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Norine und Cécile arbeiteten eines Sonntagmorgens trotz des Feiertags an ihrem kleinen gemeinschaftlichen Tischchen, da der nahende Neujahrstag eine Flut von Arbeit gebracht hatte – als sie einen Besuch erhielten, der sie betäubte und entsetzte.
Bis jetzt war ihr unscheinbares, verborgenes Leben friedlich verlaufen, ohne andre Kämpfe als die Sorge ums Auslangen bis zum Ende der Woche und das Beiseitlegen des vierteljährigen Mietzinses. Während der acht Jahre, da sie das große Zimmer mit den hellen Fenstern bewohnten, auf dessen Nettigkeit sie stolz waren, war der Knabe Norinens fröhlich zwischen seinen beiden Müttern aufgewachsen, die ihn beide gleich leidenschaftlich liebten; er verwechselte sie auch infolgedessen miteinander, sagte ebensogut Mama Norine wie Mama Cécile, ohne eigentlich zu wissen, ob die eine mehr seine Mama sei als die andre. Sie arbeiteten, sie lebten nur für ihn, die eine noch hübsch mit vierzig Jahren, vor den Männern durch ihre verspätete Mutterschaft bewahrt, die andre mit dreißig Jahren Kind geblieben, auf diesen Knaben alle tiefinnerliche Liebessehnsucht der Gattin und Mutter vereinigend, die sie nie sein konnte.
An diesem Sonntag gegen zehn Uhr erscholl ein kräftiges, zweimaliges Klopfen an ihrer Tür. Als sie öffneten, trat ein etwa achtzehnjähriger untersetzter Bursche ein. Er war braunhaarig, hatte ein breites Gesicht, kräftige Kinnladen und hellgraue Augen. Er trug eine zerlumpte Joppe und eine abgegriffene schwarze Mütze.
»Entschuldigen Sie,« fragte er, »wohnen hier die Damen Moineaud, die Schachteln arbeiten?«
Norine sah ihn an, von plötzlicher Angst ergriffen. Ihr Herz hatte sich zusammengezogen, wie vor einem drohenden Unglück. Sie hatte dieses Gesicht schon irgendwo gesehen. Aber sie fand in ihrem Gedächtnisse nur die Erinnerung an eine alte Gefahr, die verstärkt wiederkehrte, um ihr Leben zu verderben.
»Ja, das ist hier,« erwiderte sie.
Der junge Mensch ließ gelassen die Augen durch das Zimmer schweifen. Er hatte wohl mehr Wohlstand erwartet, denn er zog eine leicht geringschätzige Grimasse. Er sah den Knaben an, der als braver kleiner Junge mit einem Buche dasaß und nun den Kopf erhoben hatte, um den Ankömmling anzuschauen. Und er schloß seine Musterung mit einem kurzen Blick auf die andre Frau, von so zarter, schwacher Gestalt, die ebenfalls beunruhigt schien von dem Neuen, Unbekannten, das mit diesem Ankömmling so plötzlich hereingetreten war.
»Man hat mir gesagt, im vierten Stock, die Tür links,« sagte er wieder. »Trotzdem fürchtete ich, daß ich mich vielleicht irre, denn das, was ich zu sagen habe, kann ich nicht allen Leuten sagen. Es ist keine angenehme Sache, und ehe ich hierhergekommen bin, habe ich es mir wohl überlegt.«
Er sprach schleppend und wandte den Blick seiner blassen Augen nicht von Norine, nachdem er gesehen hatte, daß die andre zu jung für die sei, die er suchte. Die wachsende Angst, von der er sie erbeben sah, während sie offenbar ihr Gedächtnis untersuchte, veranlaßten ihn, die Prüfung noch ein wenig zu verlängern. Endlich sprach er.
»Ich bin das Kind, das in Rougemont in Pflege gegeben wurde. Ich heiße Alexandre Honoré.«
Er hatte nicht nötig, mehr zu sagen. Die arme Norine hatte am ganzen Körper zu zittern angefangen, sie schlug die Hände zusammen, während ihr bleiches Gesicht sich verzerrte. Großer Gott! Beauchêne! Er war es, dem er ähnelte, und zwar in auffälliger Weise, mit seinen gierigen Augen, den breiten Kinnladen, seinem ganzen Aussehen eines den niedrigsten Ausschweifungen verfallenen Lüstlings – so ähnelte, daß sie nun erstaunt war, seinen Namen nicht beim ersten Blick laut hinausgerufen zu haben. Ihre Beine versagten den Dienst, sie mußte sich setzen.
»Sie sind es also,« sagte Alexandre ruhig.
Sie fuhr fort zu zittern, bloß mit einer Gebärde zustimmend, ohne imstande zu sein, ein Wort herauszubringen, so schnürten ihr Angst und Verzweiflung die Kehle zu; und er fühlte das Bedürfnis, sie ein wenig zu beruhigen, um sich nicht gleich von vornherein die Tür wieder zu verschließen, die sich ihm eben geöffnet hatte.
»Sie müssen nicht so aufgeregt sein. Sie haben nichts von mir zu fürchten, meine Absicht ist nicht, Ihnen Unannehmlichkeiten zu verursachen. Nur aber, wie ich endlich erfahren habe, wo Sie sind, habe ich das Verlangen gehabt, Sie kennen zu lernen, das ist nur natürlich, mcht wahr? Und ich habe mir sogar gedacht, daß Sie vielleicht froh sein werden, mich zu sehen... Und dann ist die Sache die, daß ich in Not bin. Es sind nun bald drei Jahre her, daß ich so dumm war, nach Paris zu kommen, wo ich nicht einmal meinen Hunger stillen kann. Wenn man nichts gegessen hat, so bekommt man Lust, die Eltern wiederzusehen, nicht wahr, die einen auf der Straße gelassen haben, die aber vielleicht nicht das schlechte Herz haben werden, einem einen Teller Suppe zu verweigern.«
Tränen stiegen in Norinens Augen auf. Das war eine Katastrophe, diese Rückkehr des unseligen Verlassenen, dieses großen unheimlichen Jungen, der sie anklagte, der vor Hunger schrie! Ungeduldig geworden, daß er nichts andres aus ihr herausbrachte als Zittern und Schluchzen, wendete er sich an Cécile.
»Ich weiß, Sie sind die Schwester. Sagen Sie ihr doch, daß es unsinnig ist, wenn sie sich so aufregt. Ich werde sie wahrlich nicht umbringen. Es ist doch komisch, welche Freude sie hat, mich wiederzusehen. Und ich mache doch keinen Lärm, ich habe dem Hausmeister unten nichts gesagt, ich versichere Ihnen.«
Als dann Cécile, ohne zu antworten, zu Norine hinging, um sie zu trösten, wandte er sich wieder dem Knaben zu, der ebenfalls von Furcht ergriffen und sehr blaß war, als er seine beiden Mütter so traurig sah.
»Der Kleine da ist also mein Bruder?«
Norine sprang plötzlich auf und stellte sich zwischen das Kind und ihn. Eine wahnsinnige Furcht hatte sie erfaßt vor irgendeiner Katastrophe, irgendeinem Zusammenbruch, der sie zerschmettern würde. Sie hätte sich gerne nicht schlechten Herzens gezeigt, sogar gute Worte finden mögen. Aber sie verlor den Kopf, geriet außer sich in einem Aufwallen von Empörung, Widerwillen und Feindseligkeit.
»Sie sind hergekommen, das kann ich verstehen. Aber, es ist so hart, was kann ich tun? Nach so vielen Jahren kennt man sich nicht mehr, man hat sich nichts zu sagen... Und dann, Sie sehen wohl, ich bin nicht reich.«
Alexandre ließ wieder den Blick unruhig um das Zimmer schweifen.
»Ich sehe wohl. Und mein Vater, können Sie mir seinen Namen sagen?«
Sie war betroffen, sie wurde noch bleicher, während er fortfuhr: »Denn wenn mein Vater Moneten hätte, so würde ich ihn zu zwingen wissen, mir welche zu geben. Man wirft die Kinder nicht nur so auf die Straße.«
Plötzlich stand die Vergangenheit vor ihr, Beauchêne, die Fabrik, der Vater Moineaud, der diese nunmehr verlassen hatte, während sein Sohn Victor noch dort arbeitete. Und die Furcht vor diesem verdächtigen Burschen, der den Stempel der Faulheit und des Lasters trug, erweckte in ihr einen klugen Instinkt, den Gedanken, daß, wenn sie den Namen Beauchêne verriet, sie vielleicht durch die schrecklichen Verwicklungen, die daraus folgen könnten, ihr ganzes glückliches Leben gefährde.
»Ihr Vater ist seit langem tot.«
Offenbar wußte er nichts, hatte er in dieser Richtung nichts erfahren, denn er argwöhnte nichts, so viel entschlossenen Nachdruck hatte sie in ihre Behauptung gelegt. Er machte nur eine heftige Gebärde, um seinen Zorn darüber auszudrücken, daß die raubgierige Hoffnung, die er an diesen Weg geknüpft, getäuscht wurde.
Norine hatte in ihrer Fassungslosigkeit keinen andern Wunsch, als daß er nicht mehr da sei, daß er sie nicht länger mit seiner Gegenwart quäle, so war ihr armes, blutendes Herz zugleich von Reue, Mitleid, Abscheu und Schrecken erfüllt. Sie öffnete eine Lade und nahm ein Zehnfrankenstück heraus, die Ersparnis von drei Monaten, die sie zu einem Weihnachtsgeschenk für das Kind bestimmt hatte. Und indem sie es Alexandre gab, sagte sie: »Hören Sie, ich kann nichts für Sie tun. Wir leben zu dritt in diesem Zimmer, wir haben kaum Brot. Es macht mir viel Kummer, Sie unglücklich zu sehen. Aber Sie können nicht auf mich rechnen. Machen Sie es wie wir, arbeiten Sie.«
Er steckte die zehn Franken ein und sagte mit linkischen Gebärden, daß er nicht deshalb gekommen sei, daß er wohl sehe, wie die Sachen stünden. Er sei gut gegen die Leute, wenn die Leute gegen ihn gut seien. Und er wiederholte, daß er nicht die Absicht habe, Skandal zu machen, da sie freundlich mit ihm umgehe. Eine Mutter, die teile, erfülle ihre Pflicht, und wenn sie auch nur zehn Sous gäbe.
Als er sich dann endlich zum Gehen wendete, fagte er noch: »Wollen Sie mir nicht einen Kuß geben?«
Sie küßte ihn mit kalten Lippen und totem Herzen. Und auf den Wangen behielt sie einen leichten Schauer von den zwei schallenden Küssen, die er mit übertriebener Zärtlichkeit darauf drückte.
»Und auf Wiedersehen, nicht wahr? Wenn wir auch arm sind und nicht beisammen wohnen können, so wissen wir nun doch, daß wir existieren. Und das wird mich nicht hindern, von Zeit zu Zeit heraufzukommen und guten Tag zu sagen.«
Als er draußen war, blieben die Frauen in langem Schweigen unter dem Druck der Verzweiflung, die seine Anwesenheit zurückgelassen hatte. Norine war auf einen Sessel gesunken, wie von der Katastrophe zerschmettert. Ihr gegenüber saß Cécile, ebenfalls niedergedrückt. Sie unterbrach zuerst die traurige Stille, die nun in diesem Zimmer herrschte, das noch diesen Morgen von ihrem Glück erfüllt gewesen war, und sie gab ihrem Erstaunen, ihrem Protest Ausdruck.
»Aber du hast ihn ja gar nichts gefragt, wir wissen gar nichts von ihm. Woher kommt er, was macht er, was will er? Und besonders, wieso hat er uns ausfindig gemacht? Das wäre am interessantesten zu wissen gewesen.«
»Ach, was willst du?« erwiderte Norine. »Wie er mir seinen Namen genannt hat, war ich erstarrt, vernichtet. O ja, er ist es, du hast auch den Vater erkannt, nicht wahr?... Und du hast recht, wir wissen nichts, wir werden jetzt immer unter dieser Drohung leben, unter der Furcht, daß das Haus uns überm Kopf zusammenstürzt.«
Sie fing wieder zu weinen an, mutlos, kraftlos, und stammelte von Schluchzen unterbrochene Worte.
»Ein großer Junge von achtzehn Jahren, der einem so ins Haus fällt, ohne daß man sich dessen vorsieht! Ja, es ist wahr, daß ich ihn nicht gern habe, da ich ihn ja nicht einmal kenne. Wie er mich geküßt hatte, habe ich nichts gefühlt als eine eisige Kälte, als ob mein Herz gefroren wäre. Mein Gott, wie unglücklich bin ich! Wie ist das alles häßlich und gemein und grausam!«
Und als der Kleine, erschrocken, sie weinen zu sehen, sich, ebenfalls weinend, an ihre Brust warf, preßte sie ihn leidenschaftlich an sich.
»Mein armes Kind! Mein armes Kind! Wenn nur du nicht darunter leidest, wenn nur du nicht die Schuld zu büßen hast! Das wäre eine schreckliche Strafe!... Ach, es ist freilich am besten, sich brav aufzuführen, wenn man später nicht solche Dinge erleben will!«
Am Abend beschlossen die Schwestern, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatten, Mathieu zu schreiben. Norine erinnerte sich des Besuches, den er ihnen vor einigen Jahren gemacht hatte, um sie zu fragen, ob Alexandre sie nicht besucht habe. Er allein kannte den ganzen Zusammenhang, wußte, wo Erkundigungen einzuziehen seien. Sobald er den Brief erhalten hatte, eilte Mathieu in die Rue de la Fédération, beunruhigt durch die Rückwirkung, die ein solcher Zwischenfall auf die Fabrik haben konnte, jetzt, wo die Lage Beauchênes von Tag zu Tag sich verschlimmerte. Nachdem er Norine eingehend befragt hatte, erriet er, daß Alexandre deren Adresse durch die Couteau erfahren haben mußte, ohne aber den ganzen Zusammenhang der Dinge zu übersehen, so viel Lücken und Rätsel gab es noch. Nach mehr als einem Monat vorsichtiger Nachforschungen und nach wiederholten Gesprächen mit Madame Menoux, mit Céleste, mit der Couteau selbst, konnte er sich den Hergang ungefähr vorstellen. Der erste Anstoß war zweifellos durch die Erkundigungen gegeben worden, mit denen er die Zuführerin betraut hatte, und behufs deren sie sich nach Saint-Pierre begeben hatte, um dort nach dem Knaben zu fragen, der bei dem Wagner Montoir in der Lehre sein sollte. Sie hatte offenbar zu viel gesprochen, zu viel gesagt, besonders dem andern Lehrling, Richard, einem Kinde der Armenverwaltung, ebenfalls von so schlechter Art, daß er sieben Monate später gleich Alexandre durchgegangen war, indem er seinen Herrn bestahl. Dann folgten Jahre, während welcher man keine Spur von ihnen hatte. Aber später hatten die beiden Taugenichtse sich zweifellos auf dem Pariser Pflaster getroffen, und der große Rote hatte da wohl dem kleinen Braunen die ganze Geschichte erzählt, wie seine Eltern ihn hätten suchen lassen, und wer vielleicht seine Mutter wäre, das Ganze verbrämt mit allerlei Tratsch und albernen Erfindungen. Alles das genügte freilich noch nicht, und Mathieu war in bezug auf die Art, wie der Junge die Adresse erfahren haben mochte, 54g zu der Vermutung gedrängt, daß er sie wohl von der Couteau haben mußte, die durch Céleste von vielen Dingen unterrichtet war; denn er hatte im Hause Broquette in Erfahrung gebracht, daß ein untersetzter junger Mensch zweimal dahin gekommen sei, um mit der Zuführerin zu sprechen. Manches blieb allerdings noch unaufgeklärt, denn die ganze Sache verlor sich in den düsteren Schatten der Pariser Unterschichten, deren Schlamm aufzurühren nicht geraten ist. Er begnügte sich damit, die allgemeinen Umrisse des Herganges zu erkennen, selbst von Schrecken ergriffen vor dem schon stark angeschwollenen Schuldregister der beiden Halunken, die sich auf dem Pariser Pflaster herumtrieben, als Freibeuter lebten, nur ihrer Faulheit und ihren Lastern frönten. Und er erreichte nur die eine tröstende Sicherheit, daß, wenn auch die Mutter entdeckt war, der Name und die Stellung des Vaters, Beauchênes, zweifellos von niemand geahnt wurden.
Als Mathieu wieder zu Norine kam, war sie entsetzt von den Einzelheiten, die er ihr geben konnte.
»Oh, ich bitte Sie, ich bitte Sie, er soll nicht wiederkommen! Finden Sie ein Mittel, hindern Sie ihn, wiederzukommen! Es ist mir zu schrecklich. wenn ich ihn sehen muß!«
Natürlich konnte Mathieu hierin nichts tun. Und nach reiflicher Überlegung fand er, daß alle seine Bemühungen sich darauf richten müßten, daß Alexandre Beauchêne nicht entdeckte. Was er von dem Jungen erfahren hatte, war so gemein, so furchtbar abstoßend, daß er auch Constance den Skandal einer solchen Erpressung ersparen wollte. Er sah sie erbleichen vor der Abscheulichkeit dieses Kindes, das sie in der Perversität ihrer getäuschten Liebe so leidenschaftlich gewünscht, gesucht hatte; er fühlte ihre Scham mit, er erachtete es für nötig und barmherzig, das Geheimnis in Grabesschweigen zu hüllen. Aber das geschah nicht ohne schweren Kampf, denn er fand es auch hart, den Unseligen auf dem Pflaster zu lassen. War eine Rettung noch möglich? Er glaubte nicht daran. Und dann, wer wollte, wer konnte eine Kur durch die Arbeit bis zur vollständigen Heilung ausführen? Ein Mensch mehr über Bord, im Sturm, und sein Herz blutete, daß er ihn verdammen sollte, obschon er zweifelte, daß es noch ein Rettungsmittel gäbe.
»Mein Rat ist,« sagte er zu Norine, »daß Sie ihm vorderhand den Namen seines Vaters verschweigen. Später werden wir sehen. Heute würde ich Unannehmlichkeiten für alle Welt fürchten.«
Sie stimmte lebhaft zu. »O nein, fürchten Sie nichts. Ich habe ihm schon gesagt, daß sein Vater tot sei. Das würde die ganze Geschichte wieder aufrühren, und ich habe doch nur den Wunsch, daß man mich hier in meinem Winkel in Ruhe lasse, mit meinem Kinde.«
Mathieu dachte mit kummervoller Miene noch immer nach, konnte sich nicht dazu entschließen, den Unglücklichen sich selbst zu überlassen.
»Ich könnte ihm wohl Arbeit finden, wenn er arbeiten wollte. Später würde ich ihn sogar auf den Hof nehmen, wenn ich nicht mehr fürchten müßte, daß er mir meine Leute verdirbt... Ich werde einmal sehen, ich kenne einen Wagner, der ihn ohne Zweifel beschäftigen könnte, und ich werde Ihnen den Bescheid schreiben, damit Sie ihm sagen können, wo er sich vorstellen soll, wenn er wieder hierherkommt.«
»Wie, wenn er wiederkommt?« rief sie verzweifelt. »Sie glauben also, daß er wiederkommen wird? O mein Gott, mein Gott, ich werde keine glückliche Stunde mehr haben!«
Er kam tatsächlich wieder. Aber als sie ihm die Adresse des Wagners gab, zuckte er höhnisch lachend die Achseln. Die Wagner in Paris, die kannte er, Ausbeuter, Nichtstuer, die die armen Leute für sich arbeiten ließen. Im übrigen habe er seine Lehrzeit nicht beendet, er sei nur zu Besorgungen zu verwenden, und er möchte einen Platz in einem großen Geschäftshause. Mathieu verschaffte ihm diesen, aber er blieb kaum vierzehn Tage dort und verschwand eines Abends mit den Paketen, die er zu besorgen hatte. Der Reihe nach trat er bei einem Bäcker ein, leistete Handlangerdienste bei Maurern, war in den Markthallen beschäftigt, ohne je irgendwo auszuharren, überall ein böses Andenken hinterlassend. Die Geduld seines Beschützers war erschöpft, er gab die Rettung auf. Man mußte sich begnügen, ihm, wenn er zerlumpt, abgezehrt, verhungert wieder auftauchte, Geld für Brot und einen Rock zu geben.
Norine lebte nun in einer fortwährenden tödlichen Unruhe. Wochenlang schien es, als ob Alexandre tot sei. Aber sie erbebte deshalb nicht minder, wenn sie das leiseste Geräusch auf der Treppe hörte. Sie fühlte immer seine Anwesenheit, und wenn er plötzlich anklopfte, erkannte sie seine Art und fing zu zittern an, als ob er sie schlagen wollte. Er hatte bald bemerkt, welch niederdrückende Wirkung er auf die arme Frau ausübte, und er nützte das aus, um ihr alles zu erpressen, was sie in ihren Laden verbarg. Wenn sie ihm das Fünffrankenstück gegeben hatte, das Almosen, das Mathieu ihm diskret durch sie zukommen ließ, war er damit nicht zufrieden und wollte selber nachsuchen. Manchmal kam er verstört herein, erzählte ihr, daß er heute noch eingesperrt würde, wenn er nicht zehn Franken hätte, drohte alles zu zerschlagen, die kleine Uhr fortzutragen, um sie zu verkaufen. Cécile mußte eingreifen, mußte ihn hinauswerfen, so zart und schwächlich sie auch war. Er ging nur, um wenige Tage später mit neuen Ansprüchen wiederzukommen, mit Drohungen, daß er seine Geschichte auf der Treppe ausschreien werde, wenn er nicht die zehn Franken bekomme. Eines Tages, als seine Mutter weinte und sagte, sie habe keinen Sou, wollte er die Matratzen auftrennen, indem er sagte, daß sie dort ihr Geld verstecke. Die arme Häuslichkeit der beiden Schwestern wurde zur Hölle.
Aber das größte Unglück war, daß Alexandre bei Norine die Bekanntschaft Alfreds, ihres jüngsten Bruders, machte. Dieser war damals zwanzig Jahre alt, um zwei Jahre älter als sein Zufallsneffe, wie er Alexandre bei ihrer ersten Begegnung scherzhaft nannte. Es gab keinen schlimmeren Halunken als diese Gossenpflanze, dieses Pariser Kehrichtgewächs, diesen herumstreichenden Vagabunden mit dem fahlen Gesichte, bartlosen Wangen, zwinkernden, wimperlosen Augen und verzogenem Munde. Mit sieben Jahren schon hatte er seine Schwestern geschlagen, hatte er am Samstag Céciles schwachen Händen ihren Lohn entrissen. Die Mutter Moineaud, von der Last ihrer Arbeit erdrückt, hatte es nie vermocht, ihn zum Schulbesuch anzuhalten, oder ihn dazu zu bringen, in einer Lehre zu bleiben, und er brachte sie so zur Verzweiflung, daß sie ihn selbst auf die Straße schickte, um Ruhe zu haben. Die großen Brüder versetzten ihm Ohrfeigen, der Vater war vom Morgen bis zum Abend in der Arbeit, und der sich selbst überlassene Knabe wuchs auf der Straße zum Laster und zum Verbrechen auf, inmitten einer Schar von Jungen und Mädchen seines Alters, die zusammen verdarben, wie vom Baume gefallene unreife Aepfel. So war er in Entartung groß geworden, er war der geopferte Überschuß der armen Familie, das in die Gosse geschüttete Zuviel, die faule Frucht, die die andern ansteckte.
Gleich Alexandre lebte er übrigens nur vom Zufall, man wußte nicht einmal mehr, wo er schlief, seitdem die Mutter Moineaud ins Spital gegangen war, um dort zu sterben, erschöpft von zu vielen Geburten im Elend und unter der erdrückenden Last ihrer häuslichen Arbeit. Sie war erst sechzig Jahre alt und ging gebückt und gebrochen wie eine Hundertjährige. Ihr um zwei Jahre älterer Mann, der Vater Moineaud, hilflos gleich ihr, die Beine von Gicht verkrümmt, eine jammervolle Ruine fünfzigjähriger ungerechter Arbeit, war vor kurzem gezwungen gewesen, die Fabrik zu verlassen; und so war das Haus nun verödet, die ärmlichen paar Habseligkeiten in alle Winde zerstreut. Der Alte erhielt glücklicherweise eine kleine Gnadenpension, die er der mitleidigen Initiative Denis' verdankte. Aber er verfiel wieder in Kindlichkeit, stumpfsinnig geworden durch seine lange Tretmühlenarbeit; er vertrank seine wenigen Sous, er konnte nicht alleinbleiben, da seine Füße unbrauchbar waren und seine Hände so zitterten, daß er beinahe das Zimmer in Brand setzte, wenn er seine Pfeife anzündete; so daß er endlich bei seinen Töchtern Norine und Cécile für den Rest seines Lebens Zuflucht suchte, den einzigen der Familie, die gutherzig genug gewesen waren, ihn aufzunehmen. Sie hatten ihm ein Zimmer oberhalb des ihrigen im fünften Stock gemietet, pflegten ihn und verwendeten seine kleine Pension auf seinen Unterhalt und seine Nahrung, indem sie viel von dem Ihrigen hinzufügten. Daraus folgte, wie sie mit heiterem Mute sagten, daß sie nun zwei Kinder hatten, den ganz Kleinen und den ganz Alten, eine schwere Last für zwei Frauen, die vier Franken täglich verdienten, indem sie vom Morgen bis zum Abend Schachteln klebten. Und so fügte es die leise Ironie der Geschehnisse, daß der Vater Moineaud keine andre Zuflucht fand als bei Norine, der Tochter, die er einst aus seinem Hause gejagt, wegen ihrer schlechten Aufführung verwünscht hatte, dieser Nichtsnutzigen, dieser liederlichen Dirne, die ihn entehrt hatte, und deren Hände er jetzt küßte, wenn sie ihm die Pfeife anzündete, damit er sich nicht die Nase verbrenne.
Das alte mürbe Nest der Moineaud war also zerstört, die ganze Familie verstreut, zerstoben, wohin sie der Zufall verschlug. Nur Irma lebte glücklich, dank ihrer Heirat mit einem Beamten, spielte die Dame und war so fein geworden, daß sie weder mit ihren Brüdern noch mit ihren Schwestern verkehrte. Victor setzte in der Fabrik das Leben seines Vaters fort, drehte die Mühle, die sein Vater gedreht hatte, mit derselben stumpfen und beharrlichen Mühe. Er war verheiratet, er hatte mit weniger als sechsunddreißig Jahren schon sechs Kinder, drei Knaben und drei Mädchen, bereitete seiner Frau das Schicksal seiner Mutter, der Moineaude, Nächte leichtsinniger Lust nach Tagen ohne Brot, aufeinanderfolgende Entbindungen, die die harte Arbeit ihres Haushaltes noch härter machten; und beiden stand das Los bevor, gleichfalls erschöpft zu endigen, während ihre Kinder, ihrerseits, ohne es zu wissen, die verwünschte Rasse der Verhungernden fortsetzten. Bei Euphrasie hatte das unvermeidliche Schicksal eine noch traurigere Gestalt angenommen. Die beklagenswerte Operierte hatte nicht das große Glück gehabt zu sterben. Zu nichts zusammengeschrumpft, seitdem sie nicht mehr Weib war, war sie allmählich unbeweglich an ihr Bett gefesselt, unfähig, ein Glied zu rühren, dennoch aber lebend, hörend, sehend, verstehend. Und aus diesem offenen Grabe hatte sie Monate hindurch dem Verfall dessen zugesehen, was von ihrem Haushalt noch übriggeblieben war. Sie war ein Ding geworden, das ihr Mann beschimpfte, das Madame Joseph, die nunmehr Herrin geworden, quälte, indem sie sie tagelang ohne Wasser ließ und ihr die Brocken zuwarf wie einem kranken Tier, dessen Stroh man nicht einmal wechselt. Und dabei hätte sie sich um ihrer selbst willen noch beschieden, denn sie war eingeschüchtert und gedemütigt durch ihre Nutzlosigkeit. Aber das Schlimmste war, daß die Kinder, die beiden Mädchen und der Knabe, sich selbst überlassen, verwahrlosten und dem Laster anheimfielen. Bénard, entkräftet, betäubt durch das Unglück seines Hauses, hatte sich mit Madame Joseph dem Trunke ergeben. Dann prügelten sie sich, zerschlugen alles, jagten die Kinder hinaus, die beschmutzt, zerfetzt, die Taschen voll gestohlener Dinge, zurückkehrten. Zweimal verschwand Bénard auf acht Tage. Das dritte Mal kam er nicht wieder. Als der Mietzins fällig war, ging Madame Joseph ihrerseits fort, von einem andern Mann mitgenommen. Das war das Ende. Euphrasie mußte sich ins Spital La Salpêtrière bringen lassen, während die Kinder obdachlos auf die Straße gestoßen waren. Der Knabe kam nicht wieder zum Vorschein, wie weggefegt, von irgendeiner Kloake verschlungen. Die eine der Schwestern, auf der Straße aufgelesen, starb im folgenden Winter im Spital. Die andre, Toinette, ein mageres Mädchen, scharf und bissig in ihrer Schwächlichkeit, blond, mit Raubtierzähnen und -augen, lebte unter den Brücken, in den Gräben der Stadtwälle, barg sich in allen schmutzigen Schlupfwinkeln, Prostituierte mit zehn Jahren, gealtert mit sechzehn Jahren in einem Leben des Lasters und des Diebstahls. Das war der Fall Alfreds verschärft, das ganz sich selbst überlassene, von der Straße verderbte, dem Verbrechen anheimgefallene Mädchen. Und Onkel und Nichte, die sich getroffen hatten, lebten gemeinschaftlich, ohne daß man eigentlich wußte, wo sie schliefen, vielleicht in der Gegend von Les Moulineaux, wo sich Gipsbrennereien befanden.
Eines Tages geschah es also, daß Alexandre, der zu Norine ging, dort mit Alfred zusammentraf, der manchmal herkam, um zu sehen, ob er dem Vater Moineaud nicht ein Zehnsousstück entlocken könne. Die beiden jungen Halunken gingen miteinander fort, sprachen miteinander, fanden sich. Daraus entstand nun eine ganze Verbrüderung. Alexandre lebte mit Richard beisammen, Alfred führte ihnen Toinette zu. So waren sie nun vier, und es geschah, daß die magere Toinette sich in Richard verliebte, der ein Riese war, und dem Alfred sie als guter Kamerad überließ. Seither wurde sie jeden Abend von ihrem neuen Herrn geohrfeigt, wenn sie ihm nicht fünf Franken brachte. Aber sie fand das ganz in Ordnung, sie, die um eines Nasenstübers willen einem das Gesicht zerkratzt hätte wie eine wütende Katze. Und es spielte sich die gewöhnliche Geschichte ab: zuerst das Betteln, das noch junge Mädchen von den drei Vagabunden gezwungen, um Almosen zu bitten, während sie sich im Hintergrunde hielten, in dunkeln Straßen verspäteten Passanten eine Gabe durch Furcht abnötigten; dann die Prostitution, das erwachsene Mädchen, das die Männer hinter die Bretterzäune führte, sie den Freunden überlieferte, wenn sie nicht zahlten; dann der Diebstahl, der kleine Diebstahl zuerst, das Forttragen von allerlei Dingen, die in den offenen Schaukästen liegen, dann größere Unternehmungen, vorbedachte und wohlvorbereitete Raubzüge. Die Bande schlief, wo sie konnte, manchmal in zweideutigen Unterkunftsorten, manchmal auf leeren Bauplätzen. Während der Sommerszeit streiften sie durch die Wälder der Bannmeile, die Nacht erwartend, die Paris ihrer Plünderung überlieferte. Sie trafen sich in den Markthallen, im Gewühl der Boulevards, in Spelunken, auf menschenleeren Avenuen, überall, wo sie Beute witterten, die Möglichkeit, den Üppigen das Brot wegzustehlen, den Genuß der Lüsternen zu brandschatzen. Sie waren ein Stamm Wilder, die frei, außerhalb der Gesetze, inmitten der Zivilisation lebten, ein Rudel Raubtiere, die den heimatlichen Wald durchstreiften, die menschliche Bestie, zum unkultivierten Zustande zurückgekehrt, seit der Geburt sich selbst überlassen, wieder von den Urinstinkten des Mordens und Raubens beherrscht. Und gleich dem Unkraut wuchsen sie kräftig, jeden Tag kühner werdend, einen größeren Tribut von den dummen Leuten, die arbeiteten, fordernd, ihren Raub vermehrend, auf dem Wege zum Meuchelmord.
Als Folge einer Minute des Genusses war der menschliche Same aufgegangen, das Kind wie zufällig zum Vorschein gekommen, ohne daß man daran dachte, und war dann auf die Straße freigelassen worden, ohne Bewachung, ohne Unterstützung. Da fiel es nun der Fäulnis anheim und bildete ein furchtbares Ferment der gesellschaftlichen Zersetzung. Alle diese aufs Pflaster gesetzten Kinder, gleich zu zahlreichen Katzenjungen, die man ins Wasser wirft, alle diese Verlassenen, diese Vagabunden der Straße, die bettelten, sich prostituierten, stahlen, bildeten den Düngerhaufen, auf dem das Verbrechen sich entwickelte. In dem unheimlichen Düster der Pariser Unterschichten unterhielt diese Jugend des Elends dergestalt einen Herd entsetzlicher Ansteckung. Aus diesem so achtlos auf die Straße geworfenen Samen erwuchs eine Ernte des Räubertums, die fürchterliche Ernte des Bösen, unter deren Empordrängen die ganze Gesellschaft in den Fugen krachte.
Als Norine von dem Treiben der Bande eine Ahnung bekam, durch die Prahlereien Alexandres und Alfreds, die sich darin gefielen, sie in Erstaunen zu setzen, wurde sie so von Furcht ergriffen, daß sie einen Riegel an der Tür anbringen ließ. Sobald die Nacht gekommen war, öffnete sie niemand mehr, der sich nicht vorher genannt hatte. Seit zwei Jahren dauerte nun schon ihre Folter, daß sie fortwährend in zitternder Erwartung eines möglichen Besuches Alexandres leben mußte. Er war nun zwanzig Jahre alt, sprach in gebieterischem Tone zu ihr, bedrohte sie mit furchtbarer Rache, wenn er mit leeren Händen fortgehen mußte. Eines Tages warf er sich, ohne daß Cécile ihn hindern konnte, auf den Schrank und bemächtigte sich eines Bündels Wäsche, Taschentücher, Servietten, Tischtücher, um sie zu verkaufen. Und die Schwestern wagten nicht, ihn auf die Treppe zu verfolgen, saßen verzweifelt, in Tränen aufgelöst, vernichtet auf ihren Stühlen.
Der Winter war sehr streng. Die armen Arbeiterinnen, die so ausgeplündert wurden, wären samt dem Kinde, das sie trotzdem verhätschelten, vor Hunger und Kälte gestorben, ohne die Hilfe, die ihnen ihre alte Freundin, Madame Angelin, regelmäßig brachte. Sie war noch immer Inspektorin der Armenverwaltung, sie überwachte noch immer die Mütter gewordenen Mädchen in diesem schrecklichen Viertel von Grenelle, in dem das Elend herrscht. Aber seit langem schon konnte sie im Namen der Verwaltung nichts mehr für Norine tun. Und wenn sie ihr gleichwohl jeden Monat ein Zwanzigfrankenstück brachte, so war ihr dies nur dadurch ermöglicht, daß wohltätige Leute ihr ihre Gaben anvertrauten, oft sehr bedeutende Beträge, im Vertrauen darauf, daß sie am besten wissen werde, wie sie sie richtig anbringen sollte in dieser schrecklichen Hölle, in der ihre Aufgabe sie leben ließ. Sie fand ihre letzte Freude, den einzigen Trost ihres trostlosen, kinderlosen Lebens darin, so den armen Müttern geben zu können, deren Kinder ihr freudig entgegenlachten, wenn sie sie, die Hände voll guter Sachen, kommen sahen.
Eines Tages, da es draußen stürmte und regnete, verweilte Madame Angelin ein wenig länger bei Norine. Es war kaum zwei Uhr, sie begann eben ihren Rundgang und hatte ihr kleines Täschchen auf den Knien, das mit Gold- und Silberstücken, die sie zu verteilen hatte, gefüllt war. Der Vater Moineaud saß ihr gegenüber bequem auf seinem Sessel und rauchte seine Pfeife; und sie befaßte sich mit ihm, erklärte ihm, daß sie ihm gern eine monatliche Unterstützung verschafft hätte.
»Aber,« sagte sie, »wenn Sie wüßten, was die armen Leute in dieser Winterszeit leiden! Wir werden überlaufen, wir können nicht allen geben. Sie gehören noch zu den Glücklichen. Ich komme zu solchen, die auf dem Boden liegen wie die Hunde, ohne ein Stückchen Kohle zum Heizen, ohne eine Kartoffel zum Essen. Und die armen Kinder dort, mein Gott! Zusammengedrängt, voll Ungeziefer, ohne Schuhe, ohne Kleider, wachsen sie für das Gefängnis und das Schafott auf, wenn sie die Tuberkulose nicht vorher hinrafft!«
Sie schauderte, sie schloß die Augen, um die entsetzlichen Bilder des Elends, der Schande, des Verbrechens nicht mehr zu sehen, mit denen sie in tägliche Berührung kam während ihrer Gänge durch diese Hölle der armen Mütter, der Prostitution und des Hungers. Sie war bleich geworden und verstummt, sie wagte nicht alles zu sagen, denn sie war auf den tiefsten Grund der menschlichen Greuel geraten. Manchmal sah sie zitternd zum Himmel auf und fragte sich, welche rächende Sintflut diese unselige Stadt verschlingen werde.
»Ach,« setzte sie noch leise hinzu, »sie leiden so sehr, mögen ihnen ihre Sünden vergeben werden!«
Moineaud hörte ihr stumpf zu, ohne sie anscheinend ganz zu verstehen. Er nahm mühsam die Pfeife aus dem Munde, denn diese Bewegung verursachte ihm erhebliche Anstrengung, ihm, der fünfzig Jahre lang das Eisen auf Amboß und Schraubstock bezwungen hatte.
»Man muß nur ehrlich sein,« sagte er schwerfällig. »Wenn man arbeitet, wird man belohnt.«
Aber als er die Pfeife wieder zum Munde führen wollte, konnte er nicht. Seine durch die schwere Arbeit steif gewordene Hand zitterte zu sehr. Norine mußte aufstehen und ihm helfen.
»Der arme Vater!« sagte Cécile, die fortgefahren hatte, Pappendeckel für die Schachteln zuzuschneiden. »Was wäre aus ihm geworden, wenn wir ihn nicht aufgenommen hätten? Irma mit ihren Hüten und Seidenkleidern hätte ihn schwerlich bei sich haben wollen.«
Seitdem Madame Angelin da war, hatte der Knabe Norinens sich vor sie hingestellt, denn er wußte, daß es an den Tagen, wo die gute Dame dagewesen war, am Abend Naschwerk gab. Er lächelte sie an, mit seinen hellen Augen in seinem hübschen Gesichte, das von krausen blonden Haaren umgeben war. Und als sie sah, wie begierig er darauf wartete, daß sie ihr Täschchen öffnete, wurde sie von einem zärtlichen Gefühle ergriffen.
»Komm, gib mir einen Kuß, mein kleiner Freund.«
Es gab für sie keine schönere Belohnung als diese Küsse der Kinder in den armen Häusern, in die sie ein wenig Freude brachte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als der Kleine ihr fröhlich um den Hals gefallen war, und sie wiederholte, sich an die Mutter wendend:
»Nein, nein, beklagen Sie sich nicht, es gibt Unglücklichere als Sie ... Ich kenne eine, die, um diesen Kleinen zu haben, gerne Ihre Armut auf sich nehmen würde, und dieses Schachtelkleben vom Morgen bis zum Abend, und dieses eingeschlossene Leben in diesem dürftigen und einzigen Zimmer, welches durch ihn erhellt wird. Ach, mein Gott, wenn Sie tauschen wollten, wenn wir könnten!«
Sie schwieg; sie fürchtete in Tränen auszubrechen. Das war die immer wieder blutende Wunde, die Klage um das Kind, das sie zuerst auf später verschoben, dann so innig gewünscht hatte, und das nicht gekommen war. Die Gatten alterten nun in bitterer Einsamkeit, bewohnten in der Rue de Lille drei enge Hofzimmer, lebten hier zurückgezogen von dem Gehalte der Frau und von dem, was sie aus ihrem Ruin hatten retten können. Vollkommen erblindet, war der einst so zuversichtliche Fächermaler jetzt nur ein Gegenstand, ein armer, trübseliger Gegenstand, den seine Frau jeden Morgen in einen Fauteuil setzte, und den sie dort am Abend wiederfand, wenn sie von ihren täglichen Gängen durch schreckliches Elend, schuldige Mütter, leidende Kinder zurückkehrte. Er konnte nicht essen, sich nicht schlafen legen ohne sie, er war ihr Kind, wie er mit herzzerreißendem Spotte sagte, der sie beide weinen machte. Ein Kind? Ach ja, sie hatte nun endlich ein Kind, und das war er! Ein altes Kind des Unheils, er, der mit weniger als fünfzig Jahren achtzig zu sein schien, in seiner ewigen Nacht von der Sonne träumte während der langen Stunden, die er allein verbringen mußte. Und sie beneidete diese arme Arbeiterin nicht bloß um ihr Kind, sie beneidete sie auch um diesen seine Pfeife rauchenden Alten, diesen Invaliden der Arbeit, der wenigstens noch sah, der wenigstens lebte.
»Belästige doch die Dame nicht,« sagte Norine zu ihrem Sohn, betroffen, sie so bewegt zu sehen. »Geh und spiele.«
Sie kannte durch Mathieu ein wenig ihre Geschichte. Sie fühlte für ihre Wohltäterin eine innige Dankbarkeit und leidenschaftliche Verehrung, die sie ihr gegenüber schüchtern und demütig machte, jedesmal, so oft sie sie kommen sah, von hoher Gestalt, vornehm, immer in Schwarz, ihre Schönheit mit kaum sechsundvierzig Jahren von Tränen beinahe verwischt. Sie erschien ihr gleich einer entthronten Königin, die schreckliches und ungerechtes Leid erduldet.
»Geh spielen, mein Herzchen. Du belästigst die Dame.«
»Mich belästigen, o nein!« rief Madame Angelin, ihre Bewegung bemeisternd. »Er tut mir im Gegenteil Wohl. Gib mir noch einen Kuß, mein liebes Kind.«
Dann sagte sie lebhaft, sich erinnernd:
»Oh, ich bleibe so lange hier und habe heute noch so viele Wege zu machen! Hier, das ist alles, was ich für Sie tun kann.«
Aber im Augenblicke, da sie endlich ein Goldstück aus ihrem Täschchen hervorzog, erscholl lautes Klopfen an der Tür. Norine erbleichte, zu Tode erschrocken: sie hatte das Klopfen Alexanders erkannt. Was sollte sie tun? Wenn sie nicht öffnete, würde der Halunke fortfahren zu poltern, würde Lärm schlagen. Sie öffnete notgedrungen, und es ereignete sich nichts von dem Heftigen und Gewalttätigen, das sie gefürchtet hatte. Ueberrascht, diese Dame hier zu finden, tat Alexandre nicht einmal den Mund auf, sondern wich zurück und lehnte sich gegen die Wand. Die Inspektorin hatte ihren Blick auf ihn gerichtet und dann wieder abgewendet; sie begriff, daß dieser junge Mann, der so empfangen wurde, ein naher Freund oder ein Verwandter war. Sie fuhr deshalb fort, ohne etwas zu verbergen:
»Hier sind zwanzig Franken, mehr kann ich leider nicht tnn. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich im nächsten Monat trachten werde, den Betrag zu verdoppeln. Es ist der Monat des Zinstermins, und ich habe schon überall gebeten, daß man mir so viel als möglich gebe. Ach, ob ich wohl genug haben werde, ich hätte so vielen zu geben!«
Ihr kleines Täschchen lag geöffnet auf ihren Knien, und Alexandre sah mit gierig glänzenden Augen hin, überschlug im Geiste diesen Schatz der Armen, das Gold, das Silber, die Kupfermünzen selbst, die die Lederhülle füllten. Immer noch stumm, sah er zu, wie sie das Täschchen schloß, mit der Hand in die Kette schlüpfte und sich erhob, um zu gehen.
»Auf Wiedersehen also nächsten Monat, ja?« sagte sie. »Ich komme bestimmt am Fünften, und ich werde vermutlich meinen Rundgang bei Ihnen beginnen. Aber vielleicht wird es spät werden, da das gerade der Geburtstag meines armen Mannes ist. Seien Sie guten Muts und arbeiten Sie weiter fleißig!« Norine und Cécilie hatten sich ebenfalls erhoben, um sie bis an die Tür zu begleiten. Dort ergingen sie sich wieder in endlosen Danksagungen, und das Kind küßte die Dame nochmals herzlich aus beide Wangen. Die beiden Schwestern, die das Erscheinen Alexandres in angstvolle Bestürzung versetzt hatte, atmeten auf. Es verlief sogar alles ganz glimpflich, denn er zeigte sich nicht anspruchsvoll, begnügte sich, nachdem Cécilie wechseln gegangen war, mit einem Fünffrankenstück von den vier, die sie zurückbrachte. Er blieb auch nicht wie sonst, um sie zu quälen, sondern entfernte sich sogleich, nachdem er das Geld hatte, eine Melodie vor sich hin pfeifend.
Der Fünfte des folgenden Monats, ein Samstag, war einer der düstersten und nässesten Tage des trübseligen Winters. Um drei Uhr war es nahezu finster. An diesem fast vollkommen menschenleeren Ende der Rue de la Fédération befand sich ein leerer Bauplatz, von einem Bretterzaun umgeben, der im Laufe der Jahre morsch und faul geworden war. Viele Bretter fehlten, an einer Ecke klaffte eine große Lücke. Während des ganzen Nachmittags stand da, trotz des fortwährenden Regens, ein mageres Mädchen, in ein Stück eines alten, durchlöcherten Tuches gehüllt, das sie bis zu den Augen verbarg, vermutlich der Kälte wegen. Sie wartete hier offenbar auf irgendeinen Zufall, auf das Almosen eines mitleidigen Vorübergehenden, das Gelüste eines nicht wählerischen Lungerers, und sie schien sehr ungeduldig, denn sie entfernte sich jeden Augenblick von den Planken, an die sie sich drückte, streckte gleich einem auf der Lauer liegenden Tiere spürend ihren Kopf vor und blickte gegen das Champ de Mars hin.
Die Stunden verflossen, es schlug drei Uhr, und so dichte Wolken überzogen den Himmel, daß das Mädchen fast verschwand, nur mehr einem schwärzlichen Schatten glich. Manchmal hob sie den Kopf und sah mit ihren funkelnden Augen auf den sich verfinsternden Himmel, als ob sie ihm dafür danken wollte, daß er diesen einsamen Hinterhalt in solches Dunkel hüllte. Dann, im Augenblicke, da ein neuer Regenguß herabfiel, erschien eine in Schwarz gekleidete Dame mit einem Regenschirm. Sie schritt schnell dahin, den Pfützen ausweichend, wie jemand, der Eile hat und seine Wege zu Fuße macht, um das Geld für einen Wagen zu sparen.
Toinette erkannte sie offenbar schon von weitem nach einer ihr gegebenen genauen Beschreibung. Es war Madame Angelin, die, aus der Rue de Lille kommend, zu ihren Armen eilte, die Kette ihres kleinen Täschchens am Handgelenk. Und als Toinette den Stahl dieses Kettchens glänzen sah, zweifelte sie nicht mehr und ließ einen leichten Pfiff hören. Sogleich vernahm man Schreien und Stöhnen aus einem dunkeln Winkel des Bauplatzes, während das Mädchen selbst zu jammern und um Hilfe zu rufen anfing.
Madame Angelin blieb erschrocken und betroffen stehen.
»Was haben Sie mein Kind?«
»Oh, Madame, mein Bruder ist dort gefallen und hat ein Bein gebrochen!«
»Gefallen? Von wo gefallen?«
»Ach ja, Madame, es ist ein Schuppen dort, wo wir schlafen, weil wir kein Zimmer haben, und er ist auf eine alte Leiter hinaufgestiegen, um das Dach ein wenig zu flicken, damit es nicht so hereinregnet, und da hat er sich ein Bein gebrochen.«
Sie brach in Schluchzen aus, stammelte, was aus ihnen werden solle, erzählte, daß sie nun hier schon seit zehn Minuten verzweifelt rufe, ohne daß jemand ihnen zu Hilfe komme, in diesem Regen und dieser Kälte. Und zugleich verdoppelte sich das Stöhnen und Jammern von dem Bauplatz her.
Obgleich ihr das alles durchs Herz schnitt, zögerte Madame Angelin doch ein wenig mißtrauisch.
»Sie müssen einen Arzt holen, mein armes Kind. Ich kann nichts tun.«
»O ja, Madame, bitte, kommen Sie! Ich weiß nicht, wo ich einen Arzt finden kann. Kommen Sie, wir wollen ihn aufheben, denn allein kann ich das nicht, und wollen ihn wenigstens aus dem Regen in den Schuppen tragen.«
Sie gab nun nach, so wahrhaft schien ihr der Ton. Ihre häufigen Besuche in den ärmlichsten Höhlen, wo das Verbrechen auf dem Kehrichthaufen des Elends wächst, hatten sie mutig gemacht. Sie mußte ihren Regenschirm schließen, als sie durch die Lücke in den Planken sich durchzuzwängen hatte, dem Mädchen folgend, das barhaupt, in ihren Fetzen gehüllt, geschmeidig wie eine Katze vor ihr her glitt.
»Geben Sie mir die Hand, Madame. Geben Sie acht, denn es sind Löcher da. Dort rückwärts ist es. Hören Sie, wie er vor Schmerzen schreit, mein armer Bruder? Da, hier sind wir.«
Nun folgte der tückische Ueberfall. Die drei Räuber, Alexandre, Richard und Alfred, die in der Dunkelheit auf dem Boden gelegen hatten, sprangen auf und stürzten sich auf Madame Angelin mit solcher Wolfsgier, daß sie niederfiel. Alfred, der feige war, überließ sie jedoch sogleich den beiden andern und lief mit Toinette zu der Lücke in der Verplankung, um den Aufpasser zu machen. Alexandre, der ein zusammengerolltes Taschentuch bereit gehalten hatte, steckte es der Dame in den Mund, um ihre Schreie zu ersticken. Sie hatten nur die Absicht, sie zu betäuben und dann mit dem Täschchen die Flucht zu ergreifen. Aber der Knebel verschob sich, und sie stieß einen Schrei aus, einen lauten, schrecklichen Schrei; und gleichzeitig ließen die beiden andern an der Planke einen Warnungspfiff hören, offenbar, weil sich Leute näherten. Es mußte ein Ende gemacht werden. Alexandre wickelte ihr das Taschentuch um den Hals, während Richard mit brutaler Faust ihre Schreie in ihre Kehle zurückdrängte. Eine bestialische Wut hatte sie ergriffen, beide drehten das Taschentuch zusammen und zerrten ihr Opfer so lange herum, bis es sich nicht mehr rührte. Dann, als ein neuer Pfiff ertönte, ergriffen sie das Täschchen, ließen den leblosen Körper mit dem Taschentuch um den Hals liegen und liefen alle vier, liefen immer weiter, bis an den Pont de Grenelle, wo sie das Täschchen in die Seine warfen, nachdem sie die Sous, die Silber- und Goldstücke in ihre Taschen gesteckt hatten.
Als Mathieu in den Zeitungen die Einzelheiten des Verbrechens las, wurde er von Entsetzen ergriffen und eilte in die Rue de la Fédération. Der Name Madame Angelins, deren Identität alsbald festgestellt wurde, der Ort, wo der Mord begangen worden, kaum hundert Meter von dem Hause entfernt, in welchem die beiden Schwestern wohnten, erfüllten ihn mit einer schrecklichen Ahnung. Und er fand seine Befürchtung in vollstem Maße bestätigt, als nach dreimaligem Klopfen, und nachdem er seinen Namen genannt hatte, Cécile den Riegel zurückschob und ihm zitternd öffnete. Norine lag krank zu Bett, totenbleich im Gesichte. Sie fing zu schluchzen an und erzählte ihm schaudernd die Geschichte, den Besuch Madame Angelins, das plötzliche Kommen Alexandres, der das Täschchen gesehen und das Versprechen einer baldigen weiteren Gabe mit Tag und Stunde gehört hatte. Und sie konnte auch gar keinen Zweifel mehr haben, denn das Taschentuch, das am Halse des Opfers gefunden worden, war ihr Taschentuch, eines von denen, die Alexandre ihr gestohlen hatte, mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens gestickt, einer jener billigen Putzgegenstände, die in den großen Warenhäusern zu Tausenden verkauft werden. Dies war der einzige Anhaltspunkt für die Polizei, und er war so unbestimmt, so allgemein, daß die Polizei noch immer suchte und, durch verschiedene Spuren abgelenkt, nur wenig Aussicht auf Erfolg hatte.
Mathieu, der sich ans Bett gesetzt hatte, war erstarrt. Lieber Gott, diese arme Madame Angelin! Er sah sie wieder vor sich, dort in Janville, jung, heiter, strahlend, mit ihrem Manne durch die Wälder streifend, einsamen Pfaden folgend, im bergenden Schatten der Weiden am Ufer der Yeuse verweilend, in einem solchen ununterbrochenen Liebesfeste, daß ihre Küsse unter den Zweigen klangen wie Vogelgezwitscher. Er sah sie später, schon zu hart gestraft für diese leichtsinnig verlängerte Zeit der tollen Leidenschaft, verzweifelt, das Kind nicht mehr bekommen zu können, das sie zu wollen zu lange gezögert hatte, niedergedrückt durch das schleichende Leiden, das sie mit einem blinden Manne beschwerte, der mit seiner Umnachtung den geringen Rest ihres Glückes verdunkelte. Und plötzlich sah er auch ihn, den bedauernswerten Blinden, wie er an jenem Abend die Rückkehr seiner Frau erwartet haben mußte, damit sie ihm zu essen gebe und ihn schlafen lege, das alte Kind, nun mutterlos und verlassen, für immer allein in seiner Finsternis, ohne andre Genossin als das blutende Gespenst der Ermordeten. Einst die Aussicht auf eine so strahlende Zukunft, und nun ein solches Schicksal, ein solcher Tod!
»Wir hatten recht,« sagte Mathieu, an Constance denkend, »diesem Elenden den Namen seines Vaters zu verbergen. Welch entsetzliche Tat! Wir müssen das Geheimnis in unserm tiefsten Innern begraben.«
Norine wurde wieder von Schauder ergriffen. »Fürchten Sie nichts, ich würde eher sterben als etwas sagen.«
Monate, Jahre vergingen, und die Mörder der Dame mit dem Handtäschchen wurden nie entdeckt. Noch Jahre hindurch erzitterte Norine, so oft ein kräftigeres Klopfen an ihrer Tür erscholl. Aber Alexandre erschien nicht wieder, offenbar in Furcht vor dieser Ecke der Rue de la Fédération, wie untergetaucht in dem Ozean von Paris mit seinen finsteren, unergründlichen Tiefen.