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27

Es war der Tag, da der Jaun und die Cille aus dem Isengrund gingen. Er war schon vorgerückt. Sie hatten frühzeitig gehen wollen, aber immer hatte die Cille noch etwas vergessen, und noch immer hielt sie etwas zurück. Bei der Clari-Marie waren sie noch gewesen. Behüt' dich Gott zu sagen. Es war kein langer Abschied. Zwischen dem Jaun und ihr war eine Scheidewand ohne Tor. Ein trockenes »Ade« war alles, was sie füreinander hatten. Auch als die beiden Schwestern die dürren, knochigen Hände zusammenlegten, war wenig Zärtlichkeit dabei; dergleichen tat sich da oben nicht; aber es klang doch sonderbar verhalten, dumpf und unsicher, als sie einander »Leb gesund« sagten. Der Cille zuckte der Mund in verbissenem Flennen, und das spärliche Wasser blitzte in ihren Augen auf. Nun saß die Clari-Marie am Fenster und sah den beiden nach, wie sie dorfaus schritten.

Der Weg war feucht von Nebeln, die am Morgen am Himmel gehangen hatten, ein graues Licht lag über der Landschaft, der Himmel war fahlblau, ohne Wolken und ohne Sonne, etwas Müdes lag in der Helle des Tages. Drüben war der Hansi, der Taglöhner, mit den zwei Kisten auf dem Rücken, die einen Teil der Habseligkeiten der Abziehenden enthielten, auf der Straße zum See hinab verschwunden. Jetzt tauchten der Jaun und die Cille selber auf, zwei schwarzgekleidete hohe, hagere Gestalten, jener, den steifen Filzhut auf dem schwarzen Haar, ohne Umschauen gemach, aber stetig fürbaß schreitend, diese ein paar Schritte hinter ihm, bald hierseits, bald dortseits der Straße gehend. Die Cille hatte einen schleppenden Gang, so als löste der Schuh sich schwer von der Scholle, auf die er trat. Es brauchte keiner zu hören, daß der Weg ihr nicht leicht wurde, in ihrem Schreiten allein lag es, daß sie Schritt um Schritt zäh und mühsam sich vom Heimatgrund losriß. Jetzt wendete sie sich noch einmal, sah einmal zur Linken an die Hänge, einmal zur Rechten und dann mit einem großen Blick über das ganze weite Tal, bis an den Wildifirn im Westen, der breit und in trübem Licht herniederschien. Dann senkte sie den Blick, bis er am Fenster hängen blieb, an dem die Clari-Marie saß, und da war es, als wolle sie die langen Arme zum Grüßen heben. Aber es schien nur so. Mit der umständlichen, mühsamen Art ihres Ganges drehte sie sich ab und folgte dem Jaun, dessen Kopf noch einmal sichtbar wurde, während er auf der Seestraße hinabstieg.

So sah die Clari-Marie von ihrem Fenster aus die hinweggehen, die noch zu ihr gehört hatten.

Es war still nachher. Aber der Clari-Marie war es, als sei die Stille nicht nur im Hause, sondern als läge sie über dem ganzen Dorfe. Und dem war so. Der Hausrat des Löwenwirts, des Huber, wurde fortgeschafft auf der Straße, die die Clari-Marie übersah. Er selber kam ihm nachgeschritten. Mit ihm ging der davon, der hatte Leben ins Bergland bringen wollen. Er konnte bei seinem Weggang den unvollendeten Straßenunterbau zu seiner Rechten liegen sehen, wo er im Anfang seiner Isengrunder Zeit die Taglöhner hatte arbeiten lassen und von welchem Werk er gesagt hatte: »Weit auftun will ich das Tal, daß sie hereinkommen, die Fremden!«

Als er fort war, zuckten die vom Isengrund auf: »Hätten wir ihn nicht gehen lassen!« Dann gingen sie wochenlang faustend am Zieglerhaus vorbei: »Die da drin ist schuld, daß es wieder tot ist da oben bei uns, daß wir wie aus der Welt sind!« Allgemach fügten sie sich, und der alte Friede kam in die alte Stille hinein. Der Clari-Marie gaben sie eine Nachfolgerin. Und jene saß an ihrem Fenster, immer dieselbe feste, hartsinnige Frau, etwas ungelenker geworden, aber aufrecht und stark, und sah die kleinen Geschicke des Tals sich erfallen, sah auch das sich ändern, daß das Dorf dem Kehle-Gisler, dem »Lätz« Ehre antat, den sie sein Leben lang gelästert und geplagt hatten, dem toten Kehle-Gisler freilich.

Auf das Rothorn war ein junger Stadtherr gestiegen. Den »Lätz« hatte er als Führer mitgenommen. Das Wetter war unsicher; plötzlich fiel es ab, im höchsten Gebirg trat Nebel ein, dann Schnee. Der Stadtherr kam von der Rothornhütte zurück und stieg im »Löwen« ab; ihm sei das Wetter zu wenig vertrauenerweckend gewesen, umgekehrt sei er an der Hütte! Dann erzählte er weiter: Zwei andre Touristen, die er in der Hütte angetroffen, hätten sich nach dem Berg aufgemacht! Als er und der Gisler in der Hütte sich zum Abstieg rüsteten, hatten sie vom Berg her Hilferufe vernommen. Der Gisler stieg hinauf, die Wagehälse zu retten. Er selber wollte im »Löwen« die Rückkehr der Männer erwarten.

Die Erwarteten kamen nicht. Der Herr, der im »Löwen« wartete, ließ den Jacki, den Führer, rufen. Was er meine, fragte er den. Der Jacki, der schwer grau gewordene, aber immer noch aufrechte Mann, sah an der Rothornlehne hinauf, soweit sie sichtbar war und nicht der zähe, dichte Nebel sie verdeckte. »Der Gisler ist ihnen nach?« fragte er, und als der andre bejahte, gab er mit dürren Worten zu: »Wenn sie den Gisler bei sich haben, ist keine Gefahr. In der Rothornhütte werden sie jetzt sitzen und klar Wetter abwarten.«

Dann reiste der Herr aus dem »Löwen« ab, nachkommen sollten die andern; er hätte nicht warten können. Sie kamen nach. Am Tag nachher schwankten sie mit schlotternden Knien und zerrissenen Kleidern bei Zunachten ins Dorf. Eine Schar Männer und Weiber sammelten sich um sie, denen die Todesangst noch aus den Augen sah und die anfänglich ganz verwirrte Reden führten. Endlich brachten sie ihre Geschichte heraus. Die Nebel und ein Schneesturm hätten sie auf der Höhe des Rothorns überfallen. Dennoch hätten sie den Abstieg versucht, sich aber verstiegen und an wegloser Wand um Hilfe gerufen. Gegenrufe hätten sie vernommen, bald auch die Stimme des Gisler, des Führers, erkannt; der aber habe sie nicht erreicht, wohl umgekehrt müsse er sein. Mit namenloser Mühe seien sie danach der Wand und dem Tode entronnen und –

»Nicht heimgekommen ist er, der Gisler,« fiel der Jacki, der dabei stand, ihnen in die Rede. Die andern stutzten und sahen den Berg an. »Er – er wird sich wohl finden,« stotterte der eine.

Da schoß dem alten Jacki das Blut zu Kopf. »Er ist ein alter Mann, der Gisler, Herren,« murrte er. »Retten hat er euch wollen, obgleich er hat wissen müssen, daß es auf Leben und Tod geht, und eher auf Tod als auf Leben. Hinauf müssen wir, ihn suchen.«

Sein Blick sagte das Weitere: Ihr werdet mitgehen, Herren, das gehört sich nicht anders!

Die Fremden sahen wieder den Berg an, schüttelten sich, langten in die Taschen: »Ja, ja, suchen sollten sie gehen, die vom Isengrund, auch einen kleinen Lohn wollten sie daran wagen: weil sie doch selber jetzt heim müßten, Eile hätten, heim zu kommen, halt!«

Sie kratzten ein paar Franken aus der Tasche bei den Worten; aber als sie die dem Jacki reichen wollten, spuckte er aus: »Pfui Teufel, mich zahlen lassen! Ich bin mit dem ›Lätz‹ nicht Freund gewesen, aber –« und er spuckte zum andern Mal. Aus der Art, wie er sich von ihnen abwendete, konnten die zwei merken, vor wem er ausspuckte. Sie zogen die Achseln hoch, setzten den Herrenstolz auf und traten ins Gasthaus.

Zehn Männer vom Isengrund stiegen mit dem Jacki zu Berg.

Die Clari-Marie saß an ihrem alten Platz, als sie drei Tage später mit einer Bahre, hinter der der Hansi und andre mit entblößten Köpfen schritten, der Kirche zu zogen. Die Glocken läuteten; für den läuteten sie jetzt, den sie keinmal im Leben hatten herrufen können. Es war ein ganz langer und ein ganz feierlicher Zug. Und die Clari-Marie, die um die Art wußte, wie der »Lätz«, den sie da vertrugen, gestorben war, richtete sich auf und sah dem Gräbtzug nach. Alleweil noch lernen müßt, Clari-Marie, alleweil noch lernen! Ein Unfrommer ist er gewesen, der Kehle-Gisler, und ob einer Tat ist er gestorben, wie kein Frommer sie größer tun kann! Immer noch lernen solltest, Clari-Marie! Ihr Gesicht war herb und fahl.

*

Die Zeit ging und ging. Die junge Hebamme hatte im Isengrund Arbeit, wie die alte gehabt hatte, und um so viel Junges sie aufbrachte, um so viel Altes legte der Columban, der Totengräber, ins Erdruhebett. Die Viktorine, die Pfarrmagd, legte er hinein. »Der Pfarrherr wird auch bald den letzten Durst haben,« sagten die vom Isengrund und gaben ihm einen Vikar, damit er es leichter habe.

Wieder ging die Zeit und ging. Aus dem Tal kam die Nachricht herauf: »Ausgewandert sind sie jetzt, der Furrer und seine Frau, nach Amerika sind sie.«

Da kam der Hansi abermals zur Clari-Marie. Mit fröhlichem Gruß trat er ein, ein gesunder, froher Mensch; immer mehr schoß ihm der reiche Lebenssaft in die Glieder.

»Ihr wißt, Base, es will uns ein zweiter Segen ins Haus kommen. Die Claudi will keine haben als Euch. Kommt Ihr?«

Sie sah ihn mit einem forschenden Blick ihrer grauen scharfen Augen an, die seit geraumer Zeit tiefer in den Höhlen lagen. Dann erhob sie sich langsam von ihrem Stuhl. »Geh nur,« sagte sie, »ich will mich richten. Am Nachmittag komme ich.«

Als sie in der Kehlehütte war, ließen die zwei sie nicht mehr fort. »Der Weg ist zu weit für Euch anfangs und zu steil. Bleibt doch hier ein paar Tage!«

Zuerst wies sie sie kurz ab. Als sie mit Drängen nicht nachließen, gab sie zögernd nach. »Ein paar Tage, bis die Claudi mich nicht mehr braucht, meinetwegen,« sagte sie. Der Tobias, der kleine, dreijährige Bub, hing ihr in den Röcken, als sie das sagte. Er hatte seiner Mutter große braune, warme Augen und seines Vaters welliges braunes Haar. Selbst die weiße Locke darin hatte er geerbt. In dem Haar spielte die glasige Hand der Clari-Marie, als sie das sagte: »Ein paar Tage, meinetwegen.«

Am letzten dieser Tage war es, daß die Clari-Marie aus der Hütte trat, wo sie zum letztenmal die Claudi besorgt hatte, die jetzt, mitsamt ihrem Zweiten, einem Mädchen, schlief. Am Abend wollte sie nach dem Isengrund hinab, nur den Hansi wollte sie noch erwarten, der auf Taglohn aus war und daheim sein mußte, wenn sie ging.

Die Clari-Marie war aus der engen Stube getreten, weil eine Unruhe sie trieb, seit sie nun wieder heim sollte, in die Stille hinab. Ein Sturm fuhr durch das Tal heraus, der Himmel war grau, und schweres braunes Gewölk trieb vom Wildifirn her talauswärts. Der Wald über der Hütte rauschte, die Baumkronen bogen sich und schnellten wieder auf, immer mächtiger schwoll das Rauschen. Die Clari-Marie trat an die Kehle hinüber, wo ehedem das Obdach des Gisler gestanden, und legte den festen Arm auf den Fels. Der Wind kam gefahren und schlug ihr in die stoffreichen Röcke, das wehte und pfiff; das graue Haar löste sich ihr in Faden und wehte ihr in die Stirn und über die Augen. Aber sie stand fest und schaute aufs Dorf nieder. »Jetzt mußt wieder da hinab,« ging es ihr durch den Sinn, und zum erstenmal seit langer Zeit war wieder ein Wunsch in ihr. Jetzt wärst doch gern noch dageblieben, bei dem Bub, dem Tobias, bei –

Plötzlich kam wieder die Bitterkeit über sie. Zu was bist noch nutz, du, Clari-Marie! Alles ist dir fehlgegangen im Leben! Viel hast gewollt, und alles, was gewollt hast, ist falsch gewesen! Dich braucht keiner mehr! Uebrig bist lang!

»Du – du – Base,« kam da ein kleiner Schrei mit dem Wind; und im Wind selber, halb gesprungen, halb hergeweht, kam der runde kleine Bub, der Tobias. Er warf sich an die Clari-Marie, hob das braune Gesichtlein. »Ich habe dich gesucht,« plapperte er außer Atem. Die Augen strahlten ihm. »Gelt, gehst nicht fort, du?« fragte er dann.

Da sah die Clari-Marie auf ihn nieder. Ihr Gesicht war gelb und bleich und fest wie immer, die Augen lachten nicht unter den scharfen Brauen. Aber sie hob den Bub auf, und als sie ihn nahm, schlug ihr das Herz hoch, und sie hielt ihn fest an sich, wortlos, seine Wange an die ihre gepreßt. »Komm,« sagte sie, »zu windig ist es; hinein mußt.«

So trug sie ihn nach der Hütte, und das Herz schlug ihr hoch und war voll einer unbändigen Freude!

Vielleicht – vielleicht will die Zeit noch gut werden, Clari-Marie! Vielleicht nur! Es liegt Gold im Erdgrund, wo nie ein Gräber es findet, und es sind Menschen, stark und hart und verschlossen, deren Inneres sein Gold nicht geben kann, weil die Seele in einer Schale liegt, hart wie der Erde herber, unfruchtbarer Schoß!

*


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