zarterer und auch schwächerer Art als ihre jüngere Schwester, die eine heitere, gesunde Natur war, hatte sich für die Kunstfertigkeit des Zeichnens und Malens begeistert, in der ihre Mutter, um ihr eine angenehme Beschäftigung zu bieten, sie hatte unterrichten lassen; so daß sie es nun dahin gebracht hatte, recht hübsche Miniaturen zu malen: eine Zuflucht im Falle der Not, sagte die Mutter. Und der nicht unfreundliche Empfang, den ihr Constance hatte angedeihen lassen, von der sie ein wohlgetroffenes, aber geschmeicheltes Medaillonbild gemalt hatte, war sicherlich nicht zum kleinsten Teile von der Achtung beeinflußt, welche die Bürgersfrau für die Talente einer guten Erziehung empfand. Blaise übrigens, der die Schaffenslust, die rastlose Arbeitsfreude der Froment hatte, war für Maurice sehr rasch ein wertvoller Helfer geworden, sobald er, nach einem kurzen Aufenthalte im Bureau Moranges, Einblick in die Geschäfte des Hauses gewonnen hatte. Maurice war es auch, der, immer weniger von seinem bloß seinen Genüssen nachjagenden Vater unterstützt, darauf gedrungen hatte, daß das junge Ehepaar das Häuschen beziehe, damit er zu jeder Stunde über seinen Vetter verfügen könne; und die Mutter, die vor ihrem Sohn im Staube lag, hatte nichts anders tun können, als ehrfurchtsvoll zu gehorchen. Sie hegte einen unbegrenzten Glauben an die Größe seines Geistes. Er hatte, trotz der Verzögerungen durch die Krankheiten seiner Jugend, seine Studien ziemlich erfolgreich beendet, indem er durch Fleiß seine etwas langsame, etwas schwere Auffassung wettmachte. Da er wenig sprach, gab sie ihn für ein tiefes, verschlossenes Genie aus, dessen Taten einmal Erstaunen erwecken würden. Er war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie in ihrer Vergötterung schon von ihm sagte: »Oh, das ist ein Kopf!« Und Blaise war in ihren Augen natürlich nur der notwendige Gehilfe, der bescheidene Diener, das Werkzeug in der Hand des Meisters, der alles wußte und alles leitete. Wie stark war er nun, wie schön, im Begriffe, das durch den langsamen Verfall seines Vaters geschädigte Haus wieder auf die Höhe zu bringen, auf dem Wege zu dem ungeheueren Reichtum, zu dem endgültigen Triumph des einzigen Sohnes, den sie seit so vielen Jahren erträumt, so stolz und egoistisch vorbereitet hatte!

Da fuhr der Blitzstrahl nieder. Blaise hatte nicht ohne Zögern eingewilligt, das kleine Häuschen zu bewohnen, da er wohl wußte, daß man ihn zur Rolle eines willenlosen Werkzeuges herabdrücken wollte. Dann, nach der Entbindung seiner Frau, angesichts dieses ersten Kindes, eines Mädchens, das ihm geboren worden war, hatte er sich tapfer entschlossen, hatte den Kampf auf sich genommen, so wie sein Vater ihn einst auf sich genommen hatte, im Gedanken an die zahlreiche Familie, die auch ihm zuteil werden könnte. Eines Morgens nun, als er hinaufging, um die Aufträge Maurices entgegenzunehmen, teilte ihm Constance mit, daß sie ihren Sohn bestimmt habe, im Bette zu bleiben, da sie ihn nach einer unruhigen Nacht sehr abgespannt gefunden habe. Sie war darüber jedoch nicht sehr beunruhigt: er war wohl nur etwas ermüdet, denn die beiden Vettern hatten sich seit acht Tagen sehr überanstrengt, um eine bedeutende Bestellung abzuliefern, die die ganze Fabrik in fieberhafter Tätigkeit hielt. Anderseits hatte Maurice den Tag vorher die Unvorsichtigkeit begangen, sich erhitzt und bloßköpfig in einem Schuppen dem Luftzug auszusetzen, während eine Maschine versucht wurde. Am Abend trat heftiges Fieber auf, und es wurde eiligst nach Doktor Boutan geschickt. Am nächsten Morgen verlangte dieser, beunruhigt durch die rapide Steigerung der Krankheit, ein Konsilium; zwei seiner Kollegen kamen und waren bald einig. Es war galoppierende Schwindsucht von besonders bösartiger Natur, als ob die Krankheit, auf empfänglichen Boden gefallen, eine außerordentliche Zerstörungskraft entwickelte. Beauchêne war abwesend, auf, einer seiner fortwährenden Reisen. Constance hielt trotz der ernsten Gesichter der Ärzte, die nicht erbarmungslos sein wollten, in ihrer steigenden Unruhe eigensinnig an der Hoffnung fest, daß ihr Sohn, der Held, der Gott, der ihrem Leben so nötig war, nicht ernstlich krank sein und sterben konnte. Am zweitnächsten Tage starb er in ihren Armen, in der Nacht, da Beauchêne, den man telegraphisch zurückberufen hatte, heimkehrte. Es war im Grunde nichts andres als die letzte Zersetzung des verdünnten, an der Quelle verdorbenen Blutes eines Städters, das plötzliche Verschwinden eines armen mittelmäßigen Geschöpfes, welches hinter seiner gesunden Außenseite von Kindheit auf krank gewesen war. Aber welch zerschmetternder Schlag für die Mutter, für den Vater, deren Berechnungen nun alle zerstört waren! Der einzige Erbe, der Fürst der Industrie, den die starrsinnige Beschränkung ihres Egoismus gewollt hatte, verschwand wie ein Schatten, und die entsetzliche Wirklichkeit stand vor ihnen, als ihre Arme nur mehr das Leere umfaßten. Von einer Sekunde zur andern kein Kind mehr.

Blaise stand mit den Eltern am Kopfende des Bettes, als Maurice, gegen zwei Uhr morgens, den Geist aufgab; und sobald er konnte, sandte er die Nachricht von dem Tode telegraphisch nach Chantebled. Es schlug neun Uhr, als Marianne bleich und fassungslos Mathieu rief.

»Maurice ist tot! Mein Gott, der einzige Sohn, die armen Leute!«

Sie waren erstarrt vor Entsetzen, ein eisiger Schauer überlief sie. Sie hatten kaum von der Krankheit vernommen gehabt, die sie nicht einmal für ernst gehalten hatten.

»Ich kleide mich um,« sagte Mathieu, »und fahre mit dem Zehneinviertel-Uhr-Zuge hinein. Ich muß sie umarmen und ihnen mein Beileid bezeigen.«

»Obgleich sie seit acht Monaten schwanger war, entschloß sich Marianne sofort, ihn zu begleiten. Es hätte sie geschmerzt, wenn sie ihren Cousins nicht diesen Beweis liebevoller Anteilnahme hätte geben können, die sich im ganzen recht freundlich gegen Blaise und seine junge Frau gezeigt hatten. Und diese Katastrophe zerriß ihr geradezu das Herz. Nachdem sie noch rasch die Arbeit für den Tag verteilt hatten, erreichten sie in Janville gerade noch rechtzeitig den Zug von ein Viertel nach zehn Uhr. Der Zug war schon in Bewegung, als sie entdeckten, daß die Lepailleur mit ihrem Sohne Antonin sich im selben Coupé befanden.

Da er sie so in feierlichem Aufzuge miteinander fahren sah, glaubte der Müller, daß sie auf dem Wege zu einer Unterhaltung seien; und als er hörte, daß es sich um einen Trauerbesuch handelte, sagte er: .

»Dann ist es also das Gegenteil. Alles eins, es ist eine Abwechslung, es zerstreut.«

Seit dem großen Erfolge Mathieus, seitdem dieser den ganzen gewaltigen Besitz urbar und fruchtbringend gemacht hatte, behandelte Lepailleur diesen Städter mit einiger Achtung. Aber obgleich er die erzielten Resultate nicht leugnen konnte, ergab er sich nicht, fuhr fort, hämisch zu lächeln, anscheinend irgendeinen Einsturz des Himmels oder der Erde erwartend, der ihm recht geben würde. Er wollte nicht unrecht haben, er wiederholte, daß er wisse, was er wisse, und daß man schon eines Tages sehen werde, ob das Leben des Bauern nicht das elendste Leben sei, seit dem Bankerott dieser niederträchtigen Metze von Erde, auf der nichts mehr wachse. Im übrigen hatte er seine Rache, diese Enklave, deren dürre Felder er brach liegen ließ, wie um gegen den benachbarten Besitz zu protestieren, den sie durchschnitt und verunstaltete. Der Gedanke daran verursachte ihm spöttische Befriedigung.

»Nun,« fagte er, in seinem selbstgefällig spaßhaften Tone, »wir fahren auch nach Paris, alle miteinander. Wir wollen nämlich diesen jungen Herrn dort unterbringen.«

Er deutete auf seinen Sohn Antonin, nun achtzehn Jahre alt, ein großer rothaariger Junge mit dem langen Gesichte seines Vaters, aber verweichlichten Zügen, auf der Oberlippe einige spärliche, farblose Barthaare. Er war als Städter gekleidet, mit Zylinder, Handschuhen und einer grellblauen Krawatte. Nachdem er Janville durch seine Schulerfolge in Erstaunen gesetzt, hatte er solchen Widerwillen gegen jede Handarbeit gezeigt, daß sein Vater beschlossen hatte, aus ihm, wie er sagte, einen Pariser zu machen.

»Es ist also entschieden, Sie haben Ihren Entschluß gefaßt?« fragte Mathieu freundlich, der die Verhältnisse kannte.

»Ja freilich, warum sollte ich ihn Wasser und Blut schwitzen lassen, ohne die geringste Hoffnung, reich zu werden? Weder mein Vater noch ich haben jemals einen Sou beiseite legen können in dieser verdammten Mühle, deren Mühlsteine mehr verwittern als sie Korn mahlen. Ebenso wie unsre armseligen Felder mehr Steine als Taler tragen. Da er nun also ein Studierter ist, so soll er nach seinem Gefallen tun, soll er nach Paris gehen, um sein Glück zu versuchen. Nur in der Stadt kann man ein Mensch werden.«

Madame Lepailleur, die den Blick nicht von dem Sohne wandte, den sie anbetete, so wie sie einst ihren Mann angebetet hatte, sagte nun ihrerseits mit verklärtem Gesichte:

»Ja, ja, er hat einen Platz als Schreiber bei Maître Rousselet, dem Advokaten. Wir haben ihm ein kleines Zimmer gemietet, und ich habe ihm die Möbel und die Wäsche besorgt; und heute ist nun der große Tag, er wird heute nacht dort schlafen, nachdem wir in einem guten Restaurant miteinander gegessen haben. Ach, wie froh bin ich, jetzt kommt er endlich hinaus!«

»Und vielleicht bringt er es noch bis zum Minister,« sagte Mathieu lächelnd. »Wer weiß? Alles ist möglich.«

Es war die Auswanderungssucht der Landleute nach der Stadt, die fieberhafte Ungeduld, rasch zu Reichtum zu gelangen, von der auch diese Leute ergriffen waren; die Eltern feierten die Abreise, begleiteten den Überläufer, von der eitlen Gier getrieben, mit ihm um eine Klasse zu steigen. Und der Landwirt von Chantebled, der Bauer gewordene Städter, mußte lächeln über dieses Chassé-Croisé, daß der Sohn des Müllers nach Paris ging, während er zur Erde zurückgekehrt war, zur gemeinsamen Mutter aller Kraft und aller Wiedergeburt.

Antonin hatte ebenfalls zu lächeln angefangen, der verschlagene Taugenichts, den hauptsächlich das lustige Leben in Paris anzog.

»Oh, Minister, danach habe ich kein besonderes Verlangen Da muß man sich zu viel planen. Ich möchte lieber gleich eine Million gewinnen, um mich dann auszuruhen.«

Die Lepailleur lachten geräuschvoll, voll Stolz über so viel Gescheitheit. Oh, der Junge würde es noch weit bringen, das war sicher!

Marianne, die bisher, das Herz beschwert von der Trauer, die sie erwartete, still geschwiegen hatte, wollte doch ein Wort einwerfen; sie fragte, warum die kleine Thérèse nicht mit bei dem Feste sei. Lepailleur antwortete trocken, daß er nicht daran denke, sich mit einem sechsjährigen Kinde zu schleppen, das noch nicht verstehe, sich aufzuführen. Das sei auch eine, die besser getan hätte, zu bleiben, wo sie war, denn sie habe das Haus ganz zerstört! Und da Marianne ihr lebhaftes Erstaunen kundgab und sagte, daß sie selten ein so kluges und hübsches Kind gesehen habe, erwiderte Madame Lepailleur weicher:

»Es ist wahr, sie ist durchtrieben, aber trotzdem, die Mädchen, die kann man nicht nach Paris schicken, man muß sie ausheiraten, und das gibt viel Sorgen und kostet viel Geld. Na, sprechen wir lieber nicht davon, da wir heute nur glücklich sein wollen.«

In Paris, beim Ausgang aus dem Nordbahnhofe, wurden die Lepailleur von dem reißenden Menschenstrom ergriffen, fortgetragen und verschlungen.

Als der Wagen auf dem Quai d'Orsay vor dem Wohnhause der Beauchêne hielt, erkannten Mathieu und Marianne das Coupé der Séguin, das am Trottoir wartete; hinter den Fensterscheiben sahen sie die beiden Mädchen, Lucie und Andrée, in lichten Kleidern stumm und unbeweglich sitzen und warten. Und aus dem Tor trat eben auch Valentine, in ihrer gewöhnlichen fahrigen Art, sehr eilig. Aber als sie sie erblickte, nahm ihr Gesicht den Ausdruck tiefen Mitleids an, und sie sprach das Wort, das sich auf alle Lippen drängte:

»Ach, welch entsetzliches Unglück, der einzige Sohn!«

Dann fügte sie noch gesprächig hinzu:

»Sie eilen gleich mir herbei, natürlicherweise. Denken Sie sich, ich habe vor kaum einer Stunde durch Zufall von der Katastrophe gehört; und, wie ich schon Glück habe, meine Kinder waren bereits angekleidet und ich war eben im Begriffe, mich anzukleiden, um sie zu einer Trauung in die Kirche zu führen – eine Cousine unsers Freundes Santerre, die einen Diplomaten heiratet. Dabei ist mein ganzer Nachmittag vergeben. Also habe ich nicht gezögert, obgleich die Trauung für ein Viertel zwölf Uhr angesetzt war, mich hierher fahren zu lassen, ehe ich mich in die Kirche begebe; und natürlich bin ich allein hinaufgegangen, meine Kinder erwarten mich hier im Wagen. Wir werden wohl etwas spät zur Trauung kommen... Sie werden sie sehen, die armen Eltern, in ihrem leeren Hause, neben der Leiche, die sie sehr hübsch auf dem Bette aufgebahrt haben. Es ist herzzerreißend.«

Mathieu betrachtete sie, und fand erstaunt, daß sie nicht alterte, als ob sie an der Flamme ihres tollen Lebens austrocknete. Infolge seiner fortwährenden geschäftlichen Beziehungen mit Séguin wußte er von der vollkommenen Zersetzung ihrer Ehe. Séguin lebte nun offenkundig mit Nora, der ehemaligen Erzieherin, die es vorgezogen hatte, sich ein eignes kleines Haus von ihm einrichten zu lassen, als das angenehme Leben zu vieren in der Avenue d'Antin gestört worden war. Er hatte Mathieu sogar zu seiner Geliebten bestellt, um den vollkommenen und endgültigen Verkauf der Besitzung Chantebled zu vollziehen. Und seitdem Gaston in die Militärschule von Saint-Cyr eingetreten war, hatte Valentine nur noch ihre beiden Töchter bei sich in dem großen und prächtigen Hause, das unter dem zerstörenden Hauche der Zwietracht allmählich dem Ruin anheimfiel.

»Ich möchte gerne haben,« fuhr sie fort, »daß Gaston Urlaub erbitte, um dem Leichenbegängnis beizuwohnen, denn ich weiß nicht gewiß, ob sein Vater gegenwärtig in Paris ist. Auch unser Freund Santerre tritt morgen eine Reise an. Ach, nicht nur die Toten verlassen uns, es ist schrecklich, welche Anzahl von Lebenden sich entfernen, verschwinden... Nicht wahr, liebe Madame Froment, das Leben ist sehr traurig!«

Ein Schatten war über ihr Gesicht geglitten, die Furcht vor dem nahen Bruch, den sie seit einigen Monaten kommen fühlte, denn Santerre bereitete sie mit geschickten Andeutungen vor, trug sich offenbar mit irgendeinem geheimen, wohlüberlegten Plan, irgendeine neue Phantasiegeburt des Schriftstellers, die sie noch nicht erriet. Sie sah mit frommer Verklärung zum Himmel auf.

»Wir sind alle in Gottes Hand.«

Marianne, die den beiden Mädchen zulächelte, welche noch immer stumm und unbeweglich in dem geschlossenen Wagen saßen, wechselte das Gesprächsthema.

»Wie sie groß und schön geworden sind! Ihre Andrée ist entzückend. Wie alt ist denn Ihre Lucie? Sie wird nun bald heiratsfähig sein.«

»Oh, sie soll Sie nur nicht hören,« rief Valentine, »sie würde sich in Tränen auflösen! Sie ist nun siebzehn Jahre alt, aber an Verstand nicht einmal zwölf. Würden Sie glauben, daß sie heute früh geweint hat und nicht zu dieser Trauung gehen wollte, indem sie sagte, das mache sie krank? Sie spricht immer vom Kloster, wir werden da eine Entscheidung treffen müssen. Andrée mit ihren dreizehn Jahren isi schon viel mehr Weib. Aber sie ist ein kleiner Einfaltspinsel und gutmütig wie ein Schaf. Sie macht mich oft krank, so geht mir ihre Sanftmut auf die Nerven.«

Sie stieg endlich in den Wagen, nachdem sie noch Mariannen, die sie schwanger sah, die Hand gedrückt hatte.

»Wahrhaftig, ich bin vollkommen kopflos, ich vergesse ganz, Sie nach Ihrem Befinden zu fragen! Sie sind im achten Monat, nicht wahr, und dies wird Ihr elftes Kind sein? Es ist schrecklich, schrecklich! Aber da es Ihnen so gut anschlägt... Ach, die armen Leute da oben! Wie leer wird das Haus nun bleiben!«

Nachdem der Wagen davongerollt war, dachten Mathieu und Marianne, daß sie besser täten, ehe sie hinaufgingen, in dem kleinen Häuschen vorzusprechen, wo ihre Kinder ihnen vielleicht irgendwelche nützliche Auskunft geben könnten. Aber weder Blaise noch Charlotte waren zu Hause. Sie fanden nur das Dienstmädchen, die das Kind, Berthe, behütete. Das Mädchen sagte, sie habe den Herrn seit gestern nicht gesehen, er sei oben bei dem Toten. Auch Madame befände sich seit dem Morgen oben, und sie habe sogar Auftrag gegeben, ihre Berthe gegen Mittag, um die Stunde des Trinkens, hinaufzubringen, damit sie nicht herunterkommen müsse, so sehr war es ihr darum zu tun, nicht eine Minute zu verlieren. Und da Marianne erstaunt nach der Ursache fragte, antwortete das Mädchen:

»Madame hat ihren Farbenkasten mit hinaufgenommen. Ich glaube, sie malt das Bild dieses armen jungen Mannes, der gestorben ist.«

Als sie den Fabrikhof durchquerten, zog sich Mathieu und Marianne das Herz zusammen über das tiefe Grabesschweigen, das in dieser großen, sonst so lärmenden Arbeitsstadt herrschte. Der Tod war plötzlich hindurchgeschritten. Und dieses ganze fieberhafte Leben war mit einem Schlage zum Stillstand gekommen, die Maschinen kalt und regungslos, die Werkstätten still und öde. Der Herr war tot, und so war alles tot. Und ihr Schmerz wuchs, als sie durch diese lautlose Stille zum Wohnhaus kamen, der Verbindungsgang war verödet, die Treppe lag in drückendem Schweigen, alle Türen standen offen, wie in einem seit langem verlassenen, unbewohnten Hause. Im Vorzimmer fanden sie keinen Bedienten. Der halbdunkle Salon selbst erschien ihnen leer, die gestickten Musselinvorhänge waren vollkommen herabgelassen, die Fauteuils im Halbkreis aufgestellt wie an den Empfangstagen, wo man viele Besucher erwartete. Endlich sahen sie vor sich eine schattenhafte Gestalt mit undeutlich sichtbaren Zügen, die mit kleinen Schritten auf und ab ging. Es war Morange, barhaupt, im Gehrock, der auf die schreckliche Nachricht herbeigeeilt war, sich pünktlich eingefunden hatte, in derselben korrekten Art, in der er in sein Bureau gekommen wäre. Er schien wie zu Hause, er empfing die Besucher, entsetzt, betäubt durch diesen Verlust eines Kindes, dessen plötzliches Hinscheiden ihm die Erinnerung an den grauenhaften Tod seiner Tochter erwecken mußte. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet, er war bleich unter seinem grauen Barte, in einer solchen Verwirrung, daß er rastlos auf und ab ging, selbstvergessen hier verweilte, all den Schmerz, der das Haus erfüllte, zu dem seinen machte.

Als er die Besucher sah, sprach auch er das Wort, das sich auf alle Lippen drängte:

»Welch schreckliches Unglück, der einzige Sohn!«

Er drückte ihnen die Hand, er flüsterte, erzählte, daß Madame Beauchêne sich gebrochen auf eine Weile zurückgezogen habe, während Beauchêne und Blaise unten die nötigen Anordnungen trafen. Und indem er seine langsame, mechanische Gangart wieder aufnahm, deutete er mit der Hand gegen das nächste Zimmer, dessen Flügeltüren offen standen. »Er liegt da, auf dem Bette, auf dem er gestorben ist. Man hat Blumen aufgestreut, es ist sehr schön. Sie können eintreten.« «

Es war in der Tat das Zimmer Maurices. Die Vorhänge waren herabgelassen worden, um vollständige Dunkelheit herzustellen. Wachskerzen brannten am Bette und warfen ihren Schein auf das Gesicht des Toten, das sehr weiß, sehr ruhig mit geschlossenen Augen dalag, wie im Schlafe. Es war nicht verändert, nur ein wenig abgemagert, veredelt durch den Tod, der es so plötzlich geküßt hatte. Die gefalteten Hände hielten ein Kruzifix. Auf die Decke gestreute Rosen breiteten den Frühling über das Lager. Ihr Duft, vermengt mit dem des heißen Wachses, legte sich ein wenig beklemmend auf die Brust, inmitten des tiefen Schweigens, das alle diese tragische Unbeweglichkeit um sich verbreitete. Und in der Halbdunkelheit, in der bloß das Bett sichtbar war, bewegte kein Lufthauch die hohen, geraden Flammen der Wachskerzen.

Als Mathieu und Marianne eingetreten waren, sahen sie nahe der Tür hinter einem Wandschirm ihre Schwiegertochter Charlotte, die beim Licht einer kleinen Lampe den von Rosen umgebenen Kopf des Toten auf einen Karton zeichnete, den sie auf den Knien hielt. Sie hatte dem verzweifelten Verlangen der Mutter nachgegeben, trotz des Qualvollen einer solchen Arbeit für ihr zwanzigjähriges Herz. Seit drei Stunden befand sie sich nun da, bestrebt, ihre Aufgabe gut auszuführen, sehr blaß, von außerordentlicher jugendlicher Schönheit mit ihrem blühenden Gesichte, ihren erweiterten blauen Augen unter dem Gold der feinen Haare. Als Mathieu und Marianne sich ihr näherten, grüßte sie sie nur mit einem leichten Kopfnicken, ohne zu sprechen. Aber ihre Wangen bekamen etwas Farbe, ihre Augen lächelten; und als die beiden geräuschlos in den Salon zurückkehrten, nachdem sie einige Augenblicke in schmerzlicher Betrachtung verweilt hatten, setzte sie ihre Arbeit fort, allein mit dem Toten, inmitten der Blumen und der Wachskerzen.

Im Salon schritt Morange noch immer auf und ab wie ein verirrter Schatten. Mathieu blieb stehen, während Marianne, deren Zustand keine lange Anstrengung erlaubte, sich neben der Tür niederließ. Kein Wort wurde gewechselt; das dumpfe Harren dauerte weiter in dem erstickenden Schweigen der verhängten, düsteren Zimmer. Nach etwa zehn Minuten kam ein neuer Besuch, ein Herr und eine Dame, die sie nicht gleich erkannten. Morange hatte sich verbeugt, sie in seiner verlorenen Art empfangen. Die Dame ließ die Hand des Herrn nicht los, leitete ihn wie einen Blinden durch die Möbel, damit er nicht anstoße, und Mathieu und Marianne erkannten die Angelin. Seit dem letzten Winter hatten diese ihr Häuschen in Janville verkauft und sich in Paris niedergelassen. Ein neues und schweres Unglück hatte sie betroffen, der fast vollständige Verlust ihres kleinen Vermögens durch den Zusammenbruch eines großen Bankhauses. Die Frau, welche hierauf eine Beschäftigung suchte, war von der Armenverwaltung zur Inspektorin ernannt worden, eine jener Damen, welche die unterstützten Mütter beaufsichtigen, die Kinder besuchen und über ihre Erfahrungen berichten; und, wie sie mit traurigem Lächeln sagte, über diese kleine Welt zu herrschen war noch ein Trost für sie in ihrem tiefen Kummer über ihre nun zweifellose Unfruchtbarkeit. Der Mann jedoch, dessen Sehvermögen immer schwächer wurde, hatte jede Arbeit aufgeben müssen und lebte jetzt nur noch in der trostlosen Verzweiflung über sein verdorbenes, nutzloses Dasein dahin.

Mit kleinen Schritten, als ob sie ein Kind führte, brachte ihn Madame Angelin in die Nähe Mariannens und ließ ihn in einem Fauteuil Platz nehmen. Er hatte noch sein stolzes Musketiergesicht bewahrt, das aber von Kummer durchfurcht war; er war ganz weiß geworden mit vierundvierzig Jahren. Und welch eine Erinnerung beim Anblick dieser betrübten Frau, die diesen hilflosen Mann führte, für die, welche das junge, schöne und zärtliche Paar gekannt hatten, das einst in sorglosem Liebesgenuß die verschwiegenen Waldpfade von Janville durchstreift hatte!

Sobald sie die Hände Mariannens in ihren zitternden Händen hielt, fand auch sie nur das trostlose, leise gestammelte Wort:

»Ach, welch entsetzliches Unglück, der einzige Sohn!«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wollte sich nicht setzen, ohne auf einen Augenblick in das Totenzimmer gegangen zu sein. Als sie zurückkehrte, erstickte sie ihr Schluchzen mit ihrem Taschentuche und ließ sich in einen Fauteuil sinken zwischen Marianne und ihren Mann, der unbeweglich mit gerade vor sich hinstarrenden Augen saß. Und wieder herrschte Schweigen in dem toten Hause, in welches der Lärm der Fabrik nicht mehr herüberdrang, die verlöscht, verödet, erkaltet dalag.

Endlich erschien Beauchêne, gefolgt von Blaise. Er schien um zehn Jahre gealtert unter dem furchtbaren Schlage, der ihn getroffen hatte. Es war so plötzlich gekommen, als ob ihm der Himmel auf den Kopf gefallen wäre. Nie hatte er in seinem siegesgewissen Egoismus, in seinem stolzen Kraftbewußtsein, inmitten seiner Lebensgenüsse daran gedacht, daß ein solcher Zusammensturz möglich sei. Nie hatte er es zugeben wollen, daß Maurice krank sei, so sehr war ihm dieser Gedanke eine Art Angriff auf seine eigne Gesundheit, auf seine feste Überzeugung, daß er nur einen kräftigen Jungen habe erzeugen können, der jeder Katastrophe Trotz bieten könne. Er glaubte sich über die Tücke des Schicksals erhaben, er wähnte, das Unglück würde sich nicht an ihn heranwagen. Und unter der Wucht des Schlages war er weibisch weich geworden, kraftlos in den Gliedern, schon geschwächt durch sein zügelloses Leben, durch die langsame Abnahme seiner Geisteskräfte. Er hatte vor seinem toten Sohn geschluchzt wie ein Kind, seine Eigenliebe war ins Mark getroffen, seine Berechnungen alle vernichtet. Ein Blitzschlag war herniedergefahren, und alles war leer. Von einer Minute zur andern war sein Leben weggefegt, und die Welt war schwarz und öde. Und nun kam er herein, totenbleich, niedergeschmettert, sein dickes Gesicht von Kummer aufgedunsen, die schweren Augenlider von Tränen entzündet.

Als er die Froment gewahrte, wurde er wieder von Schmerz überwältigt, er kam auf sie zu, taumelnd, mit offenen Armen, aufs neue von Schluchzen erstickt.

»Ach, meine lieben Freunde, welch entsetzlicher Schlag! Und ich war nicht da! Als ich zurückkehrte, hatte er schon das Bewußtsein verloren, er hat mich nicht einmal mehr erkannt! Ist es denn möglich? Ein so gesunder junger Mensch! Ich glaube, daß ich träume, daß er jeden Augenblick aufstehen muß, um mit mir in die Fabrik hinabzugehen!«

Sie umarmten ihn, er flößte ihnen tiefes Mitleid ein in seiner grenzenlosen Verzweiflung; er war wohl von irgendeiner Orgie heimgekehrt, vielleicht noch, betrunken, um dann mitten in diese schreckliche Katastrophe hineinzufallen, und der wuchtige Schlag, der ihn getroffen, versetzte ihn in eine Betäubung, zu welcher die Erschöpfung des übermäßigen Alkohol- und Liebesgenusses sich gesellte. Sein Bart, von Tränen benetzt, roch noch nach Tabak und Moschus.

Dann schloß er sogar auch die Angelin in seine Arme, die er kaum kannte.

»Ach, meine lieben Freunde, welch entsetzlicher Schlag, welch entsetzlicher Schlag!«

Auch Blaise umarmte seine Eltern. Trotz der schrecklichen Nacht, die er verbracht hatte, trotz seines Kummers hatte er seine klaren Augen, sein frisches junges Gesicht behalten. Tränen rollten jedoch noch über seine Wangen, denn er hatte für Maurice im Laufe ihrer gemeinschaftlichen täglichen Arbeit eine aufrichtige Freundschaft gefaßt.

Wieder trat Schweigen ein. Morange fuhr fort, in seiner traumverlorenen Art langsam auf und ab zu gehen, als ob er allein wäre, scheinbar ohne Bewußtsein für das, was um ihn vorging. Beauchêne irrte umher, verschwand und kam dann wieder, mit kleinen Notizbüchern in der Hand. Er irrte wieder umher und setzte sich endlich vor einen Schreibtisch, den man aus dem Zimmer Maurices herausgebracht hatte. Gequält, so wenig an den Kummer gewöhnt, daß er das instinktive Bedürfnis fühlte, sich zu betäuben, begann er in den Büchelchcn zu blättern, um eine Liste der Adressen für die Todesanzeigen aufzustellen. Aber seine Augen trübten sich, er winkte Blaise herbei, der, nachdem er einen Blick auf die Zeichnung seiner Frau geworfen, in den Salon zurückgekehrt war. Der junge Mann stellte sich an den Schreibtisch, die Namen mit leiser Stimme diktierend, und in dem tiefen Schweigen war nur dieses leise, monotone Flüstern hörbar.

Die Minuten verstrichen bleiern. Die Besucher erwarteten immer noch Constance. In dem Totenzimmer öffnete sich langsam eine nach den inneren Gemächern führende Tür, und Constance trat geräuschlos ein, ohne daß jemand bemerkt hätte, daß sie da sei. Es war, als ob ein Gespenst aus dem Schatten in das schwache Licht der Wachskerzen getreten wäre. Sie hatte noch nicht geweint, ihr Gesicht war blutlos, zusammengezogen, in kalter Wut erstarrt. Wie von einer ungeheuren Empörung aufgebäumt, schien ihre kleine Gestalt, weit entfernt gebeugt zu sein, noch gewachsen in der Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals. Gleichwohl war ihre Trauer ohne Überraschung: sie hatte sogleich gefühlt, daß sie das erwartete, obgleich sie sich eine Minute vor dem Tode noch eigensinnig weigerte, daran zu glauben. Das war seit vielen Monaten ihr unbewußt im tiefsten Grunde ihrer Seele gelegen, als eine körperlose Ahnung, die mit plötzlichem Sprunge zur grauenhaften Wirklichkeit wurde. Mit einem Male verstand sie, wußte sie zu deuten, jenes Flüstern aus dem Unbekannten, jenen Eishauch, der ihr Herz erkältet hatte, jenes unbestimmte, angstvolle Bedauern, daß sie nicht noch ein Kind habe. Die Drohung hatte sich nun erfüllt, das unerbittliche Schicksal wollte es, daß dieser einzige Sohn, dieser Retter des gefährdeten Hauses, dieser dereinstige Fürst, an dessen Königreich ihr Stolz mitteilhaben wollte, davongeweht wurde wie ein welkes Blatt. Das war der vollständige Zusammenbruch ihres Daseins, die Erde hatte sich unter ihren Füßen geöffnet. Und ihre größte Qual waren diese ihre trockenen Augen, diese ihre Zornesglut, an der ihre Tränen in ihr verdampften, während die gute Mutter, die sie stets gewesen, von dem wahnsinnigen, vergifteten Schmerze zerrissen wurde, ihr Kind verloren zu haben.

Sie näherte sich Charlotte, blieb hinter ihr stehen, betrachtete das verschärfte Profil ihres toten Sohnes inmitten der Blumen. Und sie weinte noch immer nicht. Langsam ließ sie den Blick über das Bett hingleiten, füllte sich die Augen mit dem herzzerreißenden Anblick und richtete sie dann auf das Papier, wie um zu sehen, was ihr von diesem angebeteten Kinde übrigbleiben würde, diese wenigen Bleistiftstriche, wenn die Erde ihn ihr morgen für immer genommen haben würde. Charlotte, die sie hinter sich fühlte, erbebte und hob den Kopf. Sie empfand Furcht, sie sprach nicht. Die beiden Frauen wechselten nur einen Blick. Und welche Herzensqual für diese Mutter, inmitten dieses Totengemaches, gegenüber ihrer Vernichtung, dieses Gesicht voll Liebe, Gesundheit und Schönheit, welches sich da wie ein junges, strahlendes Zukunftsgestirn aus dem Gold der feinen Haare hob!

Aber nun sollte Constance noch einen Schmerz erfahren Aus dem Salon drangen von der Nähe der Tür her leise geflüsterte Worte deutlich an ihr Ohr. Sie blieb unbeweglich hinter Charlotte stehen, die in ihrer Arbeit fortfuhr, und horchte hinaus, ohne sich noch zu zeigen, obgleich sie Marianne und Madame Angelin nahe der Tür, fast in den Falten des Vorhanges sitzen gesehen hatte.

»Ach,« sagte Madame Angelin, »die arme Mutter hatte etwas wie ein Vorgefühl. Ich habe gesehen, wie beunruhigt sie war, als ich ihr meine traurige Geschichte erzählte. Bei mir ist nun alles zu Ende. Und nun, da der Tod ihr alles genommen hat, ist es auch bei ihr zu Ende.«

Es folgte ein Stillschweigen. Dann schien eine Gedankenverbindung bei ihr vorgegangen, und sie sagte, da sie offenbar das Bedürfnis empfand, zu sprechen:

»Sie erwarten sich für den nächsten Monat, nicht wahr? Es ist Ihr elftes, und ohne Ihre zwei Fehlgeburten wäre es das dreizehnte. Elf Kinder, das ist keine Zahl, Sie werden wohl auch noch ein zwölftes bekommen.«

Sie vergaß die sie umgebende Trauer, ein schwaches Lächeln war auf ihre Lippen getreten, als ob ihr geheimer Neid durch eine solche Fruchtbarkeit entwaffnet wäre.

Aber Marianne verwahrte sich lebhaft:

»O nein, diesmal glaube ich wohl, daß das zwölfte nicht erscheinen wird. Bedenken Sie, daß ich einundvierzig Jahre alt bin. Es ist Zeit, daß ich aufhöre, meine Aufgabe ist erfüllt. Es ist nun an meinen Söhnen und Töchtern, Kinder zu bekommen.«

Und Constance erbebte, von einem Anfall jener Wut erfaßt, die ihre Tränen austrocknete. Mit einem Seitenblick konnte sie sie sehen, diese Mutter von zehn lebenden Kindern, mit dem elften schwanger, mit ihrem von kommendem Leben erfüllten Leibe, den sie in dieses Todeshaus trug. Sie sah sie immer jung, immer frisch, von Gesundheit, von Freude, von unendlicher Hoffnung überquellend. Und nun, da ihr alles entrissen worden, da sie ihr einziges Kind verloren, war jene wieder hier, an der Seite des Totenbettes, gleich einer guten Göttin unerschöpflicher Fruchtbarkeit, mit ihrem unaufhörlich gebärenden Leibe.

»Und dann,« setzte Marianne hinzu, ihrerseits lächelnd, »Sie vergessen, daß ich schon Großmutter bin. Da, sehen Sie einmal dorthin! Das versetzt mich in den Ruhestand!«

Sie deutete auf das Dienstmädchen ihrer Schwiegertochter Charlotte, die, dem empfangenen Auftrage gemäß, die kleine Berthe um die Stunde des Stillens herbeibrachte, damit die Mutter nicht nötig habe, hinunterzugehen. Das Mädchen wagte nicht, in die Trauergemächer einzutreten, und war zögernd an der Tür des Salons stehengeblieben. Aber das Kind bewegte fröhlich seine dicken Händchen und ließ einen leichten Laut des Behagens hören. Und Charlotte, die es vernommen hatte, beeilte sich, aufzustehen und den Salon leicht zu durchschreiten, um sich in das anstoßende Zimmer zu begeben, wo sie ihm die Brust reichen konnte.

»Sie ist allerliebst!« sagte Madame Angelin leise. »Diese kleinen Wesen sind wie die Blumen. Sie verbreiten Helle und Erfrischung, wohin sie kommen.«

Constance war wie geblendet. In die Halbdunkelheit, in der nur die Flammen der Wachskerzen strahlten, in die dicke, schwüle Luft, welche der Geruch der abgeschnittenen Blumen noch schwüler machte, hatte das Kind einen Frühlingshauch gebracht, das helle und frohe Licht einer fernhin wirkenden Lebenshoffnung. Und dies war der vervielfältigte Sieg der fruchtbaren Mütter, das war das Kind des Kindes, Marianne war noch einmal fruchtbar in der Fruchtbarkeit ihres Sohnes. Sie war schon Großmutter, hatte sie lächelnd gesagt. Eine neue Schönheit, eine neue Würde waren ihr hinzugekommen, der Strom, der ihren Lenden entsprungen war, verbreiterte sich ohne Ende. Und der Axthieb des Geschickes widerhallte um so furchtbarer im Herzen Constances, ihr Stamm war an seiner Wurzel getroffen, der einzige Sproß war abgeschnitten, nichts konnte mehr aus ihr hervorgehen.

Einen Augenblick noch verweilte sie allein in diesem Grabe, in diesem Zimmer, wo die Reste ihres Sohnes lagen. Dann raffte sie sich auf und trat in den Salon hinaus wie ein starres Gespenst. Alle erhoben sich, umarmten sie, erschauerten bei der Berührung dieser kalten Wangen, in denen kein warmes Blut mehr pulsierte. Ein unendliches Mitleid zog alle Herzen zusammen, so erschreckend war ihre starre Ruhe. Man suchte nach tröstenden Worten, aber sie wehrte mit einer kurzen Gebärde ab.

»Es ist aus,« sagte sie, »was wollt ihr? Es ist aus, ganz aus.«

Madame Angelin schluchzte, selbst Angelin trocknete seine armen bewegungslosen, getrübten Augen. Marianne und Mathieu hatten ihre Hände in den ihrigen behalten und weinten. Sie blieb erstarrt, konnte noch immer nicht weinen, wies die Trostesworte zurück und wiederholte nur immer mit eintöniger Stimme: »Es ist aus, nichts kann ihn mir mehr wiederbringen, nicht wahr? Also ist nichts mehr da, es ist aus, ganz aus!«

Sie mußte sich gleichwohl aufrecht halten, denn es war noch eine Flut von Besuchen zu erwarten. Aber sie sollte noch einen Stoß ins Herz empfangen. Beauchêne, dem die Tränen wieder aus den Augen gestürzt waren, als sie eintrat, konnte das Papier zum Schreiben nicht mehr sehen. Seine Hand zitterte, er mußte den Schreibtisch verlassen, er warf sich in einen Fauteuil, indem er zu Blaise sagte:

»Setze dich da her und fahre fort.«

Und Constance sah, wie Blaise sich an den Schreibtisch ihres Sohnes setzte, den Platz ihres Sohnes einnahm, die Feder in sein Tintenfaß tauchte und schrieb, wie sie oft Maurice hatte schreiben sehen, mit derselben Gebärde. Dieser Blaise, dieser Älteste der Froment! Der arme Tote war noch nicht eingesargt, und schon ersetzte ihn ein Froment, ebenso wie die lebenskräftigen, überwuchernden Pflanzen das benachbarte brachliegende Feld überziehen. Und sie fühlte das unabwendbare, drohende Heranschwellen dieser Lebensflut, die sie umgab, fühlte ihre allbesiegende Macht: die Großmutter noch schwanger, die Schwiegertochter schon ihre Kinder stillend, die Söhne sich der erledigten Throne bemächtigend. Und sie war allein, sie hatte niemand als ihren unwürdigen, verkommenen, kraftlosen Gatten, während der stumpfsinnige Morange, der da rastlos auf und ab ging, gleich dem Gespenst ihrer Verzweiflung war, ein armer Mann, dem der schreckliche Tod seiner Tochter seine Seele, seine Kraft und seine Vernunft genommen hatte. Kein Laut drang aus der leeren, erkalteten Fabrik herauf, die Fabrik war tot.

Das Leichenbegängnis am zweitnächsten Tage war imposant. Die fünfhundert Arbeiter der Fabrik folgten dem Sarge; hervorragende Persönlichkeiten aller Klassen waren im Zuge. Es wurde sehr bemerkt, daß ein alter Arbeiter, der Vater Moineaud, der Älteste der Fabrik, eine der Schnüre des Leichentuches trug; man fand das sehr rührend, obgleich der arme Mann ein wenig das Bein nachschleppte und unbeholfen in seinem Gehrock, abgestumpft durch dreißigjährige Arbeit, dahinging. Als man sich auf dem Friedhofe dem Grabe näherte, war Mathieu überrascht, von einer alten Dame angesprochen zu werden, die einem Trauerwagen entstieg.

»Ich sehe, mein lieber Freund, daß Sie mich nicht erkennen.« Er machte eine Gebärde der Entschuldigung. Es war Sérafine, noch immer groß und schlank, aber so abgemagert, so verwelkt, daß sie hundert Jahre alt schien, gleich einer der alten verbannten Königinnen aus den Märchen. Cécile, die betrübte Operierte, mochte ihn noch so sehr vorbereitet haben, nie hätte er an eine so schnelle Verwüstung dieser herausfordernden rothaarigen Schönheit geglaubt, die dem Alter Trotz zu bieten schien. Welcher entsetzliche Zerstörungshauch war über sie hingefahren?

»Ach, mein Freund,« fuhr sie fort, »ich bin mehr tot als der arme Tote, den man dort hinuntersenken wird! ... Kommen Sie doch einmal auf eine Viertelstunde zu mir. Sie sind der einzige Mensch, der einzige Vertraute, dem ich alles sagen kann.«

Der Sarg wurde hinabgelassen, die Seile knarrten, man hörte einen kurzen, dumpfen Stoß, den letzten. Beauchêne, der von einem Verwandten gestützt wurde, sah mit erloschenem Blicke hin. Constance, die den übermenschlichen Mut gehabt hatte, mitzukommen, nun von Tränen erschöpft, sank in Ohnmacht. Man trug sie fort, man brachte sie in das leere Haus zurück, in das für immer leere Haus, das gleich einem jener vom Blitzstrahl getroffenen Felder war, die kahl bleiben, mit Unfruchtbarkeit geschlagen. Die Erde hatte alles wiedergenommen.

In Chantebled fuhren Mathieu und Marianne fort zu arbeiten, zu schaffen, zu zeugen. Und während der zwei Jahre, die hingingen, waren sie abermals siegreich in dem ewigen Kampfe des Lebens gegen den Tod durch das fortgesetzte Wachstum der Familie und der fruchtbaren Erde, das der Inhalt ihres Daseins war, ihre Freude und ihre Kraft. Die Begierde fuhr in Flammenstürmen hin, die göttliche Begierde machte sie fruchtbar, gab ihnen Kraft zu lieben, gut zu sein, gesund zu sein; und die Energie tat das übrige, ihre Tatfreudigkeit, die tapfere Beharrlichkeit in der nützlichen Arbeit, die die Welt aufbaut und in Ordnung hält. Aber während dieser zwei Jahre wurde ihnen der Sieg nicht ohne rastlosen Kampf. Heute war der Sieg vollständig. Séguin hatte Stück um Stück den ganzen Besitz abgetreten, und Mathieu war nun dessen Beherrscher geworden durch sein kluges Vorwärtsbringen, womit er sein Reich erweiterte, in dem Maße, als er seine Kraft wachsen fühlte in dem Kampfe für die Lebensbedingungen seiner Familie. Das Vermögen, das der Müßiggänger verachtet, verschleudert hatte, ging in die Hände des Arbeiters, des schaffenden Geistes über. Die fünfhundert Hektar erstreckten sich von einem Horizont zum andern; die Wälder waren von ausgedehnten Weiden durchschnitten, auf denen große Herden grasten; die Sümpfe waren trocken gelegt, in fetten Boden umwandelt, der überreiche Ernten hervorbrachte; die Heiden wurden von den gefaßten und weitergeleiteten Quellen mit von Jahr zu Jahr wachsender Fruchtbarkeit durchtränkt. Nur der wüste Streifen der Lepailleur war noch da, wie um für das Wunder zu zeugen, für die menschliche Arbeit, die diese Sand- und Morastwüste in blühende Äcker verwandelt hatte, deren Ernten nunmehr ein kleines glückliches Volk nährten. Er hatte niemand sein Teil weggenommen; er hatte sich sein Teil erobert und geschaffen, indem er zugleich den gemeinsamen Besitz vermehrte, wieder ein Stückchen der weiten Welt unterjochte, die noch so schwach bevölkert, so wenig für das Glück nutzbar gemacht ist. Inmitten der Besitzung war der Hof gewachsen, hatte sich ausgedehnt wie eine gedeihende Stadt mit seiner Bevölkerung, seinem Gesinde, seinen Tieren, ein Herd blühenden, triumphierenden Lebens. Und welche überwältigende Macht lag in dieser glücklichen Fruchtbarkeit, die nicht aufhörte weiter zu zeugen, diesen seit zwölf Jahren sich mehrenden Lebewesen und Dingen, dieser sich ausbreitenden Stadt, die nichts war als das Wachstum einer Familie, diesen Bäumen, diesen Pflanzen, diesem Getreide, diesen Früchten, deren nährende Flut ohne Unterlaß weiter anschwoll unter der strahlenden Sonne! Alle Leiden und alle Tränen waren vergessen in der Freude über das vollendete Schöpfungswerk, über die eroberte Zukunft, die der Tätigkeit ein unermeßliches Feld öffnete.

Und während Mathieu seine Eroberung vollendete, hatte Marianne im Laufe dieser zwei Jahre das Glück, ihrem Sohn Blaise ein Mädchen geboren werden zu sehen, als sie selbst schwanger war, bereit, wieder zu gebären. Die Zweige des mächtigen Baumes begannen ihrerseits Triebe auszusenden, um sich dann endlos zu vervielfältigen, wie eine gewaltige königliche Eiche, die weithin den Boden überbreitet. Die Kinder ihrer Kinder, die Kinder ihrer Enkel, die ganze sich von Generation zu Generation vermehrende Nachkommenschaft setzte sich in Bewegung. Und mit welch sorgsamer und liebevoller Hand vereinigte sie noch immer um sich die elf des ersten Nestes, von den zwei Ältesten, Blaise und Denis, die schon einundzwanzig waren, bis zum Jüngstgeborenen, ein zartes, kaum existierendes Wesen, dessen gierige Lippen sie austrinken zu wollen schienen! In ihrem Neste waren alle Alter vertreten: ein Großer, der selbst schon Vater war, andre, die die Schule besuchten, andre, die man des Morgens noch ankleiden mußte; es waren Knaben, Ambroise, Gervais, Grégoire, Nicolas; es waren Mädchen, Rose, bald heiratsfähig, Claire, Louise, Madeleine, Marguerite, die eben erst zu gehen anfing. Und man mußte sie auf dem Besitz sich herumtummeln sehen wie ein Trupp junger Pferde, einander in ungleichem Lauf, je nach der Größe, verfolgend, sich nach allen Windrichtungen zerstreuend. Sie wußte wohl, daß sie sie nicht immer werde bei sich behalten können, war zufrieden, wenn ihrer zwei oder drei auf dem Gute bleiben würden, machte sich darauf gefaßt, die Jüngeren, die hier keinen Platz finden konnten, auf Eroberung andrer Gebiete ausgehen zu lassen. Es war die unaufhaltsame Ausbreitung, die Erde gehörte der zahlreichsten Rasse. Blaise war nun bald zwei Jahre in der Fabrik, seine Brüder auf dem Wege zu andern Eroberungen. Da sie die Zahl waren, würden sie auch die Macht werden, die Welt würde ihnen gehören. Und auch sie, Vater und Mutter, hatten sich mit jedem neuen Kinde stärker gefühlt. Jedes Kind hatte sie einander mehr genähert, sie inniger vereinigt. Wenn sie immer gesiegt hatten, trotz schrecklicher Sorgen, so dankten sie diesen fortgesetzten Sieg ihrer Liebe, ihrer Arbeit, der unerschöpflichen Fruchtbarkeit ihres Herzens und ihres Willens. Die Fruchtbarkeit ist die große Siegerin, sie schafft friedliche Helden, die die Erde unterwerfen, indem sie sie bevölkern. Und als nach diesen zwei Jahren Marianne einen Knaben gebar, Nicolas, den elften der Schar, da küßte Mathieu sie glücklicher als je, triumphierte wieder einmal über alle Schmerzen und allen Kummer. Noch ein Kind, das bedeutete noch Reichtum und Macht, eine neue in die Welt geworfene Kraft, ein neues für die Zukunft besätes Feld.

Und so wuchs immerfort das große, gute Werk, das Werk der Fruchtbarkeit durch die Erde und durch die Frau, siegreich über die Vernichtung, für jedes neue Kind neue Lebensmittel schaffend, liebend, wollend, kämpfend, arbeitend unter Leiden, unaufhörlich zu neuem Leben, neuer Hoffnung fortschreitend.


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