Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

An dem Tage, da der erste Spatenstich gemacht wurde, kam Marianne mit Gervais auf dem Arme heraus und setzte sich in die Nähe der Arbeiter, glücklich und tiefbewegt über dieses Werk der Hoffnung und Zuversicht, das Mathieu so kühn unternahm. Es war ein klarer und heißer Junitag unter einem reinen Himmel voll muteinflößender Verheißung. Die Kinder hatten Schulferien und tummelten sich im Grase; man hörte die durchdringenden Schreie der kleinen Rose, die mit den Knaben Haschen spielte.

»Willst du den ersten Spatenstich machen?« fragte Mathieu fröhlich.

Sie deutete auf den Säugling.

»Nein, ich habe meine Arbeit. Mache du ihn, du bist der Vater.«

Er hatte zwei Arbeiter zur Seite, die er gedungen hatte, und wollte selbst kräftig mit Hand anlegen, um die so lange durchdachte und durchgesprochene Idee zur Tat werden zu lassen. In weiser Voraussicht hatte er sich ein Jahr bescheidenen, ganz der Arbeit zu widmenden Lebens gesichert durch ein klug erdachtes Leih– und Beteiligungssystem für das Saatgut, welches ihm ermöglichte, die erste Ernte abzuwarten, ohne Schulden auf sich zu nehmen. Er setzte einfach seine ganze Existenz auf diese kommende Ernte, und er verlor den Einsatz, wenn die Erde sich weigerte, seine Kulturarbeit damit zu belohnen. Aber er war der treue Gläubige, der sicher war zu siegen, weil er liebte und weil er wollte. Mit seinem letzten Kinde hatte sich diese Schöpferkraft bei ihm geoffenbart und war seither in außerordentlichem Maße gewachsen. Wenn man ihm in bezug auf seinen tollen Traum von Chantebled Eigensinn vorwarf, so antwortete er lachend, daß er tatsächlich einen guten Lehrer für Willensstärke abgeben würde, Arbeiten, schaffen wurde ihm zur Leidenschaft. Und eines Morgens hatte er Marianne zum Lachen gebracht, als er entdeckte, wieso und warum sie beide so viel Kinder wünschten und bekamen. War nicht auch das Energie, Willensbetätigung, lebende und menschliche Tat, und die mächtigste von allen, die sieghaft das Leben erweiterte?

»Nun, so sei's denn!« rief er beherzt. »Möge die Erde uns eine gute Mutter sein!«

Und er führte den ersten Spatenstich. Dies geschah links von dem ehemaligen Jagdpavillon, in einer Ecke des weiten Sumpfterrains, in welches sich zahlreiche Quellen ergossen, und wo nichts anders wuchs als Schilf. Es handelte sich vorerst darum, einige Hektar zu entwässern, indem man diese Quellen faßte und in Kanäle leitete, um sie sodann über die trockenen und sandigen Hänge fließen zu lassen, die sich bis zur Eisenbahnlinie herabsenkten. Dank einem genauen Studium hatte er gefunden, daß diese Arbeiten leicht ausführbar sein würden, daß es bloß einiger Entwässerungsgräben bedürfe, deren Anlage durch die Natur des Terrains erleichtert war. Dies war seine eigentliche Entdeckung, abgesehen von seiner festen Überzeugung, daß sich eine gewaltige Humusschichte auf dem Plateau angesammelt haben müsse, und daß der Boden eine enorme Fruchtbarkeit entwickeln werde, sobald nur erst der Pflug darüber werde hingegangen sein. Mit seinem Spatenstiche vollführte er daher die symbolische Tat des Entdeckers und des Pioniers, er begann den Durchbruch, öffnete den gefangenen Quellen einen Ausweg, um das sumpfige Hochplateau zu assanieren und gleichzeitig die kahlen, unfruchtbaren, verdursteten Gelände unten zum Leben zu erwecken.

Jetzt fing Gervais, den die freie Luft offenbar hungrig gemacht hatte, zu schreien an. Er war gegenwärtig dreieinhalb Monate alt, ein kräftiger Junge, der in bezug auf die Stunde seiner Mahlzeiten nicht mit sich spaßen ließ. Er wuchs wie einer der jungen Bäume des benachbarten Waldes in blühender Gesundheit unter der hellen Sonne auf; er hatte kleine Fäustchen, die nicht losließen, was sie einmal erfaßt hatten, glänzende Augen, welche lächelten und weinten, und vor allem ein feinschmeckerisches, stets offenes Schnäbelchen, das einen Sturm entfesselte, wenn die Mutter es warten ließ.

»Ja, ja, ich weiß, daß du da bist. Da, da hast du, schrei uns nicht die Ohren voll!«

Sie hatte ihr Kleid geöffnet und ihm die Brust gereicht. Und man hörte nur noch das behagliche Schnurren des Kindes, das mit atemloser Gier sog, fest auf die weiße Haut drückte, um mehr zu bekommen. Die segenspendende Quelle hatte wieder zu fließen begonnen, unerschöpflich. Die Milch rieselte mit leisem Glucksen immerfort, und es war, als hörte man sie herabrinnen und sich ausbreiten, während Mathieu fortfuhr, den Durchbruch zu graben, unter Mithilfe der beiden Arbeiter, kräftiger Männer, die in solcher Arbeit erfahren waren.

Jetzt richtete er sich auf und sagte, sich die Stirn wischend, in seiner ruhigen, festen Art: »Das Handwerk muß gelernt werden wie ein andres. In einigen Monaten werde ich nur noch ein Bauer sein ... Sieh hier dieses stehende Wasser, dessen Fläche mit Pflanzen bedeckt ist. Die Quelle, von der es gespeist wird, und die eine Pfütze daraus macht, entspringt da, unter diesem dichten Gebüsch. Und wenn der Graben durchgestochen sein wird, bis an den Rand des Abhanges dort drüben, so wirst du sehen, wie der Sumpf austrocknet, die Quelle zum Vorschein kommt und ihren Weg nimmt, um das wohltätige Wasser in die Ferne zu tragen.«

»Ach ja,« sagte Marianne, »wenn sie nur alle diese Steinfelder befruchten würde, denn nichts ist trauriger als toter Boden. Wie werden die Felder glücklich sein, wenn sie endlich ihren Durst löschen und aufleben können!«

Sie unterbrach sich, um Gervais lachend auszuschelten: »Heda, junger Herr, wollen Sie wohl nicht so stark saugen? Warte doch, bis es kommt, du weißt ohnehin, daß alles dir allein gehört.«

Die Hauen der beiden Arbeiter fielen in regelmäßigem Takt, der Graben verlängerte sich rasch in dem weichen Boden, bald würde das Wasser in die vertrockneten Adern der benachbarten Sandfelder fließen und sie befruchten. Und das Milchbächlein fuhr fort mit leisem Murmeln zu rieseln, eine unerschöpfliche Quelle, die aus der Brust der Mutter sich in den Mund des Kindes ergoß, gleich einem ewigen Lebensborn. Sie floß immerfort und schuf Körper und Geist und Arbeit und Kraft. Gar bald wird ihr leises Murmeln sich mit dem der befreiten Quelle vermischen, wenn sie durch die Kanäle sich über die verdorrten Felder ergießen wird; und diese Quelle sowie jene werden zum Bache werden, dann zum allmählich anschwellenden Flusse, der sich lebenspendend über die ganze Erde ergießt, der große, nährende Milchstrom, der durch die Adern der Welt rollt, der ohne Unterlaß schafft, mit jedem neuen Frühjahr neue Jugend und neue Kraft hervorbringt.

Vier Monate später, nachdem Mathieu mit seinen Leuten die Herbstarbeiten beendet hatte, ging er an die Aussaat. Marianne war wieder mitgekommen; es war ein grauer, warmer Tag, so warm, daß Marianne wieder dem kleinen Gervais fröhlich die Brust reichen konnte. Er war nun bereits acht Monate alt und eine Persönlichkeit. Er wuchs zusehends von Tag zu Tag in den Armen seiner Mutter, an ihrer warmen Brust, aus der er sein Leben trank. Er war noch nicht von ihr losgelöst, so wie das Korn an der Erde festhält, solange es noch nicht gereift ist. Und um diese Zeit, da der erste kühle Hauch des November fühlbar wurde, da der Winter nahte, der die Keime in der Ackerfurche in Schlaf versenken sollte, vergrub er sein zartes Gesichtchen tiefer in die Wärme der Brust und trank stiller, als ob der Lebensstrom tiefer in die Erde gesunken und unhörbar geworden wäre.

»Ah,« sagte sie lachend, »dem jungen Herrn ist nicht sehr warm, es ist Zeit, daß er sein Winterquartier bezieht.«

Den Sack mit dem Samen um die Hüften gebunden, kam Mathieu gegen sie zurückgeschritten, die Körner mit rythmischer Bewegung in weitem Bogen ausstreuend. Er hatte ihre Worte gehört und erwiderte, stehenbleibend:

»Er soll nur trinken, und dann soll er schlafen und auf die Rückkehr der Sonne warten. Um die Erntezeit wird er ein fertiger Mensch sein.«

Dann deutete er auf das weite Feld, das er mit seinen beiden Helfern besäte:

»Das wird wachsen und reifen, wenn unser Gervais gehen und sprechen wird ... Sieh nur, sieh nur unser erobertes Gebiet!«

Er war mit Recht stolz darauf. Nun waren vier bis fünf Hektar des Plateaus entwässert, urbar gemacht und applaniert; und sie erstreckten sich als weite braune Fläche, die von fettem, lang aufgesammeltem Humus bedeckt war, während die Wassergräben, die sie durchfurchten, das Wasser der Quellen zu den benachbarten Hängen leiteten. Um diese trockenen Flächen der Kultur zuzuführen, mußte man warten, bis die Feuchtigkeit sie durchdrungen und befruchtbar gemacht hatte. Das war die Arbeit künftiger Jahre; Schritt um Schritt sollte das Leben das ganze Gebiet wiedererobern. Für den Anfang genügte es, daß diese wenigen Hektar erweckt waren, damit sie die Mittel lieferten, die ersten Spesen zu bezahlen und zu leben, und damit sie an das Wunder glauben machten.

»Der Abend naht,« sagte Mathieu wieder. »Wir müssen uns beeilen.«

Und er schritt weiter, den Samen mit rhythmischer Bewegung in weitem Bogen ausstreuend. Während Marianne ihm mit lächelndem Ernst nachschaute, fiel es der kleinen Rose, die mit da war, ein, sie wolle auch säen. Sie nahm Händevoll Erde auf und begleitete den Vater, indem sie seine Bewegung nachahmte. Kaum hatten die drei Knaben das bemerkt, als sie eilig herbeiliefen. Blaise und Denis zuerst, Ambroise hintendrein, und alle aus Leibeskräften säten. Sie lachten unbändig dabei und tollten in ausgelassenem Lauf um den Vater herum. Und es schien, als ob Mathieu mit derselben weit ausholenden Bewegung, womit er der Erde die erwarteten Saatkörner anvertraute, auch sie aussäte, diese teuern, geliebten Kinder, sie vermehrte, ohne zu rechnen, bis ins Unendliche, damit ein ganzes zukünftiges Geschlecht von Säern aus seiner Gebärde sprieße und fortfahre, die Welt zu bevölkern.

Zu ihrer Ueberraschung sah Marianne plötzlich die Angelin vor sich, die verliebten Eheleute, die geräuschlos aus einem Waldpfade hervorgetreten waren. Ehe sie sich für den Winter eifersüchtig in ihr Häuschen in Janville einschlossen, trug sie ihre Zärtlichkeit noch einmal durch die verlassenen Wege, die das dürre Herbstlaub deckte; und so, dicht aneinander gedrückt durch die Gegend streifend, waren sie so ganz in ihre Liebe versunken, daß sie nichts sahen, was nicht dicht vor ihnen war. Als sie daher, von dieser unerwarteten Bewegung aus ihren Träumen aufgestört, den Kopf erhoben, waren sie überrascht von diesen neuen Feldern, von diesen Arbeiten, die ihnen übrigens nicht unbekannt geblieben waren. Mathieu war ihnen als seltsamer Schwärmer erschienen, der, anstatt die Erde zu lieben und zu versuchen, auch ihr Kinder zu erzeugen, sich mit seiner reizenden Frau zufriedengeben sollte. Und überhaupt lag ihnen das alles so fern!

Sie blieben jedoch im Gespräch und stellten sich aus Liebenswürdigkeit, als bewunderten sie die erzielten Erfolge ungemein. Ihr fortwährender Entzückungsrausch hatte das Liebenswürdige an sich, daß er ihnen den Wunsch eingab, daß alle Welt gleich ihnen glücklich sei. Bis jetzt war ihr Leben ein einziges Fest gewesen; sie ging ganz auf in der Seligkeit, angebetet zu werden, er war geliebt, gesund, reich, malte seine wenigen Fächer nur um des Vergnügens willen, schwebende Frauengestalten und Blumen darüber hinzustreuen.

Aber Madame Angelin, die am Arme ihres Mannes, zärtlich gegen seine Schulter gelehnt, stehengeblieben war, schien in Träumerei versunken, den Blick auf Mathieu geheftet, der, nachdem er sie begrüßt hatte, fortfuhr, mit weitausholender Gebärde den Samen auszustreuen. Sie mochte wohl eigenartig bewegt sein von diesen spielenden Kindern, von diesem Schwarm fröhlicher kleiner Geschöpfe, die, gleichsam der Hand des Säers entflogen, ihn fröhlich umtanzten, und sie sagte plötzlich mit langsamer Stimme, ohne ersichtlichen Anlaß: »Ich habe kürzlich eine Tante verloren, eine Schwester meiner Mutter, die sicherlich aus Kummer darüber gestorben ist, daß sie keine Kinder hatte. Sie hatte einen kräftigen Mann von sechs Schuh Höhe geheiratet, sie selbst war groß, stark, sehr schön, und ich war oft Zeugin ihrer Verzweiflung, wenn sie kleinen, unscheinbaren Frauen begegnete, die reich mit Kindern gesegnet warm. Ihr Mann hatte ein großes Vermögen erworben, das Ehepaar besaß alles, Geld, Gesundheit, zahlreiche Freunde. Aber alle ihre Besitztümer zählten nicht für sie, ich habe sie nie anders gesehen als betrübt, lediglich der Sehnsucht nachhängend nach der einzigen Freude, die ihnen versagt war, nach Knaben und Mädchen, die ihr ödes Haus beleben würden ... Und diesen Kummer hatten sie vom ersten Jahre ihrer Ehe angefangen; sie waren zuerst erstaunt, als nichts kam, dann mehr und mehr von Unruhe ergriffen, als die unfruchtbaren Jahre einander folgten, endlich verzweifelt, als die entsetzliche Gewißheit ihres Unvermögens sich ihnen aufdrängte. Sie können sich nicht vorstellen, was sie alles versucht haben, Aerzte, Bäder, Heilmittel, in einem mehr als fünfzehnjährigen rastlosen Kampfe; allmählich schämten sie sich ihrer erfolglosen Anstrengungen, verbargen sich, als ob sie mit einem Schandfleck behaftet wären ... Dabei bewahrten sie in ihrem Unglück genug Zärtlichkeit füreinander, um sich nicht gegenseitig anzuklagen, um ihr Elend gemeinsam als gleicherweise Betroffene zu tragen; denn man hat mir von einer andern Ehe erzählt, die zu einer wahren Hölle wurde, da weder der Mann noch die Frau für den unfruchtbaren Teil gelten wollte. Ach, die arme, liebe Tante, ich sehe sie noch immer vor mir, wie trostlos sie war, wie sie immer ihre Muttertrauer mit sich herumtrug, wie die Tränen sie erstickten, wenn sie uns, ihre kleinen Nichten, am Neujahrstage küßte. Sie ist nun gestorben, verzehrt von einem unaushörlich nagenden Sehnen, und ich glaube, daß ihr armer, alter Mann ihr bald nachfolgen wird, denn er ist nun doppelt allein und verlassen.«

Ein Schweigen entstand, während ein leichter, kalter Windhauch unter dem weiten grauen Novemberhimmel hinfuhr.

»Aber,« fagte Marianne, »ich dachte doch, daß auch Sie keine Kinder wollen?«

«Ich, gütiger Himmel, wer hat Ihnen das gesagt? Ich will nur jetzt keine Kinder, weil alles seine Zeit hat, nicht wahr? Man darf wohl, in unserm Alter, ein wenig der Liebe genießen wollen. Aber wenn wir einmal vernünftig werden, dann sollen Sie sehen. Wir müssen vier haben, zwei Knaben und zwei Mädchen.«

Ihr liebenswürdiges Lachen erstarb in einem abermaligen Stillschweigen, durch welches wieder der leichte Hauch der im Entschlummern begriffenen weiten kahlen Fläche fuhr.

»Wie aber,« fagte Marianne, »wenn Sie zu lange gewartet hätten, wenn es zu spät wäre?«

Madame Angelin sah sie einen Augenblick verblüfft an. Dann brach sie in lautes, übermütiges Lachen aus.

»Was sagen Sie da? Wir keine Kinder haben? Nein, wenn Sie wüßten, wie komisch die Idee ist!«

Sie hielt verlegen inne, in Verwirrung gebracht durch das, was man sich dabei denken konnte; dann erging sie sich in abgebrochenen, girrenden Koseworten, wie die verliebte Turteltaube, die sie war.

»Du, Schatz, hör einmal, verteidige du dich doch! Keine Kinder, nein, so was!«

»Das ist, als ob Sie sagen würden, Madame,« scherzte. Angelin mit verstärkten galanten Anspielungen, daß auf diesem Felde, das Ihr Mann besät, kein Halm wachsen wird!«

Die beiden Frauen lachten, ein wenig rot und verlegen, Mathieu kam nunmehr zurück, gefolgt von seinen beiden Arbeitern, noch immer den Samen ausstreuend, ihn der Erde anvertrauend, mit der weitausholenden Gebärde, die den ganzen Horizont zu umfassen schien. Durch Wochen würde das Saatkorn nun schlafen, der geheimnisvollen Arbeit des Keimens hingegeben, der unterirdischen Wirksamkeit des Lebens, das sich sodann im Lichte der Sommersonne entfalten würde. Es war nun der notwendigen Ruhe überlassen und sog indessen an der großen Urquelle, an dem unermeßlichen Kräftesee, der den Boden mit der ewigen Flut durchtränkt, aus welcher alle Wesen ihre Lebensnahrung schöpfen. Und an der Brust Mariannens war nun auch Gervais trinkend halb eingeschlafen, und sog so schwach, daß das Rieseln der Milch nur mehr ein unhörbares Murmeln war, dem leichten Vibrieren der Wintersaat vergleichbar, welche von dem ewigen Lebensstrom genährt wird, der durch die Adern der Welt fließt.

Zwei Monate vergingen, und es war Januar, als eines scharfkalten Tages die Froment von dem Befuche Beauchênes und Séguins überrascht wurden, die in den noch nicht ausgetrockneten Sümpfen des Plateaus auf Wildenten gejagt hatten. Es war an einem Sonntag, und die ganze Familie war in der großen Küche vereinigt, die von einem mächtigen Feuer fröhlich erhellt wurde. Durch die blanken Fenster sah man auf die weite schneebedeckte Landschaft, die erstarrt in diesem krystallenen Schreine schlief, einer heiligen Toten vergleichbar, die die Auferstehung des April erwartet. Und als die Besucher eintraten, schlief auch Gervais in seiner schneeweißen Wiege, von der Jahreszeit eingelullt, aber wohlgenährt wie die Lerchen im Winter, der auch seinerseits nur das Wiedererwachen erwartete, um in seiner aufgesammelten, siegreichen, triumphierenden Kraft zum Vorschein zu kommen.

Die Familie hatte frühlich zu Mittag gegessen, und jetzt, solange das Tageslicht dauerte, hatten sich die vier Kinder um einen Tisch am Fenster vereinigt und waren in ein Spiel vertieft, das sie leidenschaftlich interessierte. Die Zwillinge Blaise und Denis bauten unter Beihilfe des dritten Knaben, Ambroise, ein ganzes Dorf aus Pappestückchen, die sie mit Gummi zusammenklebten. Es gab da Häuser, eine Kirche, eine Schule, ein Gemeindehaus. Rose, der es verboten war, eine Schere in die Hand zu nehmen, durfte nur den Gummi handhaben, und sie beschmierte sich damit bis über die Haare. Inmitten des behaglichen Friedens, durch den von Zeit zu Zeit Kindergelächter erscholl, saßen Vater und Mutter nebeneinander vor dem großen Feuer und genossen die köstliche Ruhe des Sonntags nach der harten Arbeit der Woche. Sie fühlten hier ein sehr einfaches Leben, das Leben wirklicher Bauern, ohne jeden Luxus, ohne jede Zerstreuung als die Freude des Beisammenseins. Die ganze fröhliche, vom Feuerschein erleuchtete Küche atmete dieses gesunde, primitive Leben, wie man es in Gemeinschaft mit der Erde lebt, befreit von allen erkünstelten Bedürfnissen, Begierden und Vergnügungen. Und kein Reichtum, keine Macht hätte sie für das Glück eines solchen friedlichen Nachmittags inniger Gemeinschaft entschädigen können, da ihre Kinder um sie spielten und ihr jüngstgeborener in sanftem Schlafe lag, ohne daß man das leichte Atmen seiner Lippen hörte.

Beauchêne und Séguin kamen als erfolglose Jäger zu ihnen, mit müden Beinen, Hände und Gesicht von Frost erstarrt. Während der Ausrufungen des Erstaunens, womit sie empfangen wurden, verwünschten sie laut ihre unglückliche Idee, sich um eine solche Zeit aus Paris herauszuwagen.

»Stellen Sie sich vor, mein Lieber,« sagte Beauchêne, »daß wir keine einzige Ente zu Gesicht bekommen haben. Ohne Zweifel ist es für sie zu kalt. Und Sie haben keinen Begriff von dem eisigen Wind, der da oben auf dem Plateau über die Sümpfe und das froststarre Schilfrohr hinfährt. Da haben wir die Jagd Jagd sein lassen. Sie werden Wohl die Güte haben, uns ein Glas Glühwein zu geben, und dann kehren wir nach Paris zurück.«

Séguin stand in noch üblerer Laune vor dem Feuer, um seine erstarrten Glieder zu Wärmen; und während Marianne sich beeilte, den Wein wärmen zu lassen, sprach er von den urbar gemachten Feldern, au deren kahlen Flächen er entlang geschritten war. Aber unter der Eisschicht, unter der sie erstarrt schliefen und das Unbekannte der Aussaat in sich bargen, hatte er nichts gesehen, nichts erraten, und war von Unruhe ergriffen über diese Sache, die so wenig verheißend aussah; er fürchtete bereits, daß er sein Geld nicht bekommen werde. Und er gestattete sich, ironisch zu sagen:

»Hören Sie, mein Lieber, ich fürchte sehr, daß Sie da oben Ihre Zeit und Ihre Mühe verloren haben. Ich habe das im Vorbeigehen gesehen, und das Ganze hat keinen guten Eindruck auf mich gemacht. Wie können Sie sich mit der Hoffnung tragen, auf diesem verfaulten Boden etwas zu ernten, wo seit Jahrhunderten nichts als Schilf gewachsen ist?«

»Wir müssen abwarten,« antwortete Mathieu ruhig. »Sie werden sich das im Juni wieder ansehen.«

Beauchêne unterbrach sie. »Ich glaube, um vier Uhr geht ein Zug. Beeilen wir uns, denn es wäre uns sehr unangenehm, ihn zu versäumen, nicht wahr, Séguin?«

Und er warf ihm einen vielsagenden, verständnisvollen Blick zu; sicherlich hatten sie irgendein gemeinschaftliches galantes Unternehmen verabredet, als Ehemänner, die ihren freien Jagdtag voll auszunutzen beabsichtigen. Nachdem sie getrunken und sich erwärmt, ihr Selbstgefühl wiedergefunden hatten, fahen sie sich mit Ausrufen des Erstaunens rings um.

»Mein lieber Freund,« erklärte Beauchêne, »es ist geradezu unfaßbar, daß Sie den ganzen Winter hindurch in dieser Einsamkeit aushalten können. Das ist ja zum Sterben trostlos. Ich lobe mir die Arbeit, aber nach der Arbeit muß man sich zerstreuen, zum Henker!«

»Aber es mangelt uns nie an Zerstreuung,« sagte Mathieu, mit einer Gebärde auf diese ländliche Küche deutend, welche ihr glückliches Familienleben umschloß.

Die beiden Männer folgten dieser Gebärde mit den Blicken, betrachteten mit Verwunderung die mit Geräten behängten Mauern, die plumpen Möbel, den Tisch, auf welchem die Kinder mit ihrem Bauen fortfuhren, nachdem sie den Besuchern die Wangen zum Küssen geboten. Ohne Zweifel konnten sie durchaus nicht verstehen, welche Art Freuden hier enthalten sein mochten, denn sie schüttelten den Kopf und unterdrückten ein spöttisches Lächeln. Das war in ihren Augen ein seltsames Leben von ganz eigentümlichem Geschmacke.

»Sehen Sie doch meinen kleinen Gervais an,« sagte Marianne voll Mutterstolz. »Aber wecken Sie ihn nicht auf, er schläft.«

Beide willfahrten aus Höflichkeit, beugten sich über die Wiege und drückten ihr Erstaunen aus, daß ein Kind von zehn Monaten schon so stark sei. Er war auch sehr brav; aber wenn er aufwachte, würde er einen mit seinem Geschrei betäuben. Und dann, wenn so ein hübsches Kind genügen würde, um das Leben zu einem glücklichen zu machen, wie viele Leute wären dann schuldig, es willkürlicherweise unglücklich zu machen! Sie kehrten zum Feuer zurück und hatten nur mehr den einen Gedanken, möglichst bald fortzukommen, nachdem sie nunmehr sich erwärmt und erfrischt hatten.

»Sie wollen also nicht zum Essen bleiben?« fragte Mathieu.

»Gott bewahre!« riefen beide wie aus einem Munde.

Dann, um das Verletzende, das in einem solchen Ausruf lag, wieder gutzumachen, gab Beauchêne ihm eine scherzhafte Deutung und nahm die Einladung für später, für die wärmere Jahreszeit, an.

»Auf Ehrenwort, wir haben in Paris zu tun. Aber ich verspreche Ihnen, daß wir an einem schönen Sommertage zu Ihnen kommen werden, alle miteinander, samt Frauen und Kindern. Sie werden uns dann die Resultate Ihrer Arbeiten zeigen, und wir werden sehen, ob Sie es waren, der recht hatte. Viel Glück, mein Lieber! Auf Wiedersehen, Cousine! Adieu, Kinder, seid brav!«

Es gab abermals Küsse und Händedrücke, dann verschwanden die beiden Männer. Und als wieder friedliche Stille eingetreten war, saßen Mathieu und Marianne wieder auf demselben Platze vor dem hellen Feuer, während die Kinder unter großer Gummiverschwendung weiter an ihrem Dorfe bauten und Gervais fortfuhr, mit leichten Atemzügen süß zu schlafen. War es ein Traum gewesen! Welcher plötzliche Windstoß, aus den Schändlichkeiten und Leiden der Großstadt entstammt, war durch ihren liebenden, weltfremden Frieden gefahren? Draußen lag die Landschaft nach wie vor in eisiger Erstarrung. Nur das Feuer sang die Hoffnung des künftigen Erwachens. Und nach einigen Minuten träumerischen Sinnens begann Mathieu zu sprechen, als hätte er nun endlich den Schlüssel gefunden, die entscheidende Antwort auf alle die ernsten Fragen, die ihm solange auf der Seele gelegen.

»Diese Leute lieben einfach nicht, sie sind unfähig, zu lieben. Das Geld, die Macht, den Ehrgeiz, das Vergnügen, o ja, diese Dinge können sie verstehen, aber sie verstehen die Liebe nicht. Die Gatten, die ihre Frauen betrügen, lieben auch ihre Geliebten nicht. Sie haben nie von der großen Begierde geglüht, von der göttlichen Begierde, die die Seele der Welt ist, der Feuerherd des ewigen Lebens. Damit erklärt sich alles. Wer die Begierde nicht fühlt, wer die Liebe nicht fühlt, der hat keinen Mut und keine Kraft. Man zeugt, man schafft nur durch die Liebe. Wie sollten die Männer von heute den beherzten Mut zu einer zahlreichen Familie finden, wenn sie nicht von der Liebe erfüllt sind, die ohne feige Einschränkung ihr Lebenswerk vollbringt? Sie betrügen, sie unterschlagen, weil sie nicht lieben. Sie leiden später, sie geraten in äußerste physische und moralische Entartung, weil sie nicht lieben. Das Ende von allem ist die Qual und wird schließlich der Zusammenbruch dieser morschen Gesellschaft sein, die sichtlich jeden Tag mehr verfällt. Das ist also die Wahrheit, die ich suchte. In der Begierde, in der Liebe liegt die Rettung. Derjenige, der liebt, der zeugt, der schafft, der ist der revolutionierende Retter, der Erschaffer von Menschen für die Welt der Zukunft.«

Nie hatte er so deutlich gefühlt, daß er und seine Frau anders seien als die andern; dies stand ihm in diesem Augenblicke mit überwältigender Klarheit und Unwiderleglichkeit vor Augen; Vergleiche drängten sich ihm auf, und er sah, daß ihr so einfaches, von gieriger Gewinnsucht freies Leben, ihre Verachtung des Luxus und der weltlichen Eitelkeit, die Hingabe aller ihrer Kräfte an die Arbeit, ihre Art, die Vervielfältigung des Lebens zu fördern, zu begrüßen, zu verehren, dieses ganze Dasein, das ihr Glück und ihre Stärke ausmachte, aus nichts anderm entsprang, als aus der ewigen Urquelle aller Kraft, der Liebe, deren göttliche Begierde sie durchglühte. Wenn ihnen dereinst der Sieg zu teil werden sollte, wenn sie eines Tages vollendete Werke, Gesundheit und Glück hinterlassen würden, so würde es nur sein, weil sie die Kraft gehabt hatten, zu lieben, die Tapferkeit, Menschen zu erzeugen, diese reiche Nachkommenschaft, die aus ihnen erwuchs, wie eine Ernte, welche die Macht und den Sieg bedeutete. Und diese plötzliche Gewißheit begeisterte ihn, befeuerte sein Blut mit einer solchen Leidenschaft, daß er sich gegen seine Frau neigte, die ihm bewegt zuhörte, und sie leidenschaftlich auf den Mund küßte. Es war die göttliche Begierde, die wie eine Flamme über ihn hinschlug. Aber obgleich selbst erregt und mit brennenden Augen, hatte sie die Kraft, ihn zurückzuhalten, indem sie mit lachendem Schelten sagte:

»Willst du wohl vernünftig sein! Du wirst Gervais aufwecken. Später, wenn er einmal meiner nicht mehr bedarf.«

Sie blieben Hand in Hand in festem Druck und versanken in köstliches Schweigen. Der Abend nahte, das Gemach erfüllte sich mit tiefstem Frieden, während die Kinder an ihrem Tische Jubelrufe ausstießen über ihr vollendetes Dorf, in welchem Holzstückchen die Bäume darstellten. Und die zärtlichkeitserfüllten Augen der Gatten schweiften durch das blanke Fenster hinaus in die Ferne bis zu der unter der Kristalldecke des Frostes schlafenden Saat da drüben, und kehrten dann zu der Wiege ihres Jüngstgeborenen zurück, in der gleichfalls die Hoffnung schlief.

Abermals vergingen zwei Monate, Gervais war ein Jahr alt geworden und vorzeitig schöne Tage beeilten das Erwachen der Erde. Eines Morgens, da Marianne und die Kinder einen Spaziergang nach dem Plateau zu Mathieu unternahmen, stießen sie einen Ruf des Erstaunens aus, so hatten die ersten Sonnenstrahlen in einer Woche das den Sümpfen abgerungene weite Feld verwandelt. Es war nun ein riesiger grüner Samtteppich, eine endlose Fläche, welche das dicht und üppig in die Halme schießende Korn mit einer smaragdfarbenen Decke überzogen hatte. Niemals hatte ein Feld eine so wunderreiche Ernte versprochen. Und in dem warmen und hellen Aprilmorgen, inmitten der endlich aus dem Winterschlaf erwachten, im ersten Jugendreize prangenden Landschaft, jubelte die Familie über diesen Segen, über diese im Entstehen begriffene Fruchtbarkeit, die alle ihre Hoffnungen übertreffen zu wollen schien. Und ihr Entzücken steigerte sich noch, als sie auf einmal bemerkten, daß auch der kleine Gervais sich entpuppt hatte, zum selbständigen Leben erwacht war, sich anschickte, seine Kräfte zu gebrauchen. Da er in seinem kleinen Wagen herumstrampelte und seine Mutter ihn herausnahm, versuchte er den ersten Flug und machte taumelnd vier Schritte, um sich dann mit seinen Händchen an die Beine des Vaters anzuklammern. Ein Freudengeschrei erscholl.

»Er geht, er geht!«

Ach, dieses erste Stammeln des Lebens, diese allmähliche Entfaltung der holden kleinen Wesen, der erste Blick, das erste Lächeln, der erste Schritt, welche Wonnen sind sie für die Herzen der Eltern! Sie sind die entzückenden Etappen der frühen Kindheit, welche die Eltern beobachten, ungeduldig erwarten, mit Ausrufen des Triumphes begrüßen, wie einen immer neuen Sieg, einen immer neuen Schritt in das Dasein. Das Kind ist gewachsen, das Kind wird ein Mensch. Dann kommt der erste Zahn, dessen feine Spitze das rosige Zahnfleisch durchbohrt; das erste gelallte Wort, das »Mama«, das »Papa«, welches zu verstehen man sehr viel guten Willen entwickelt, solange es noch nicht mehr ist als ein unartikuliertes Stammeln, ein Schnurren wie von einer kleinen Katze, das Zwitschern eines kleinen Vogels. Das Leben vollendet sein Werk, und Vater und Mutter stehen immer wieder voll Staunen und Rührung vor diesem Aufblühen ihres Fleisches und ihrer Seele.

»Warte,« sagte Marianne, »er wird wieder zu mir kommen. Gervais! Gervais!«

Und das Kind kam nach einigem Zögern und nach einem vergeblichen Versuche, machte vier Schritte zurück, die Arme ausgebreitet und sie auf und ab bewegend wie eine Balancierstange.

»Gervais! Gervais!« rief nun Mathieu wieder.

Wieder kam das Kind zu ihm, und zehnmal mußte er die Reise unter Jubelrufen und Gelächter machen; so herzlich und drollig fanden ihn alle, zum Totlachen.

Als jedoch die vier älteren in ihrer Freude und ihrem Übermut allzu unsanft mit dem Kleinen umsprangen, nahm Marianne ihn ihnen weg. Und wieder einmal gab sie ihm, im Grase sitzend, an dieser Stelle die Brust, indem sie scherzend sagte, er habe wohl diese Belohnung verdient, obgleich seine Mahlzeitstunde noch nicht gekommen war. Im übrigen war er stets bereit, er vergrub sein dickes Gesicht mit gieriger Hast, und man hörte nichts mehr als das leise Rieseln der Milch, die abermals anfing durch die Adern der Welt zu fließen, um die Ernte der Zukunft zu nähren.

Da erfolgte eine Begegnung. Am Felde vorbei zog sich ein in ziemlich schlechtem Zustande befindlicher Fahrweg, der zu einem benachbarten Dorfe führte. Diesem entlang holperte nun ein Karren, auf welchem ein Bauer saß, dessen Aufmerksamkeit der Anblick der neu kultivierten Felder in solchem Maße anzog, daß er sein Pferd auf einen Schotterhaufen hätte hinaufgehen lassen, wenn die neben ihm sitzende Frau nicht in die Zügel gegriffen hätte. Das Pferd blieb stehen, und der Mann rief spöttisch:

»Das ist also Ihr Werk, Monsieur Froment?«

Mathieu und Marianne erkannten die Lepailleur, die Müllersleute. Sie wußten recht gut, mit welchem Spotte man in Janville ihren unsinnigen Versuch verfolgte, auf den Sümpfen des Plateaus Getreide zu pflanzen. Lepailleur besonders tat es allen zuvor in Hohn auf diesen Pariser, der ein Herr war, eine gute Anstellung hatte, und so unglaublich dumm war, Bauer zu werden, seine paar Groschen dieser Hexe von Erde in den Rachen zu werfen, die ihn und seine Kinder samt seinen paar Groschen verschlingen würde, ohne ihm auch nur genug Mehl für alle zu liefern. Der Anblick dieses Feldes machte ihn starr. Er war seit langem hier nicht vorbeigekommen, und er hätte niemals geglaubt, daß die Frucht so dicht herauskommen werde, denn er hatte hundertmal wiederholt, daß kein Halm da wachsen werde, so verfault sei der Boden. Aber obgleich eine geheime Wut ihn erstickte, als er sah, daß seine Vorhersagung sich so schlecht erfüllte, blieb er starrsinnig, wollte sich nicht ergeben, affektierte spöttischen Zweifel.

»Sie glauben also wirklich, daß das tragen wird? Ja freilich, man kann nicht sagen, daß es nicht herausgekommen ist. Aber wir wollen erst sehen, ob es wird reifen können.«

Und da Mathieu in ruhiger Sicherheit lächelte, fuhr er fort, um ihm die Freude zu verderben:

»Ach ja, wenn Sie die Erde erst einmal kennen werden, so werden Sie sehen, daß sie wie jene gemeinen Weiber ist, von denen man nie weiß, ob man bis zum Schluß Freude oder Verdruß mit ihnen haben wird. Ich habe schon Ernten gesehen, die prächtig zu werden versprachen; aber dann kam eine Verräterei der Hexe, ein Gewitter, ein Sturm, oft selbst keine besondere Ursache, ein Nichts, eine Laune, und aus war's, alles ging zu Grunde. Aber Sie sind noch zu neu im Handwerk, Sie müssen erst noch Lehrgeld zahlen.«

Seine Frau, die ihm mit Stolz zuhörte und kopfnickend beistimmte, nahm nun Marianne auf sich.

»Mein Mann sagt das nicht, um Ihnen den Mut zu nehmen, Madame. Aber die Erde ist wie die Kinder, sehen Sie. Es gibt welche, die leben, es gibt welche, die sterben; die einen machen einem Freude, die andern machen einem Kummer. Aber wenn man alles zusammenrechnet, so gibt man immer mehr, als man bekommt, und man findet zum Schlusse, daß man nur der Narr gewesen ist. Sie werden schon sehen, Sie werden schon sehen!«

Peinlich berührt von diesen bösen Vorhersagungen, erhob Marianne, ohne zu antworten, ihre Augen vertrauensvoll zu Mathieu. Dieser, obgleich einen Augenblick geärgert durch die Unwissenheit, den törichten Neid und die Mißgunst, die er aus all dem herausfühlte, begnügte sich, scherzhaft zu erwidern: »Nun gut, wir werden sehen. Wenn Ihr Sohn Antonin einmal Präfekt sein wird, und meine zwölf Töchter nichts als Bäuerinnen, werde ich Sie zu ihren Hochzeiten einladen, und bis dahin werden Sie wohl Ihre Mühle haben neu bauen und mit einer großen Dampfmaschine versehen müssen, um all das Getreide zu mahlen, das auf meinem Besitze wachsen wird, hier, dort, rechts, links und überall.«

Er umfaßte einen so weiten Bezirk mit seiner Gebärde, daß der Müller, dem es nicht behagte, daß man sich über ihn lustig machte, beinahe böse wurde. Er versetzte seinem Pferd einen heftigen Peitschenhieb, und der Karren holperte von dannen.

»Frucht, die herauskommt, ist noch nicht in der Mühle. Adieu, und viel Glück übrigens!«

»Danke. Adieu!«

Während die Kinder sich herumtrieben und nach den ersten vorzeitigen Primeln suchten, setzte sich Mathieu ein wenig neben Marianne, die, wie er sah, vor Furcht erbebt war. Er sprach kein Wort, er wußte sie stark genug, vertrauensvoll genug, um selber die Angst zu überwinden, die ihr Frauenherz vor der Zukunft empfinden mochte. Er setzte sich einfach neben sie, ganz dicht, so daß er sie berührte, und sah ihr in die Augen und lächelte sie an. Sogleich wurde auch sie ruhig und fand auch ihrerseits ihr gutes Lächeln wieder, während der kleine Gervais, dem die Reden böser Menschen noch nichts anhaben konnten, fortfuhr zu trinken, ohne einen Schluck zu verlieren und mit gefräßigem Behagen zu schnurren. Die Milch rieselte, rieselte ohne Unterlaß, schwellte seine kleinen, täglich stärker werdenden Glieder, verbreitete sich in der Erde, erfüllte die Welt, nährte zu jeder Stunde das ewig sich mehrende, ewig neu erblühende Leben. War das nicht die Antwort der Hoffnung und der Zuversicht auf alle Todesdrohung, der sichere Triumph des Lebens, diese schönen Kinder, die unter der Sonne stets wachsen würden, dieser Erntesegen, der jedes Frühjahr dem Boden entsprießen würde? Bald, am glorreichen Tage der Ernte, werden die Aehren gereift sein, werden die Kinder erwachsen sein.

Und so geschah es drei Monate später, als die Beauchêne und Séguin ihr Versprechen hielten und alle kamen, die Männer, die Frauen und die Kinder, um den Nachmittag eines schönen Sonntags in Chantebled zuzubringen. Sie hatten sich sogar verabredet, Morange für einen Tag der stumpfen Verzweiflung zu entreißen, in der er hinlebte, und hatten ihn vermocht, mit Reine sich ihnen anzuschließen. Nachdem die ganze Schar den Eisenbahnzug verlassen hatte, setzte sie sich sogleich nach dem Plateau in Bewegung, um das vielbesprochene Feld zu sehen; denn alle waren darauf ungemein gespannt, so sehr hatte der Entschluß Mathieus, zur Erde zurückzukehren und Bauer zu werden, ihnen wunderlich und unerklärlich geschienen. Er lachte fröhlich und konnte sich zum mindesten eines vollen Überraschungserfolges erfreuen, als er mit einer Handbewegung auf das Feld deutete, das unter dem blauen Himmel sein Meer hoch aufgeschossener Halme dehnte, mit den schon schwer gewordenen Ähren, die unter dem Winde in leichten Wellen wogten. Im Sonnenlichte des prächtigen heißen Nachmittags breitete sich hier die triumphierende Fruchtbarkeit aus, ein Segen von unerhörter Fülle, den der fette Boden, der seit Jahrhunderten aufgespeicherte Humus hatte hervorsprießen lassen, diese erste und gewaltige Ernte liefernd, wie um die ewige Lebensquelle zu glorifizieren, die in den Eingeweiden der Erde schlummert. Die Milch hatte sich verbreitet, die Frucht wuchs überall in überquellender Fülle hervor, brachte Gesundheit und Kraft, zeugte für die Arbeit der Menschenhand, für die Güte und Gemeinsamkeit der Welt. Hier flutete das wohltätige, das nahrungbringende Meer, aus dem aller Hunger gestillt werden würde, auch derer, die noch geboren werden sollten, und die Wellen seiner Ähren trugen die frohe Botschaft von Horizont zu Horizont. Constance und Valentine waren nicht sehr gerührt, denn diese Gräsermenge sagte ihnen nichts, deren Seelen mit andern Interessen erfüllt waren; ehenso unberührt war auch Morange, dessen unstete, erloschene Augen schauten, ohne zu sehen. Aber Beauchêne und Séguin brachen in Ausrufe der Bewunderung aus, indem sie sich ihres Besuches im Januar erinnerten, da die erstarrte Erde noch im geheimnisvollen Schlaf gelegen hatte. Sie hatten damals nichts geahnt und standen nun verblüfft vor diesem wunderbaren Erwachen, dieser siegreichen Fruchtbarkeit, die ein sumpfiges und verwildertes Stück Erde in ein Feld voll reichen Lebens verwandelt hatte. Besonders Séguin konnte sich in Ausdrücken des Lobes und der Bewunderung nicht genug tun, denn er war nun gewiß, daß er sein Geld erhalten würde, und hoffte bereits darauf, daß Mathieu sich um den Ankauf eines neuen Stückes der Besitzung bewerben werde.

Als sodann alle in den ehemaligen Jagdpavillon, der nun bereits ganz in ein Bauernhaus verwandelt war, zurückgelehrt waren und in Erwartung des Essens im Garten beisammen saßen, kam das Gespräch wieder auf die Kinder. Marianne hatte gerade gestern angefangen, Gervais zu entwöhnen; sie hatte ihm am Abend zum letztenmal zu trinken gegeben; und nun befand er sich hier inmitten der Damen, und obgleich noch nicht fest auf den Beinen, watschelte er von einer zur andern, ohne sich davon entmutigen zu lassen, daß er immer wieder nach vorn und rückwärts niederfiel. Er war ein frohgemutes Kind, das nicht verdrießlich wurde, offenbar weil er gesund war. Seine großen, glänzenden Äugen lachten, seine Hände streckten sich jedem freundschaftlich entgegen, und er war sehr weiß, sehr rosig, schon ein kleiner Mann mit seinen fünfzehneinhalb Monaten. Der Milchstrom war auch durch ihn geflossen, die mütterliche Nährquelle hatte ihm fröhliches Wachstum gegeben, der Keim hatte sich aus dem kräftigen Boden zu prächtiger Blüte entfaltet. Constance und Valentine bewunderten ihn, während Marianne ihn scherzend abwehrte, so oft er, nach dem gewohnten leckeren Mahle verlangend, die Händchen nach ihrer Brust ausstreckte.

»Nein, nein, mein junger Herr, damit ists vorbei. Von jetzt ab kriegst du nur mehr Suppe.«

»Dieses Entwöhnen ist schrecklich!« sagte Constance. »Hat er Sie diese Nacht schlafen lassen?«

»O ja, er hatte gute Gewohnheiten, er trank nie bei Nacht. Aber heute früh war er ganz verdutzt und hat geweint. Jetzt ist er schon wieder brav, wie Sie sehen. Mit den andern habe ich auch nicht mehr Umstände gehabt.«

Beauchêne hörte stehend zu, während er mit Behagen seine ewige Zigarre rauchte. Constance rief ihn zum Zeugin auf.

»Da haben Sie Glück; denn du erinnerst dich, mein Lieber, was wir mit Maurice ausgestanden haben, nachdem wir die Amme fortgeschickt hatten. Drei Nächte hindurch hat er uns nicht schlafen lassen. Ich glaube, Gott verzeihe mir, das ist einer der Gründe, weshalb ich kein zweites Kind mehr haben wollte.« Sie lachte, und Beauchêne rief aus:

»Da sieh ihm zu, wie er spielt, dein Maurice, und sage mir dann wieder, daß er krank ist!«

»Ich sage das gar nicht mehr, mein Lieber, er befindet sich im Gegenteil jetzt sehr wohl. Und im übrigen war ich nie ernstlich beunruhigt, ich weiß, daß er sehr kräftig ist.«

Die acht Kinder, die sich da befanden, hatten auf den Gartenwegen und selbst über die Rabatten hinweg ein großes Spiel arrangiert. Es waren die vier des Hauses, Blaise, Denis, Ambroise und Rose; dann Gaston und Lucie, die Kinder der Séguin, die es sich erspart hatten, Andrée, ihre Jüngste mitzubringen; endlich Reine und Maurice. Und dieser schien nun tatsächlich fest auf seinen Beinen, obgleich noch immer ein wenig blaß, trotz seines breiten Gesichts und kräftigen Kinns. Seine Mutter war so glücklich, ihn herumlaufen zu sehen, so voll befriedigten Stolzes über ihren erfüllten Traum, daß sie ganz liebenswürdig wurde, selbst gegen diese armen Verwandten, deren Uebersiedlung aufs Land ihr eine unbegreifliche Selbsterniedrigung schien, die sie für immer aus ihrer Welt strich. Sie existierten nicht mehr.

»Jawohl, ich setze nicht viele in die Welt,« sagte Beauchêne, »aber wenn ich es tue, sind sie so gebaut wie der da, wie, Mathieu?«

Er bereute diesen Scherz wohl augenblicklich, er zwinkerte ein wenig mit den Augenlidern, eine leichte Blässe überzog seine Wangen, als er dem Blicke seines früheren Zeichners begegnete, einem hellen Blicke, welcher das Bild jenes andern Kindes, das Norinens, vor ihm entstehen ließ, das ins Unbekannte geworfen worden war, er wußte nicht, wohin. Es entstand ein Schweigen, in welchem man die fröhlichen Rufe der spielenden Kinder hörte, und eine Prozession kleiner Schatten zog unter der hellen Sonne vorüber, die kleinen Verwünschten der Hebammenhäuser, der Spitäler und Gebäranstalten, die zarten Neugeborenen, die von den Zuführerinnen zusammengerafft und weggetragen werden, um in irgendeinem Winkel dem Zufall überlassen zu werden, vor Kälte oder Hunger zu sterben. Welches Entsetzen, welcher Jammer, beschleichen das Herz, wenn es dieser willkürlichen Vernichtung der menschlichen Ernte gedenkt!

Mathieu hatte kein Wort zu erwidern vermocht. Seine Bewegung wurde noch tiefer, als sein Blick auf Morange fiel, der, auf einen Sessel gesunken, dem kleinen Gervais zusah, wie er fröhlich lachend umhertaumelte; er war ganz versunken in den Anblick dieser gesunden und blühenden Kindheit, seine Augen trübten sich und füllten sich mit Tränen. Sah auch er den Geist der Toten vorüberschweben, die von dem Kinde war fortgenommen worden, welches sie sich geweigert hatten, aufzunehmen, jenem früher so ersehnten Knaben, der vergangen war, ehe er gewesen? Düstere Gespenster erweckten die Erinnerung an jene abscheuliche Höhle, an die blutende, hingemordete Mutterschaft, während der sonnenbeschienene Garten von dem fröhlichen Jauchzen der spielenden Kinder wiederhallte.

»Wie entzückend Ihre Reine ist!« sagte Mathieu, um ihn seinem selbstquälerischen Grübeln zu entreißen. »Sehen Sie nur, wie sie mit den andern läuft, ein rechtes Kind, als ob sie nicht bald heiratsfähig wäre!«

Morange, der langsam den Kopf erhoben hatte, richtete den Blick auf seine Tochter; und in seinen noch tränennassen Augen erschien ein Lächeln, der Ausdruck einer täglich wachsenden Vergötterung. Je mehr das Kind heranwuchs, desto ähnlicher fand er sie ihrer Mutter, und eine Leidenschaft für sie hatte ihn erfaßt, in welcher alle seine andern Gefühle, alle seine Wünsche, sein ganzer Mannesegoismus untergingen. Er hatte kein andres Lebensinteresse mehr, als sie sehr schön, sehr reich, sehr glücklich zu sehen. Das wäre dann gleichsam seine Lossprechung, die einzige Freude, auf die er noch hoffen konnte. Und schon erfüllte ihn der Gedanke mit Eifersucht, daß eines Tages ein Gatte sie ihm nehmen und er allein in seiner traurigen Einsamkeit, allein mit dem Schatten der Toten zurückbleiben würde.

»Oh, sie verheiraten,« sagte er leise; »noch lange nicht! Sie ist ja erst vierzehn Jahre alt.«

Alle ergingen sich in Ausrufen des Erstaunens, man hätte sie für achtzehn gehalten, so stark war sie entwickelt, ein schönes, erwachsenes Mädchen. Und in der Tat, aus ihrem dichten schwarzen Haar, ihrer frischen, blühenden Haut strömte ein Duft vorzeitiger Sinnlichkeit, ebenso wie der heiße Wunsch nach Vergnügen und Luxus, von dem ihre Mutter erfüllt gewesen, bei ihr noch stärker zum Ausdruck kam, sich selbst im Spiele durch ihre leidenschaftliche Hingabe, durch ein Uebermaß an Gesten und Ausrufen verriet. »Tatsächlich,« sagte der geschmeichelte Vater wieder, »hat man bereits um ihre Hand angehalten. Sie wissen, daß die Baronin de Lowicz so freundlich ist, sie manchmal abzuholen, um sie ein wenig spazieren zu führen, und sie hat mir erzählt, daß ein reicher Ausländer mit vielen Millionen sich wahnsinnig in sie verliebt hat. Er soll nur warten! Ich will sie wenigstens noch fünf oder sechs Jahre für mich behalten!«

Seine Tränen waren getrocknet, er lächelte mit egoistischer Befriedigung, ohne zu bemerken, daß der Name Sérafinens eine leichte Kälte hervorgerufen hatte, denn selbst Beauchêne fand seine Schwester kompromittierend und keine sehr geeignete Gesellschaft für ein junges Mädchen.

Marianne, die mit Unbehagen bemerkte, daß das Gespräch erlahme, wandte sich an Valentine, während Gervais sich's auf ihren Knien bequem machte.

»Warum haben Sie Ihre liebe kleine Andrée nicht mitgebracht? Ich hätte sie so gerne geküßt, und dann hätte sie mit diesem Jungen da spielen können, der mir, wie Sie sehen, keine Minute Ruhe läßt.«

Aber Séguin ließ seiner Frau nicht Zeit zu antworten. »Ich danke, nein, dann wäre ich nicht gekommen! Es ist gerade genug, daß man die beiden andern zu schleppen hat. Und der kleine Balg hört nicht auf, uns die Ohren zu zerreißen, seitdem die Amme fort ist!«

Valentine bestätigte, daß Andrée in der Tat recht schlimm sei. Sie war zu Anfang der Woche entwöhnt worden, und die Catiche hatte, nachdem sie das Haus mehr als ein Jahr hindurch unter ihre harte Tyrannei gebeugt, es nunmehr durch ihren Abgang in anarchistische Verwirrung gestürzt. Ah, diese Catiche! Sie konnte sich rühmen, daß sie ihnen teuer zu stehen gekommen war, bis man sie endlich fast mit Gewalt fortschicken mußte, wie eine Königin, die einmal doch abdanken muß, nachdem man sie noch mit Geschenken für sie, ihren Mann und ihr Kind daheim überhäuft hatte! Und jetzt konnte man gut eine Kindsfrau nehmen, Andrée schrie unaufhörlich vom Morgen bis zum Abend; auch fand man, daß die Catiche eine Menge Wäsche mitgenommen hatte, abgesehen davon, daß sie das ganze Gesinde dermaßen verlottert und demoralisiert zurückließ, daß die Herrschaft gezwungen war, sie allesamt zu entlassen. War dieser schreckliche Zwang, eine Amme zu nehmen, nicht genug, um einem die Lust zu vertreiben, Kinder zu bekommen?

»Bah!« erwiderte Marianne heiter, »wenn die Kinder nur gesund sind, so vergißt man alles andre leicht.«

»Wenn Sie glauben, daß Andrée gesund ist, so irren Sie sich!« rief Séguin, wieder einem seiner Roheitsanfälle erliegend. »Bei dieser Catiche ist sie freilich zu Anfang gediehen; aber später hat sie ihr weiß Gott was getan, und das Kind ist nur Haut und Knochen.«

Und da seine Frau widersprechen wollte, geriet er in Zorn. »Ich sage wohl gar Lügen? Unsre zwei andern, die hier sind, sind auch nur aus Papiermaché. Das kommt wohl nur davon, daß du dich nicht genug mit ihnen beschäftigst. Du weißt ja, daß Santerre sie mißlungen nennt.«

Die Autorität Santerres war bei ihm unerschüttert. Valentine begnügte sich, leicht die Achseln zu zucken, während die andern Anwesenden, ein wenig unangenehm berührt durch den Disput, nun auf Gaston und Lucie aufmerksam wurden, die in der Tat rascher als die andern Kinder den Atem verloren, im Spiele zurückblieben und unfreundlich und mürrisch waren.

»Liebe Freundin,« fragte Constance Valentine, »hat Ihnen Ihr trefflicher Doktor Boutan nicht gesagt, daß alles Uebel nur davon kommt, daß Sie Ihre Kinder nicht selbst genährt haben? Mich hat er mit diesem Kompliment bedacht.«

Bei dem Namen Boutan erhoben sich allgemeine heitere Proteste. Oh, Boutan, Boutan, der war einseitig wie alle Spezialisten. Séguin lächelte ironisch, Beauchêne sprach scherzhaft von dem durch die Kammern zu dekretierenden obligatorischen Stillen durch die Mütter. Nur Mathieu und Marianne schwiegen.

»Natürlich, liebe Freundin,« sagte Constance, sich gegen letztere wendend, »sind nicht Sie es, über die wir uns lustig machen. Ihre Kinder sind in der Tat prächtig gediehen. Das wird niemand bestreiten.«

Marianne machte lächelnd eine Gebärde, als wollte sie sagen, daß sie gerne gestatte, daß man sich über sie lustig mache, daß sie gerne ein Gegenstand der Unterhaltung sei. Aber in diesem Augenblicke bemerkte sie, daß Gervais, sich ihre Unaufmerksamkeit zunutze machend, an ihrem Kleide nestelte, um das verlorene Paradies zu suchen. Sie setzte ihn wieder zur Erde, indem sie unter verdoppelter Heiterkeit rief: »Nein, nein, junger Herr, daraus wird nichts, ich habe dir schon gesagt, daß es aus ist. Du siehst ja, daß man uns auslachen würde.«

Dann folgte eine reizende Szene. Mathieu betrachtete Marianne voll Zärtlichkeit. Sie kehrte also zu ihm zurück nach erfüllter Pflicht, nachdem sie dem Kinde vollends das Dasein gegeben, indem sie es mit ihrem Leben genährt. Die Gattin, die Geliebte war wieder erwacht, sie war wieder Weib geworden, in dem frohen Bewußtsein der Kindesentwöhnung, ein neuer Frühling erstand, eine neue, von der Ruhe erquickte Erde erschloß sich wieder, bebend vor Fruchtbarkeit. Nie noch hatte er sie so liebreizend, von einer so kraftvollen, ruhigen Schönheit gefunden, wie in diesem Triumphe ihrer glücklichen Mutterschaft, gleichsam vergöttlicht durch den Milchstrom, der aus ihr entsprungen war, um durch die Welt zu fließen. Sie war von einer Glorie umflossen, die Lebensspenderin, die wahre Mutter, die, die nährte, nachdem sie geboren hatte, denn eine andre gibt es nicht, die andern sind nur schlechte und unvollkommene Arbeiterinnen, welche die Schuld an unausdenkbarem Unheil tragen. Und wie er sie so in ihrer Glorie sah, inmitten seiner kraftvollen Kinder, einer guten Göttin gleich, in fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde, von der unauslöschlichen Flamme der ewigen Sonne. Die göttliche Begierde fuhr über ihn hin, die brennende Weltseele, die in den Feldern bebt, die im Wasser rollt und im Winde weht, in jeder Sekunde Millionen Wesen zeugend. Vielleicht war er nur berauscht von dem kaum wahrnehmbaren Duft ihrer Haare, wie von entferntem Blumenduft. Vielleicht war nur ein einziger zärtlicher Blick zwischen ihnen getauscht worden, die gegenseitige Wiedergabe alles dessen, was im einen dem andern gehörte. Sie verfielen in eine köstliche Ekstase, sie vergaßen die ganze übrige Welt, alle Leute, die da waren. Sie sahen sie nicht mehr, empfanden nur das Verlangen, einander wieder zu erfassen, einander zu sagen, daß sie sich liebten, daß die Zeit da war, wo die Liebe wieder blühte. Er neigte sich zu ihr, sie hob ihr Gesicht zu ihm, und sie küßten sich. »Nun, geniert euch nicht!« rief Beauchêne lachend. »Was habt ihr denn?«

»Wünschen Sie, daß wir fortgehen?« fragte Séguin.

Und während Valentine ausgelassen lachte und Constance ein wenig verlegen, ein wenig strenge dreinsah, sagte Morange mit Tränen in der Stimme: »Ach, Sie haben sehr recht!«

Erstaunt über das, was sie getan hatten, ohne es zu wollen, blieben Marianne und Mathieu einen Augenblick starr und sahen einander bestürzt an. Dann brachen sie in fröhliches Lachen aus und entschuldigten sich bei ihren Gästen. Lieben, lieben! Lieben können! Darin liegt alle Kraft, das heißt alles Wollen und alles Können!

»Nun denn,« sagte Beauchêne neckend, »auf das sechste jetzt! Heute nacht kommt das sechste!«

Gervais hatte sich mit wankenden Schritten den drei großen Brüdern und der großen Schwester zugesellt, die im Spiele allen andern Kindern voran durch den sonnigen Garten tollten.

»Ja, gewiß, auf das sechste!« erwiderte Mathieu, während Marianne mit einem zärtlichen Kopfnicken zustimmte.

Und er wiederholte mit einer umfassenden Gebärde, die das weite Feld dort drüben umschrieb, auf welchem die heranreifende überreiche Saat im Winde wogte: »Auf das sechste, da nun Nahrung dafür da ist!«

Es war der Ausruf des willensstarken und tatkräftigen Mannes, der sich gelobte, kein Kind mehr hervorzubringen, ohne zugleich sein Teil an Lebensmitteln zu schaffen. Das schien ihm vollkommen ehrenhaft, sein Gewissen hatte seine volle Heiterkeit wiedergefunden, dank diesem Entschlusse, keine Parasiten in die Welt zu setzen. In dem Maße, wie die Familie wuchs, würde auch sein Besitz wachsen, indem er immer neue fruchtbare Felder aus Sümpfen, aus wüsten und steinigen Flächen schuf. Und die Erde und die Frau würden zusammen das Schaffenswerk vollenden, sieghaft über die furchtbarsten Verluste, immer neues Leben gebend, neue Kraft und neue Hoffnung.


 << zurück weiter >>