Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In dem reichen Fabrikswohnhause, wo sie als unumschränkte Herrin geherrscht hatte, erwartete Constance nun schon seit zwölf Jahren starr und trotzig ihr Schicksal, angesichts der zunehmenden Zerbröckelung ihres Lebens und ihrer Hoffnung.
Während dieser zwölf Jahre war Beauchêne unaufhaltsam immer tiefer gesunken. Er war nun auf der untersten Stufe, bei der letzten Erniedrigung angelangt. Ausgehend von den gewöhnlichen Seitensprüngen des ungetreuen Gatten, aus dem Alkoven verjagt, durch die einverständliche eheliche Unterschlagung auf die Straße gedrängt, war er, der Befriedigung seiner unersättlichen Gier nachjagend, dahin gelangt, gar nicht mehr nach Hause zu kommen, nur mehr bei den Dirnen zu leben, die er auf der Straße auflas. Zuletzt hatte er eine Vorliebe für zwei von ihnen gefaßt, Tante und Nichte, wie sie sagten, und verkam nun in den Armen dieser beiden, noch immer lüstern mit fünfundsechzig Jahren, eine jämmerliche menschliche Ruine, der ein schimpflicher Tod in einer letzten Ausschweifung bevorstand. Und für diesen widerwärtigen alten Wüstling hatte sein einstiges großes Vermögen nicht ausgereicht; er hatte, je älter er wurde, das Geld um so sinnloser verschwendet, hatte große Summen für unsaubere Abenteuer ausgeben müssen, um den Skandal zu ersticken, der daraus zu entstehen drohte. Er war verarmt, er bezog nur mehr einen sehr kleinen Teil des steigenden Gewinnes der in vollem Gedeihen stehenden Fabrik.
Constances unbeugsamer Stolz litt entsetzlich unter diesem Niedergang. Seitdem er seinen Sohn verloren, hatte sich Beauchêne noch mehr gehen lassen, nur mehr seinen persönlichen Freuden gelebt, sich immer weniger um sein Haus gekümmert, um Dirnen nachzulaufen. Wozu dieses Haus verteidigen, da der Erbe nicht mehr da war, der es einmal vergrößert, bereichert übernehmen sollte? Und so hatte er es Stück um Stück seinem Gesellschafter Denis überliefert und ihn allmählich zum einzigen Herrn werden lassen. Denis hatte bei seinem Eintreten nur einen von den sechs Anteilen besessen, in welche das Eigentum der Fabrik vertragsmäßig zerlegt worden war; und Beauchêne hatte sich obendrein das Recht vorbehalten, diesen Anteil bis zu einem gewissen Zeitpunkte zurückzukaufen. Aber weit entfernt, hierzu imstande zu sein, als die Zeit um war, sah er sich genötigt, dem jungen Mann noch einen Teil zu verkaufen, um uneingestehbare Schulden decken zu können. Von da ab wurde das zur ständigen Gewohnheit, alle zwei Jahre mußte er einen Teil abtreten, der dritte Teil war dem zweiten gefolgt, dann kam die Reihe an den vierten, dann an den fünften, so daß er heute, infolge eines schließlichen Übereinkommens nicht einmal mehr einen ganzen Anteil besaß, sondern nur mehr ein Stück des letzten Sechstels, im Werte von kaum hunderttausend Franken. Und auch dies war nur ein Scheinbesitztum, denn Denis hatte ihm diesen Betrag nur zugestanden, um ihm in dieser Form eine Rente auszusetzen, die er übrigens selbst teilte, um Constance jeden Monat die Hälfte auszuzahlen.
Dieser war also nichts von der Sachlage verborgen. Sie wußte, daß die Fabrik auch dem Namen nach diesem Sohne der verhaßten Froment gehören würde, an dem Tage, wo es ihm gefiele, den früheren Herrn einfach davonzujagen, den man nicht einmal mehr in den Werkstätten sah. Es befand sich allerdings eine Klausel im Kontrakte, die, solange dieser zu recht bestand, die Möglichkeit gewährte, alle Teile auf einmal zurückzukaufen. War es vielleicht diese tolle Hoffnung, der Glaube an irgendein Wunder, an einen vom Himmel fallenden Retter, der sie so aufrecht hielt, starr und trotzig ihr Schicksal erwartend? Diese zwölf Jahre vergeblichen Harrens, aufeinanderfolgende Niederlagen, schienen die Sicherheit nicht einmal erschüttert zu haben, an der sie trotz allem festhielt, daß sie eines Tages triumphieren werde. In Chantebled, angesichts des Sieges Mathieus und Mariannens hatten ihre Tränen fließen können; aber sie hatte sich wiedergefunden, sie lebte nach wie vor in der Hoffnung, daß irgendein unerwartetes Ereignis ihrer Unfruchtbarkeit schließlich doch recht geben werde. Sie hätte nicht sagen können, was sie eigentlich wollte, sie beharrte nur darauf, nicht zu sterben, ehe das Unglück diese zu zahlreiche Familie traf, um sie zu entschädigen für ihren toten Sohn, für ihren verkommenen Gatten, für all diese Schändlichkeit, die sie herbeigeführt hatte, und unter der sie nun so furchtbar litt. Trotz ihres blutenden Herzens bäumte sich die Eitelkeit der ehrbaren Frau in ihr auf, wollte sie nicht zugeben, daß sie unrecht gehabt hatte. Und so erwartete sie denn die Genugtuung des Schicksals in dem reichen Wohnhause, das nun, wo sie es allein bewohnte, zu groß für sie war. Sie hatte ihr Leben da eingeschränkt, bewohnte nur die Räume des ersten Stockes, wo sie sich tagelang mit einer alten Magd einschloß, der einzigen Bediensteten, die ihr geblieben war. Schwarz gekleidet, wie in ewiger Trauer um Maurice, immer auf den Beinen, in abweisendem Schweigen erstarrt, ließ sie nie eine Klage hören, obgleich die in ihr wühlende Verbitterung oft in heftigen, erstickenden Anfällen aufstieg, die sie verbarg. Als die alte Magd eines Tages eiligst den Doktor Bouton herbeiholte, hätte sie sie beinahe entlassen; und sie antwortete dem Arzt nicht einmal, verweigerte es, sich behandeln zu lassen, in der festen Ueberzeugung, so lange zu dauern wie ihre Hoffnung. Aber welche Todesangst, wenn sie plötzlich einen Erstickungsanfall bekam, ganz allein in dem leeren Hause, ohne Sohn, ohne Gatten, niemand rufen konnte, da sie wußte, daß niemand kommen würde! Und wenn der Anfall vorüber war, mit welch unbeugsamem Starrsinn richtete sie sich dann wieder auf, indem sie sich sagte, daß ihre Gegenwart allein Denis verhindere, der Herr zu sein, unbeschränkt zu regieren, und daß er in jedem Falle das Wohnhaus nicht haben, nicht dahin als Sieger einziehen werde, solange sie nicht unter seinen Trümmern begraben liege.
Dieses zurückgezogene Leben füllte Constance, von ihrer fixen Idee beherrscht, nur damit aus, die Fabrik zu überwachen, Tag um Tag in Erfahrung zu bringen, was dort vorging. Der gute Morange, den sie zu ihrem Vertrauten gemacht hatte, unterrichtete sie, ohne Uebles dabei zu denken, fast allabendlich von den Geschehnissen, wenn er beim Verlassen seines Bureaus auf eine kurze Weile zu ihr kam. Sie hatte alles aus seinem Munde erfahren, daß die Anteile nacheinander verkauft worden waren, daß Denis allmählich das Ganze erworben hatte, und daß Beauchêne und sie selbst jetzt nur noch von der Freigebigkeit des neuen Herrn lebten. Und sie hatte den alten Buchhalter ohne sein Wissen so weit zu ihrem Spion ausgebildet, daß sie durch ihn alles über das häusliche Leben Denis', seiner Frau Marthe, seiner Kinder Lucien, Paul und Hortense erfuhr, was sie in dem bescheidenen Häuschen sagten und taten, das sie trotz ihres erworbenen Reichtums nach wie vor wohlgemut bewohnten, ohne irgendwelches Verlangen, irgendwelche Eile zu zeigen, das schöne Wohnhaus zu beziehen. Sie schienen nicht einmal zu bemerken, wie enge sie in dem kleinen Häuschen lebten, während sie, Constance, allein in dem großen von Trauer verdüsterten Hause wohnte, in dem sie sich beinahe verlor. Und sie wütete über die Ehrerbietung der jungen Leute gegen sie, über die gelassene Ruhe, mit der sie auf ihr Ende warteten, denn sie hatte auch noch die schwere Niederlage erlitten, daß sie nicht imstande gewesen war, die beiden gegen sich aufzubringen, daß sie gezwungen war, ihnen noch dankbar für die Wohltaten zu sein, die sie ihr erwiesen, die Kinder zu küssen, wenn sie ihr Blumen brachten.
So vergingen die Monate, die Jahre, und Morange fand Constance fast jeden Abend, wenn er zu ihr hinüberging, in demselben stillen, kleinen Salon, in demselben schwarzen Kleide, in derselben Haltung unbeugsamen Harrens erstarrt. Von dieser Rache des Schicksals, von diesem so leidenschaftlich erhofften Unglück der andern traf nichts ein, ohne daß sie gleichwohl im geringsten an dem Siege zu zweifeln schien. Im Gegenteil, die Ereignisse mochten noch so sehr das Unglück auf sie häufen, sie richtete sich nur um so höher auf, bot dem Schicksal Trotz, von der Sicherheit aufrecht erhalten, daß es ihr schließlich doch recht geben werde. Und so blieb sie unbeweglich, keiner Mattigkeit zugänglich, auf das Wunder rechnend.
An jedem Abend während dieser zwölf Jahre, an welchem Morange sie besuchen kam, begann ihr Gespräch in derselben Weise.
»Nichts Neues seit gestern, Madame?«
»Nein, lieber Freund, nichts.«
»Nun, wenn man sich nur wohl befindet, das ist die Hauptsache. Man kann dann auf bessere Zeit warten.«
»Oh, niemand befindet sich wohl, und doch wartet man.«
Und eines Abends, nach zwölf Jahren, geschah es, daß Morange, als er eintrat, eine Veränderung in der Luft des kleinen Salons spürte, als ob eine neue Freude durch sein ewiges Schweigen zittere.
»Nichts Neues seit gestern, Madame?«
»Ja, lieber Freund, es gibt etwas Neues.«
»Und etwas Gutes, hoffe ich, etwas Glückliches, das Sie erwarteten?«
»Etwas, das ich erwartete, ja! Was man zu erwarten versteht, das kommt immer.«
Er betrachtete sie erstaunt, fast beunruhigt, sie so verändert zu finden, mit leuchtenden Augen, mit lebhaften Bewegungen. Welcher endlich erfüllte Wunsch hatte sie nach so vielen Jahren, in denen sie wie in ihrer Trauer erstarrt geschienen hatte, plötzlich so aufleben gemacht? Sie lächelte, sie atmete tief, wie erleichtert von der schweren Last, die sie so lange zu Boden gedrückt hatte. Und als er sie um die Ursache dieses Glücksgefühls fragte, erwiderte sie: »Lieber Freund, ich kann Ihnen noch nichts sagen. Vielleicht habe ich unrecht, mich so zu freuen, denn alles dies ist noch sehr unbestimmt, sehr in der Luft schwebend. Das Ganze ist, daß ich heute vormittag von jemand gewisse Tatsachen erfahren habe; und ich muß mich vorerst überzeugen, muß hauptsächlich nachdenken. Dann werde ich mich sicherlich Ihnen anvertrauen, denn Sie wissen, daß ich Ihnen alles sage, abgesehen davon, daß ich diesmal wahrscheinlich Ihrer Hilfe bedürfen werde. Warten Sie ruhig und kommen Sie eines Abends zum Diner zu mir, wenn ich Sie darum bitten werde, wir werden dann den Abend vor uns haben, um alles in Ruhe zu besprechen... Oh, mein Gott, wenn es wahr wäre, wenn das Wunder sich ereignen würde!«
Nahezu drei Wochen vergingen, ohne daß Morange die versprochene vertrauliche Mitteilung empfing. Er sah, daß sie von etwas sehr in Anspruch genommen und fieberisch erregt war, aber er stellte keine weiteren Fragen an sie, und fuhr seinerseits fort, das einsame, abgeschiedene, automatische Leben zu führen, das er nun schon seit so vielen Jahren führte. Er war nun neunundsechzig Jahre alt, es war dreißig Jahre her, daß seine Frau Valérie tot war, mehr als zwanzig Jahre, seit seine Tochter ihr gefolgt war, und er lebte immer noch trotz der Vernichtung seines Daseins, verrichtete in peinlich genauer Weise seine Arbeit im Bureau. Kein Mensch hatte so viel gelitten, so viel Furchtbares erlebt, solche Gewissensqualen erduldet, und er kam und ging nach wie vor mit seinen kleinen, abgemessenen Schritten, er dauerte immer noch in seiner Mittelmäßigkeit wie eine vergessene, verlorene Sache, wie durch den Schmerz konserviert. Gleichwohl mußte in ihm manches gebrochen sein. Er verfiel in die sonderbarsten Eigenheiten. Er hielt eigensinnig an der großen Wohnung fest die er einst mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnt hatte, und er bewohnte sie jetzt ganz allein, nachdem er auch sein Dienstmädchen entlassen hatte, er besorgte selbst seine Einkäufe von Lebensmitteln, kochte selbst für sich, bediente sich selbst. Seit zehn Jahren hatte kein andrer Mensch den Fuß in die Wohnung gesetzt, und man vermutete eine schreckliche Vernachlässigung, so daß der Hauseigentümer vergeblich von Reparaturen gesprochen hatte, ohne es zu erreichen, daß er hätte eintreten können. Trotzdem übrigens der alte Buchhalter, dessen wallender Bart nun schneeweiß geworden war, von peinlicher Sauberkeit blieb, trug er einen in jammervollem Zustande befindlichen Gehrock, dessen Schäden er wohl des Abends ausbessern mochte. Sein Geiz hatte einen solchen Grad erreicht, daß er sich keine andre Ausgabe mehr vergönnte, als für das große Brot, das er sich alle vier Tage kaufte, und das er altbacken aß, um mit weniger genug zu haben. Natürlich erregte das die Neugierde aller Leute, und es verging keine Woche, wo seine Hausmeisterin nicht die Frage aufwarf: ein so wohlhabender Herr, der achttausend Franken in seiner Anstellung verdiente, und der nie einen Sou ausgab, was konnte der mit seinem Gelde machen? Man berechnete sogar die Summe, die er in irgendeinem Winkel aufgehäuft haben mußte, einige hunderttausend Franken vielleicht. Dann gaben sich Zeichen noch schwererer innerer Störungen kund und zweimal wurde er mit genauer Not vom Tode gerettet. Eines Tages, als Denis über den Pont de Grenelle heimging, bemerkte er ihn, wie er sich über das Geländer neigte und beinahe hineingestürzt wäre, wenn er ihn nicht noch rechtzeitig am Rocke erfaßt hätte. Er hatte dann in seiner sanften Art gelächelt und von einer plötzlichen Betäubung gesprochen. Ein andres Mal riß ihn Victor Moineaud von einer in Bewegung befindlichen Maschine zurück, im Augenblicke, wo er nahe daran war, sich starren Blicks von den gierigen Zähnen des Räderwerks erfassen zu lassen. Wieder hatte er gelächelt und sein Unrecht eingestanden, den Rädern zu nahe zu gehen. Man bewachte ihn von da ab, in der Annahme, daß er Anfälle von Geistesabwesenheit habe. Wenn Denis ihn als ersten Buchhalter behielt, so war dies vorerst aus Erkenntlichkeit für seine langen Dienste; außerdem aber war es merkwürdig, daß er seine Aufgabe nie besser erfüllt hatte; er suchte mit peinlicher Gewissenhaftigkeit nach fehlenden Centimes, er war unfehlbar sicher in den längsten Additionen. Und mit friedlichem, ruhigem Gesichte, als ob noch kein Sturm sein Herz verwüstet hatte, lebte er mechanisch sein enges Dasein weiter, ein stiller Wahnsinniger, der vielleicht reif für die Zwangsjacke war, ohne daß man es wußte.
Seit einigen Jahren gab es jedoch im Leben Moranges ein großes Ereignis. Obgleich er der Vertraute Constances war und sie ihn mit der überlegenen Kraft ihres Willens zu ihrem Eigentum gemacht hatte, war in ihm allmählich eine leidenschaftliche Zuneigung zu Hortense, dem Kinde Denis' entstanden. Je mehr er sie hatte heranwachsen sehen, desto mehr hatte er sich eingebildet, in ihr Reine, seine schmerzlich beweinte Tochter wiederzufinden. Sie war nun neun Jahre alt, und so oft er sie sah, wurde er von einer Bewegung, einer Zärtlichkeit ergriffen, die um so rührender war, als sie lediglich auf einer wunderbaren Täuschung seines Kummers beruhte, denn die beiden Kinder glichen einander gar nicht: die eine war schwarz gewesen, die andre war nahezu blond. Trotz seines schrecklichen Geizes überhäufte er Hortense bei jeder möglichen Gelegenheit mit Puppen und Geschenken. Und die Liebe zu diesem Kinde erfüllte ihn schließlich so, daß Constance argwöhnisch wurde. Sie gab ihm zu verstehen, daß, wer nicht ganz für sie sei, gegen sie sei. Er schien sich zu unterwerfen, lauerte aber dem Kinde auf, um es im geheimen zu küssen, liebte es deshalb nur um so mehr, wie mit einer Leidenschaft, der Hindernisse in den Weg gelegt wurden. Und in seinen fast täglichen Beziehungen zu Constance, in seiner anscheinenden Treue für die einstige Herrin der Fabrik, folgte er nur der Furcht eines armen eingeschüchterten Menschen, den sie stets gewaltsam unter ihren Willen gebeugt hatte. Zwischen ihnen bestand ein altes Band, das Grauenhafte, um das nur sie allein wußten, die gemeinsame Schuld, von der sie nie sprachen, die sie aber aneinanderkettete. Er, der Schwache und Weiche, schien dadurch zerdrückt, ganz zahm wie ein furchtsames Tier. Nach diesem schrecklichen Tage hatte er übrigens alles andre erfahren, keines der Geheimnisse des Hauses war ihm verborgen. Er befand sich nun schon so viele Jahre da, war so viel hin und her gegangen mit seinen kleinen, mechanischen Schritten, hatte alles gesehen, alles gehört, war zu allem dazugekommen. Und dieser Verrückte, der alles wußte, der schwieg, mutlos inmitten des düsteren Dramas, hatte doch manchmal seine Augenblicke dumpfer Empörung, wenn er sich verstecken mußte, um seine kleine Freundin Hortense zu küssen, grollte im Herzen, war nahe daran, endlich in Zorn zu geraten, wenn man an seine Liebe rührte.
Plötzlich lud Constance ihn eines Abends zum Diner. Er erriet, daß die Stunde der versprochenen vertraulichen Mitteilung gekommen sei, als er sie bebend, ihre kleine Gestalt aufgerichtet, vor sich sah, eine Kriegerin, die nun des Sieges gewiß war. Bei Tische berührte sie jedoch den ernsten Gegenstand nicht, obgleich das Dienstmädchen sie allein ließ, nachdem sie die ganze bescheidene Mahlzeit auf einmal aufgetragen hatte. Sie sprach von der Fabrik, sie kam auf Denis, auf seine Frau Marthe, die sie kritisierte, sie ließ sich sogar verleiten, die kleine Hortense schlecht erzogen, häßlich, ohne Anmut zu finden. Und der Buchhalter hörte zu, ohne den Mut zu haben zu widersprechcn, trotzdem alles in ihm sich empörte.
»Wir werden schon sehen,« sagte Constance schließlich, »wenn jeder wieder auf seinen Platz zurückverwiesen sein wird.«
Sie wartete, bis sie wieder in dem kleinen Salon waren, und sprach erst, als sie bei geschlossenen Türen in dem Schweigen des Winterabends am Feuer saßen.
»Lieber Freund, wie ich Ihnen, glaube ich, schon gesagt habe, werde ich Ihrer bedürfen. Sie müssen einem jungen Mann den Eintritt in die Fabrik ermöglichen, für den ich mich interessiere. Wenn Sie mir einen Dienst erweisen wollen, so nehmen Sie ihn sogar in Ihr Bureau.«
An der andern Seite des Kamins ihr gegenüber sitzend, sah er sie erstaunt an.
»Aber ich bin nicht der Herr; wenden Sie sich doch an den Chef, er wird sicher gern Ihren Wunsch erfüllen.«
»Nein, ich will Denis für nichts zu danken haben. Dann stimmt das auch nicht zu meinen Plänen. Sie sollen meinen jungen Mann empfehlen. Sie sollen ihn als Gehilfen zu sich nehmen, sollen ihn einführen, ihn unterrichten. Sie werden doch wohl das Recht haben, einen Bediensteten aufzunehmen? Und ich will es.«
Sie sprach als Gebieterin, und er duckte sich; er hatte nie etwas anders getan als gehorcht, zuerst seiner Frau, dann seiner Tochter, und nun dieser alten entthronten Königin, die ihn zu ihrem willenlosen Werkzeuge machte, trotz der unbestimmten Auflehnung, die seit einiger Zeit allmählich in ihm entstanden war. Er wagte eine Frage. »Gewiß, gewiß, ich kann ihn aufnehmen. Wer ist dieser junge Mann?«
Sie antwortete nicht sogleich. Sie hatte sich gegen das Feuer geneigt, wie um ein Scheit zurechtzurücken, in Wirklichkeit aber, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Wozu ihn sogleich einweihen? Sie würde eines Tages gezwungen sein, ihm alles zu sagen, wenn er in ihrem Spiele ganz auf ihrer Seite sein sollte. Aber das hatte vorläufig keine Eile, und sie gedachte die Sache einstweilen nur geschickt einzuleiten.
»Es ist ein junger Mann, dessen Schicksal mich rührt, infolge gewisser Erinnerungen. Sie entsinnen sich vielleicht eines Mädchens, das hier gearbeitet hat, oh, vor sehr langer Zeit schon, wenigstens dreißig Jahre, Norine Moineaud, eine der Töchter des Vaters Moineaud?«
Er hatte rasch den Kopf erhoben, er sah sie mit großoffenen Augen an, ein plötzlicher Lichtstrahl hatte seine Seele durchfahren. Und ehe er noch überlegt hatte, rief er in seiner Ueberraschung alles hinaus.
»Alexandre Honoré, der Sohn Norinens, das Kind von Rougemont!«
Betroffen ließ sie die Feuerzange fahren und sah ihn durchbohrend an, als wollte sie auf den Grund seiner Seele dringen.
»Ah, Sie wissen... Was wissen Sie? Sie müssen es mir sagen, verbergen Sie mir nichts, sprechen Sie, ich will es!«
Was er wußte – mein Gott, er wußte alles! Er sprach lang und langsam, wie aus dem Traume. Er hatte alles gesehen, alles erfahren, daß Norine schwanger gewesen, daß Beauchêne Geld hergegeben hatte, damit sie bei der Bourdien niederkommen könne, daß der Knabe dem Findelhause übergeben worden, dann nach Rougemont in Pflege gekommen war, von wo er dann entflohen war, indem er dreihundert Franken unterschlug. Und er wußte sogar, daß der junge Mann auf das Pariser Pflaster geraten war und hier das abscheulichste Leben geführt hatte.
»Wer hat Ihnen das alles gesagt? Woher wissen Sie das alles?« rief sie wütend, von Unruhe ergriffen.
Er machte nur eine unbestimmte Gebärde, die die Luft um ihn herum, das ganze Haus bezeichnete. Er wußte es eben, das waren Dinge, die ihn umgaben, die man ihm gesagt, die er erraten hatte. Und er wußte nicht einmal mehr genau, woher er sie hatte. Er wußte sie eben.
»Sie begreifen, wenn man mehr als vierzig Jahre an einem Orte ist, so kommt einem schließlich alles zu Ohren. Ich weiß alles, ich weiß alles.«
Sie erbebte, und ein tiefes Schweigen folgte. Er, die Augen auf die Glut geheftet, war in die schmerzerfüllte Vergangenheit zurückversunken, die er mit der Verschwiegenheit des gewissenhaften Buchhalters in sich trug. Sie dachte nach und fand, daß es so am besten sei, daß die Lage mit einem Schlage geklärt sei. Da er unterrichtet war, hatte sie ihn nur einfach nach ihrem Gefallen, ohne alle Schwächlichkeit, als gefügiges Werkzeug zu benutzen.
»Alexandre Honoré, das Kind von Rougemont, ja! Ich habe ihn endlich wiedergefunden. Und wissen Sie auch von den Schritten, die ich vor fünfzehn Jahren unternommen habe, verzweifelt, daß er unauffindbar war, so daß ich schon glaubte, er sei tot?«
Er nickte bejahend, und sie fuhr fort, erzählte ihm, daß sie seit langem auf alte Pläne verzichtet hatte, als plötzlich das Schicksal sich erfüllt habe.
»Stellen Sie sich einen Donnerschlag vor. Es war an dem Tage, wo Sie mich so erregt gefunden haben. Meine Schwägerin Sérafine, die kaum viermal im Jahre zu mir kommt, hatte mich um zehn Uhr mit ihrem Besuche überrascht. Sie ist sehr seltsam geworden, wie Sie wissen, und ich habe zuerst kaum auf die Geschichte gehört, die sie mir erzählte, von einem jungen Manne, dessen Bekanntschaft sie durch eine Dame gemacht habe, ein unglücklicher junger Mann, der durch schlechte Gesellschaft ins Verderben geraten sei, und den es zu retten gelte, indem man ihm zu Hilfe komme. Und dann, welch ein Stoß, lieber Freund, als sie deutlicher sprach und mir anvertraute, was ein Zufall sie hat entdecken lassen... Ich sage Ihnen, das Schicksal ist erwacht und klopft an!«
In der Tat, die Geschichte war phantastisch. Sérafine war seit Jahren auf dem Wege vollständiger Zerrüttung, von Wut verzehrt über ihr Verwelktsein, über das vorzeitige Greisentum, in welches sie diese unsinnige Operation versetzt hatte, von der sie das Wunder vermehrter, zügelloser und strafloser Genüsse erwartet hatte. Immer auf der Suche nach der verlorenen Lust, hatte sie herumzustreifen begonnen, war bis in die niedrigsten Schichten hinabgestiegen, hatte es mit Monstruositäten versucht. Man erzählte sich von ihr unerhörte Geschichten. So war sie auch auf den seltsamen Gedanken verfallen, sich durch eine befreundete Dame als Patronesse in einen Verein einführen zu lassen, der sich damit befaßte, jungen Sträflingen bei ihrem Verlassen des Gefängnisses zu Hilfe zu kommen und sie zu bessern. Sie hatte deren sogar welche bei sich, in ihre geheimnisvolle Erdgeschoßwohnung in der Rue de Marignan aufgenommen, sie dort beherbergt, mit ihnen bei geschlossenen Türen und Fenstern in wahnsinniger Gemeinschaft gelebt. Und so geschah es, daß eines Abends ein junger Freund ihr Alexandre zuführte, einen kräftigen Burschen von nun schon zweiunddreißig Jahren, der eben nach sechsjähriger Haft aus dem Zuchthaus entlassen worden war. Einen Monat lang hatte er regiert; und als er ihr eines Morgens seine ganze Geschichte erzählt, von Rougemont, von seiner Mutter Norine, von seinen vergeblichen Versuchen gesprochen hatte, seinen Vater, einen ungeheuer reichen Mann, zu finden, hatte sie mit einemmal alles gewußt, hatte sich nun den Eindruck des schon Gesehenen erklärt, den er bei ihr hervorbrachte, die Aehnlichteit mit Beauchêne, die sie nun mit dem Blitzstrahl einer blendenden Gewißheit durchfuhr; und dieses zufällige Sichfinden in den Armen eines Neffen zur linken Hand, diese von der dunkeln Macht des Schicksals herbeigeführte seltsame Vereinigung hatte sie einen Tag lang unterhalten, indem es sie ein wenig dem Einerlei ihres Lebens entriß. Der arme Junge! Sie konnte ihn nicht behalten, sie hatte ihm nicht einmal etwas von ihrer überraschenden Entdeckung gesagt, um unnütze Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Sie war lediglich gekommen, um Constance, von deren eifrigen Nachforschungen sie erfahren hatte, die Geschichte zu erzählen, schon wieder matt, wieder in die Hölle der ungesättigten Begierde zurückverfallen, von dem Scheusal nicht befriedigter als von dem Vorübergehenden der Straße.
»Er weiß also nichts,« schloß Constance. »Meine Schwägerin wird ihn lediglich zu mir, als zu einer ihr befreundeten Dame schicken, die ihm einen guten Platz verschaffen soll. Er hat jetzt die ernstliche Absicht zu arbeiten, sagt man mir. Wenn er Fehltritte begangen hat, so hat der Unglückliche so viel Entschuldigungsgründe! Und übrigens, sobald er einmal in meinen Händen ist, nehme ich ihn auf mich, er wird nur mehr das tun, was ich will.« Obgleich Sérafine ihre persönlichen Erlebnisse mit Stillschweigen übergangen hatte, kannte ihre Schwägerin sie genug, um zu vermuten, aus welchem Pfuhl sie ihr Alexandre brachte, mit ihren kraftlosen Armen, die nur noch das Leere umfaßten. Sie hatte von ihr lediglich die Geschichte gehört, die er sich zurechtgelegt hatte, daß er sechs Jahre um einer Frau willen eingesperrt gewesen sei, der wirklichen Schuldigen, einer Geliebten, die zu verraten er sich ritterlicherweise geweigert habe. Mit alledem waren dies aber nur sechs bekannte Jahre von den zwölf seines Verschwundenseins, und hinter dem furchtbaren Geheimnis der sechs unbekannten Jahre konnte man alles vermuten, alle Schändlichkeiten, unerhörte Verbrechen. Der Kerker schien für ihn sogar eine wohltätige Rast gewesen zu sein, er hatte ihn ruhiger, gebessert verlassen, entschlossen, sein Leben nicht noch mehr zu zerstören. Und durch Sérafine kultiviert, ausgestattet und unterwiesen, war er beinahe ein annehmbarer junger Mann geworden.
Morange erhob seine Augen von der Glut, in die er bisher gestarrt hatte.
»Was wollen Sie also aus ihm machen? Versteht er denn etwas? Hat er eine erträgliche Schrift?«
»Ja, seine Schrift ist gut. Mit seinen Kenntnissen wird es wohl nicht weit her sein. Deswegen vertraue ich ihn Ihnen an. Sie sollen ihn mir abschleifen, ihn in alles einweihen. Ich will, daß er in ein oder zwei Jahren die ganze Fabrik kenne, als ob er der Herr wäre.«
Bei diesem Worte, das ihn erleuchtete, erwachte plötzlich die Vernunft in dem Buchhalter. Der genaue Rechner, der er inmitten der Wahngebilde, die seinen Geist verschleierten, geblieben war, protestierte.
»Hören Sie, Madame, da Sie wünschen, daß ich Ihnen helfe, schenken Sie mir doch Ihr ganzes Vertrauen, sagen Sie mir, welchem Zwecke dieser junge Mann hier dienen soll. Sie können doch nicht daran denken wollen, durch ihn die Fabrik zurückzuerobern, das heißt, die Anteile zurückzukaufen, wieder Eigentümerin und gebietende Herrin zu werden?«
Und mit unwiderleglicher Klarheit und logischer Schärfe bewies er ihr die Tollheit dieses Gedankens, fügte die Ziffern aneinander, summierte sie zu dem großen Betrage, dessen es bedurfte, um Denis seine Rechte abzukaufen, der hier in seinem Hause war, es als Sieger besaß. »Im übrigen verstehe ich nicht, Madame, warum Sie diesen jungen Menschen lieber wollen als einen andern. Er hat keinerlei gesetzliches Recht, das wissen Sie ja wohl? Er wäre hier nur ein Fremder, und ich würde daher einen tüchtigen, ehrenhaften Menschen, der sich auf die Maschinenfabrikation versteht, bei weitem vorziehen.«
Constance hatte mit der Feuerzange heftig auf die Scheite losgeschlagen. Sie erhob nun den Kopf und sagte mit leiser, leidenschaftlicher Stimme Morange ins Gesicht: »Alexandre ist der Sohn meines Mannes, er ist der Erbe. Der Fremde ist nicht er, sondern der andre, dieser Denis, der Sohn der Froment, der uns unser Eigentum gestohlen hat... Sie zerreißen mir das Herz, mein Freund, und all mein Blut entfließt mit dem, was Sie mich zwingen, Ihnen zu sagen.«
In ihr sprach mächtig die Stimme der konservativen Bürgersfrau, die die Erbschaft lieber noch dem Bastard überlassen will, als dem Fremden. Der Frau, der Gattin und Mutter blutete ohne Zweifel das Herz, wie sie bekannte; aber sie opferte sie ihrer Rachsucht, sie wollte nur den Fremden hinausjagen, und wenn es sie ein Stück ihres Fleisches kostete. Und unklar dachte sie, dieser Sohn ihres Mannes, sei er nicht auch ein wenig von ihr, da er von ihm war, dem Manne, von dem sie auch einen Sohn gehabt hatte, den älteren, den Toten? Und im übrigen würde sie sich den Bastard zu eigen machen, ihn lenken, ihn zwingen, nur noch von ihr, für sie zu sein.
»Sie wollen wissen, wozu ich ihn in diesem Hause verwenden will? Ich weiß es selbst nicht. Sicherlich werde ich bis morgen nicht die nötigen Hunderttausende von Franken finden. Ihre Zahlen sind richtig, es ist möglich, daß wir niemals das Geld für den Rückkauf haben werden. Warum aber nicht trotzdem kämpfen, nicht den Versuch machen?... Und selbst den Fall gesetzt, daß wir unterliegen, um so schlimmer für den andern! Denn ich verspreche Ihnen, wenn dieser junge Mensch mir folgt, so wird mit ihm der zerstörende und rächende Geist in die Fabrik eingezogen sein, der sie in die Luft sprengen wird!«
Mit einer weiten Gebärde, die alle Mauern ringsum niederwarf, ergänzte sie ihre Worte. Unter den wirren Plänen, die der Haß in ihr wälzte, galt ihre letzte Hoffnung wohl diesem Kampfe, wenn alle andern verloren waren, der Verwendung dieses elenden Alexandres als zerstörende Macht, deren Verwüstungen ihr ein wenig Genugtuung verschaffen sollten. Sie war bis zu dieser Tollheit gelangt, in der grenzenlosen Verzweiflung, in die sie der Verlust ihres einzigen Sohnes gestürzt hatte, verdorrt, verglüht von der unbefriedigten Liebessehnsucht, dem Wahnwitz ihrer beraubten Mutterschaft anheimgefallen, die Seele bis zum Verbrechen vergiftet.
Morange erschauerte, als sie mit ihrer starren Härte schloß:
»Seit zwölf Jahren warte ich auf das Eingreifen des Schicksals, und nun ist es da! Ehe ich es nicht ausnutzen sollte für das, was mir eine letzte Möglichkeit scheint, würde ich mein Leben hingeben.«
Somit war das Verderben Denis' beschworen, vollzogen, wenn das Schicksal es wollte. Und der alte Buchhalter sah im Geiste das Unheil geschehen, die unschuldigen Kinder in dem Vater betroffen, eine vollständige ungerechte Katastrophe hereingebrochen, gegen die sein weiches Herz sich empörte. Sollte er dieses neue Verbrechen geschehen lassen, ohne hinauszuschreien, was er wußte? Ohne Zweifel stieg das andre Verbrechen, das erste, grauenhafte, verborgene, über das sie nie miteinander sprachen, vor ihm auf und erfüllte seine trüben Augen in dieser schrecklichen Minute; denn auch sie erbebte, als ihr Blick, mit dem sie ihn zu unterjochen strebte, auf den seinigen fiel. Einen Augenblick befanden sie sich so, Aug' in Auge, wieder an der mörderischen Oeffnung, durchschauert von dem kalten Hauch des Abgrunds. Aber wieder unterlag er, sagte nichts, beugte seine arme schwache Seele unter den Willen dieser Frau.
»Wir sind also einig, lieber Freund,« sagte sie in sanftem Tone. »Ich rechne darauf, daß Sie Alexandre als Angestellten aufnehmen. Sie werden das erstemal hier in diesem Zimmer mit ihm zusammentreffen, eines Abends nach fünf Uhr, wenn es Nacht geworden ist, denn vorerst soll niemand wissen, daß ich mich für ihn interessiere. Wollen Sie übermorgen abend kommen?«
»Uebermorgen abend, Madame, ganz wie Sie wünschen.« Am nächsten Tage zeigte sich Morange so aufgeregt, daß seine Hausmeisterin, die ihn beobachtete, ihre Befürchtungen ihrem Manne gegenüber ausfprach: ihr Mieter würde sicher einen Anfall haben, denn er hatte vergessen die Socken anzuziehen, als er herabkam, Wasser zu holen, sah verstört aus und sprach mit sich selbst. Und an diesem Tage geschah das Außerordentliche, daß er nach dem Mittagessen um eine volle Stunde zu spät ins Bureau kam, eine noch nie dagewesene Unpünktlichkeit, auf derengleichen sich niemand bei ihm besinnen konnte. Wie von einem Gewittersturm erfaßt, war er vor sich hingegangen, hatte er sich wieder auf dem Pont de Grenelle befunden, wo Denis ihn eines Tages von der Anziehung des Wassers gerettet hatte. Dann hatte ihn irgendeine Kraft an dieselbe Stelle geführt, und ihn veranlaßt, sich in derselben Betrachtung des fließenden Wassers übers Geländer zu neigen. Seit gestern war sein Mund erfüllt von immer denselben Worten, Worten, die er mit halblauter Stimme vor sich hin stammelte, rastlos, gepeinigt: Sollte er dieses neue Verbrechen geschehen lassen, ohne hinauszuschreien, was er wußte? Diese Worte, von denen er sich nicht befreien konnte, waren es offenbar, die ihn am Morgen hatten vergessen lassen, die Socken anzuziehen, und die ihn nun so betäubten, daß sie ihn abhielten, in die Fabrik einzutreten, als ob er ihr Tor nicht wiedererkennen würde. Und wenn er sich nun über dieses Wasser neigte, war er nicht dazu getrieben durch das unbewußte Verlangen, ein Ende zu machen, durch die instinktive Hoffnung, hier die Qual zu ertränken, die ihm jene unabweislichen Worte verursachten? Da drunten auf dem Grunde würden die Worte endlich verstummen, er würde sie nicht mehr wiederholen müssen, nicht mehr hören müssen, wie sie ihn zu einer Tat drängten, zu der er nicht die Kraft fand. Das Wasser rief ihn mit sanftem Locken, und wie wohltuend wäre es, nicht mehr kämpfen zu müssen, sich willenlos dem Schicksal überlassen zu können, ein armer Mann, ein schwaches und weiches Herz, das zuviel erlebt hat.
Morange neigte sich weiter vor, hörte bereits die Wellen des Flusses ihn umrauschen, als eine junge und helle Stimme ihn anrief.
»Was sehen Sie da unten, Monsieur Morange? Sind große Fische da?«
Es war Hortense, schon groß für ihre zehn Jahre, ein entzückendes Kind, die von einer Zofe zu kleinen Freundinnen in Auteuil geführt wurde, um mit ihnen zu spielen. Und als der Buchhalter sich verwirrt umdrehte, stand er einen Augenblick mit zitternden Händen, die Augen voll Tränen vor dieser Erscheinung, diesem kleinen Engel, der ihn von so weit zurückrief. »Wie, du bist es, mein Herzchen? Nein, nein, es sind keine großen Fische da. Ich glaube wohl, daß sie sich auf dem Grunde verbergen, weil das Wasser im Winter zu kalt ist. Du gehst zu Besuch, wie schön du bist in diesem mit Pelz verbrämten Mantel!«
Das Kind lachte geschmeichelt und angenehm berührt durch den zitternden Ton anbetender Liebe in der Stimme ihres alten Freundes.
»O ja, ich freue mich sehr, wir werden dort Theater spielen, wohin ich gehe... Ach, wie schön ist es, wenn man sich freut!«
Sie hatte das gesagt, so wie seine Reine es einst gesagt hätte, und er hätte mögen auf die Knie fallen, um ihre kleinen Hände zu küssen, wie die einer Göttin.
»Du mußt immer nur glücklich sein, mein Kind... Du bist zu schön, ich muß dich küssen.«
»O ja, Monsieur Morange, geben Sie mir einen Kuß. Wissen Sie, die Puppe, die Sie mir gegeben haben, die heißt Margot, und Sie können sich gar nicht denken, wie brav sie ist. Kommen Sie doch einmal und besuchen Sie sie.«
Er küßte sie und sah ihr nach, wie sie im blassen Lichte des Wintertages sich entfernte. Sein Herz brannte, er fühlte sich zum Martyrium bereit. Nein, es wäre zu feige, das Kind mußte glücklich bleiben. Langsam verließ er die Brücke, während die Worte wiederkamen, ihm mit unabweisbarer Klarheit, Antwort heischend, in den Ohren tönten: Sollte er dieses neue Verbrechen geschehen lassen, ohne hinauszuschreien, was er wußte? Nein, nein, das war unmöglich, er würde sprechen, er würde handeln! Jedoch was sprechen, wie handeln, das schwamm noch in unklaren Nebeln. Sodann bei seiner Rückkehr ins Bureau geschah das noch Unerhörtere, der Bruch mit seinen vierzigjährigen Gewohnheiten, daß er sich hinsetzte, einen langen Brief zu schreiben, anstatt sich sofort wieder in seine endlosen Additionen zu versenken. In diesem Briefe, den er an Mathieu richtete, erzählte er die ganze Geschichte, das Wiederauftauchen Alexandres, die Pläne Constances, die Hilfe, die er selbst dabei zu leisten unternommen hatte. Er warf dies alles übrigens nur so hin, wie es ihm in die Feder floß, wie eine Beichte, mit der er sich das Herz erleichterte, aber ohne daß er selbst noch einen Entschluß gefaßt hätte, was er in der Rolle des Richtenden, die so schwer auf seinen Schultern lastete, tun solle. Wenn Mathieu alles wußte, würden sie zwei sein, um zu wollen. Und er schloß einfach damit, daß er ihn bat, morgen hereinzukommen, aber nicht vor sechs Uhr, denn er wollte Alexandre kennen lernen, wissen, wie die Zusammenkunft verlaufen war, und was Constance von ihm verlangte.
Die folgende Nacht und der darauffolgende Tag mußten schrecklich für ihn gewesen sein. Die Hausmeisterin erzählte später, daß der Bewohner des vierten Stockes Morange die ganze Nacht über seinem Kopfe herumgehen gehört habe. Die Türen gingen auf und zu, er verschob die Möbel, wie zu einem Umzug. Man glaubte sogar Schreie, Schluchzen gehört zu haben, das Gespräch eines Wahnsinnigen, der mit Schatten Zwiesprache hielt, irgendeine schauerliche Zeremonie eines Menschen, der den Toten, von denen er umgeben war, einen geheimnisvollen Kultus widmete. Und tagsüber in der Fabrik gab er beunruhigende Zeichen seiner Seelenqual, der Schatten, die seinen Geist verdüsterten, saß stieren Blickes da oder ging, von qualvollen Seelenkämpfen gejagt, wohl zehnmal ohne Anlaß in die Werkstätten hinab, stand in Gedanken versunken vor einer sausenden Maschine, kehrte dann wieder zu seinen Rechnungen zurück, verzweifelt, das nicht finden zu können, was er so schmerzlich suchte. Als der düstere Wintertag um vier Uhr in die Nacht überging, bemerkten die zwei Untergebenen, die er in seinem Bureau hatte, daß er aufhörte zu arbeiten. Er saß und wartete, den Blick auf die Uhr geheftet. Und als es fünf Uhr schlug, überzeugte er sich zum letztenmal, daß eine Endsumme stimmte, erhob sich und ging hinaus, das Buch aufgeschlagen liegen lassend, als ob er bald wiederkommen wollte, um die nächste Summe zu prüfen.
Morange schritt die Galerie entlang, in welche der von der Fabrik ins Wohnhaus führende Verbindungsgang mündete. Die ganze Fabrik war um diese Stunde erleuchtet, elektrische Lampen verbreiteten Tageshelle, während die Arbeit der Maschinen die Mauern erbeben machte. Und plötzlich, ehe er den Verbindungsgang erreichte, sah er vor sich den Aufzug, die schreckliche Oeffnung, den mörderischen Schlund, in welchem sich vor nun schon vierzehn Jahren Blaise zerschmettert hatte. Nach der Katastrophe hatte man, um einem nochmaligen Unglück vorzubeugen, die Oeffnung mit einem Geländer umgeben, das durch eine Tür verschlossen war, so daß ein Sturz nun unmöglich war, wenn man nicht etwa absichtlich die Tür öffnete. Der Aufzug war eben hinabgelassen, die Tür geschlossen, und er näherte sich, einer unwiderstehlichen Macht gehorchend, und beugte sich schaudernd über den Abgrund. Der ganze Vorgang stand ihm wieder vor Augen, er sah den zerschmetterten Körper auf dem Grunde dieser grauenhaften Leere, er fühlte sich erstarrt von demselben Hauch des Entsetzens vor dem zweifellosen, eingestandenen, verborgenen Morde. Da er so schrecklich litt, da er nicht mehr schlafen konnte, da er den beiden Toten versprochen hatte, zu ihnen zu kommen, warum machte er nicht ein Ende? Noch gestern hatte er, auf das Geländer der Brücke gelehnt, das unwiderstehliche Verlangen danach gefühlt. Ein Verlieren des Gleichgewichts, und er war befreit, endlich in den Frieden der Erde gebettet, zwischen seine beiden Frauen. Und plötzlich, als ob seinem seit zwei Tagen herumtastenden, verzweifelt suchenden Wahnsinn aus dem Abgrunde herauf die entsetzliche Lösung zugeflüstert würde, glaubte er nun eine Stimme von unten zu hören, die Stimme Blaises, die ihm zurief: »Komm mit dem andern! Komm mit dem andern!« Erbebend richtete er sich auf, die Entschlossenheit der fixen Idee hatte ihn mit Blitzesschnelle durchzuckt. Seinem Wahnwitz erschien dies die einzige kluge, logische, mathematische Lösung, die alles erledigte. Sie schien ihm so einfach, daß er erstaunt darüber war, sie so lange gesucht zu haben. Und von diesem Augenblicke ab bewies der arme, schwache und weiche Mensch, der zerrüttete Geist, einen eisernen Willen, einen großartigen Heldenmut, die von der klarsten Gedankenfolge und der schlauesten List unterstützt wurden.
Vorerst bereitete er alles vor, stellte den Aufzug fest, damit er nicht während seiner Abwesenheit heraufgehoben werde, und überzeugte sich, daß die Tür des Geländers leicht öffnete und schloß. Er ging mit leichtem, fast körperlosem Schritt hin und her, von der Zweifellosigkeit beflügelt, mit wachsamem Auge um sich blickend, damit ihn niemand sehe noch höre. Dann verlöschte er die drei elektrischen Lampen und versenkte die Galerie in absolute Finsternis. Von unten durch die gähnende Oeffnung stieg noch immer das Dröhnen der arbeitenden Fabrik, das Sausen der Maschinen herauf. Und erst dann, nachdem er so alles vorbereitet hatte, betrat er den Verbindungsgang, um sich endlich in den kleinen Salon zu begeben. Constance erwartete ihn hier mit Alexandre. Sie hatte diesen eine halbe Stunde früher kommen lassen, sie wollte ihn einem kleinen Verhör unterziehen, ohne ihn jedoch vorerst etwas von der Stellung ahnen zu lassen, die sie ihm im Hause zugedacht hatte. Da sie es für unnötig hielt, sich ohne weiteres in seine Gewalt zu begeben, hatte sie einfach nur getan, als wünschte sie ihrer Verwandten, der Baronin de Lowicz, gefällig zu sein, indem sie ihrem Schützling einen Platz verschaffe. Aber mit welcher unterdrückten Erregung beobachtete sie ihn, voll Befriedigung, in ihm einen kräftigen und entschlossenen Menschen zu finden, mit harten Zügen und schrecklichen Augen, die einen Rächer verhießen. Sie würde ihn vollends abschleifen, er würde ganz nett werden. Er seinerseits witterte, ohne deutlich zu verstehen, die Dinge, fühlte, daß die Entscheidung über sein Glück bevorstehe, erwartete die sichere Beute, als junger Wolf, der sich herbeiläßt, zahm zu werden, um dann in aller Ruhe die ganze Schafherde verschlingen zu können. Und als Morange eintrat, sah er nur eines, die Ähnlichkeit Alexandres mit Beauchêne, diese außerordentliche Aehnlichkeit, welche eben vorhin Constances Herz durchbohrt und sie überwältigt hatte, und welche nun auch ihn, den im Banne seiner fixen Idee Stehenden, erstarren ließ, als ob er seinen alten Chef verdammt hätte.
»Ich habe schon auf Sie gewartet, lieber Freund. Sie kommen spät, während Sie sonst so pünktlich sind.«
»Ja, ich wollte vorher noch eine kleine Arbeit beendigen.«
Aber sie hatte scherzhaft gesprochen, so glücklich fühlte sie sich. Dann ging sie sogleich zum Gegenstande über.
»Hier ist also der Herr, dessen ich Ihnen erwähnte. Sie werden damit anfangen, ihn zu sich zu nehmen, um ihn ein wenig einzuweihen, wenn Sie ihn auch vorerst nur zu Gängen verwenden können. Es bleibt also dabei, nicht wahr?«
»Gewiß, Madame. Ich werde mich seiner annehmen, rechnen Sie auf mich.«
Als sie hierauf Alexandre verabschiedete, indem sie ihm sagte, daß er morgen früh eintreten könne, erbot sich Morange gefällig, ihn durch sein Bureau und durch die noch geöffneten Werkstätten zu führen.
»Dabei lernt er die Oertlichkett kennen und kann morgen direkt zu mir kommen.« Sie lächelte wieder, so sehr beruhigte sie dieses Entgegenkommen des Buchhalters.
»Eine gute Idee, lieber Freund, vielen Dank. Und Sie, Monsieur, auf Wiedersehen, wir werden uns Ihrer annehmen, wenn Sie sich gut aufführen.«
Aber in diesem Augenblicke geschah etwas Außerordentliches, Unsinniges, das sie betäubte. Morange, der Alexandre als ersten hatte hinausgehen lassen, wendete sich gegen sie mit einem wahnsinnigen Grinsen, als ob der innere Bruch, plötzlich zum Vorschein gekommen, seine Züge verzerrte. Und er sagte ihr dicht ins Gesicht mit leiser, vertraulicher und höhnischer Stimme: »Haha! Blaise dort drunten im Abgrund! Er spricht, er hat zu mir gesprochen! Haha, der Luftsprung, du hast ihn wollen, den Luftsprung! Du sollst ihn wieder haben, den Luftsprung, den Luftsprung!«
Und er verschwand hinter Alexandre. Sie hatte ihm erstarrt zugehört. Es war so unerwartet, so wahnwitzig, daß sie zuerst nicht begriff. Aber dann durchfuhr sie ein Blitzstrahl. Wovon er da sprach, von dem Morde da drunten, davon hatte er noch nie gesprochen, das war das Grauenhafte, das sie seit vierzehn Jahren tief vergraben hatten, das nur ihre Blicke sich eingestanden, und nun warf er es ihr plötzlich mit dem Grinsen des Wahnsinns ins Gesicht. Woher die dämonische Auflehnung dieses armseligen Menschen, die dunkle Drohung, die sie wie Todeshauch über sich hatte hinwehen fühlen? Sie wurde schrecklich bleich, ein dumpfes Vorgefühl einer furchtbaren Rache des Schicksals griff an ihr Herz – dieses Schicksals, das sie vor einem Augenblicke noch auf ihrer Seite geglaubt hatte. Ja, ja, so war es! Und sie befand sich mit einemmal um vierzehn Jahre zurück in diesem selben Salon, sie stand unbeweglich, schaudernd, erstarrt, auf die herüberdringenden Geräusche der Fabrik horchend, das gräßliche Getöse des Sturzes erwartend, so wie sie an jenem fernen Tage auf die Zerschmetterung des andern gewartet und gehorcht hatte.
Morange geleitete indessen Alexandre mit seinen kleinen, vorsichtigen Schritten und sprach mit ruhiger und wohlwollender Stimme zu ihm.
»Entschuldigen Sie mich, daß ich vorausgehe, ich muß Ihnen den Weg zeigen. Oh, das ist ein ganzes Labyrinth, dieses Haus, Treppen, Gänge, Umwege ohne Ende. Jetzt wenden wir uns wieder nach links.« Als er die Galerie erreichte, in der vollständige Finsternis herrschte, tat er sehr natürlich, als ob er sich ärgere.
»Da hat man's, immer dieselbe Nachlässigkeit, es ist noch nicht erleuchtet, und der Knopf ist drüben, am andern Ende! Zum Glück kenne ich hier jeden Fußbreit – wenn man einmal vierzig Jahre da ist... Geben Sie acht und folgen Sie mir dicht nach.«
Er gab ihm jeden Schritt zum voraus an, führte ihn immer mit derselben Aufmerksamkeit, ohne daß seine Stimme ihre Gleichmäßigkeit verlor.
»Lassen Sie mich nicht los, wenden Sie sich nach links. Jetzt geht es wieder ganz gerade. Nur, warten Sie, die Galerie ist von einem Gitter abgeschlossen, das eine Tür hat. Da sind wir. Ich öffne nun die Tür. Folgen Sie mir nur, ich gehe voraus.«
Ruhig machte Morange den Schritt in die Finsternis, ins Leere, und ohne einen Schrei auszustoßen, stürzte er hinab. Hinter ihm fühlte Alexandre, der ihn fast berührte, um ihn nicht zu verlieren, die Leere des Abgrunds, den Windstoß des Sturzes, fühlte mit plötzlichem Entsetzen den Boden unter seinen Füßen weichen. Aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten, er machte ebenfalls den Schritt und stürzte mit einem fürchterlichen Schrei. Beide Körper schlugen zerschmettert unten auf, beide auf der Stelle getötet. Morange atmete allerdings noch einige Sekunden, Alexandre lag mit eingeschlagenem Schädel und verspritztem Gehirn auf derselben Stelle, wo Blaise damals gelegen hatte.
Mit entsetztem Staunen fand man die beiden Leichen, ohne sich die Katastrophe erklären zu können. Morange nahm das Geheimnis mit sich, was seinen Wahnsinn zu dem furchtbaren Gericht getrieben, das er vollzogen hatte. Vielleicht wollte er nur Constance bestrafen, vielleicht das alte Unrecht gutmachen, Denis, der einst in seinem Bruder betroffen worden, nun in seinem Kinde Hortense entschädigen, die glücklich mit ihrer so schönen und braven Puppe Margot leben würde. Indem er das Werkzeug des Verbrechens vernichtete, vernichtete er die Möglichkeit eines neuen Verbrechens. Er selbst, im Banne seiner fixen Idee stehend, hatte sich zweifellos nicht Rechenschaft gegeben über diese jenseits der Vernunft stehende gewaltsame Gerechtigkeit, die mit der fühllosen Grausamkeit eines Wirbelwindes hinfuhr, die Menschen abmähend. Er hatte nicht nachgedacht, er hatte gehandelt. Aber in der Fabrik waren alle darüber einig, daß er verrückt gewesen sein müsse, daß er das Unglück herbeigeführt habe, denn man konnte sich anders nicht erklären, wieso alle Lampen verlöscht sein konnten, wieso die Tür des Geländers weit offen stand, und wieso er mitsamt dem armen jungen Mann, der ihm folgte, in die Oeffnung stürzen konnte, deren Vorhandensein ihm wohlbekannt war. Seine Verrücktheit unterlag übrigens bald keinem Zweifel mehr, als seine Hausmeisterin von seinem seltsamen Gebaren in den letzten Tagen erzählte, und besonders, als ein Polizeikommissär seine Wohnung untersuchte. Er war offenbar vollkommen toll gewesen. Vorerst fand man die Wohnung in einem unglaublichen Zustande, die Küche glich einem Stalle, der Salon war ganz vernachlässigt, die Möbel im Stile Ludwig XIV. dicht bestaubt, das Speisezimmer in heillosem Durcheinander, die Alteichenmöbel vor dem Fenster aufgetürmt, man wußte nicht warum, so daß das Zimmer finster war. Nur das Zimmer Reines sah menschlich aus, hier herrschte die Sauberkeit eines wohlbetreuten Heiligtums, die Pitchpinemöbel glänzten, so daß man sah, daß sie alle Tage abgewischt worden waren. Aber wo der Wahnsinn unwiderleglich zum Vorschein kam, das war im Schlafzimmer, das zum Erinnerungsmuseum umgestaltet worden war, dessen Wände von den Photographien seiner Frau und seiner Tochter bedeckt waren. Gegenüber dem Fenster, oberhalb eines Tischchens, verschwand die Mauer vollständig; hier befand sich jene Art Kapelle, die er einst Mathieu gezeigt hatte: in der Mitte die Bilder Valéries und Reines, im selben Alter von zwanzig Jahren, gleich Zwillingsschwestern, umgeben von einer unglaublichen Menge symmetrisch angeordneter andrer Bilder, wieder von Valérie, wieder von Reine, als Kinder, junge Mädchen, Erwachsene, in allen Stellungen, in allen Kleidern. Und hier auf dem Tische, wie auf einem Opferaltar, fand man mehr als hunderttausend Franken, in Gold, Silber, selbst in Kupfer, einen ganzen Berg, das Vermögen, das er seit so vielen Jahren ansammelte, indem er nichts aß als altbackenes Brot, gleich einem Bettler. Nun wußte man endlich, was er mit seinen Ersparnissen gemacht hatte; er hatte sie seinen beiden Frauen gegeben, die sein Wille, sein Ehrgeiz, seine Leidenschaft geblieben waren. Von Gewissensbissen gefoltert, sie getötet zu haben, indem er sie reich machen wollte, bewahrte er ihnen dieses Geld auf, das sie so heiß gewünscht hatten, das sie so begierig verbraucht hätten. Er verdiente es nur noch für sie, brachte es ihnen, überhäufte sie damit, ohne für sich den geringsten Nutzen daraus zu ziehen, nur seinem von qualvollen Visionen beherrschten Kultus lebend, nur von dem Verlangen erfüllt, ihre Geister zu versöhnen und zu erfreuen. Und das ganze Viertel sprach von nichts anderm als von dem alten verrückten Herrn, der sich hatte Hungers sterben lassen, neben einem großen Schatze, den er Sou um Sou auf einem Tische aufgehäuft, seit zwanzig Jahren den Bildern seiner Frau und seiner Tochter dargebracht hatte wie einen Blumenstrauß.
Als Mathieu gegen sechs Uhr in die Fabrik kam, geriet er mitten in die Verwirrung und das Entsetzen im Gefolge der Katastrophe. Seit dem Morgen hatte der Brief Moranges ihn in Angst versetzt, so überrascht und beunruhigt war er über diese rätselhafte Geschichte, daß Alexandre wiedergefunden, von Constance aufgenommen, durch sie in die Fabrik eingeführt worden sei; und obgleich der Brief eine sehr deutliche Sprache führte, enthielt er doch seltsam zusammenhanglose Stellen, plötzliche unverständliche Sprünge, die ihm das Herz nur um so mehr bedrückten. Er hatte den Brief dreimal gelesen, und jedesmal waren neue und düsterere Vermutungen in ihm entstanden, so sehr schien er ihm erfüllt von ungewissen Drohungen. Und als er zu der festgesetzten Zeit eintraf, sah er zwei blutende Körper vor sich, die Victor Moineaud eben heraufgeholt und Seite an Seite gelegt hatte. Wortlos und erstarrt hörte er seinem Sohne Denis zu, der unter dem Todesschrecken, der die Maschinen zum Stillstande gebracht hatte, herbeigeeilt war, und der ihm nun verstört von dem unbegreiflichen Unglück erzählte, von den zwei Opfern, die aufeinander hinuntergestürzt waren, der alte schwachsinnige Buchhalter und der wie vom Himmel gefallene junge Mann, den niemand kannte. Mathieu hatte Alexandre sogleich erkannt, und wenn er, entsetzt und bleich, stillschwieg, so war es deshalb, weil er niemand, auch nicht seinem Sohne, die Vermutungen anzuvertrauen wagte, die entsetzlichen Vermutungen, die ihm aus all dem Finsteren, Rätselhaften aufstiegen. Er hörte mit steigender Seelenangst das wenige, was man hatte feststellen können, daß die Lampen der Galerie verlöscht worden waren, daß die Gittertür offen gefunden wurde, die sonst immer geschlossen war, und die nur ein Eingeweihter öffnen konnte, indem er den durch eine geheime Feder festgehaltenen Knopf drehte. Und als Victor Moineaud ihm sagte, daß der Alte sicher zuerst gefallen sein müsse, da ein Bein des Jungen quer über seinem Leibe gelegen sei, da fühlte er sich plötzlich um vierzehn Jahre zurückversetzt, er erinnerte sich des Vaters Moineaud, er sah, wie der Vater Blaise an dieser selben Stelle aufhob, an welcher der Sohn eben Morange und Alexandre aufgehoben hatte. Blaise! Eine neue Helle durchfuhr ihn, ein entsetzlicher Verdacht blendete ihn, in der furchtbaren Finsternis, in der sein Argwohn sich langsam vorwärts tastete; und indem er Denis die Anordnungen hier unten überließ, ging er zu Constance hinauf.
Aber oben, ehe er in den Verbindungsgang einbog, hielt er abermals an und blieb bei dem Aufzug stehen. Hier war es, wo Morange vor vierzehn Jahren, als er die Oeffnung unbedeckt fand, hinabgestiegen war, um nachzusehen, während Constance behauptete, ruhig in ihre Zimmer zurückgekehrt zu sein, im Augenblicke, da Blaise, durch die dunkle Galerie herankommend, in den Schacht hinabstürzte. Und diese Erzählung, welche schließlich alle gläubig hingenommen hatten – nun fühlte er plötzlich ihre Lügenhaftigkeit, er erinnerte sich der Blicke, der Worte, des wiederholten Schweigens, er wurde mit einem Male von der Gewißheit erfaßt, die sich aus allem zusammensetzte, was er damals nicht begriffen hatte, und was in diesem Augenblicke eine furchtbare Bedeutung für ihn annahm. Ja, es war gewiß, obgleich das alles in den Nebeln der geheimen, der feigen Verbrechen schwebte, in welchen immer ein Schatten grauenhaften Geheimnisses bleibt. Und überdies gab das auch die Erklärung dieser Tat von heute, dieser beiden Leichen da unten, soweit eine vernunftgemäße Erklärung möglich war für die Tat eines Wahnsinnigen mit all dem Sprunghaften und Rätselhaften, das sie enthielt. Gleichwohl zwang er sich, zu zweifeln, er wollte vorerst Constance sehen.
Constance war inmitten ihres kleinen Salons unbeweglich, wachsbleich stehen geblieben. Das Warten von vor vierzehn Jahren fing wieder an, verlängerte sich, legte sich ihr so beklemmend aufs Herz, daß sie nicht zu atmen wagte, um besser zu hören. Nichts war noch aus der Fabrik heraufgekommen, kein Lärm, kein Schall von Schritten. Was ging vor? War das Gefürchtete, das Grauenhafte nicht etwa bloß ein böser Traum? Aber Morange hatte ihr höhnisch ins Gesicht gelacht, und sie hatte alles verstanden. Hatte sie nicht einen Schrei, einen Sturz gehört? Nun hörte sie auf einmal das Dröhnen der Maschinen nicht mehr, der Tod war hereingetreten, die Fabrik war erkaltet, für sie verloren. Plötzlich hörte ihr Herz zu schlagen auf, als sie den Schall ferner Schritte vernahm, die sich näherten, sich beschleunigten. Dann trat Mathieu ein.
Sie fuhr zurück, aschfahl im Gesichte, wie vor einem Gespenst. Er, großer Gott! Warum er? Wie kam er hierher? Von allen Unglücksboten war er derjenige, den sie am wenigsten erwartete. Wenn der tote Sohn gekommen wäre, so wäre sie nicht mehr erbebt, als vor dieser Erscheinung des Vaters.
Sie sprach kein Wort, und er sagte nichts als: »Sie sind hinuntergestürzt und sind beide tot; tot wie Blaise.«
Sie sagte noch immer nichts und sah ihn an. Einen Moment standen sie so, Aug' in Auge. Und in ihren Augen las er alles, die Mordtat entstand, entwickelte sich, wurde vollendet. Da unten stürzten die Körper zerschmettert aufeinander.
»Unglückliche, zu welchen Greueltaten haben Sie sich verirrt, und welche Blutschuld haben Sie auf sich geladen!«
Mit gewaltiger Anstrengung rief sie ihren Stolz zu Hilfe, richtete sich auf, wollte noch einmal siegen, ihm zurufen, daß sie die Mörderin sei, ja, und daß sie recht gehabt habe und immer recht habe. Aber er erdrückte sie mit einer neuen Enthüllung: »Sie wissen also nicht, daß dieser elende Alexandre einer der Mörder der Madame Angelin, Ihrer Freundin, war, der armen Frau, die eines Winterabends beraubt und erwürgt wurde! Ich habe es Ihnen aus Mitleid verschwiegen. Er säße im Kerker, wenn ich gesprochen hätte. Und Sie kämen auch dahin, wenn ich heute spräche.«
Das war der letzte Schlag. Sie sank wortlos auf den Teppich hin, steif wie ein gefällter Baum. Nun war ihre Niederlage vollendet, das Schicksal, dessen Hilfe sie erwartete, hatte sich gegen sie gekehrt und schleuderte sie zu Boden. Eine Mutter weniger, welche durch die auf ein einziges Kind gehäufte Liebe war verderbt worden, eine bestohlene, betrogene, rasende Mutter, die in dem Wahnsinn ihrer untröstlichen Mutterschaft bis zum Morde gelangt war. Und sie lag nun der Länge nach da, mager und vertrocknet, vergiftet durch die Liebe, der sie nicht hatte genügen können. Mathieu rief Beistand herbei, die alte Magd kam eiligst, legte sie mit seiner Hilfe ins Bett und entkleidete sie dann. Da sie wie tot dalag, von einem jener Anfälle erfaßt, in denen ihr der Atem ausblieb, ging er selbst, um Boutan zu holen, den er glücklicherweise in dem Augenblicke traf, da er zum Diner heimlehrte. Boutan, nun bald Zweiundsiebzig Jahre alt, hatte seine Praxis aufgegeben, verbrachte den Rest seines Daseins in der Gemütsheiterkeit seines Glaubens an das Leben, und besuchte nur noch einige wenige alte Patienten, seine Freunde. Er verweigerte seinen Beistand nicht, untersuchte die Kranke, und machte dann eine Gebärde der Hoffnungslosigkeit von so unmißverständlicher Bedeutung, daß Mathieu, beunruhigt, es auf sich nahm, Beauchêne zu suchen, damit er wenigstens da sei, wenn seine Frau starb. Als er die alte Magd befragte, hob diese die Hände zum Himmel: sie wisse nicht, wo der Herr sei, der Herr lasse nie eine Adresse zurück. Endlich faßte sie, ebenfalls von Schrecken ergriffen, einen Entschluß und lief zu den beiden Damen, der Tante und der Nichte, deren Adresse sie ganz gut wußte, da ihre Herrin selbst sie in drängenden Fällen dahin gesandt hatte; aber sie erhielt die Auskunft, daß die Damen gerade gestern mit Monsieur auf acht Tage zu ihrer Erholung nach Nizza gefahren seien; und da sie nicht ohne jemand von der Familie zurückkehren wollte, hatte sie die gute Idee gehabt, auf dem Rückwege zu der Schwester des Herrn, der Frau Baronin de Lowicz, zu gehen, welche sie nun fast mit Gewalt in dem Wagen, den sie benutzt hatte, mitbrachte.
Boutan hatte vergeblich sogleich alles Nötige angewendet. Als Constance die Augen öffnete, sah sie ihn starr an, erkannte ihn offenbar und schloß die Lider gleich wieder. Auf alle an sie gerichteten Fragen verweigerte sie beharrlich die Antwort. Sie hörte offenbar und wußte, daß Leute da waren, die sie pflegten; aber sie wollte ihre Pflege nicht, sie beharrte darauf, tot sein zu wollen, kein Lebenszeichen mehr zu geben. Weder ihre Augenlider noch ihre Lippen öffneten sich, sie blieb unbeweglich unter der zermalmenden Wucht ihrer Niederlage, als gehörte sie dieser Welt nicht mehr an.
Sérafine war sehr seltsam. Sie verbreitete einen starken Duft von Aether um sich, denn sie trank jetzt Aether. Als sie den zweifachen Unglücksfall erfuhr, den Tod Moranges und Alexandres, wodurch bei Constance ein Herzkrampf hervorgerufen worden, ging nur ein irres Zucken über ihr Gesicht, eine Art unwillkürliches Lächeln, und sie sagte: »Oh, das ist komisch!«
Sie setzte sich dann in einen Fauteuil, ohne aber Hut und Handschuhe abzulegen. So saß sie da, die Augen weit geöffnet, diese braunen, goldflimmernden Augen, die einzigen lebenden Flammen, die sie aus der entsetzlichen Verwüstung ihrer einstigen Schönheit behalten hatte. Mit zweiundsechzig Jahren sah sie wie eine Hundertjährige aus, ihr dreistes Gesicht wie von Gewitterstürmen durchfurcht, ihre sonnigen Haare ausgelöscht unter einem Aschenregen. Um Mitternacht war sie noch immer da, neben dem Totenbette, das sie nicht zu sehen schien, in diesem schauererfüllten Zimmer, unbeweglich wie eine leblose Sache, ohne scheinbar zu wissen, warum man sie hierhergebracht hatte.
Weder Mathieu noch Boutan wollten fortgehen; sie wollten die Nacht hier verbringen, um Constance nicht mit der alten Magd allein zu lassen, während Monsieur sich in Nizza in Gesellschaft der beiden Damen, der Tante und Nichte, befand. Und um Mitternacht wurden sie, während sie leise miteinander sprachen, aufs höchste überrascht, als Sérafine plötzlich den Mund öffnete, nachdem sie mehr als drei Stunden vollkommen geschwiegen hatte.
»Wissen Sie schon, daß er tot ist?«
Wer war tot? Sie verstanden endlich, daß sie von Gaude sprach. In der Tat, man hatte den berühmten Chirurgen auf einem Diwan seines Ordinationszimmers gefunden, von einem plötzlichen Tode ereilt, dessen Ursachen nicht genau bekanntgeworden waren. Die seltsamsten und schlüpfrigsten Geschichten liefen darüber um, manche widersinnig und manche tragisch. Mit achtundsechzig Jahren war Gaude, ein unbußfertiger Hagestolz, noch sehr frisch geblieben, sagte man, und genoß noch immer gern, wenn junge Patientinnen, dankbare Operierte ihm Liebe boten. Mathieu hatte sich eines grauenhaften Wunsches erinnert, den Sérafine, in ihrer Wut darüber, mit ihrem Geschlechte auch die Genußfähigkeit unter dem Messer verloren zu haben, eines Tages zu ihm geäußert hatte: »Ah, wenn wir eines Tages alle zu ihm gingen, alle, die er kastriert hat, und ihn unserseits kastrierten!« Sie waren ihrer Tausende und Tausende, sie sah sie alle mit sich, hinter sich, eine Schar, eine Armee, ein Volk, eine Flut von hunderttausend Unfruchtbaren, die die Mauern des Ordinationszimmers in dem wilden Ansturm ihrer Rache zersprengt hätten. Und es hatte Mathieu tief ergriffen, als ihm unter den seltsamen Geschichten, die über den plötzlichen Tod Gaudes umliefen, eine zu Ohren gekommen war, die besagte, daß man ihn entkleidet, verstümmelt, blutend auf dem Diwan gefunden habe. Als Sérafine auf Mathieus Blick traf, der sie ansah, wie in einem schweren Traume befangen, durchschauert von dem Wachen in diesem traurigen Zimmer, ging wieder das irre Zucken über ihr Gesicht, und sie sagte:
»Er ist tot, wir waren alle dort.«
Es war toll, unwahrscheinlich, unmöglich; und dennoch, war es Wahrheit oder nicht? Und ein eisiger Schreckenshauch wehte hin, der Hauch des Geheimnisses, dessen, was man nicht weiß, was man nie wissen wird.
Boutan hatte sich zum Ohre Mathieus geneigt: »Ehe acht Tage um sind, wird sie in der Tobsüchtigenzelle sein.«
Acht Tage später steckte die Baronin de Lowicz in der Zwangsjacke. Bei ihr hatte die Kastration auf das Gehirn gewirkt, die rasende Begierde, die sie nicht mehr stillen konnte, hatte ihren Geist verwüstet. Sie wurde ganz isoliert, man konnte niemand zu ihr lassen, denn in ihren Anfällen von Obszönität sagte sie gemeine Worte und machte abscheuliche Gebärden.
Mathieu und Boutan wachten bis zum Morgen bei Constance. Sie öffnete die Lippen nicht, schlug die Augen nicht auf. Als die Sonne sich erhob, wendete sie sich gegen die Wand und starb.