Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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2

Am darauffolgenden Tage, nach einem Vormittag angestrengter Arbeit in seinem Bureau, entschloß sich Mathieu, der alle seine Rückstände erledigt hatte, zu Madame Bourdieu zu gehen, um zu sehen, wie es Norine ging. Er wußte, daß sie seit vierzehn Tagen entbunden war, und er wollte sich selbst überzeugen, wie sich Mutter und Kind befanden, um die Mission, mit der ihn Beauchêne betraut hatte, ganz zu Ende zu führen. Da dieser übrigens der Sache mit keinem Worte mehr erwähnt hatte, begnügte er sich damit, ihm sagen zu lassen, daß er nachmittags abwesend sein werde, ohne einen Grund für seine Abwesenheit anzugeben. Aber er wußte nur zu gut, welch große Erleichterung es dem Chef sein werde, dieses Abenteuer ganz beendigt, das Kind verschwunden, die Mutter im Arm eines andern Geliebten zu wissen.

Bei der Hebamme angelangt, mußte er sich ins Zimmer Norines hinaufbegeben, da sie noch zu Bette war. Sie war beinahe ganz genesen und sollte das Haus am nächsten Donnerstag verlassen. Zu seinem Erstaunen sah er am Fußende des Bettes das Kind in einer Wiege schlafen, während er glaubte, daß sie sich seiner bereits entledigt habe.

»Endlich kommen Sie!« rief die Wöchnerin freudig aus. »Ich wollte Ihnen schon schreiben, und Ihnen den Brief durch meine kleine Schwester senden, um Sie wenigstens noch einmal zu sehen, ehe ich von hier fortgehe.«

Die kleine Cécile, ebenso wie die Jüngere, Irma, waren anwesend. Ihre Mutter, die ihr Haus nicht verlassen konnte, hatte sie geschickt, um sich nach dem Ergehen ihrer älteren Schwester zu erkundigen und ihr drei große Orangen zu bringen, die auf dem Nachtkästchen leuchteten. Die beiden Kleinen waren zu Fuß gekommen, glücklich, daß sie den langen Weg durch die Straßen machen und sich die Läden ansehen konnten. Das schöne Haus, in welchem ihre Schwester lag, versetzte sie in Entzücken; abgesehen davon, daß das Kind, diese lebende Puppe, die da unter den Musselinevorhängen schlummerte, ihr lebhaftestes Interesse erweckte.

»Also, es ist alles gut abgelaufen, alles vorüber?« fragte Mathieu.

»Alles vorüber. Seit fünf Tagen bin ich zeitweilig außer Bett, und bald gehe ich fort. Nicht eben sehr gern, wissen Sie, denn ich habe es mir hier hübsch gut gehen lassen, und jetzt ist es vorbei mit der schönen Zeit. Nicht wahr, Victoire, so gute Betten und so gutes Essen werden wir nicht auf der Straße finden?«

Mathieu erkannte Victoire, das kleine Dienstmädchen, die, neben dem Bette sitzend, Wäsche ausbesserte. Acht Tage vor Norine entbunden, war sie bereits ganz hergestellt, und sollte das Haus am nächsten Tage verlassen. Einstweilen arbeitete sie ein wenig für Rosine, das reiche Fräulein mit der unschuldigen Miene, die der Vater mißbraucht hatte, und die, erst gestern entbunden, noch das benachbarte Zimmer einnahm, das ihr allein gehörte. In dem weniger schönen, aber durch die Sonne fröhlich erhellten Zimmer mit den drei Betten hatten Norine und Victoire keine Gefährtin mehr bekommen, seitdem die Engländerin zu Schiff in ihre Heimat zurückgekehrt war.

Das kleine Dienstmädchen unterbrach ihre Arbeit und erhob den Kopf: »Freilich wird es bald kein In-den-Tag-hinein-Schlafen und keine warme Milch ans Bett gebracht mehr geben. Trotzdem ist es nicht gerade sehr lustig, immer nur die hohe graue Mauer da gegenüber vor Augen zu haben; und man kann auch nicht sein Leben mit Nichtstun verbringen.«

Norine nickte lachend mit dem Kopfe, als hübsches Mädchen, die wohl bei sich andrer Ansicht sein mochte. Dann ging sie daran, ihre beiden kleinen Schwestern, die sie genierten, zu verabschieden.

»Also, Herzchen, ihr sagt, daß der Vater noch immer so zornig über mich ist, daß ich nicht nach Hause kommen darf?«

»Oh,« erklärte Cécile, »er ist nicht so sehr zornig, aber er sagt, daß ihn das entehren würde, daß das ganze Viertel mit Fingern auf ihn zeigen würde. Und dann macht ihm auch Euphrasie den Kopf heiß, besonders seitdem sie heiraten soll.«

»Wie, Euphrasie wird heiraten? Davon habt ihr mir ja gar nichts gesagt!«

Sie war sehr unangenehm berührt, besonders, als ihr die Kinder, beide gleichzeitig sprechend, erzählten, daß der künftige Mann Euphrasies Auguste Bénard, der junge Maurer mit dem lustigen Gesichte sei, der über ihnen wohnte. Er hatte sich in die Kleine verliebt, obgleich sie gar nicht hübsch und mit ihren achtzehn Jahren noch so mager war; aber er hielt sie wohl trotzdem für kräftig und eine gute Arbeiterin.

»Mögen sie beide miteinander selig werden. Ehe sechs Monate um sind, wird sie ihn schlagen, das boshafte Ding. Ihr richtet der Mutter aus, daß ich mir aus euch allen nichts mache, und daß ich niemand brauche. Ich bin noch nicht verloren, ich werde mir Arbeit suchen, ich werde schon jemand finden, der mir beisteht. Habt ihr verstanden, kommt nicht wieder, ich will nichts mehr von euch wissen.«

Irma, die mit ihren acht Jahren empfindlich war, fing zu weinen an. »Warum bist du so bös mit uns? Wir haben dir doch gar nichts getan! Und ich wollte dich fragen, ob das Kleine da wirklich dir gehört, und ob ich ihm einen Kuß geben darf, ehe wir fortgehen.«

Norine bereute sofort ihre Heftigkeit. Sie nannte sie wieder ihre Herzchen, küßte sie zärtlich und sagte ihnen, daß sie nun fortgehen müßten, aber daß sie sie wieder besuchen dürften, wenn sie wollten.

»Sagt der Mutter, daß ich ihr für die Orangen danke. Und was den Kleinen betrifft, so mögt ihr ihn euch wohl ansehen, aber rührt mir ihn nicht an, denn wenn er aufwachte, würde er uns ein Konzert machen, daß man sein eignes Wort nicht mehr hörte.«

Und als die Kleinen, die schon verstanden, um was es ich hier handelte, sich ganz aufgeregt vor Neugierde über die Wiege beugten, sah auch Mathieu hin. Er sah ein gesundes, kräftiges Kind mit breitem Gesichte und derben Zügen, das ihm eine auffallende Aehnlichkeit mit Beauchêne zu haben schien.

In diesem Augenblicke trat Madame Bourdieu ein, gefolgt von einer Frau, in welcher er Sophie Couteau erkannte, die Zuführerin, die er sich erinnerte bei den Séguin gesehen zu haben, als sie dahin gekommen war, um eine Amme zu empfehlen. Auch sie erkannte zweifellos den Herrn, dessen schwangere Frau, die so stolz darauf war, selbst zu stillen, so wenig geneigt schien, das Geschäft zu fördern. Aber sie tat, als sähe sie ihn zum ersten Male, denn sie war berufsmäßig diskret und übrigens keineswegs neugierig, seitdem so viele Dinge durch ihre Hände gingen. Die beiden kleinen Mädchen entfernten sich sogleich.

»Nun, mein Kind,« fragte Madame Bourdieu Norine, »haben Sie darüber nachgedacht, was wollen Sie mit dem armen Würmchen machen, das hier so lieb schläft? Hier ist die Frau, von der ich Ihnen gesprochen habe. Sie kommt alle vierzehn Tage aus der Normandie hierher, um Ammen hier unterzubringen, und nimmt jedesmal Kinder mit sich, um sie dort in Pflege zu geben. Da Sie unbedingt nicht selbst stillen wollen, könnten Sie vielleicht doch Ihr Kind nicht verlassen und es ihr übergeben, bis Sie in der Lage wären, es wieder zu nehmen. Oder wenn Sie wirklich entschlossen sind, es ganz zu verlassen, so wird sie uns den Dienst erweisen, es sogleich ins Findelhaus zu tragen.«

Eine große Verwirrung hatte sich Norines bemächtigt; sie ließ den Kopf mit den gelösten, prächtigen blonden Flechten in die Kissen zurücksinken, ihr Gesicht hatte sich verdüstert, ihre Stimme zitterte.

»Mein Gott, mein Gott, jetzt quälen Sie mich schon wieder!« Und sie bedeckte die Augen mit beiden Händen, wie um nichts mehr zu sehen.

»Das ist meine Instruktion, mein Herr,« erklärte die Hebamme Mathieu mit leiser Stimme, indem sie die junge Mutter eine Weile sich selbst überließ. »Wir haben den Auftrag, alles anzuwenden, damit die Mütter, besonders solche, die in der Lage sind, wie diese da, selber ihre Kinder stillen. Sie begreifen, daß dadurch oft nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter gerettet wird, der düsteren Zukunft entgeht, die ihr droht. Daher, mag sie sich auch des Kindes entledigen wollen, wir lassen es so lange als möglich bei ihr, wir ziehen es mit dem Saugfläschchen auf, um abzuwarten, ob sich das Muttergefühl nicht doch in ihr rege, ob der Anblick des armen kleinen Wesens sie nicht rühre. In neun Fällen unter zehn, wenn wir sie dazu bringen können, ihm die Brust zu reichen, ist sie besiegt, behält sie es. Daher finden Sie dieses Kind noch hier.«

Mathieu näherte sich bewegt Norine, die noch immer von ihren Haaren umhüllt, die Hände vor dem Gesichte dalag.

»Nun, mein Kind, Sie haben ja kein schlechtes Herz. Sie sind ein gutes Mädchen, warum wollen Sie ihn nicht nähren, warum ihn nicht behalten, den armen Kleinen?«

Sie enthüllte ihr glühendes, tränenloses Gesicht.

»Ist der Vater mich auch nur besuchen gekommen? Nein, ich kann das Kind eines Mannes nicht lieben, der so niederträchtig gegen mich handelt. Es nur da in der Wiege zu wissen, bringt mich in Wut!«

»Aber das arme unschuldige Geschöpf kann doch für das alles nichts. Sie verdammen es. Sie bestrafen sich selbst, denn Sie sind nun allein, und es wäre Ihnen vielleicht ein großer Trost.«

»Nein, ich sage nein! Ich will nicht, ich fühle nicht die Kraft in mir, mich in meinem Alter gleich so mit einem Kinde zu belasten, ohne daß der Mann, dem ich es verdanke, mir beisteht. Man weiß doch, was man zu leisten vermag, nicht wahr? Nun, so sehr ich mich auch prüfe, ich bin nicht mutig, und auch nicht einfältig genug für das. Nein, nein und nein!«

Er schwieg, da er wohl sah, daß nichts gegen den Freiheitstrieb ankommen könne, der dem allen zugrunde lag. Mit einer Gebärde gab er seiner Trauer Ausdruck, ohne Entrüstung oder Zorn gegen sie zu fühlen; sie war nun einmal so geschaffen, ein schönes Mädchen, das nicht vermochte, den leichten Lockungen der Stadt zu widerstehen.

»Nun, gut also, niemand zwingt Sie, es zu nähren,« sagte Madame Bourdieu, einen letzten Versuch machend, »aber es ist nicht schön, wenn Sie es verlassen. Warum wollen Sie es nicht dieser Frau anvertrauen, die es in Kost geben wird, wodurch Sie die Möglichkeit haben, es eines Tages zurückzunehmen, wenn Sie Arbeit gefunden haben? Das würde nicht teuer kommen, und der Vater würde es zweifellos bezahlen.«

Norine geriet in Zorn.

»Er, zahlen! Da kennen Sie ihn schlecht! Nicht, daß es ihm etwas ausmachen müßte, denn er ist millionenreich. Aber dieser Mensch hat nur einen Wunsch, und der ist, daß das Kind verschwinde, daß man es in eine Grube werfe; wenn er es gewagt hätte, hätte er mir gesagt, ich soll es umbringen. Fragen Sie diesen Herrn, ob ich lüge. Sie sehen wohl, daß er nicht nein sagt. Und soll ich vielleicht zahlen? Ich, die ich keinen Sou habe, die morgen vielleicht kein Obdach haben wird, keine Arbeit und kein Brot? Nein, und tausendmal nein, ich kann nicht!«

Von einer wahren Krisis der Abspannung und der Verzweiflung erfaßt, brach sie in Schluchzen aus.

»Ich bitte Sie, lassen Sie mich in Ruhe! Vierzehn Tage quälen Sie mich schon mit dem Kinde und lassen es da bei mir, in dem Glauben, daß ich es schließlich doch stillen werde. Sie bringen es mir. Sie legen es mir auf die Knie, damit ich es ansehe und küsse. Sie wollen immer, daß ich mich mit ihm beschäftige, Sie lassen es schreien, in der Hoffnung, daß ich Mitleid haben und ihm die Brust reichen werde. Mein Gott, begreifen sie denn nicht, daß, wenn ich den Kopf wegwende, wenn ich es nicht küssen, nicht einmal sehen will, daß es nur deshalb ist, weil ich Furcht habe, daß ich mich verführen lasse, es zu lieben, was ein großes Unglück für mich und für es selbst wäre. Es wird allein glücklicher sein. Hören Sie? Ich bitte Sie, nehmen sie es gleich fort, und foltern sie mich nicht länger!«

Sie fiel zurück und schluchzte heftig, das Gesicht in die Kissen vergraben, von ihrem wirren Haar bedeckt, die Schultern halb entblößt.

Stumm und unbeweglich stand die Couteau am Fußende des Bettes und wartete. In ihrem billigen, dunkeln Wollkleide, ihrer großen, schwarzen, mit gelben Bändern geputzten Haube behielt sie das Aussehen einer Bäuerin im Sonntagskleid, während ihr langes, mageres Gesicht, diese Maske der Schlauheit und Habsucht, versuchte, den Ausdruck gutmütigen Mitleids anzunehmen. Obgleich die Sache ihr aussichtslos schien, sagte sie für alle Fälle ihr gewohntes Sprüchlein her.

»Wissen Sie, Madame, Ihr Kleiner wäre dort wie zu Hause, in Rougemont. Es gibt im ganzen Departement keine bessere Luft, aus Bayeux sind sogar Leute gekommen, um sich dort zu erholen. Und wenn sie wüßten, wie man sie pflegt, wie man sie verhätschelt, die Kleinen! Die ganze Gegend hat keine andre Beschäftigung als kleine Pariser in Pflege zu nehmen, sie zu lieben und zu hätscheln. Und ich würde das Ihrige sehr billig nehmen, ich habe eine Freundin, die schon drei Kinder in Pflege hat, und da sie sie natürlich bei der Flasche aufpäppelt, so würde es ihr nichts machen, noch ein viertes dazu zu bekommen. Sie würde das Ihrige halb umsonst nehmen. Nun, bewegt Sie das nicht, lockt Sie das nicht?«

Aber als sie sah, daß nur die Tränen Norines ihr antworteten, machte sie eine Gebärde, wie eine beschäftigte Frau, die nicht in der Lage ist, ihre Zeit umsonst zu verlieren. Bei jeder ihrer zweiwöchentlichen Reisen nach Paris beeilte sie sich, nachdem sie ihre Ladung Ammen bei den verschiedenen Bureaus abgeliefert hatte, in wenigen Stunden einen Rundgang bei den Hebammen zu machen, wo sie die mitzunehmenden Säuglinge einsammelte, um dann noch desselben Abends nach ihrer Heimat zurückzukehren, in Begleitung von zwei oder drei Frauen, die ihr beim Transport der Kleinen halfen, wie sie sagte. Diesmal war sie um so mehr in Eile, als Madame Bourdieu, die sie so ziemlich zu allen Besorgungen verwendete, sie gebeten hatte, das Kind sogleich ins Findelhaus zu tragen, wenn sie es nicht nach Rougemont mitnähme.

»Also,« sagte sie, sich an die Hebamme wendend, »ich werde demnach nur das Kind der andern Dame mitzunehmen haben. Es wird am besten sein, wenn ich gleich zu ihr gehe, damit ich die Sache abmache. Dann komme ich hierher zurück, um dieses da zu nehmen und es dorthin zu bringen, und zwar im Galopp, denn mein Zug geht um sechs Uhr.«

Als sie mit der Hebamme das Zimmer verlassen hatte, um sich in das Nebenzimmer zu Rosine zu begeben, die gestern entbunden worden war, wurde das Stillschweigen nur unterbrochen durch das Schluchzen Norines, die noch immer heftig weinte. Mathieu hatte sich neben die Wiege gesetzt und betrachtete mit tiefem Mitleid das arme kleine Wesen, das fortfuhr, friedlich zu schlafen. Und Victoire, das Dienstmädchen, die während der ganzen Szene stumm geblieben war, anscheinend ganz in ihre Näherei vertieft, begann nun langsam, ununterbrochen zu sprechen, ohne die Augen von der Nadel zu erheben.

»Sie haben sehr recht, daß Sie ihr Ihr Kind nicht anvertrauen, diesem schlechten Weib! Was man damit auch macht, dort im Spital, so wird es ihm besser gehen, als in ihren Händen. Wenigstens wird es die Möglichkeit haben, am Leben zu bleiben. Darum habe ich auch darauf bestanden, wie Sie, daß man meines gleich dorthin bringt. Wissen Sie, ich bin aus der Gegend, aus Berville, sechs Kilometer von Rougemont, und ich kenne sie, diese Couteau, man spricht bei uns genug von ihr. Ein sauberes Weibsbild! Erst hat sie sich in einem Graben schwängern lassen, bloß um Amme zu werden; dann, wie sie gesehen hat, daß sie nicht genug stehlen kann, wenn sie ihre Milch verkauft, hat sie angefangen, die Milch andrer zu verkaufen. Ein nettes Geschäft, zu dem man kein Herz und keine Seele haben darf! Hierauf hat sie das Glück gehabt, einen großen, rohen Kerl zum Mann zu bekommen, den sie jetzt an der Nase herumführt, und der ihr hilft. Er führt mit ihr Ammen herbei, er nimmt die Kinder mit zurück, wenn die Arbeit sich häuft. Diese zwei haben mehr Morde auf dem Gewissen, als alle Mörder, die man guillotiniert. Der Bürgermeister von Berville, ein braver Mann, ein Städter, der sich aufs Land zurückgezogen hat, hat gesagt, daß Rougemont die Schande des Departements ist. Ich weiß wohl, daß es zwischen Rougemont und Berville immer Eifersucht gegeben hat; aber das hindert nicht, daß die aus Rougemont wirklich ein bißchen gar zu ungeniert ihr Geschäft mit den Pariser Säuglingen betreiben. Alle Einwohner beteiligen sich jetzt schon daran, das ganze Dorf hat keinen andern Erwerb, und man muß nur sehen, wie das alles organisiert ist, damit sie ihrer so viele als möglich begraben. Ich stehe Ihnen dafür gut, daß die lebende Ware nicht lange liegen bleibt. Je mehr sterben, desto mehr kommen, und desto mehr verdient man dabei. Da begreift man, nicht wahr, daß die Couteau gierig ist, jedesmal, wenn sie herkommt, so viele mitzunehmen als sie kann?«

Sie berichtete alle diese furchtbaren Dinge in der entsetzten Weise eines einfachen Mädchens, das in Paris noch nicht lügen gelernt hatte; sie sagte alles, was sie wußte.

»Früher soll es gar noch schlimmer gewesen sein. Ich habe meinen Vater erzählen hören, daß zu seiner Zeit die Zuführerinnen vier oder fünf Kinder auf einmal mitbrachten: förmliche Pakete, die sie mit Schnüren umwickelten und unter den Armen trugen. In den Bahnhöfen legten sie sie der Reihe nach auf die Bänke der Wartesäle; einmal hat eine Zuführerin aus Rougemont sogar eins vergessen, und es entstand eine ganze Geschichte daraus, weil man das Kind dann tot fand. Dann mußte man sehen, wie in den Coupés die kleinen Wesen zusammengedrängt waren und vor Hunger schrien. Besonders im Winter, bei strengem Frost, war es jammervoll, wie sie zitterten, blau vor Kälte, kaum bedeckt von zerrissenen Windeln. Manchmal starb eins, und man schaffte die kleine Leiche auf der nächsten Station heraus und begrub es auf dem nächsten Friedhof, Sie können sich vorstellen, in welchem Zustande die ankamen, die nicht auf dem Wege starben. Bei uns pflegt man die Schweine besser, man würde sie nicht in solcher Weise transportieren. Mein Vater sagte, es wäre gewesen, daß die Steine hätten weinen mögen. Jetzt freilich ist die Aufsicht strenger, und die Zuführerinnen dürfen nicht mehr als ein Kind auf einmal mitnehmen. Sie schwindeln allerdings und nehmen zwei; dann haben sie Helferinnen und bedienen sich auch derer, die gerade mit ihnen heimfahren. So gebraucht die Couteau allerlei Kunstgriffe, um das Gesetz zu umgehen. Um so leichter, als ganz Rougemont die Augen zudrückt, denn sie sind alle zu sehr daran interessiert, daß das Geschäft geht, und haben nur die eine Furcht, daß die Polizei die Nase hineinsteckt. – Ach ja, die Regierung mag 225 Inspektoren jeden Monat hinsenden so viel sie will, Ausweisbücher verlangen, die Unterschrift des Bürgermeisters, das Siegel der Gemeinde – das ist gerade, als ob der Wind wehte. Das hindert die guten Weiber nicht im geringsten, ruhig ihr Geschäft weiter zu verfolgen, so viel Kinder in die andre Welt zu expedieren als sie können. Wir haben in Rougemont eine Cousine gehabt, die uns eines Tages sagte: »Die Malivoire, die hat Glück, letzten Monat hat sie wieder vier verloren.«

Victoire hielt einen Augenblick inne, um ihre Nadel einzufädeln. Norine weinte noch immer. Mathieu, stumm vor Grauen, hörte zu, den Blick auf das schlafende Kind geheftet.

»Freilich,« fuhr das Mädchen fort, »erzählt man heute weniger Geschichten über Rougemont als früher. Aber auch das, was erzählt wird, ist genug, um es einem für immer zu verleiden, Kinder zu haben. Wir kennen so drei oder vier Pflegerinnen, die nicht sehr viel wert sind. Natürlich ist das Aufpäppeln mit der Flasche die Regel, und wenn Sie die Flaschen sehen könnten, die niemals gereinigt werden, vor Schmutz kleben, im Winter gefrorene, im Sommer geronnene Milch enthalten! Die Vimeux findet sogar, daß das Aufpäppeln mit Milch zu kostspielig ist, und nährt alle ihre Kinder mit Grütze; das expediert sie schneller, sie haben alle große aufgedunsene Bäuche, daß man glaubt, sie müßten platzen. Bei der Loiseau herrscht ein solcher Schmutz, daß man sich die Nase zuhalten muß, wenn man zu dem Winkel hingeht, wo die Kinder auf alten Fetzen in ihrem Unrat liegen. Bei der Gavette geht die Frau mit ihrem Manne tagsüber aufs Feld, so daß die drei oder vier Kinder, die sie immer in Pflege hat, dem Großvater überlassen sind, einem Greis von siebzig Jahren, der sich nicht rühren kann, und nicht einmal im stande ist, die Hühner zu verhindern, daß sie den Kindern in die Augen picken. Noch besser ist es bei der Canchois, die, da sie gar niemand hat, um sie zu bewachen, die Kinder in den Wiegen festbindet, damit sie nicht herausfallen. Und in welches Haus des Dorfes immer Sie kommen mögen, so werden Sie überall dasselbe finden. Es giebt nicht eine Familie, die nicht mit dieser Ware handelt. Um uns herum gibt es Gegenden, wo man Spitzen macht, andre, wo man Käse macht, andre wo man Apfelwein macht. In Rougemont macht man tote Kinder.« Sie unterbrach plötzlich ihr Nähen und sah Mathieu mit ihren hellen Augen und ihrem unschuldig-erschrockenen Blicke an.

»Aber die alle übertrifft, das ist die Couillard, eine alte Diebin, die einmal sechs Monate im Gefängnisse gesessen hat, und die nun etwas außerhalb des Dorfes, nahe am Waldesrande wohnt. Noch nie hat ein Kind lebend das Haus der Couillard verlassen. Das ist ihre Spezialität. Wenn man eine Zuführerin, die Couteau zum Beispiel, der Couillard ein Kind bringen sieht, so weiß man sofort, was das zu bedeuten hat. Die Couteau hat dann sicherlich den Tod des Kindes vereinbart. Dies geschieht auf eine sehr einfache Weise. Die Eltern geben eine Summe von zwei-oder dreihundert Franken, wogegen das Kind bis zur ersten Kommunion behalten werden soll; selbstverständlich stirbt es dann innerhalb acht Tagen. Man braucht nur ein Fenster offen zu lassen; mein Vater hat eine Pflegerin gekannt, die im Winter, als sie gerade sechs Pfleglinge hatte, die Tür angelweit öffnete, und dann einfach fortging ... So bin ich auch zum Beispiel überzeugt, daß das Kleine von nebenan, das die Couteau jetzt eben holen ging, zu der Couillard gebracht wird, denn ich war zugegen, als Mademoiselle Rosine gestern mit ihr das Uebereinkommen traf, daß sie eine Abfindung von vierhundert Franken bezahlt, und daß sie sich dann um nichts mehr zu kümmern hat.«

Sie konnte nichts mehr sagen, denn die Couteau kam allein, ohne Madame Bourdieu, zurück, um Norines Kind mitzunehmen. Diese, durch die Geschichten Victoires von ihrem Kummer abgezogen, weinte nicht mehr und hörte mit gespanntem Interesse zu. Aber als sie die Couteau sah, vergrub sie das Gesicht wieder in ihre Kissen, als ob sie von Furcht ergriffen wäre und nicht die Kraft hätte, zuzusehen, was geschehen würde. Mathieu hatte sich erhoben, auch er war tief erregt.

»Also, es ist abgemacht, ich nehme ihn mit,« sagte die Couteau. »Madame Bourdieu hat mir die Daten auf ein Papier geschrieben, den Geburtstag und den Bezirk. Ich brauche aber noch die Vornamen. Wie wollen Sie ihn nennen lassen?«

Norine antwortete nicht gleich. Dann sagte sie mit leidender, durch das Polster erstickter Stimme: »Alexandre.«

»Gut, Alexandre. Aber Sie täten gut, ihm noch einen Namen zu geben, damit Sie ihn leichter wiederfinden können, wenn Sie eines Tages Lust bekämen, ihm nachzuforschen.«

Wieder mußte man Norine die Antwort entreißen. »Honoré«.

»Gut also, Alexandre Honoré. Der zweite Name ist der Ihrige, nicht wahr, und der erste der des Vaters? – Das wäre also abgemacht, ich habe nun alles, was ich brauche. Aber es ist bereits vier Uhr, und ich komme unmöglich zum Sechs-Uhr-Zug zurecht, wenn ich nicht einen Wagen nehme. Es ist am andern Ende der Welt, jenseits des Luxembourggartens. Und ein Wagen kostet Geld. Was machen wir da nur?«

Während sie so sprach, um zu sehen, ob sie diesem von Kummer bedrückten Mädchen nicht noch etwas Geld erpressen könnte, entschloß sich Mathieu plötzlich, seine Mission bis zum letzten Punkte durchzuführen und die Frau selbst bis zum Findelhaus zu begleiten, um Beauchêne versichern zu können, daß das Kind in seiner Gegenwart dort abgegeben worden sei. Er erklärte ihr also, daß er einen Wagen nehmen und sie dahin bringen wolle.

»Sehr wohl, damit bin ich aus der Verlegenheit. Gehen wir also. Es ist schade, ihn aufzuwecken, den Kleinen, so gut schläft er. aber wir müssen ihn doch wohl einwickeln, da es nun einmal so ist.«

Mit ihren dürren, geschäftskundigen Händen ergriff sie das Kind, vielleicht ein wenig zu rauh, ihre gewohnte schmeichlerische Gutmütigkeit vergessend, da sie bloß den Auftrag hatte, es der Konkurrenz zu überbringen. Es erwachte und fing heftig zu schreien an.

»Na, das kann gut werden, wenn er uns den ganzen Weg über die Musik macht! – Schnell, gehen wir!«

Mathieu hielt sie noch zurück. »Norine, wollen Sie ihm keinen Kuß geben?«

Beim ersten Schrei des Kindes hatte sich das betrübte Mädchen noch tiefer in die Kissen vergraben und sich die Hände vor die Ohren gehalten, um nichts zu hören.

»Nein, nein, tragen Sie ihn fort, tragen Sie ihn gleich fort, fangen Sie nicht wieder an, mich zu quälen!«

Sie drückte die Augen zu und stieß mit den Händen die Gestalt zurück, mit der man sie verfolgte. Als sie jedoch fühlte, daß die Frau das Kind aufs Bett legte, erzitterte sie, richtete sich auf und gab einen verzweifelten Kuß ins Leere, der das kleine Häubchen traf. Sie hatte kaum ihre von Tränen verschleierten Augen geöffnet, sie konnte kaum mehr als den schattenhaften Umriß dieses armen, kleinen Wesens gesehen haben, das schrie und sich wehrte im Augenblicke, da man es ins Ungewisse hinausstieß.

»Sie töten mich, nehmen Sie ihn weg, nehmen Sie ihn weg!«

Im Wagen wurde das Kind plötzlich still, sei es, daß das Wiegen des Sitzes es einschläferte, sei es, daß das Rollen der Räder es beschäftigte. Die Couteau, die es auf den Arm genommen hatte, blieb zuerst schweigsam und schien nur an den Trottoirs interessiert, die von der hellen Sonne beschienen waren, während Mathieu, der an seinem Knie die Berührung des armen kleinen Wesens spürte, in schmerzliches Sinnen verloren dasaß. Plötzlich fing sie zu reden an und setzte laut ihre Gedanken fort.

»Das Fräulein hat sehr unrecht gehabt, mir ihn nicht anzuvertrauen, ich hätte ihn so gut untergebracht, und er wäre in Rougemont gediehen, daß es eine Pracht gewesen wäre. Aber sie glauben alle, daß wir ihnen nur um des, Geschäftes willen zureden. Denken Sie einmal! Wenn sie mir fünf Franken für mich gegeben und mir die Heimfahrt bezahlt hätte, würde sie das zu Grunde gerichtet haben? Ein hübsches Mädchen wie die findet immer Geld. – Ich weiß wohl, daß es in unserm Geschäft solche giebt, die nicht sehr anständig sind, die schachern, sich Provisionen zahlen lassen und dann die Kinder so billig als möglich unterbringen, indem sie sowohl die Eltern als die Pflegefrau betrügen. Das ist gar nicht schön, wenn man aus diesen lieben kleinen Geschöpfen eine Ware macht, mit der man handelt wie mit Hühnern oder Gemüsen. Wenn man das so geschäftsmäßig betreibt, so ist es begreiflich, daß sich einem das Herz verhärtet, daß man mit den Kleinen herumstößt, sie von Hand zu Hand wirft, als ob es Pakete wären. Aber ich, mein Herr, ich bin eine ehrliche Frau, ich habe die Bewilligung unsers Bürgermeisters, ich habe ein Sittenzeugnis, welches ich aller Welt zeigen kann. Und wenn Sie jemals nach Rougemont kommen, fragen Sie doch nach Sophie Couteau; man wird Ihnen sagen, daß das eine arbeitsame Frau ist, die niemand einen Sou schuldet.«

Mathieu konnte sich nicht enthalten, den Blick auf sie zu richten, um zu sehen, mit welcher Stirn sie so ihr eignes Lob sang. Dieses Plaidoyer, das gleichsam eine Antwort auf alles bildete, was Victoire erzählt hatte, berührte ihn eigentümlich; es war, als ob die Frau mit ihrem schlauen Bauerninstinkt geahnt hätte, welche Anklagen gegen sie erhoben worden waren. Als sie den durchdringenden, forschenden Blick Mathieus auf sich gerichtet sah, fürchtete sie wohl, nicht herzhaft genug gelogen, sich durch irgend eine Nachlässigkeit verraten zu haben, denn sie verfolgte den Gegenstand nicht weiter, sondern begnügte sich damit, in noch sanfteren Tönen dieses Paradies von Rougemont zu preisen, wo man die Kinder aufnahm, nährte, pflegte, hätschelte wie die Prinzen. Dann, als sie sah, daß dieser Herr den Mund nicht öffnete, verstummte sie wieder. Es war vergeblich, ihn herumkriegen zu wollen, den da. Und der Wagen rollte, rollte immerzu; Straßen folgten auf Straßen, alle menschenerfüllt und lärmend; sie hatten die Seine gekreuzt und hatten den Luxembourggarten erreicht. Erst nachdem sie diesen hinter sich gelassen, sprach die Couteau wieder.

»Um so besser, wenn die Dame sich einbildet, daß ihr Kind dadurch etwas gewinnen wird, wenn sie es dem Findel-Haus übergibt. Wissen Sie, ich will nichts gegen die Verwaltung sagen, aber es gäbe da manches zu erzählen. Wir haben in Rougemont eine ganze Anzahl Kinder, die sie uns schickt, und diese, versichere ich Ihnen, gedeihen auch nicht besser, sterben ebensogut als die andern. – Nun ja, man muß den Leuten ihren Willen lassen. Aber ich möchte, daß Sie einmal so wie ich sehen könnten, was alles da drinnen vorgeht.«

Der Wagen hielt am oberen Ende der Rue Denfert-Rochereau, ehe er die alten äußeren Boulevards erreicht hatte. Eine hohe graue Mauer erhob sich vor ihnen, die nüchterne Fassade eines Amtsgebäudes; am Ende derselben befand sich eine kleine, einfache, kahle Tür, durch welche die Couteau mit dem Kinde eintrat. Mathieu folgte ihr. Aber er wollte nicht in das Aufnahmebureau mit eintreten, wo eine Dame die Kinder in Empfang nahm. Er war zu bewegt, und er beachtete obendrein, daß man Fragen an ihn stellen könnte, als ob er Mitschuldiger an einem Verbrechen wäre. Die Zuführerin mochte ihm noch so sehr versichern, daß die Dame ihn nichts fragen würde, daß das strengste Geheimnis bewahrt werde; er zog es vor, im Vorzimmer zu warten; dieses führte in einige getrennte Abteilungen, in welchen man die Leute, welche Kinder brachten, einzeln warten ließ, bis die Reihe an sie kam. Und er sah die Frau mit dem Kinde verschwinden, welches immer noch sehr still war, mit groß offenen Augen nach oben starrend.

Das Warten, obschon es schwerlich länger als zwanzig Minuten dauerte, schien ihm entsetzlich lang. Totenstille herrschte in dem düsteren, ernsten, eichengetäfelten Vorzimmer, in welchem es nach dem Spital roch. Er hörte nur das gedämpfte Wimmern eines Neugeborenen, manchmal übertönt von heftigem Schluchzen, vielleicht von einer Mutter, die in einer der anstoßenden Abteilungen wartete. Und seine Gedanken schweiften zu der Einrichtung früherer Zeiten zurück, zu der runden Lade, die sich in der Mauer drehte: die Mutter kam versteckt heran, legte das Kind hinein, zog an der Glocke und eilte fort. Er war zu jung, um diese Einrichtung noch in Gebrauch gesehen zu haben, er kannte sie nur aus einem Melodram im Theater an der Porte Saint-Martin. Aber was für Erinnerungen an alte Geschichten wurden dadurch lebendig, an arme kleine Wesen aus der Provinz, die in Körben durch einen Fuhrmann gebracht und abgegeben wurden, an Kinder von Herzoginnen, die von geheimen Sendlingen in die Vergessenheit versenkt wurden, an die langen Reihen bedauernswerter Mädchen aus dem Volke, die sich unter dem Schutze der Nacht der Frucht ihres Fehltritts entledigten. Wie viel schien nun geändert, die Drehlade bestand nicht mehr, die Abgabe mußte offen geschehen, ein kahler und ernster Eingang führte in diese Stätte der Zuflucht, und in amtlicher Form wurden die Daten und Namen aufgenommen, wobei jedoch unverletzliches Geheimnis zugesichert war. Er wußte wohl, daß manche behaupteten, die Abschaffung der Drehlade habe die Zahl der Kindsmorde und Fehlgeburten verdoppelt. Aber das öffentliche Gewissen verdammt täglich mehr die Stellung der früheren Gesellschaft zu der vollendeten Tatsache, das Prinzip, daß man das Übel als unvermeidlich ansehen, es eingraben, es in geheime Kanäle leiten müsse wie die Abwässer, während die wahre Aufgabe einer freien Gemeinschaft im Gegenteil darin besteht, dem Übel entgegenzutreten, ihm zuvorzukommen, es im Keim zu zerstören. Das einzige Mittel, die Zahl der ausgesetzten Kinder herabzumindern, ist, die Mütter zu kennen, sie zu ermutigen, ihnen zu Hilfe zu kommen, ihnen die Möglichkeit zu geben, Mütter zu sein. Aber in diesem Augenblicke gab er sich keinen vernunftmäßigen Betrachtungen hin, bloß sein Herz war ergriffen von sich steigerndem Schmerz und Mitleid bei dem Gedanken an die Summe von Verbrechen, Schande und entsetzlichen Leiden, die durch dieses Vorzimmer geschritten waren, in dem er sich befand. Diese Frau, die in ihrem geheimnisvollen Bureau die Kinder in Empfang nahm, welch schreckliche Geständnisse mußte sie hören, wieviel Qual, wieviel Schmach und Elend an sich vorbeiziehen sehen! Ein Sturmwind fegte ihr die Verirrten der Straße und die Gefallenen der Paläste zu, alle Schändlichkeiten, alle Entsetzlichkeiten, von denen niemand etwas weiß. Dies war also der Hafen der Schiffbrüchigen, der düstere Schlund, in den man die verwünschte Frucht unseliger Frauen warf. Während seines langen Wartens sah er deren drei hereinkommen. Die eine war offenbar eine arme Arbeiterin, aber hübsch und zart; ihr wirrer Blick erinnerte ihn an eine Notiz, die er in den »Vermischten Nachrichten« der Zeitungen gelesen hatte, von einem Mädchen wie diese, welche, nachdem sie sich ihres Kindes entledigt hatte, ins Wasser gesprungen war; die zweite schien ihm eine verheiratete Frau, die Frau eines Arbeiters, die bereits zuviel Kinder hatte und eines mehr wohl nicht mehr ernähren konnte; die dritte endlich glich einer Dirne, sie war groß, stark, mit frechem Blick, eine von denen, die in sechs Jahren drei oder vier Kinder der Reihe nach hier abliefern, so wie man am Morgen einen Kübel mit Schmutzwasser in die Gosse schüttet. Sie verschwanden eine nach der andern, er hörte, wie man sie in den einzelnen Abteilungen unterbrachte, während er, das Herz voll Tränen, den schweren Druck des Schicksals auf die Menschen fühlend, immer noch wartete.

Als die Couteau endlich mit leeren Händen wieder erschien, sagte sie kein Wort, und Mathieu stellte keine Frage an sie. So bestiegen sie schweigend wieder den Wagen. Erst zehn Minuten später, als der Wagen bereits wieder durch die belebten Straßen rollte, fing die Couteau zu lachen an. Und als ihr Gefährte, immer noch stumm und abweisend, es nicht der Mühe wert fand, sie um den Grund dieser plötzlichen Heiterkeit zu fragen, sagte sie endlich: »Sie wissen nicht, warum ich lache. – Wenn ich Sie dort ein wenig habe warten lassen, so war es deshalb, weil ich, als ich das Bureau verließ, eine Freundin traf, die Krankenwärterin im Hause ist. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß die Krankenwärterinnen die Kinder zu den Pflegerinnen in der Provinz bringen. Nun, meine Freundin hat mir gesagt, daß sie morgen mit zwei andern Krankenwärterinnen nach Rougemont fahren wird, und daß sie unter der Partie, die sie mitnehmen, sicherlich auch das Kleine haben werden, das ich eben hergebracht habe.«

Wieder verzog sich ihr süßliches Gesicht, als sie ihr kurzes Lachen ausstieß.

»Wie, ist das nicht komisch? Diese Kleine wollte durchaus nicht, daß ich ihr Kind nach Rougemont mitnehme, und jetzt kommt es erst recht dorthin! Ja, so geschehen die Dinge trotz alledem manches Mal.«

Mathieu antwortete nicht. Aber ein eisiger Hauch ging ihm übers Herz. Ja, so war es, das Schicksal ging seinen Weg, erbarmungslos. Was würde aus dem armen Geschöpfe werden? Welchem frühen Tode, welchem Leben des Leidens, des Elends oder des Verbrechens hatte man es brutal hingeworfen, wie einen jungen Hund, den man dem Zufall nach aus dem Wurf auswählt, um ihn auf der Straße auszusetzen?

Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, es war wieder nichts hörbar als das Rasseln der Räder. Als sie Rue Miromesnil vor dem Hause der Hebamme anlangten, begann die Couteau wieder zu klagen, daß es schon halb sechs Uhr sei, und daß sie sicher den Zug versäumen werde, um so mehr, als sie noch abzurechnen und das andre Kind von oben mitzunehmen habe. Mathieu, der den Wagen behalten wollte, um sich nach dem Nordbahnhofe fahren zu lassen, gab der schmerzlichen Neugierde nach, alles kennen zu lernen und die Abreise der Zuführerinnen mitanzusehen. Er beruhigte also die Frau und sagte ihr, er werde auf sie warten, sie möge sich beeilen. Und da sie sagte, sie werde eine Viertelstunde brauchen, ging auch er hinauf, um Norine zu sehen.

Er fand sie allein, im Bette sitzend, im Begriffe, eine der Orangen zu essen, die ihre kleinen Schwestern ihr gebracht hatten. Mit der Leckerhaftigkeit eines hübschen, üppigen Mädchens teilte sie die Frucht sorgsam und sog an den Schnitten mit ihren vollen roten Lippen, die Augen halbgeschlossen, gleich einer Katze, die behaglich eine Schüssel Milch leckt. Sie schrak auf beim plötzlichen Öffnen der Tür, und als sie den Eintretenden erkannte, lächelte sie ein wenig verlegen. »Es ist geschehen,« sagte Mathieu einfach.

Sie antwortete nicht gleich und wischte sich die Finger an ihrem Taschentuche ab. Sie mußte sich aber gleichwohl entschließen zu sprechen.

»Sie sagten nicht, daß Sie wiederkommen würden, ich habe Sie nicht erwartet. – Es ist also geschehen, um so besser. Ich versichere Ihnen, daß es unmöglich war, es anders zu machen.«

Sie sprach dann von ihrem baldigen Fortgehen, fragte, ob sie wohl wieder in die Fabrik eintreten könnte, und erklärte, daß sie sich trotz allem wieder dort vorstellen werde, um zu sehen, ob der Chef die Kühnheit haben werde, sie hinauszuweisen.

»Nicht etwa, daß ich in Verlegenheit wäre, wissen Sie, oder daß es mir leid um ihn täte, denn nie werde ich an einen niederträchtigeren Menschen geraten, als er ist.«

Es vergingen lange Minuten, und das Gespräch wurde peinlich, da Mathieu kaum antwortete, als endlich die Couteau wieder erschien, in größter Eile, mit dem andern Kinde auf dem Arme.

»Schnell, schnell! Sie werden nicht fertig mit ihren Verrechnungen, sie wollen eine die andre dabei übertreffen, mir nicht zwei Sous zu viel lassen!«

Norine hielt sie zurück. »Das ist das Kind von Mademoiselle Rosine? Ich bitte Sie, zeigen Sie es mir.«

Sie enthüllte das Gesicht und rief aus: »Nein, wie stark und schön er ist! Das ist einer, der so viel Lust als möglich hat, zu leben.«

»Ja freilich,« bemerkte die Couteau philosophisch. »Im Augenblick, wo es aller Welt im Wege ist, kann man sicher sein, daß es ein Prachtkind ist.«

Norine betrachtete das Kleine mit lebhaftem Interesse und mit dem zärtlichen Blicke der Frauen, denen der Anblick eines Kindes stets zu Herzen geht.

»Wie schade, wie kann man nur das Herz haben ...«, begann sie.

Dann hielt sie inne und fuhr nach einem Augenblicke fort: »Ja, das bricht einem das Herz, wenn man sich von so einem kleinen Engel trennen muß!«

»Guten Abend! Leben Sie Wohl!« rief die Couteau. »Ich werde noch den Zug versäumen. Und ich habe alle Retourbillete bei mir, die fünf andern erwarten mich auf dem Bahnhof. Na, die werden mir einen Tanz machen!«

Sie eilte hinaus, und Mathieu folgte ihr. Sie nahm drei Stufen auf einmal und wäre beinahe mit ihrer kleinen Last gefallen. Nachdem sie sich in den Wagen geworfen und dieser sich in Bewegung gesetzt hatte, rief sie:

»Uff! Gott sei Dank! – Haben Sie die gehört? Sie, wollte nicht fünfzehn Franken monatlich daran wenden, und nun macht sie dieser guten Mademoiselle Rosine einen Vorwurf, die mir vierhundert Franken gibt, damit man ihren Kleinen bis zu seiner ersten Kommunion betreut! Es ist wahr, es ist ein prächtiges Kind, der Kleine. Sehen Sie ihn nur an. Ah, wenn die Liebe Kinder erzeugt, dann macht sie sie gut! Schade, daß es gerade die hübschesten sind, die am schnellsten sterben.«

Mathieu betrachtete das Kind, das auf den Knien der Frau den Platz von Norines Kind eingenommen hatte. Es war in feine, spitzenbesetzte Wäsche gekleidet, mit einem schönen weißen Wickelband umwickelt, gleich einem verurteilten Fürstenkinde, das man prächtig eingehüllt zur Todesstätte bringt. Und er gedachte der schauderhaften Geschichte dieses kleinen Wesens – der Vater im Bette der Tochter drei Monate nach dem Tode der Mutter, das Kind der Blutschande im geheimen Wochenbette zur Welt gekommen und um einen festen Preis der Pflegerin überliefert, die es in aller Stille verschwinden lassen würde, mit Hilfe eines zufällig offen gelassenen Fensters oder einer Tür. Der Säugling hatte ein feines Gesichtchen, das bereits die Spuren engelhafter Schönheit zeigte, und war sehr still, stieß keinen Schrei aus. Ein schauderndes Grauen überlief Mathieu.

Am Saint-Lazare-Bahnhofe sprang die Couteau eilig aus dem Wagen.

»Danke, mein Herr, Sie waren sehr liebenswürdig. Empfehlen Sie mich den Damen Ihrer Bekanntschaft, wenn sie meiner Dienste bedürfen sollten!«

Dann sah Mathieu, der ausgestiegen war, ein Schauspiel, das ihn noch einen Augenblick festhielt. Fünf Frauen von bäuerlichem Aussehen, jede mit einem Kinde auf dem Arme, liefen aufgeregt unter den Reisenden und dem Gepäck hin und her, gleich geängstigten Krähen, ihre großen, gelben Schnäbel weit offen, unruhig mit den schwarzen Flügeln schlagend. Als sie die Couteau erblickten, stürzten sich alle fünf gierigen Fluges und mit lautem Krächzen auf sie. Und nach einem kurzen Austausch heftigen Geschreis und wütender Erklärungen eilten die sechs vereint auf den Zug los, mit flatternden Röcken und Haubenbändern, die Kinder mit sich entführend, wie ein Zug Raubvögel, die fürchten, die Rückkehr zum Nest zu versäumen. Sie stiegen im Rauch und unter dem Pfeifen der Lokomotive ein und verschwanden.

Mathieu blieb allein inmitten der Menge des Bahnhofes. Zwanzigtausend Kinder wurden in dieser Weise jährlich von diesen Unheilsraben aus Paris entführt, und keines sah man je wieder. Nicht genug, daß die Menschheitssaat vergeudet, dem Vergnügen zuliebe auf das heiße Pflaster geschüttet wurde, nicht genug, daß die Ernte durch den schrecklichen Ausfall der Fehlgeburten und Kindesmorde gelichtet wurde, es mußte auch noch der lebende Ertrag schlecht zur Scheune gebracht, die Hälfte vernichtet, zertreten, gemordet werden. Die Zerstörung wurde fortgesetzt, Diebinnen und Mörderinnen, die die Beute witterten, kamen aus allen vier Windrichtungen herbei und schleppten von dannen, was ihre Arme an aufkeimendem, lallendem Leben tragen konnten, um es dem Tode zu überliefern. Sie waren die Zutreiberinnen, sie lauerten an den Türen, sie rochen von weitem ihre unschuldigen Opfer. Ihre Frachtkarren rollten unaufhörlich den Bahnhöfen zu, sie leerten die Wiegen, die Säle der Spitäler und der Gebärhäuser, die stillen Zufluchtsorte der Armenverwaltung, die unsauberen Zimmer der Hebammen, die elenden Lagerstätten der Wöchnerinnen ohne Feuer und ohne Brot. Die Pakete wurden alle auf einen Haufen gelegt, herumgeworfen, weggeführt, dann dort drunten im unbekannten Lande verteilt, dem fahrlässigen oder vorbedachten Morde überliefert. Die Raffnetze fuhren erbarmungslos hin, die Sensen mähten die Halme zu jeder Stunde, ohne eine Ruhezeit zu kennen. So wie sie schlecht gesät, schlecht geerntet worden waren, so wurden die Neugeborenen nun schlecht genährt. Und daraus entstand der ungeheure Ausfall, daß man lebende und lebensfähige Kinder tötete, indem man sie der Mutter wegnahm, der einzigen Nährerin, deren Milch sie am Leben erhalten konnte.

Eine Blutwelle erwärmte das Herz Mathieus, als plötzlich das Bild Mariannens vor ihm aufstieg, die ihn auf der Brücke der Yeuse inmitten der weiten Landschaft erwartete, mit ihrem Gervais an der Brust. Gewisse statistische Zahlen, die er gelesen hatte, fielen ihm ein. In den Departements, die sich mit der Industrie der Kinderpflege befassen, betrug die Sterblichkeit der Neugeborenen fünfzig Prozent; in den besseren vierzig; in den schlechtesten siebzig. Man hatte berechnet, daß in hundert Jahren deren siebzehn Millionen gestorben waren. Lange Zeit hatte die Gesamtsterblichkeit pro Jahr hundert- bis hundertzwanzigtausend betragen. Die blutigsten Zeiten der Geschichte, die Schlächtereien der furchtbarsten Eroberer hatten keine solche Massakers angerichtet. Es war eine Riesenschlacht, die Frankreich jedes Jahr verlor, das Grab aller Kraft, die Mordstätte aller Hoffnung. Und am Ziele drohte unabwendbar die Vernichtung, der unsinnige Tod der Nation. Von Entsetzen ergriffen, eilte Mathieu davon, hatte nur noch das eine Verlangen, wieder in die trostreiche Nähe Mariannens zu gelangen, mit ihr wieder vereint zu sein in ihrem gemeinschaftlichen Frieden, ihrer Gesundheit, ihrem Glücke.


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