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Vier Jahre gingen hin. Und während dieser vier Jahre bekamen Mathieu und Marianne noch zwei Kinder, ein Mädchen am Ende des ersten Jahres und einen Knaben am Ende des dritten. Und jedesmal, wenn die Familie sich vermehrte, wuchs auch gleichzeitig der neu entstehende Besitz von Chantebled, das eine Mal um weitere zwanzig Hektar fetten, den Sümpfen abgewonnenen Bodens, das andre Mal um ein großes Stück Wald und Heide, welches die eingefangenen Quellen zu befruchten begannen. Das Leben setzte seinen unaufhaltsamen Eroberungszug fort, die Fruchtbarkeit verbreitete sich unter der Sonne, die Arbeit schuf unausgesetzt, unermüdlich, trotz aller Hindernisse und Kümmernisse, füllte die Lücken der Verluste aus, goß zu jeder Stunde neue Kraft, neue Gesundheit und Freude in die Adern der Welt.
Als Mathieu nun eines Tages zu Séguin kam, um den
Kauf des Stückes Wald und Heide abzuschließen, fand er Sérafine bei ihm. Séguin, der hocherfreut war, zu den festgesetzten Terminen aufs pünktlichste bezahlt zu werden, der glücklich war, dergestalt Stück um Stück dieses ertraglosen Besitzes zu verkaufen, welcher so schwer auf ihm lastete, unterzeichnete wie jedesmal fröhlich den Vertrag. Heute wollte er Mathieu sogar zum Diner dabehalten. Aber dieser hatte Eile, nach Chantebled zurückzukehren, wo die Ernte seiner harrte. Und da er sagte, daß er einen Wagen nach dem Nordbahnhofe nehmen müsse, um den Zug nicht zu versäumen, bemerkte Sérafine, die bis nun stumm und lächelnd dagesessen hatte:
»Ich habe den meinigen unten und fahre, eben in diese Richtung. Soll ich Sie hinbringen?«
Er sah sie an und wollte nicht den lächerlichen Schein erwecken, Furcht vor ihr zu haben, nachdem sie seit so langer Zeit nichts mehr miteinander gemein gehabt. Überdies war er seiner Unverletzlichkeit sicher. »Gewiß. Ich danke Ihnen sehr für ihre Liebenswürdigkeit.«
Als sie nun in dem mit grüner Seide ausgeschlagenen, rasch dahinrollenden Wagen Seite an Seite saßen, zeigte sie sich von allerliebster Offenherzigkeit, sehr herzlich und freundschaftlich.
»Ach, lieber Freund, Sie wissen nicht, welches Vergnügen Sie mir damit machen, daß Sie mir diese wenigen Minuten ungestörten Alleinseins ermöglichen. Es hat immer den Anschein, als fliehen Sie vor mir; man sollte wahrhaftig meinen, Sie haben Angst, daß ich mich auf Sie stürze. Freilich habe ich einen Augenblick davon geträumt, glückliche Stunden wieder zu erleben, deren Erinnerung mir kostbar ist. Aber, lieber Gott, das liegt ja nun alles so ferne! Und wie recht haben Sie im Grunde, daß Sie nicht Gefahr laufen wollen, jene Erinnerung durch eine neue Wirklichkeit zu verderben! Ich schwöre Ihnen, daß mein einziger Wunsch ist, Ihre Freundin zu sein, und ich füge hinzu, daß Sie der einzige Mensch sind, dem ich diesen schönen Platz in meinem Herzen bewahrt habe. Und es wäre mir eine Wohltat, wenn ich mich Ihnen anvertrauen und Ihnen erzählen könnte, was ich niemand sage, keinem Manne selbstverständlich, aber auch selbst keiner Frau. Wenn Sie lieb und gut sein wollen, so werden wir aufrichtige Freunde werden, und das wird mir sehr, sehr guttun.«
Sie war wirklich bewegt. Durch welches Wunder wurde sie diesem Manne gegenüber, der sie verschmähte, nachdem er sie besessen hatte, so weich, sie, die grausame Hetäre, die auf die Männer Jagd machte, um sie zu benutzen und dann zu den übrigen zu werfen? Sie wurde förmlich schwesterlich und fand ein ungewohntes Vergnügen daran, ihm alles zu gestehen und zu klagen.
»Ach, mein lieber Freund, ich bin nicht mehr so glücklich, als man mich glaubt; ich lebe jetzt in unaufhörlicher Furcht. Ja, Sie haben es nicht gewußt, niemand hat es gewußt: ich hätte beinahe ein Kind bekommen. Der Zufall wollte, daß eine Fehlgeburt mich nach zwei Monaten davon befreite. Aber jetzt schwebt diese Gefahr täglich über meinem Haupte. Freilich Sie, der Sie ein Weiser sind, werden mir sagen, ich soll mich wieder verheiraten, soll Kinder bekommen. Aber, was wollen Sie, das ist nun einmal nicht meine Sache, ich lebe nur für die Liebe, und lebe sogar sehr für die Liebe, das kann ich Ihnen ja sagen, der Sie es wissen müssen.«
Trotz ihrer trüben Stimmung lachte sie mit ihrem leisen, aufregenden Lachen, während ihre Augen in ihrem dreisten, von flammendroten, üppigen Haaren umgebenen Gesichte wieder erglühten. Die Wahrheit war, daß ihre heiße, sinnliche Gier wuchs, je mehr das Alter nahte. Sie gestand stolz ihre fünfunddreißig Jahre, ihre insolente Schönheit war noch unvermindert, ihre Schultern und ihre Brust waren gleich Marmor, ohne eine Runzel. Sie behauptete sogar, sich nur um so jünger, um so leidenschaftlicher, um so begehrender zu fühlen, und ihr Kummer war nicht, daß sie älter wurde, sie litt nur darunter, daß sie nicht wußte, wie sie unbehindert ihrer Lust frönen könnte, ohne die schreckliche Gefahr der Folgen laufen zu müssen. Bis zu diesem Tage hatte sie es mit unvergleichlicher Meisterschaft verstanden, ihren Platz als reiche Witwe in der großen Welt ungeschmälert zu erhalten, wurde überall empfangen, mochte ihre Liebhaber jeden Monat wechseln, mochte sich deren ein paar oder ein halbes Dutzend zugleich halten, solange sie sie in dem Geheimnis ihres festverschlossenen Erdgeschosses in der Rue de Marignan verbarg, ohne sie je öffentlich zur Schau zu stellen. Man flüsterte sich zu, daß sie an gewissen Abenden erotischer Tollheit sich gleich den unersättlichen Kaiserinnen des alten Rom als Dienerin verkleidete, um auf den Trottoirs zweideutiger Viertel rohe Liebhaber aufzutreiben, nach deren Gewalttätigkeiten es ihr gelüstete. Sie suchte die Bestialität, es gab keine noch so brutale Umarmung, deren wollüstige Pein sie nicht kennen zu lernen begierig war. Und natürlich wuchs die Gefahr, schwanger zu werden, noch in diesen wilden Ausschweifungen mit oft betrunkenen Männern, die keinerlei Rücksichten anwendeten.
Mathieu, zuerst überrascht von diesen vertraulichen Mitteilungen, gelangte schließlich dazu, eine Art unbehagliches Mitleid mit dieser Frau zu fühlen wie mit einer Kranken. Er mußte seinerseits unwillkürlich lächeln, wenn er an alle die unterschlagenden Männer und Frauen dachte, von denen die Welt erfüllt war, und die, trotz aller ihrer eigensinnigen Bemühungen, die Natur zu betrügen, schließlich selbst die Betrogenen waren.
»Sie waren ja Ihrer Vorkehrungen so sicher,« sagte er mit einiger Ironie. »Sie verstehen sich also nicht mehr darauf?«
»Kann man je sicher sein?« rief sie. »Und dann gibt es auch solche Ungeschickte, von den Umständen abgesehen. Man kann sich nicht immer hüten.«
Sie vergaß ganz, daß sie Frau war, sie sprach wie ein Mann zum Manne, ohne jeden Rückhalt. Mit einer stolzen, leidenschaftlichen Kühnheit, in der ihre ganze unersättliche Gier aufflammte, setzte sie hinzu:
»Im übrigen verachte und verabscheue ich diese Unterschlagungen. Gibt es etwas Gemeineres oder Dümmeres? Die Liebe wird dadurch vermindert, verdorben, vernichtet. Stellen Sie sich zwei Liebende vor, die ihren Paroxysmus überwachen, die keinen andern Gedanken im Kopfe haben als den, sich ja nur nicht bis zur Neige zu lieben. Da ist es gleich besser, einander den Rücken zu kehren, nichts anzufangen, wenn man nichts beendigen will. Ich für meinen Teil erkläre Ihnen, daß mich das empört, in Wut versetzt, und daß ich jedesmal dafür wäre, alles zu wagen, wäre nicht diese Furcht, mich zu kompromittieren, meine Ruhe zu verderben, die mich ebenso feige macht wie die andern.«
Sie fuhr mit ihrer unvergleichlichen Ruhe fort, gab zu verstehen, daß, wenn sie perverse Gelüste gehabt habe, in dem Wunsche, alle Arten von Liebe zu kosten, sie sich davon bald abgewandt habe als von belanglosen Spielereien, die sie nur irritierten und um so hungriger ließen. Und immer wieder sei sie zum Manne, zur normalen Liebe zurückgekehrt, mit der Gier eines Molochs, die nur die starken, vollständigen, endlosen Umarmungen sättigen konnten. Diese Gier war es, die sie gegen die Unterschlagungen wüten ließ, welche die Furcht vor dem Kinde ihr aufzwang, und die ihr den heißen Wunsch erweckte, ein Schutzmittel zu besitzen, welches ihr kein Opfer an Genuß auferlegen würde. Sie hing unablässig dieser Sehnsucht nach, sie träumte von Nächten ohne Furcht und ohne Rückhalt, wo sie sich frei und nach Herzenslust hingeben könnte, im rasenden Triumphe ihres Sieges über die Natur.
Als sie wieder auf ihre Fehlgeburt zu sprechen kam, ohne zu gestehen, daß es eine willkürlich herbeigeführte gewesen, ahnte Mathieu die Wahrheit.
»Das schlimmste ist, lieber Freund, daß diese Fehlgeburt mich ganz zerrüttet hat. Ich habe mich in ärztliche Behandlung begeben müssen und habe glücklicherweise in meiner Nähe einen jungen, sehr angenehmen, sehr anständigen und dabei ganz unbekannten Mann gefunden, einen jener Ärzte, deren es so viele gibt, den ich aber einer Berühmtheit vorziehe, weil ich mit ihm mache, was ich will, und weil ich des Geheimnisses sicherer bin, da es niemand auffällt, wenn er zu mir kommt. Er behandelt mich jetzt seit drei Monaten, und was er sagt, ist nicht sehr beruhigend, denn er behauptet, daß ich jetzt bei dem erstbesten Anlaß wieder schwanger werden kann, da sich etwas da drinnen verschoben oder gesenkt hat, wie ich glaube. Stellen Sie sich nun vor, daß ich unter dieser fortwährenden Drohung leben muß! Ich wage ja gar nicht mehr, einen Mann zu umarmen! Nun hat mir mein lieber Arzt eine Operation vorgeschlagen, aber ich habe Angst, wahnsinnige Angst!«
Mathieu machte eine erstaunte Gebärde.
»Ihre Krankheit ist also Ernst?«
Sie verstand und machte sich seinen Ausdruck sogleich zu eigen, indem sie eine betrübte Miene annahm.
»Ja freilich, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich ganz zerrüttet bin? An manchen Tagen leide ich unerträgliche Schmerzen. Und wenn mein Arzt von einer Operation zu sprechen beginnt, so muß er wohl etwas Ernstes vermuten, ich weiß nicht was. Im übrigen ist er kein Chirurg, er würde mich einfach zu dem berühmten Gaude führen, damit mich dieser untersuche und mich operiere, wenn es nötig ist. Auf alle Fälle jagt mir das einen Schauer über den Rücken, und ich glaube, daß ich niemals den Mut finden werde, mich dazu herzugeben. In der Tat war ein Schatten über ihre flammenden Augen hingezogen, und ihre glühende Begierde erschauerte unter der eisigen Furcht vor dem Messer. Ihre Angst und ihre Sehnsucht nach straflosem Genüsse lagen miteinander im Kampfe.
Nachdem er sie angeblickt hatte, zweifelte Mathieu nicht mehr.
»Ich glaube zu wissen,« sagte er gelassen, »daß derlei Operationen sehr ungewiß sind. Man soll nur im äußersten Notfalle zu ihnen seine Zuflucht nehmen, wenn das Leben in Gefahr ist. Andernfalls setzen sich die armen Operierten sehr vielen Leiden, sehr großen Enttäuschungen aus.«
»Oh!« rief sie in forciertem Tone, »Sie können sich wohl vorstellen, wenn ich mich zerfleischen lasse, daß es nur im Falle unbedingter Notwendigkeit geschähe und nicht, ehe ich mich gut unterrichtet habe. Wie ich höre, soll Gaude eine der Töchter Moineauds operieren, Sie wissen ja, des Vaters Moineaud, der noch bei meinem Bruder in der Fabrik arbeitet. Wenn ich Lust dazu habe, werde ich sie nachher besuchen, um mich ein wenig zu überzeugen.«
»Eine Tochter Moineauds?« erwiderte er mit betrübtem Erstaunen. »Das könnte nur Euphrasie sein, die seit kaum vier Jahren verheiratet ist, und die bereits drei Kinder hat, wovon zwei ein Zwillingspaar. Ich habe gerade vor kurzem, um die armen Leute ein wenig zu unterstützen, Cécilie, eine der jüngeren Schwestern, zu mir genommen, die eben in ihr siebzehntes Jahr getreten ist; aber ich fürchte sehr, daß sie uns nichts nützen kann, da die geringste Anstrengung sie zwingt, das Bett zu hüten. Heutzutage sind diese Mädchen aus dem Volke nervös und schwächlich wie die Herzoginnen. Es gibt wirklich Eltern, die kein Glück mit ihren vielen Kindern haben, und das betrübt mich, denn abgesehen von den traurigen sozialen Folgen und dem Unglück für die Betroffenen benützt ihr diese Fälle, um mir gegenüber zu triumphieren, ihr alle, die ihr die Familie einschränkt, wenn ihr sie nicht ganz vernichtet.«
Sie lachte wieder heiter, alle ihre Leiden vergessend. Der Wagen hielt.
»Mir sind schon am Bahnhof! Und ich hätte Ihnen noch so viel zu erzählen! Auf alle Fälle glauben Sie nicht, wie glücklich ich bin, mich mit Ihnen versöhnt zu haben. Es war ja so widersinnig, daß Sie sich vor mir zu fürchten schienen, als ob Sie mich unfähig glaubten, Ihnen in herzlicher Freundschaft zugetan zu sein. Ich versichere Ihnen, daß es mir ein beruhigendes Gefühl ist, daß wir uns nun verstehen, und daß ich hocherfreut bin, nun einen Vertrauten zu haben, ja, einen Vertrauten, dem ich alles sagen kann. Da! Schütteln wir uns die Hände, wie zwei Männer!«
Sie reichten sich die Hände, und er sah den Wagen fortfahren, sehr überrascht von dieser Sérafine, von der er nicht vermutet hätte, daß sie so spät noch das Bedürfnis fühlen werde, eine Beichte abzulegen. Vielleicht bot ihr diese seelische Entkleidung, indem sie zu deren Zeugen einen ehemaligen Geliebten wählte, einen neuen Reiz. Und welch furchtbarem Unheil ging sie noch entgegen, in ihrer Gier nach strafloser, maßloser Sättigung!
Mainfroy, der Arzt aus der Nachbarschaft Sérafinens, war ein großgewachsener Mann von dreißig Jahren, schlank und elegant, mit geschniegeltem, ernstblickendem Gesichte, stets im Gehrock gekleidet, der im Begriffe war, sich jene Damenpraxis zu bilden, die gewissen mittelmäßigen, unbekannten Ärzten ein behagliches Einkommen verschafft; sein Prinzip war, dem leichtesten Unwohlsein gegenüber eine ernste Miene anzunehmen und besonders die geringsten nervösen Leiden mit großer Wichtigkeit zu behandeln, alle Klagen mit unermüdlicher Geduld anzuhören, mit Medizinen nicht zu sparen und niemals dem albernen Gelüste nachzugeben, sich in den Armen einer Patientin zu vergessen; denn jede Frau, die sich ihrem Arzt ergibt, wird natürlich eine nichtzahlende Patientin. Das bildete auch seine Macht über Sérafine, sie folgte diesem hübschen jungen Manne, der kalt blieb und nicht verstehen wollte. Eines Nachts von der Zofe als Erstbester herbeigerufen, als sie infolge ihrer Fehlgeburt in eine heftige Nervenkrise verfallen war, sah er bei der ersten Untersuchung sofort, durch welche Manipulationen die Fehlgeburt herbeigeführt worden war. Aber er sagte nichts und versetzte sie in Schrecken, indem er tat, als vermute er eine Affektion, die ihr Leben zu einem qualvollen machen könnte, wenn sie chronisch würde. Er schüttelte den Kopf, sprach zurückhaltend, mit halben Worten, die auf alle möglichen schrecklichen Leiden deuteten, und sie gab sich infolgedessen ganz in seine Hände. Er glaubte sich übrigens von vollkommener beruflicher Ehrenhaftigkeit, nicht besser noch schlechter als die überwiegende Mehrzahl der andern Ärzte des Viertels; und es ist sicher, daß er persönlich niemals das Vertrauen eines Patienten mißbraucht hätte, abgesehen von den medizinischen Verhätschelungen, die er sich mit den Damen erlaubte; aber das hinderte ihn nicht, gelegentlich der Zutreiber gewisser berühmter Chirurgen zu sein, indem er ihnen Patientinnen zuführte und in voller Seelenruhe seine Provision einsteckte. Was nachher geschah, kümmerte ihn nicht. Er hatte nur als gefälliger Vermittler gedient, und es war dann Sache des Fürsten der Wissenschaft, des großen Operateurs, zu prüfen und zu handeln.
Von da ab spielte sich durch fast ein Jahr zwischen Mainfroy und Sérafine eine stille Komödie ab, in welcher sie sich gegenseitig mit gutem Rechte für die Gefoppten halten konnten. Sie hätten selbst nicht sagen können, wer von ihnen zuerst von einer möglichen Operation gesprochen hatte. Er kam fast regelmäßig jede Woche, sie rief ihn, wenn er auf sich warten ließ, zwang ihn, die Behandlung fortzusetzen, übertrieb ihre Leiden, sprach von wahnsinnigen Schmerzen. Und da sie so sehr ungeduldig war, so waren sie dahin gelangt, häufig miteinander über jene Operation zu sprechen, die sie zweifellos von allen Unannehmlichkeiten befreien würde. Lange Zeit war er bei seinem Kopfschütteln geblieben, hatte sich zu keiner Vorhersage herbeigelassen, hatte es vorgezogen, diese gut zahlende Patientin für sich zu behalten. Aber er mußte fürchten, daß sie ihm entschlüpfe, daß sie seine Vermittlung umgehe und allein jene Erlösung aufsuche, nach der sie so heiße Sehnsucht empfand. Er verstand sie vollkommen, er war nahezu gewiß, daß ihre Schmerzen erträglich waren, daß sie sich bei der einfachen chronischen Entzündung hätte beruhigen können, von der sie übrigens längst geheilt worden wäre, wenn sie ihre Nächte weniger zügellos durchgelebt hätte. Von diesem Augenblicke an stellte er selbst sich so, als verzweifle er an der Heilung, indem er sagte, es werde zweifellos noch monatelang dauern. Außerdem könne man bei derlei Krankheiten nie bestimmt wissen: vielleicht sei eine Komplikation vorhanden, die seiner Diagnose nicht erkennbar sei. Eines Tages sprach er das Wort Zyste aus, ohne aber etwas festzustellen; und sogleich tauchte der Name Gaudes auf, die Operation war im Prinzip beschlossen. Aber es gingen noch Tage hin, denn sie gab ihrer Angst Ausdruck, einer sehr wahrhaften, tödlichen Angst, mit welcher sich auch alle Arten von Befürchtungen über die möglichen Folgen vermischten. Bei jedem seiner Besuche fragte sie ihn nun eindringlich, leidenschaftlich aus, suchte Mut zu fassen, wollte hauptsächlich wissen, was aus ihren Frauenbegierden werden würde. Freundinnen hatten ihr Furcht eingejagt, hatten ihr gesagt, daß sie dann kein Weib mehr sein würde, erkältet, unfähig zum Genusse. Dies war die Befürchtung, die ihr letztes Zögern veranlaßte: die Funktion vernichten, indem man das Organ vernichtete, das Kind vernichten – das ja, sie verfolgte keinen andern Zweck, sie würde sich nur, um davon befreit zu werden, unter das Messer begeben; aber die Begierde vernichten, den Genuß töten, welchen sie das fieberhafte Verlangen hatte sich einzig, frei zu bewahren, souverän, aller Pflicht ledig, das wäre eine ungeheuerliche Narretei gewesen, an der sie vor Zorn und Scham gestorben wäre. Der Arzt lächelte jedoch gelassen, zuckte die Achseln, behandelte diese Auskünfte als müßige Redereien, versicherte ihr, daß neun- unter zehnmal die operierten Frauen sich verjüngen, bis zu fünfzig Jahren frisch bleiben, sich sogar im Gegenteil als noch leidenschaftlicher erweisen, so daß dies sogar als einer der Nachteile der Operation zu betrachten sei.
An dem Tage, da Mainfroy ihr diese Versicherung gab, hieß Sérafine ihn schweigen, wie von einer schamhaften Verwirrung ergriffen. Aber ihr glühendes Gesicht strahlte.
»O Doktor, Sie werden mich am Ende dann noch behandeln müssen, um mich zu beruhigen ... Ich scherze und lache, aber ich versichere Ihnen, daß ich seit gestern furchtbare Schmerzen ausstehe. Und der Gedanke ist so schrecklich, daß man vielleicht eine tödliche Krankheit mit sich herumträgt... Was wollen Sie? Ich habe große Angst, aber ich gebe nach, Sie werden mich zu Gaude führen, und ich werde mich seinen Händen überlassen, da Sie sagen, daß er Wunder vollbringt.«
»Gewiß,« sagte Mainfroy. »Alle Zeitungen beschäftigen sich mit seiner letzten Operation. Er hat seit einigen Monaten überwältigende Erfolge aufzuweisen. Sie wissen, daß er diese Arbeiterin Euphrasie, von der ich Ihnen erzählt habe, wiederhergestellt hat. Sie ist jetzt in ihre Häuslichkeit zurückgekehrt, in besserem Wohlbefinden als je, und Ihr Fall scheint mit dem dieser Frau einige Ähnlichkeit zu haben, denn soviel ich gehört habe, hat sie an einer sehr bösartigen Zyste gelitten.«
»Richtig!« rief Sérafine aus, »ich hatte mir ja vorgenommen, sie zu besuchen und auszufragen. Warten Sie noch, ehe Sie mit Gaude eine Zusammenkunft verabreden, ja?«
Seit Euphrasie Moineaud mit Auguste Bénard, dem jungen Maurer mit dem lustigen Gesichte verheiratet war, der sich in ihr herbes, mageres Persönchen verliebt hatte, wohnte sie Rue Caroline, in Grenelle, in einem großen Gelasse, das als Küche, Eßzimmer und Schlafzimmer diente. Es befand sich daselbst auch noch ein enges, lichtloses Kabinett, welches später, als nach kaum vierjähriger Ehe drei Kinder gekommen waren, als Schlafraum für die beiden ältesten Mädchen, Zwillinge, benutzt wurde. Die Wiege des Jüngsten, eines Knaben, blieb am Fußende des Bettes der Eltern. Und Euphrasie, die die Fabrik hatte verlassen müssen, da ihr Haus und ihre Kinder sie zu sehr in Anspruch nahmen, vollbrachte hier Wunder an Reinlichkeit, regierte als absolute, furchtbare Herrscherin, der alles gehorchte – als sie infolge ihrer letzten Niederkunft von schrecklichen Schmerzen befallen wurde, die sie fast lähmten. Offenbar hatte sie sich zu früh wieder an die Arbeit begeben. Lange kämpfte sie, brachte ihren Mann zur Verzweiflung, der vor dieser blonden Heuschrecke zitterte, ein so großer starker Mensch er auch war, so sehr unterdrückte sie ihn, schüchterte sie ihn ein mit den Ausbrüchen ihres abscheulichen Temperaments. Endlich entschloß sie sich, ins Spital zu gehen; und nun war sie aus der Klinik des Doktors Gaude operiert und geheilt heimgekehrt. Seit zwei Wochen sprachen die Zeitungen von diesem letzten Triumphe des berühmten Chirurgen, erzählten die rührende Geschichte dieser jungen anständigen Arbeiterfrau, die von einem schrecklichen Leiden war befallen worden, nun vom sicheren Tode gerettet und ihrem Manne und ihren Kindern wiedergegeben war, gesunder und kräftiger als je. Das war das Meisterstück, das überzeugende Beispiel, das allen Damen gegeben wurde, die sich der Operation unterziehen wollten.
An dem Tage, da, gegen elf Uhr vormittags, Sérafine zu den Bénard kam, um Erkundigungen einzuziehen, fand sie gerade die ganze Familie vereinigt. Bénard, dessen Baustelle sich in der Nähe befand, saß an einer Ecke des Tisches und aß seine Suppe, während Euphrasie den Fußboden kehrte und mit den drei Kleinen zeterte, die immer Unreinlichkeilen verursachten. Und auch Mutter Moineaud war da, gekommen, um auf einen Augenblick nach ihrer Tochter zu sehen, und saß auf dem Stuhlrande mit ihren leidenden und verwischten Zügen, sehr gealtert in diesen letzten Jahren.
»Ja,« erklärte Sérafine, »ich habe von Ihrer Heilung gehört und wollte Ihnen vorerst dazu gratulieren, da ich mich Ihrer noch aus der Fabrik her erinnere, als Sie noch ganz jung waren; und dann, da ich eine Freundin habe, die sich in demselben Falle befindet, wollte ich Sie auch ein wenig ausfragen.«
Die armen Leute waren von diesem unerwarteten Besuche erdrückt. Sie kannten die Baronin, die Arbeiter der Fabrik hatten sich von ihrem fabelhaften Reichtum und ihrem seltsamen Leben Geschichten erzählt. Nachdem sie sich jedoch herbeigelassen, auf einem Stuhle Platz zu nehmen, setzte sich der Maurer wieder zu Tische, um seine Suppe aufzuessen; während die Moineaude sich auch ihrerseits niedersetzte und wieder in ihr stumpfes Schweigen verfiel.
»Mein Gott, Madame,« erzählte Euphrasie, noch immer stehend, auf ihren Besen gestützt, »so viel steht fest, daß die Sache nicht übel abgelaufen ist. Ich wollte ja erst nicht ins Spital gehen, weil der Doktor Boutan, der uns oft umsonst behandelt hat, mir gesagt hat, nachdem er mich untersucht hatte, daß ich auch zu Hause gesund werden könnte, mit viel Geduld und Vorsicht. Nur, abgesehen davon, daß ich immer auf mich hätte achtgeben müssen, empfahl er mir besonders, nichts zu arbeiten; und wie hätte ich das machen sollen, da ich einen Mann und Kinder habe? So daß ich mich eines schönen Tages, als ich stärkere Schmerzen hatte als je, entschlossen habe.«
»Und die Operation hat sogleich stattgefunden?« fragte Sérafine.
»O nein, Madame, damals war sogar nicht einmal die Rede davon. Das erstemal, als man mir davon gesprochen hat, war ich ganz entrüstet und wollte sogleich fort, denn ich habe gedacht, daß sie mich verstümmeln werden, und daß mein Mann sich vor mir ekeln würde. Aber die Herren haben darüber gelacht und haben schließlich gesagt, wenn ich lieber sterben wollte, so wäre das meine Sache. Acht Tage noch haben sie mich so gelassen und haben mir wiederholt, daß ich in einem Monat sicher tot sein werde. Sie begreifen, daß es nicht angenehm ist, einen solchen Gedanken mit sich herumzutragen, und daß man sich schließlich lieber Arme und Beine abschneiden ließe; um so mehr als, wie ich von ihnen verlangt habe, sie sollen mir sagen, was sie mir tun wollen, sie mir nichts geantwortet haben; oder eigentlich, sie haben davon gesprochen wie von einer ganz unbedeutenden Sache, die alle Tage ausgeführt wird, und wobei man nicht einmal einen Schmerz fühlt. Und dann haben Sie keine Ahnung, wie viele Frauen sich dazu verstehen – drei oder vier jeden Morgen hat man sie in den Saal hineingebracht und dann wieder herausgebracht und gesagt, daß sie geheilt sind... Und so habe auch ich mich dazu verstanden, ja, aus freien Stücken, und heute bin ich sehr froh, daß es geschehen ist.«
»Trotz alledem,« fiel Bénard mit vollem Munde ein, »hätten sie mir an dem Sonntag, wo ich eine Stunde bei dir war, sagen sollen, daß sie dir alles wegnehmen wollen. Das ist eine Sache, will mir scheinen, die den Mann auch angeht, und so was sollte nicht geschehen, ohne daß man seine Einwilligung verlangt hat. Du selber hast nichts gewußt, und du bist ganz verblüfft gewefen, wie du gehört hast, daß du nichts mehr hast.«
Euphrasie hieß ihn mit einer ärgerlichen Gebärde schweigen.
»Ja, ich hab's gewußt. Das heißt, sie haben es mir nicht so deutlich gesagt. Aber ich habe wohl gesehen, was mit den andern geschehen ist, und habe mir schon gedacht, daß ich nicht ganz zu dir zurückkommen werde. Was willst du? Ein bißchen mehr, ein bißchen weniger, was hat das zu sagen, da man es nicht sieht? Mir ist das lieber als ein Schnitt in die Wange.«
Aber er fuhr fort zu brummen, über seinen Teller gebeugt.
»Ich bin nicht dieser Ansicht. Sie hätten es mir sagen sollen. Sie hätten vor allem dir erklären sollen, daß du, da sie dir alles wegnehmen werden, keine Kinder mehr haben wirst.«
Und er begann wieder zu essen, unter dem Sturm, den er entfesselt hatte.
»Schweig, oder du machst mich wieder krank! Haben wir nicht genug mit drei Kindern? Glaubst du, ich hätte eine ganze Schar kriegen wollen, wie diese arme dumme Mutter da sich dazu hergegeben hat? Wie, Madame, sind drei Kinder für arme Leute wie wir nicht genug?«
»Du lieber Gott,« rief Sérafine heiter, »das sind schon drei zu viel!... Und ist denn die Operation schmerzhaft?«
»Man weiß nichts davon, Madame, da man schläft. Wenn man aufwacht, ist es nicht angenehm, aber es ist erträglich.«
»Sie sind also nun geheilt?«
»Ja, geheilt, so hat man mir gesagt. Früher habe ich in den Weichen und den Schenkeln Schmerzen gehabt, daß ich habe schreien müssen. Jetzt habe ich nur von Zeit zu Zeit kleine Anfälle, und sie haben mir versprochen, daß ich nichts mehr spüren werde, wenn erst einmal alles verheilt ist.«
Was ihr unangenehm war, das war, daß sie ihre Kräfte nicht wiedererlangen konnte. Sie verbrachte den Tag damit, ihre Wohnung in Ordnung zu bringen, hatte immer den Besen in der Hand, war von einer Reinlichkeitsmanie beherrscht, die eine Qual für ihren Mann wurde, der sich nicht rühren, nicht ausspucken durfte, seine kalkbespritzten Schuhe ausziehen mußte, im Augenblick, da er die Schwelle betrat. Dann wusch sie die Kinder, puffte sie wegen der kleinsten Flecke auf ihren Kleidern; und sogleich ermüdet, seitdem sie das Spital verlassen hatte, sank sie auf einen Stuhl, empörte sich, war verzweifelt, daß sie zu nichts mehr tauge.
»Sie sehen, Madame, nach zehn Minuten habe ich genug,« fuhr sie fort, ihren Besen fahren lassend und sich niedersetzend. »Nun, ich muß eben Geduld haben, da sie mir versprochen haben, daß ich stärker als früher sein werde.«
Diese Einzelheiten interessierten Sérafine sehr wenig, die nur von einem Gedanken beherrscht war, ohne daß sie bisher eine anständige Form gefunden hätte, in der sich die heikle Frage stellen ließ. Endlich entschloß sie sich unverblümt zu sprechen, indem sie Bénard mit ihrer ruhigen Unverschämtheit ansah.
»Nun, ein Mann ergibt sich noch darein, keine Kinder zu haben; aber es geht schief, wenn er kein Vergnügen mehr zu Hause findet und seine Frau ihm nichts mehr bieten kann; das ist das größte Unglück, das eine Ehe treffen kann.«
Der Maurer begriff und brach in lautes Lachen aus.
»O Madame, was das betrifft, so habe ich mich nicht zu beklagen. Wenn ich ihr nachgäbe, seitdem sie mir sie wieder nach Hause geschickt haben, so würde es mit dem Vergnügen gar kein Ende finden.«
Schamrot und wütend hieß Euphrasie ihn neuerdings schweigen, als anständige Frau, die schlüpfrige Reden nicht leiden mochte. Und Sérafine, die ebenfalls lachte, hocherfreut von der Auskunft, wollte, da sie endlich wußte, was sie zu wissen wünschte, sich eben erheben, um Abschied zu nehmen, als die Moineaude, die bis nun stumm und schläfrig dagesessen hatte, wie von dem Gespräch weit zurückgelassen, langsam und unaufhörlich zu sprechen begann. »Es ist wahr, daß deine arme dumme Mutter sich dazu hergegeben hat, eine Schar Kinder zu kriegen. Und sie bedauert es auch nicht, da es ihrem Manne Vergnügen gemacht hat. Aber trotzdem haben sie beide, er und sie, nicht viel Gutes davon. Er plagt sich immer noch in der Fabrik, wo er jetzt allein arbeitet, seitdem Victor Soldat geworden ist, um vielleicht in irgendeinem Winkel zu sterben wie unser Eugène. Von unsern drei Jungen ist jetzt nur noch einer zu Hause, der jüngste, dieser Nichtsnutz von einem Alfred, der die Schule schwänzt, so oft er kann, von früh bis abend auf der Straße herumlungert und mit sieben Jahren schon mehr verdorben ist, als man es früher mit fünfzehn war. Ebenso habe ich von unsern vier Mädchen nur noch Irma, die noch zu jung ist, um zu heiraten, und wegen der ich zittere, daß sie eines Tages schlecht wird, so ungern arbeitet sie. Du bist beinahe gestorben. Jetzt ist Cécile auch ins Spital gekommen. Und was diese unglückliche Norine betrifft ...«
Sie schüttelte trostlos den Kopf. Dann fuhr sie in ihrer endlosen Klage fort, kam auf jedes einzelne ihrer Kinder zurück, verweilte bei den spärlichen Freuden, die sie von ihnen gehabt, beklagte auch den Vater, der seit bald fünfundzwanzig Jahren wie ein Pferd in der Tretmühle arbeite, ohne eine andre Freude von ihnen zu erleben, als sie gezeugt zu haben. Und die armen Kleinen selbst, die nun aus dem Neste ausgeflogen, seien auch nicht glücklicher als ihre Eltern, brächten nun ihrerseits Kinder hervor, die wiederum nicht glücklicher sein würden. Und da sie abermals auf Norine zu sprechen kam und dabei weich wurde, unterbrach sie Euphrasie heftig.
»Du weißt, Mutter,« rief sie, »daß ich dir verboten habe, ihren Namen vor mir auszusprechen. Sie ist unsre Schande, ich würde sie ohrfeigen, wenn ich ihr begegnen würde. Man hat mir erzählt, daß sie wieder ein Kind gehabt hat, und Gott weiß, was sie damit getan hat. Wenn einmal der Tunichtgut von Irma schlecht wird, so wird sie sich nur an Norine ein Beispiel genommen haben.«
Ihr ganzer alter Haß gegen ihre ältere Schwester, das schöne und üppige, genußsüchtige Mädchen, erwachte in dieser mageren und dürren Hausfrau, die alle Leute ihrer Umgebung unter die Tyrannei ihrer Anständigkeit beugte. Und weder die Mutter noch der Mann wagten ein Wort hinzuzufügen, aus Furcht, einen Anfall bei ihr herbeizuführen, wenn sie sie ärgerten.
»Sagten Sie nicht, daß auch Ihre Tochter Cécile ins Spital gegangen ist?« fragte Sérafine, neuerdings interessiert.
»Ach ja, Madame! Sie hat das Glück gehabt, daß Monsieur Froment sie auf seine Landwirtschaft genommen hat, um im Hause zu helfen. Aber sie ist krank geworden, sie hat über einen Klumpen geklagt, der sie erstickt, und über einen Nagel, dessen Spitze ihr durch den Schädel geht. Plötzlich haben sich die Schmerzen auf die Weichen und die Schenkel geschlagen, so daß sie nicht ein Glied hat rühren können, ohne zu schreien. Nun heißt es, sie soll ebenso operiert werden wie Euphrasie.«
»Ein Mädchen von siebzehn Jahren, das ist bös!« sagte Bénard, der seine Suppe gegessen und sich erhoben hatte.
»Sie ist wohl nicht mehr Prinzessin als ich!« rief die Schwester scharf. »Und warum sollte sie's nicht auch mitmachen, wenn es nötig ist? Wenn sie es nicht etwa vorzieht, zu sterben.«
»Nein, zwei von den meinigen, das ist zu viel!« murmelte die Moineaude, die in ihre betrübte Resignation zurückverfallen war.
Sérafine nahm dankend Abschied und gab jedem der Kinder ein Frankenstück, um sich Naschwerk zu kaufen, wofür sie von der ganzen Familie gesegnet wurde. Am nächsten Tage gab sie Mainfroy Auftrag, sich über Cécile zu erkundigen, entschlossen, keine Entscheidung zu treffen, ehe sie von dem Erfolge dieser Operation unterrichtet sei. Als er ihr bestätigt hatte, daß sich Cécile tatsächlich in der Klinik Gaudes befinde, wartete sie, bis sie operiert war, und erbat dann von ihrem lieben Doktor, daß er sie in den Krankensaal führe, wo das junge Mädchen ihrer Wiedergenesung entgegensah. Dort erschien sie denn auch eines Tages, von lebhafter Neugierde erfüllt.
In dem Spital herrschte Gaude über seine drei Frauenkrankensäle als allmächtiger und glorreicher Gebieter. Er war ein Kliniker ersten Ranges, ein ausgezeichneter Kopf, rücksichtslos und frohgemut, der über eine Hand von unvergleichlicher Festigkeit und Geschicklichkeit gebot. Er war von Stolz für seine Kunst erfüllt, war zwar vollkommen skrupellos, aber niedriger Berechnung und gemeiner Handlungsweise unfähig; und wenn er Geld machte, wenn er seine Zutreiber hatte, ein ganzes System hoher Provisionen, eine ganze Industrie der Ausbeutung reicher Patienten, so war er doch noch glücklicher über den lärmenden Ruhm, den ihm seine Kunst eintrug, als über das Geld. Er praktizierte im vollen Lichte der Öffentlichkeit, er hätte ganz Paris an seinen Operationstisch einladen mögen. Porträts, Stahlstiche und Zeichnungen hatten ihn populär gemacht, stellten ihn bei der Arbeit vor, die große weiße Schürze über der Brust, die Ärmel zurückgestreift, schön wie ein Gott, der schneidet und über das Leben gebietet. Er war einzig darin, einen Leib zu öffnen, hineinzusehen, und ihn wieder zuzunähen, alles mit seiner ruhigen Großartigkeit. Manchmal öffnete er noch einmal, um sich besser zu überzeugen. Dank der Antisepsis war eine Operation nur noch eine Spielerei, er entschloß sich dazu um ein Nichts, lediglich um des Vergnügens willen, etwas festzustellen. So viel Frauen zu ihm kamen, so viele wurden operiert. Wenn er sich in der Diagnose geirrt hatte, wenn er das Organ gesund fand, nahm er doch etwas weg, um nicht umsonst aufgeschnitten zu haben. Und von einem Ende Paris' zum andern verbreitete sich der Ruf seiner Operationserfolge, feierte man diese wunderbare Meisterschaft, die er sich durch die Übung an Tausenden armer Frauen erworben hatte, welche seine Spitalsklinik passiert hatten – diese Meisterschaft, die aus ihm ein Idol machte, das man mit Gold überhäufte, den souveränen Kastrierer aller hirnverdrehten Millionärinnen.
Als Sérafine, von Mainfroy geführt, den großen weißen Saal betrat mit seinen weißen Betten, in denen die Frauen mit weißen Gesichtern lagen, fand sie zu ihrer Überraschung Mathieu am Lager Céciles, die vor einigen Tagen operiert worden war. Er hatte von der Operation gehört und war sie besuchen gekommen, von schmerzlicher Sympathie für ein so trauriges Geschick erfüllt. Und nun stand er schweigend an der Seite des Bettes, in welchem Cécile lag und heftig schluchzte. Mit ihren siebzehn Jahren war sie noch immer mager und schwächlich, nur in die Länge gewachsen, mit Armen, Schultern und der Brust eines kleinen Mädchens. Auf dem Polster lag inmitten ihrer farblosen Haare ihr mageres Gesicht mit den von Leiden und Kummer ausgehöhlten Wangen. Und mit geröteten Augen, mit bebenden Lippen schluchzte sie und schluchzte, von untröstlicher Verzweiflung überwältigt. »Was hat sie denn?« fragte Sérafine. »Ist die Operation nicht gut verlaufen? Hat sie Schmerzen?«
»O ja, die Operation ist gut verlaufen,« erwiderte Mathieu. »Ein Meisterstück, heißt es, von so glänzender Ausführung, daß die Anwesenden gerne Beifall geklatscht hätten. Und sie sagte mir gerade vorhin, daß sie keinen Schmerz mehr gespürt hat.«
»Warum weint sie also dermaßen?«
Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er mit innigem Mitleid:
»Man hat ihr eben gesagt, daß sie, wenn sie heiratet, nie ein Kind haben wird.«
Verblüfft sah Sérafine dieses schwächliche Mädchen mit dem mageren Körper an.
»Wie, deswegen? Das tut ihr leid?«
Mathieu hatte sich gegen sie gewendet und sah ihr sehr ernst in die Augen, die ein ironisches Lächeln unterdrückte.
»Ja, es scheint so. Es scheint, daß es so arme Mädchen gibt, die krank sind und keinen Sou besitzen, welchen der Gedanke, daß sie nie ein Kind haben werden, Schmerz bereitet.«
Sérafine hatte sich dem Bett genähert. Sie wollte diesen Kummer besänftigen, sie ihren Tränen entreißen, um sie ein wenig auszufragen. Das junge Mädchen antwortete endlich, indem sie ihr abgehärmtes Gesicht aus ihren matten Haaren hob und sich bemühte, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Sie haben keine Schmerzen mehr, liebes Kind?«
»Nein, Madame, gar keine.«
»Aber Sie haben viel gelitten, während man Sie operierte?«
»Nein, Madame, ich kann es nicht sagen, ich weiß es nicht.«
Und sie fing wieder an zu schluchzen, noch heftiger, trostlos. Der Gedanke an die Operation erinnerte sie wieder daran, daß man ihr alles weggenommen hatte, daß sie niemals ein Kind haben würde, niemals, niemals! Sie wußte alles von Liebe und Mutterschaft, ein Kind der Gasse, die Jungfrau geblieben war, inmitten des Schmutzes, der sie umgab. Und aus dieser so in ihrer Blüte verstümmelten Jungfrau rief der Jammer der Mutter, erhob sich ein instinktiver Schrei wahnsinniger Verzweiflung, die sie nicht einmal in sich gefühlt hatte, und die nun so unaufhörlich ausströmte, ohne daß ihre Tränenflut sie sänftigen konnte.
In diesem Augenblick ging eine freudige Bewegung durch den Saal. Gaude erschien, außerhalb seiner regelmäßigen Visiten, wie er dies manchmal tat, um seinem gehorsamen kleinen Volke von Kastrierten einen Beweis seiner väterlichen Fürsorge zu geben. Er war nur von einem der Spitalsärzte begleitet, einem kräftigen jungen Mann namens Sarraille, mit verschmitzten Augen in seinem ordinären Gesichte. Gaude selbst, ein großer, schöner, rotblonder Mann, sorgfältig rasiert, mit kräftigen Zügen, aus denen Lebensfreude und Rücksichtslosigkeit sprachen, strahlte geradezu von Klugheit und Kraftbewußtsein, durchschritt den Saal als souveräner Herrscher und sprach mit seinen Patienten in dem familiären Tone eines leutseligen Fürsten, der sich zu seinen Untertanen herabläßt. Und als er sah, daß eine seiner Frauen, die, welche er sein »kleines Schätzchen« nannte, so weinte, kam er herbei und fragte nach der Ursache ihres Kummers. Als er sie erfahren hatte, lächelte er mit liebenswürdiger Nachsicht.
»Sie werden sich schon trösten, mein kleines Schätzchen. Das ist eine Sache, über die man sich sehr leicht tröstet. Sie werden das später einsehen.«
Er hatte sich nicht verheiratet, lebte als verhärteter Hagestolz, als unfruchtbarer Mann, dessen höchste Philosophie die Menschenverachtung war. Je weniger ihrer zur Welt kamen, desto besser. Diese Rasse von Dummköpfen und Schuften würde sich immer noch genug vermehren. Es hätte keines zu starken Anstoßes bedurft, um ihn dazu zu bringen, bei jeder Frau, die er kastrierte, laut über die böse Saat zu triumphieren, die er wieder im Keime erstickt hatte. Und man erzählte sich von seinen Erfolgen als kluger Liebhaber unter seinen Patientinnen, welche, frei von jeder Gefahr, mit ihm, in großer Zahl wie man sagte, der Freuden genossen, besonders solange die Reizung des operativen Eingriffes und das Glücksgefühl über die Befreiung noch neu waren.
Mainfroy stellte ihm nun, nachdem er ihn einen Augenblick beiseite genommen, die Baronin de Lowicz vor. Es gab Lächeln auf beiden Seiten, einen Austausch weltmännischer Liebenswürdigkeiten, ein sofortiges Einverständnis nach den ersten Blicken; und es wurde für die nächste Woche eine Zusammenkunft bei dem berühmten Chirurgen verabredet. Als er sich verabschiedete, um seinen Rundgang fortzusetzen, reichte er seinem bescheidenen und korrekten Kollegen Mainfroy die Hand und drückte die seine kräftig; das Geschäft war abgeschlossen. Cécile weinte noch immer, das Gesicht in ihre Haare vergraben. Sie antwortete nichts, hörte nichts mehr. Man mußte sie in Ruhe lassen.
»Sie sind also entschlossen, wie ich sehe,« sagte Mathieu zu Sérafine, als er mit ihr den Saal verließ. »Es ist eine ernste Sache.«
»Was wollen Sie? Ich leide zuviel,« antwortete sie ruhig. »Und dann läßt mir dieser Gedanke keine Ruhe mehr, ich muß ein Ende machen.«
Vierzehn Tage später wurde Sérafine in einem Sanatorium operiert, welches in der Rue de Lille von Nonnen gehalten wurde. Es war eine Art von Kloster, von Gärten umgeben, wo Gaude, inmitten eines jungfräulichen Friedens, die kastrierte, die er seine »großen Damen« nannte. Er ließ sich nur von Sarraille assistieren, dessen zwischen den Schultern sitzender Kopf mit dem Stiergesicht, mit dem schwachen Barte und den starren, an den Schläfen klebenden Haaren den Damen durchaus nicht gefiel; aber er wußte, daß er an ihm einen treuen Hund besaß, einen energischen Menschen, der sich gegen den Widerwillen empörte, den er einflößte, und der in seiner brennenden Erfolgsucht zu allem bereit war, was man von ihm verlangte. Natürlich gelang die Operation ausgezeichnet, ein wahres Wunder an Leichtigkeit und Geschicklichkeit, das Organ wurde herausgenommen, war fortgeschafft, verschwunden wie unter den flinken Händen eines Zauberkünstlers. Und da sie nicht krank, sondern gesund und im Vollbesitze ihrer Kräfte war, ertrug Sérafine die Operation in wunderbarer Weise, hatte eine sehr rasche Rekonvaleszenz und erschien wieder in der Welt, triumphierend, von Gesundheit strahlend, wie nach der Rückkehr aus einem Alpenbade oder von den Ufern des blauen Meeres. Mathieu, der sie bald darauf sah, war betroffen von ihrer übermütigen Freude; eine solche Glut zügelloser Begierde flammte in ihr, daß ihr goldumrahmtes Gesicht davon brannte; ein solch schamloser Triumph erfüllte sie, endlich unfruchtbar zu sein, sich endlich ohne Furcht hingeben, ersättigen zu können, daß ihre fortwährend suchenden Augen von ihren Nächten erzählten, ihrem der Gasse geöffneten Schlafzimmer, dem Übermaß ihrer vernichtenden Wollust.
Als Mathieu eines Mittags bei Boutan zu Gaste war, sprachen sie davon. Der Doktor wußte alles und war von diesen Praktiken unterrichtet. Er sprach davon in betrübtem Tone, der allmählich in Zorn überging.
»Gaude ist wenigstens noch ein Chirurg ersten Ranges, und ich will annehmen, daß er nur der Leidenschaft für seine Kunst nachgibt. Aber wenn Sie wüßten, welcher Kniffe sich die andern bedienen, die, welche durch sein Beispiel gedeckt werden, und welch entsetzliches Unheil sie im Begriffe sind, dem Vaterlande, der Menschheit zuzufügen! Eine Frau so zu kastrieren, wenn nicht eine gebieterische Notwendigkeit vorliegt, ist einfach ein Verbrechen. Es müßte Todesgefahr vorhanden sein, man müßte die Gewißheit haben, daß jedes andre ärztliche Mittel nutzlos ist. Von zwanzig Frauen, die man heute operiert, könnten wenigstens fünfzehn durch sorgfältige Behandlung geheilt werden. Sehen Sie zum Beispiel diese zwei Fälle, die beiden Töchter Moineauds: ich habe Euphrasie behandelt, sie litt zweifellos nur an einer chronischen Entzündung, die freilich sehr schmerzhaft war, die aber durch eine strenge Kur zu heilen gewesen wäre. Und was Cécile betrifft, die ich auch in Behandlung hatte, so ist sie schweren Nervenanfällen unterworfen und hat starke neuralgische Schmerzen gehabt. Blutarme und Nervöse zu operieren, das ist unsinnig, das gehört ins Gefängnis und in den Bagno. Man ist schon dahin gekommen, wie mir erzählt wurde, die Kastration an Tobsüchtigen zu versuchen, um sie zu beruhigen... Was wollen Sie? Dies ist der Wahnwitz des Tages, ein Wahnwitz, der sich, wie mir bedünkt, mit der Gier nach fetten Honoraren gesellt. Von hoch bis niedrig, von groß bis klein schlägt man Geld aus dieser abscheulichen Industrie, die Unfruchtbare fabriziert. Hier eine verheiratete Frau, der man den Leib aufschneidet, ihr, während sie noch in voller Zeugungskraft sich befindet, das Organ des Lebens nimmt. Hier eine Jungfrau, die man verstümmelt, bei der man die Mutterschaft in der Knospe vernichtet, ehe sie noch geblüht hat. Man schneidet, man schneidet, man schneidet immerfort und überall. Um der kleinsten Wehleidigkeit, um des geringsten vermuteten Fehlers willen schneidet man und wirft gelassen das gesunde Organ in den Kübel, wenn man sich getäuscht hat. Oft wird der Frau gar nicht gesagt, was mit ihr geschehen soll, noch dem Manne oder der Familie, und sie erfährt es erst, wenn sie den Krankheitsbericht liest. Basta! Das hat ja keine Bedeutung, eine Frau weniger, eine Gattin, eine Mutter weniger! ... Und wissen Sie, wie weit wir gelangt sind? In den Spitälern kastriert man zwei- bis dreitausend jährlich. Beinahe doppelt so viel entfallen auf die Privatsanatorien, wo es weder unbequeme Zeugen noch irgendeine Kontrolle gibt. Allein in Paris muß die Zahl der seit fünfzehn Jahren Operierten dreißig- bis vierzigtausend betragen. Und man schätzt auf fünfmalhunderttausend, auf eine halbe Million, die Anzahl der Frauen, denen man die Blüte der Mütterlichkeit entrissen, zerstört hat wie schädliches Unkraut. Eine halbe Million, großer Gott, eine halbe Million unnützer, zu Monstren verstümmelter Frauen!«
Er hatte diese Ziffern in zornigem Aufwallen hinausgerufen und fuhr nun mit schmerzlicher Verachtung fort:
»Das schlimmste ist, daß es bei dem Ganzen nichts andres gibt als Lüge, Betrug und Diebstahl. Ihre Statistiken, die sie zu ihrem Ruhme veröffentlichen, sind erlogen. Sie betrügen die Patienten von morgen, sie bestehlen sie, denn sie erfüllen fast nie die Hoffnungen, die sie erwecken. Diese ganze Mode der Kastration ist nur auf eine große Täuschung gegründet, denn es handelt sich nicht bloß darum, zu wissen, ob die Operation selbst gelungen ist, man müßte die Operierten weiter im Auge behalten, müßte untersuchen, was aus ihnen wird, welches vom individuellen und sozialen Standpunkte die definitiven Resultate sind. Welch entsetzliche Täuschungen sind die Folge, in welche Hölle von Qualen, Unheil und Vernichtung geraten die armen Opfer! Man heilt ein Organ nicht, indem man seine Funktion vernichtet, man schafft Monstra, ich wiederhole es, und Monstra sind die Verneinung aller Gesundheit und alles Glückes. Und das Ergebnis ist nichts als ein ungeheurer Ausfall, zertretenes, vernichtetes Leben, gemordete Menschheit. In zehn Jahren hat das Messer der Kastrierer uns mehr Unheil zugefügt als die Kugeln der Preußen in dem Schreckensjahre.«
In Chantebled fuhren Mathieu und Marianne fort zu arbeiten, zu schaffen, zu zeugen. Und während der vier Jahre, die hingingen, waren sie abermals siegreich in dem ewigen Kampfe des Lebens gegen den Tod, durch das fortgesetzte Wachstum der Familie und der fruchtbaren Erde, das der Inhalt ihres Daseins war, ihre Freude und ihre Kraft. Die Begierde fuhr in Flammenstürmen hin, die göttliche Begierde machte sie fruchtbar, gab ihnen Kraft zu lieben, gut zu sein, gesund zu sein; und ihre Energie tat das übrige, ihre Tatfreudigkeit, die tapfere Beharrlichkeit in der nützlichen Arbeit, die die Welt aufbaut und in Ordnung hält. Aber während der ersten zwei Jahre ward ihnen der Sieg nicht ohne schweren Kampf. Es folgten einander zwei unheilvolle Winter mit Schnee und Eis; dann, als die Märzstürme wehten, kamen Hagelschläge, Orkane warfen die Halme nieder. Wie Lepailleur es ihnen mit dem Lächeln eines ohnmächtigen neidischen Menschen gedroht hatte, schien es, als ob die Erde zur Stiefmutter werden wollte, undankbar für ihre Arbeit, gefühllos für ihre Verluste. In diesen zwei Jahren kamen sie mit heiler Haut nur davon dank den andern zwanzig Hektar, die sie von Séguin im Westen des Plateaus erworben hatten, ein großer Zuwachs fruchtbarer Erde, die den Sümpfen abgewonnen wurde, und deren erste Ernte trotz der Hagelschläge eine unerhört reiche war. Indem er sich vergrößerte, wurde der Besitz auch kräftiger und imstande, widrige Zufälle zu ertragen. Sie hatten auch große Familiensorgen, die fünf schon vorhandenen Kinder verursachten ihnen viel Unruhe und viel Plage. Gleichwie um die Erde gab es auch hier fortwährend Kämpfe, Kummer, Angst, tägliche Errettungen. Gervais, der Jüngste, wäre beinahe an einem bösartigen Fieber gestorben. Die kleine Rose hatte ihnen ebenfalls einen furchtbaren Schrecken verursacht, da sie einmal von einem Baume fiel, ohne übrigens einen schwereren Schaden als eine Verrenkung davonzutragen. Aber die drei andern, Blaise, Denis und Ambroise, fuhren glücklicherweise fort, in kräftiger Fröhlichkeit zu gedeihen, und bewahrten die Gesundheit junger Eichen. Und als Marianne ihr sechstes Kind gebar, ein Mädchen, dem sie den Namen Claire gaben, begrüßte Mathieu das neue Geschenk ihrer Liebe, hochbeglückt über diese Vermehrung an Macht und Reichtum.
Dann folgten durch weitere zwei Jahre wieder die ewigen Kämpfe, die Leiden und Freuden, um schließlich zu denselben Siegen zu führen. Marianne gebar wieder, Mathieu eroberte neue Gebiete. Immer unter viel Arbeit, viel ausgegebenem, viel gewonnenem Leben. Diesmal mußte der Besitz nach den Heiden, den sandigen und steinigen Hängen hin ausgedehnt werden, wo seit Jahrhunderten nichts gewachsen war. Die Quellen des Plateaus, die gefaßt und über diese unbebauten Flächen geleitet wurden, befruchteten sie allmählich und bedeckten sie mit einer sich vermehrenden Vegetation. Anfangs gab es Enttäuschungen, bereits schien die Niederlage zu drohen, es bedurfte großer Geduld und Ausdauer zu dem schöpferischen Werke. Aber auch diese Felder lieferten schließlich reiche Ernten, während wohlangebrachte Holzungen in den gekauften Wäldern großen Gewinn abwarfen und die Möglichkeit ergaben, weite Lichtungen, die bisher nur von Gestrüpp bedeckt gewesen waren, später der Kultur zuzuführen. Die Kinder wuchsen in dem Maße, als der Besitz sich vergrößerte. Die drei ältesten, Blaise, Denis und Abroise, besuchten nun ein Lyceum in Paris wohin sie tapfer jeden Morgen mit dem ersten Zuge fuhren, um abends wieder zurückzukehren. Die drei andern, der kleine Gervais, die Mädchen Rose und Claire, wuchsen noch in Ungebundenheit in der freien Natur. Mit ihnen gab es nur die gewohnten kleinen Übel, Schmerzen, die einer Liebkosung wichen, Tränen, die ein Sonnenstrahl trocknete. Aber bei dem siebenten Kinde war die Entbindung Mariannens so schwer, daß Mathieu einen Augenblick von der Angst erfaßt wurde, sie zu verlieren. Sie war gefallen, als sie vom Hofe zurückkam; es waren heftige Schmerzen aufgetreten, sie mußte sich zu Bett legen und gebar am nächsten Tage, nach acht Monaten, ohne daß Boutan, der in Eile berufen worden war, für Mutter oder Kind gutstehen konnte. Es war eine furchtbare Zeit, aus welcher sie jedoch, dank ihrer kräftigen Gesundheit, heil hervorging, wahrend das Kind, der kleine Grégoire, die verlorene Zeit einholte, an ihrer Brust sich Lebenskraft holte, als an der natürlichen Quelle des Daseins. Als Mathieu sie wieder lächelnd vor sich sah, mit dem Kinde auf dem Arme, küßte er sie leidenschaftlich, triumphierte wieder einmal über alle Schmerzen und allen Kummer. Noch ein Kind, das bedeutete noch Reichtum und Macht, eine neue in die Welt geworfene Kraft, ein neues für die Zukunft besätes Feld. Und so wuchs immerfort das gute und große Werk, das Werk der Fruchtbarkeit durch die Erde und durch die Frau, siegreich über die Vernichtung, für jedes neue Kind neue Lebensmittel schaffend, liebend, wollend, kämpfend, arbeitend unter Leiden, unaufhörlich zu neuem Leben, neuer Hoffnung fortschreitend.