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25

Das war eine Föhnnacht, die neunte, die die Severina krank war. Am Abend schon hatte der Wind in den Gassen gemurrt und sein sonderbares Wesen getrieben, bei dem den Bauern in den Hütten ist, als husche einer draußen gespenstisch dahin und dorthin, von Haus zu Haus, blitzschnell, jetzt am Dorfende stöhnend, jetzt am Dorfeingang fauchend und jetzt hornend aus einer weit entlegenen Kluft. Nun war er wild. Sausend strich er durchs Kamin des Zieglerhauses, auf dem Dache klapperten die Schindeln. Plötzlich schwieg er. Wenn der Föhn schweigt, ist es, als hielte das ganze Tal mit einem »Mein Gott, was will jetzt kommen,« den Atem an. Bald kam er wieder – von fernher; ein Laut wie Rauschen schwerer Flügel kündete ihn an. Dann war er da. Sssssss! heran an das Haus mit einem Stoß, Brust gegen Brust, und die Mauer stöhnt und die Fenster zittern; in der Diele krachen die Balken!

»Das ist ein Wind,« sagte die Severina. Sie war seit einer Stunde wach und hatte kein Fieber. Müde war sie und lag in den Kissen, die Arme zu beiden Seiten aufs Bett gelegt, als sollte das heißen: nur nicht rühren wenn ich mich muß! Ihr Gesicht war noch immer gleich still und gleich weiß und gleich schön. Hatte schon einmal einer ein so heiliges Gesichtlein gesehen wie das der Severina!

Die drei waren noch immer bei ihr, die letztlich keinen Tag und keine Stunde von ihr gegangen waren, der Jaun, die Cille und die Clari-Marie. »Heut ist der Tag,« hatte der Jaun am Morgen gesagt, als sie in der Stube gemeinsam eine kurze Mahlzeit genommen hatten.

»Heute,« nickte die Clari-Marie, die die Worte sparte wie in ihrem Leben noch nie und doch nie redselig gewesen war. Am Nachmittag kam der Hansi, zu sehen, wie es ginge. Nach einer Stunde stieg er wieder zu Berg. Nun ging der Tag schon zu Ende, und sie saßen bei der Severina, der Jaun ganz nahe am Bett, die Cille drüben an der Wand auf einem Stuhl, die Clari-Marie am Fenster, durch die Scheibe starrend, durch die sie nichts sah als dunkeln Himmel und ein paar unruhig flackernde Sterne. Die sahen aus, als müßten sie im Sturm erlöschen.

Die Cille hatte verweinte Augen. Der Jaun hatte die Unruhe noch immer an sich, die ihn nirgends litt; er stand auch jetzt wieder vom Bett auf und trat hinaus in die Stube, und als die Cille ihm nachkam und flüsterte: »Gerade gut scheint sie jetzt, die Severina,« sah er sie mit einem Blick an, als stieße sie ihm ein Messer ins Herz, und sagte: »Kein Fieber – das – weiß ich schon – wie das ist!«

Das Gesicht der Clari-Marie war reglos, kein Zittern war darin, kein Seufzer brach von ihr; wie aus Stein war sie eine; so war sie nun, seit der Jaun das gesagt hatte, das: »Warum habt Ihr mich nicht früher geholt?«

Als der Jaun und die Cille zurückkamen, hatte sie des Doktors Platz am Bett eingenommen. Sie und die Severina sprachen leise zusammen. »Gerade habe ich es gesagt zu der Base,« begann die Severina lauter, »so leicht ist mir jetzt – so – so anders.« Und sie lächelte.

Der Jaun ging zum Fenster hinüber, wo die Clari-Marie gesessen hatte. Er hatte genickt, als die Severina gesprochen hatte, schlenkerte mit den Armen unter ihrem Blick, unbeholfen wie ein Schulbub; jetzt sagte er: »Ja – ja – schlaf jetzt nur wieder, wenn du kannst.«

Die Cille setzte sich an ihren alten Platz.

Die Lampe, die auf dem Tisch mit der weißen Decke und den zwei Waschbecken brannte, warf einen roten Schein auf das Bett, die zarte Severina und die dunkle, schwere, breite Clari-Marie.

»Am Ende,« wandte sich die Severina wieder an den Jaun, »wird es doch besser jetzt.«

»Ja, ja,« gab er zurück. Er durfte sie nicht ansehen dabei; so flog sein Blick zerfahren über Diele und Wände.

Da hob sich das Mädchen plötzlich im Bett: »Jesus, was ist jetzt das!« schrie sie auf, der junge Leib bäumte sich im Krampf auf: »Jesus, Base!« schrie sie noch einmal.

Die Clari-Marie stand jetzt neben ihr, beugte sich über sie und legte die Arme um sie. Alles an ihr war stark und aufrecht. Sie stützte die Severina mit ihren festen Armen und gab ihrem Kopf die Brust zur Stütze. Dann begann sie: »Vater unser, der du bist in den Himmeln!«

Die Severina lehnte sich an sie. »Base, Base,« ächzte sie, aber es klang immer friedlicher, leiser, ergebener.

Die Clari-Marie stand wie eine Säule. So stützte sie die Weiber, die in Schmerzen sich wanden, so die, die nicht sterben konnten. Ihre Stimme klang klar und ruhig; das gab ihr eine seltsame Macht, jetzt, wo, alles Kampf und Qual und Unruhe war.

»Base,« seufzte die Severina. Ihre Kraft schwand; aber noch immer dauerte das Ringen zwischen Leben und Tod. Und die Clari-Marie hatte inmitten dieses Ringens ein Gefühl, das ihr Wohltat war: dein ist sie jetzt, die Severina, dich braucht sie, dich allein! Die schmächtige Gestalt zitterte und zagte in ihren Armen. »Dich braucht sie!« schrie es in ihr.

Plötzlich litt es den Jaun nicht länger, der leichenfahl, die Züge verzerrt, mit schlenkernden Armen drüben an der Wand gelehnt hatte. Die Cille hatte einen Blick auf ihn getan, und so schrecklich sah er aus, daß sie zu ihm trat. »Jaun, Bub,« mahnte sie mit unsicherem Ton.

»Jetzt – jetzt – stirbt sie,« keuchte er. Dann warf er sich auf die Knie wie von Sinnen und kroch zum Bett. »Stirb jetzt nicht – stirb nicht!« bettelte er. »Severini!«

Da war es in einem letzten Aufflackern, daß die Severina die Augen auftat und in sein Gesicht sah, das über den Bettrand heraufblickte. »Jaun, lieber Jaun,« sagte sie. Es war wie ein kleines, glückliches Aufjauchzen, als ginge ihr just eine Erkenntnis auf, etwas, woran sie bisher nicht gedacht hatte, etwas Freudiges, Großes! Als sie es gesagt hatte, sank der Kopf an der Brust der Clari-Marie seitwärts. Den Lippen entfuhr ein kurzer, unverständlicher Laut; dann verließ den Oberkörper die Kraft. Die Clari-Marie ließ ihn in die Kissen gleiten.

Der Jaun lag am Bett, flennend und willenlos. Die Cille begann schon das eintönige Totengebet zu sprechen. Aber die Clari-Marie stand aufrecht und stumm neben der Toten. So wie sie da stand, so ging sie nachher hinaus in die Wohnstube. In ihrem Kopf arbeitete es. Hast gemerkt, wie du sie verloren hast, die Severina, im letzten Augenblick? Meinst jetzt noch, dir hat sie gehört? Hast gesehen, wie sie ihn angeschaut hat, den Jaun, und meinst noch, daß sie zuletzt an dich gedacht hat, du, du? Verloren hast sie, die Severina, an – an den Jaun zuerst, dem hat sie der Tod genommen!

In der ruhigen, umständlichen, schweren Art ging sie nachher an das, was für die Tote zu tun war. Sie hatte eine Empfindung, als sei sie in langsamem Sinken auf eine Stelle geraten, von der es nicht tiefer ging. Einmal oben in einer Kammer, wo sie etwas zu holen hatte und wo es ganz still war, sagte sie laut vor sich hin: »So – jetzt hast nichts mehr, du!« Dabei regte sich nichts mehr in ihr, weder Liebe noch Leid, weder Hoffnung noch irgendein Gedanke an den nächsten Tag und an die, die nachher kamen.

Als sie in die Wohnstube zurückging, fand sie die Cille dort. »Zum Hansi hinauf, meine ich, sollte man schicken,« sagte die und sah sie zaghaft von der Seite an.

»Ja, schick nur,« gab die Clari-Marie zurück.

»Die Totenbeterinnen will –« hob die Cille wieder an; aber die andre fiel ihr in die Rede: »Ich will sie bestellen nachher.«

Als sie beide schwiegen, hörten sie den Jaun in der Nebenkammer flennen. »Nimm ihn mit,« sagte die Clari-Marie, »er soll heimgehen; er kann wiederkommen, später, morgen! Jetzt – ein Mannsvolk braucht nicht so zu flennen. Verbeißen soll einer können, wenn er ein Doktor sein will.«

Die Cille sah die Schwester halb scheu, halb demütig an wie zu der Zeit, als sie noch mit ihr gehaust hatte. Dann ging sie gehorsam zum Jaun hinein, und man hörte, wie sie ihm zuredete. Nach einer Weile kamen sie beide heraus. Der bleiche Jaun sah die Clari-Marie nicht an, er nahm seinen Hut von der Wand und ging hinaus, das Grüßen vergaß er.

»Ich komme bald wieder,« sagte die Cille zur Schwester, die ihr den Rücken wendete, und folgte dem Jaun.

Als beide hinaus waren, atmete die Clari-Marie tief auf: Gott sei Dank, daß keines mehr da ist!

Sie setzte sich an den Tisch, den einen Arm darauf gestützt. Nachdenken mußte sie; es war etwas nicht klar in ihr, und sie war gewohnt, klar zu sein mit ihren kleinen Lebensdingen. Geerdbebnet hat es in deinem Leben, lange schon, Stück um Stück bröckelnd, bis alles am Boden lag! Früh, in der Jugend hat es begonnen, die Brüder gingen verloren, dann das bißchen Liebe zum – zum Mann, der selber, Vater und Mutter dann und der Jaun dann, der Bub, der ein Fremder geworden war!

Geerdbebnet hat es wieder! Das mit dem Hochwürdigen geschah und mit der Schwester, daß du die Achtung vor ihnen verlorst! Die vom Rottal fehlten dir! Die Cille ging und der Hansi und der Töni und – jetzt die Severina! Halt – und das war nicht alles! Weiß Gott, immer das Rechte hast wollen, Clari-Marie! Der Herrgott mag's bezeugen, wie es dir im Herzen gewesen ist! Die Kirche und den Glauben hast hoch gehalten und irr hast werden müssen an der Kirche und am Glauben und an denen, die am frömmsten geschienen haben! Das mit dem Gericht – der Herrgott mag's sehen – das Vertrauen zu denen im Rottal hat dich geheißen, für sie zu tun, was du getan hast, und – und am Ende sind sie doch die Schuldigen! Der Eifer wider den Ungläubigen hat dich dem Gisler feind sein lassen! Und – und am Ende hat der unschuldig leiden müssen, deinetwegen! Und – und etwas zu wissen hast gemeint, etwas zu kennen von den Bresten, wie sie an die Menschen kommen können! Jetzt – was – »Warum habt Ihr mich nicht früher geholt?« hat der Jaun gesagt! Der also – wenn er früher gekommen wäre, hätte die Severina heilen können, der, von dem du gesagt hast, daß er nichts wisse!

Die Clari-Marie hustete, kurz und trocken; es saß ihr etwas auf der Brust, das nicht weggehen wollte. Dann sann sie weiter.

Alles ist mißraten in deinem Leben, du! Jetzt stehst du da und bist alt und nutzlos und hast keinen mehr und bist so oft verirrt in deinem Leben, daß du dich nicht weiter traust!

Sie stützte sich schwerer auf den festen, lang über den Tisch gelegten Arm, die Hand umklammerte die Kante. Es quoll in ihr auf wie eine Welle, wild, mit fürchterlicher Gewalt: Schrei doch! Arm bist! Schrei, wie's dir weh tut, schrei! Aber der Schrei kam nicht auf. Schwerer stützte sie sich auf den Arm, hob sich wie in Schmerzen ein klein wenig auf und stieß ein einziges Wort heraus: »Herrgott!«

Im Flur gingen Schritte. Es kamen die Totenbeterinnen.


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