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Wochen gingen über den Freispruch der Furrerschen hin. Das Gras war grün geworden und das Gras war gewachsen. Das Gras war auch über den Tod des Scharfegghüttlers gewachsen. Oben im Rottal lebten der Furrer und sein Weib. Sie waren nie viel unten im Dorf gewesen, hatten nie viel Freundschaft mit den Heimgenossen gepflogen, so ließ sich auch nicht bemerken, daß weniger Freundschaft zwischen ihnen und denen vom Dorfe sei. Jeden Sonntag kamen sie zur Kirche, zweimal meistens, vor- und nachmittags, an Frömmigkeit war ihnen niemand über. Das war alles schön und gut. Die Clari-Marie äußerte zur Cille dieser Tage: »Das freut mich immer an ihnen, am Schwager und an der Schwester, daß sie so rechtschaffen fromm sind.«
Mit den wachsenden Tagen, der wachsenden Sonne, dem wachsenden Gras wuchs auch das Leben im Gasthaus zu Isengrund. Der Huber, der Löwenwirt, machte ein Gesicht wie der lachende Frühling selber. »Es geht gut,« erzählte er händereibend jedem, der es hören wollte. »Anmeldungen sind eine Menge da, es wird eine Masse Volk heraufkommen diesen Sommer.« An der Straße ließ er nicht weiter arbeiten just, er hatte Launen und warf Pläne um, um immer neue zu fassen. »Die Straße soll im Herbst dran kommen,« gab er aus, ließ inzwischen alle Taglöhner, deren er habhaft werden konnte, an Gartenanlagen arbeiten, die er hinter seinem Hause von der Lehne an bis an den Wald hinauf führte.
»Jetzt müßt Ihr umziehen, Herr Doktor,« mahnte er zwei Wochen später den Jaun; »es wird nicht mehr lange dauern, so werde ich alle meine Stuben brauchen.«
Der Jaun hatte sich umgesehen; ein paar Häuser weiter ins Dorf hinein hatte er ein paar Stuben gemietet und wußte, daß eine bereit war, ihm haushalten zu helfen. Er konnte nicht mehr zu ihr hinüber, es ihr anzusagen; denn er betrat das Zieglerhaus nicht mehr. So konnte er die Cille nicht rufen, aber er wußte, daß sie sonst kommen würde. Eines Montags ließ er seine Kisten nach der neuen Behausung schaffen, einer zweistöckigen Hütte. Ein alter Bauer und sein Weib wohnten unterm Dach, im ersten Stock kroch er unter. Noch am selben Tag wußte es das Dorf, daß der Doktor jetzt bei dem Bauer, dem Walker wohne. Am Abend, als in der Zieglerstube die Lampe an der Decke brannte, kam der Töni, der Geselle, von der Stör nach Hause und erzählte: »Jetzt wohnt er denn nicht mehr im Löwen, der Jaun, der Doktor.«
Am Tisch saßen die Clari-Marie, die Cille und die Severina. Die zwei letztern nähten, die Clari-Marie saß über ihrem Geschäftsbuche und rechnete.
»So wohnt er jetzt beim Walker?« fragte die Severina, »sie haben davon geredet im Dorf, daß er dahin ziehen werde.« – »Beim Walker wohnt er,« gab der Töni Bescheid. Die Clari-Marie hob den Kopf nicht von ihrem Buche, als hätte sie nicht gehört, was die andern sprachen. Die Cille richtete den hageren Oberleib auf, legte die Rechte, die die Nadel hielt, auf den Tisch und staunte einen Augenblick vor sich hin. Sie war scheinbar ganz ruhig, nur um ihren Mund flog ein Zittern, und die Wangen färbten sich langsam, langsam tiefrot. Weil aber die Clari-Marie beharrlich schwieg, schlief auch das Gespräch wieder ein, das auf den Jaun hatte kommen wollen. Dann kam der Hansi vom Taglohn heim; der brachte einen Waldduft in die Stube, und als er nachher mit ihnen am Tisch saß, den die Severina zum Abendbrot deckte, war die Schwüle wie verjagt, die vorher um des Jaun willen zwischen die Frauen gefallen war. Der Hansi war wie das Leben selber lebendig und stark wie die gesundeste Stärke und froh wie der heiterste Frohsinn. Braun war er im Gesicht, und das ehemals ins Blonde spielende Haar war dunkler geworden, so daß die seltsame weiße Strähne völlig von dem übrigen Haar ableuchtete. Er war hoch und schön gewachsen, von breiten Schultern, war in seinem zertragenen blaukattunenen Gewand einer, den der Herrgott mit dem Adel der Bravheit und Gesundheit gefürstet hatte. Selbst im Gesicht der Clari-Marie war etwas wie Weichheit, wenn sie zu ihm oder der Severina sprach; denn die beiden Kinder waren der verschlossenen Frau sonderlich angewachsen.
»Grad Hunger habe ich,« sagte der Hansi, als die Severina nachher das Abendbrot auftrug.
»Wollte wissen, wenn du einmal nicht Hunger hättest,« lachte die schlanke Severina, und ihr Gesichtlein leuchtete. Dann glänzte ihr in den Augen hurtig ein schalkhaftes Licht auf und sie neckte, als sie, neben den Bruder tretend, die Schüssel auf den Tisch stellte: »Hast Gesellschaft gehabt oben im Wald, du, Hansi?«
Der Bub wurde rot; bis unter das Haar schlug ihm die Blutflamme. »Wollte wissen, wen,« sagte er.
»Sie wird wohl in der Nähe gewesen sein, die Claudi,« scherzte, sich niederlassend, die Severina. Da lachte der Hansi offen und keck. »Meinst, ich gehe nach dem Rothornwald und sehe den Gisler nicht und die Claudi!«
Aber die Clari-Marie hob das Gesicht vom Teller und sah den Bub scharf an. »Die Freundschaft kannst aufstecken, wann du willst,« sagte sie.
Der Hansi errötete zum zweitenmal und tiefer, zuckte unwirsch die Schulter, sagte aber nichts mehr, und die Severina, die merkte, daß sie den Bruder in die Klemme gebracht hatte, wetzte das Zünglein und plapperte von anderm. Nachher saßen sie einträchtig über ihrer Mahlzeit. Nur der Cille kam immer wieder der sinnende Ausdruck ins Gesicht, und manchmal war es, als fehle ihr jemand in der Stube oder erwarte sie noch einen.
Die Cille war die letzte, die an diesem Abend in ihre Kammer ging. Immer wieder, wenn sie schon sich zum Gehen gewendet hatte, kam sie unter irgendeinem Vorwand zurück, und als die Severina mit der Clari-Marie in die Nebenstube gegangen war, die sie an Stelle des Ziegler Chrisostomus und seines Weibes gemeinsam innehatten, setzte sie sich noch einmal an den Tisch und nahm ganz in Gedanken die Näharbeit wieder zur Hand. Auch als sie nachher nach ihrer Kammer stieg, suchte sie nicht Ruhe. An ein Packen ging sie, eine Kiste holte sie vom Estrich und legte Kleider hinein; und als die Kiste voll war, setzte sie sich auf eine Stabelle davor. Sie sann, wie sie es der Clari-Marie sagen sollte. Niedergedrückt saß sie da, vornübergebeugt, der Schein der Kerze fiel auf ihr hageres Gesicht und leuchtete in jeden herben Strich, den die Jahre und die Bitterkeit hineingezeichnet hatten. Sie hatte ein schlimmeres Herzweh, als sie in ihrem Leben, das nicht leicht gewesen war, je gehabt hatte. Es war nicht leicht, aus den vier Wänden zu gehen, in denen sie dieses ganze Leben gelebt! Scheu war sie geworden, und ihre Scheu paßte in die stillen Stuben des Zieglerhauses, aber nicht hinaus. Nur – mit dem Jaun war ein Teil ihres Selbst fortgezogen; nun ging es nicht anders, als daß sie ihm folgte. Und dann, war er nicht allein, der Jaun, der Bub, und brauchte eines, das zu ihm hielt?
Eine Stunde nach Mitternacht legte sich die Cille. Als der Morgen, noch selber kaum wach, durch ihre Fenster sah, erhob sie sich wieder. Sie war immer die erste im Haus; so früh wie heute war sie nie gewesen. Dennoch begann sie unten Stube und Küche aufzuräumen. Als es vollends Tag war, kamen die Männer. Sie nahmen in der Küche ihr Morgenbrot, das die Cille unterdessen bereitet hatte. Dann gingen sie, noch ehe die Clari-Marie aus ihrer Kammer kam, der Hansi ins Holz, der alte Töni nach der Werkstatt hinüber. Als die Cille nachher in die Stube trat, saß die Clari-Marie am Tisch und rechnete wieder in dem Buche, das sie am Abend vorher in Händen gehabt hatte. Die Cille stellte die heiße Milch auf den Tisch, rückte die Tassen und Brot hinzu.
»Du bist früh gewesen, heute,« sagte die Clari-Marie.
Die Severina schlief noch; die stand spät auf, war nicht nur in ihrem Aeußern, sondern auch in ihrer Gesundheit eine Feine und Müde; die Zieglerschwestern verhätschelten sie wortlos und unbewußt.
»Früh?« sagte die Cille – »ja, es ist wahr.« Sie stand zwischen Tisch und Tür, lang, dürr. Das kohlschwarze Haar streifte fast die Diele, obwohl der Kopf vornübergebeugt war. Ihr Gesicht war aschig, und aus dem fahlen Gesicht sahen die düsteren, schwarzüberbrauten Augen die Clari-Marie von hinten an. »Ich gehe dann fort, Clari-Marie,« sagte sie plötzlich.
Die Clari-Marie wendete sich langsam nach ihr um, zog die Brille, die sie zum Schreiben brauchte, von der Nase und fragte: »Was meinst?«
»Fort muß ich heute, zum Jaun muß ich hinüber,« sagte die Cille, stand steif an derselben Stelle; nur die langen Arme hob sie und legte sie leicht übereinander.
»Das brauchst doch mir nicht zu sagen,« entgegnete die andre herb. »Wirst schon manchmal bei ihm gewesen sein – heimlich.«
»Aber – aber – ich bleibe – jetzt bei ihm,« stieß die Cille hervor.
Da drehte sich die Schwester noch mehr ihr zu. »Du?« fragte sie. Langsam krampften sich ihre Finger auf ihrem Schoß zusammen und zitterten.
Der Cille lohte jetzt das heiße Rot im eben noch bleichen Gesicht.
Die Clari-Marie beugte sich vor. »Zu dem willst? Zu dem? Weißt auch, was er ist! Das Dorf verrät er, wo er daheim gewesen ist! Mit den Fremden hält er es, selber ein Fremder ist er geworden! Das Gericht hat er ins Dorf gerufen! Das fremde Volk holt er herein, immer mehr, immer mehr! Nie etwas Rechtes hat können werden aus dem, von seinem Vater her nicht! Und jetzt willst dem nachlaufen!«
Die Cille rührte sich nicht.
»Willst?« fragte die Clari-Marie wieder. »Sag noch einmal, ob es dir wirklich Ernst ist.«
»Ich muß doch,« sagte da die Hagere, »er …«
»Cilli – Cilli« – fuhr die Clari-Marie keuchend fort; sie stand auf dabei. »Besinn dich, hinausgehen kannst, zurückkommen kannst nicht mehr.«
»Ich weiß schon!«
»Und gehst doch!«
»Ich muß ja, er hat ja niemand, der Bub!«
»Bah, niemand! Im Tal hat er auch niemand gehabt.« Die Clari-Marie lachte mißtönend. Dann trat sie dicht an die Schwester heran. »Geh nur, geh,« sagte sie außer Atem, »meinst, es reut dich nicht einmal? Haha! Bist doch eine aus dem Isengrund, eine lang Eingesessene und passest nicht zu dem fremden Volk, du mit deiner Scheuheit, die keinen recht ansehen darf! Meinst, du bekommst nicht Heimweh nach deinem Winkel, wo du immer gesessen bist, du?«
»Wohl, wohl, das weiß ich alles!«
»Und doch gehst?«
Da hob die Cille den Kopf, die Augen standen ihr voll Thränen. »Weil es doch mein Bub ist, geh' ich,« sagte sie plötzlich. Dann brach ein Schluchzen von ihr, fast wie ein Schrei. Es war, als zerreiße sie eine Kette mit dem Wort, aus ihrem Tiefinnersten brach es herauf. Als sie es gesagt hatte, wußte sie nichts weiter zu sagen. Sie wendete sich nur ab, suchte in den Taschen unbeholfen nach dem Sacktuch, fand es und wischte sich die Augen. So ging sie hinaus.
Die Clari-Marie war auf einmal ganz still. Als die Tür hinter der Cille zufiel, drehte sie sich sinnend dem Tisch zu, setzte sich wieder daran, nahm auch den Bleistift wieder auf, als ob sie rechnen wollte. Aber sie sah über ihr Buch hinaus ins Leere. Es war ihr, als erdbebnete es, – nicht in der Natur –, in ihrem eignen Leben, und sie wußte selber nicht, warum ihr so war. Da ging die Nebenkammertür, die Severina kam herein, nur halb angezogen, mit einem erschreckten Gesicht. »Habt Ihr geschimpft mit ihr,« sagte sie zitternd; in ihrem kindlich schmalen Gesicht zuckte es. »Warum seid Ihr immer so streng, Base Clari-Marie!«
In diesem Augenblick wurde auch die Stubentür wieder geöffnet. Die Cille trat ein, zum Weggehen gerüstet. »Der Töni wird mir die Kiste hinüberschaffen können?« fragte sie.
»Ja,« sagte die Clari-Marie.
»So, ade,« sagte die andre, trat heran und reichte der Schwester und dann der Severina, die ganz starr und bleich war, die Hand. »So, ade.«
Dann ging sie hinaus.
Die Severina weinte leise. Der Clari-Marie festes bleiches Gesicht war dem Boden zugewendet, mit den klaren Augen starrte sie auf einen Punkt. »Willst nicht auch gehen, du?« fragte sie auf einmal die Severina. Es klang spröd, trocken. Und doch ging es der Severina ins Herz wie ein Stich. Sie kam zu der Truttmannin herüber, legte die nackten Arme ihr um den Hals und schmiegte die heiße Wange an ihre kühle, farblose. »Ihr müßt nur nicht so streng sein, Base Clari-Marie, so fürchterlich streng.«
Da kamen die glasigen Hände der Clari-Marie zu den ihren herauf und packten und drückten sie, als wollten sie sie festhalten, aber sie sagte kein Wort dazu und sah die Severina nicht an. Gleich darauf stand sie auf. »Jetzt geh dich anziehen,« sagte sie, »nachher essen wir zusammen.«