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Ein Nauen fuhr über den Axensee. Das Wasser, das der Schiffmann mit schwerem Ruder schlug, war wunderbar glatt und blau; wenn das flache Holz eintauchte, war es, als seufze der See, und wenn es sich dem Wasser entwand, stieg dieses mit ihm hoch und glättete sich sanft, sodaß es schien, als hätte nur ein Atem die Brust der morgenklaren Flut gehoben. An den Ufern kein Plätschern! Still wie das Felswerk, das fast überall den vielarmigen See umschloß, lag auch hier das Wasser. Sonnenlicht strömte über Berge und schimmernde Schneezinnen hernieder, Sonnenlicht floß mit dem blauen See zärtlich zusammen, durchleuchtete die Tiefen, daß das Schlingwerk der Algen und der grüne Zierat der Moose versunkenen feinen Geweben gleich im Grunde sichtbar wurden, daß das Spielen der Fische war, als surrten Silberpfeile durch die Flut, und daß man hinab blicken konnte, bis wo die mächtigen Pfeiler der steil aufragenden Berge wie riesige Quader auf Seegrund fußten.
»So, so, zum Isengrund wollt Ihr hinauf,« sagte der Schiffmann zu einem, den er im Boote hatte. Der Schiffmann war ein stämmiger Mensch, stand barfuß, nur in Hose und Hemd da; Rock und Weste lagen hinter ihm auf den Bodenbrettern seines Fahrzeugs. Seine Arme, bloß bis zum Ellbogen, waren braun und sehnig, braun und hager und zäh waren der Hals und das rasierte Gesicht, vom Schädel des Alten schien das volle weiße Haar wie Schnee von einem steilen, rauhen Berg.
Ja, zum Isengrund wolle er hinauf, nickte der Fahrgast, der weniger redselig war, als der Neugier des Schiffmanns paßte.
»Ihr geht zum Vergnügen da hinauf?« erkundigte der sich weiter, »gerade viele gehen jetzt da hinauf,« fügte er bei.
»Ich bin da oben daheim,« sagte der andre und drehte sich noch mehr der Bootspitze zu; ihm war mehr um Schauen als um Reden.
Dem Jaun Ziegler, dem Doktor, der von St. Felix kam und heimfuhr nach dem Isengrund, war es, als spränge ihm das Herz in den Hals vor Erregung und Ungeduld und Freude, und Freude und Ungeduld schienen ihm aus den Augen, deren kohlschwarze Pupillen noch immer sonderbar scharf und mit fremdem Blick aus dem milchweißen Grunde schauten. Nun setzte er sich tiefer im Nauen zurecht, lehnte sich mit beiden Armen auf das Kielbrett und staunte weit vorgebeugt voraus. Der Schiffmann gab es auf, ihn zu stören, der ließ die Ruder einen Augenblick und zündete die Pfeife an.
Auf den Jaun nieder leuchtete die Sonne, sein langes, steckiges Haar glänzte, aber das gelbe Gesicht färbte sich nicht unter der Wärme. Auf der Oberlippe stand ein kurzer schwarzer Schnurrbart, borstig, nicht geschniegelt wie die Städter es lieben. Die ganze, mittelgroße, hagere Gestalt, die im Boote mehr lag als saß, entbehrte dessen, was den Städtern ein Ebenmaß, eine äußere Feinheit gibt. Den Hut hatte er abgelegt, einen runden, kleinen Filz, wie er ihn als Student getragen haben mochte. Er trug einen schwarzen, weiten Anzug und sah darin aus wie ein armer Schlucker, dem ein Reicherer den Staatsrock geliehen hat.
Jaun Ziegler dürstete nach dem Ufer hinüber, dem der Schiffmann das Boot zuruderte. Der Isengrundweg schimmerte schon herüber; ein grüner, goldenüberstrahlter Saum, glänzte der Eingang des Hochtals herab, und Schneetürme ragten rings, und Schneesäulen gleißten und breite Firne brannten in weißem Glühen; der Wildifirn, das Rothorn, der »sonnig Kögel« und sein Bruder, der nachtfinstere »schattig Kögel« standen dort an den Himmel gebaut. Das stieg auf und sah herab und leuchtete und glomm und grüßte. »Jesses, wie schön,« sagte der Jaun leise und konnte auf einmal wieder Heimdeutsch, das er in St. Felix ganz verlernt zu haben glaubte.
Das Boot strich weiter; der Schiffmann hatte einen tüchtigen Zug. Immer deutlicher trat die Gestaltung des Ufers ins Auge. Jetzt lag, mit einer ganzen Flut goldenen Sonnensegens übergossen, weit zur Rechten die heilige, heimliche Matte, wo die Väter geschworen hatten, jetzt entzog sie eine vorspringende wölbige Bergbrust dem Blick. Jaun sah sich nach seinen im Nauen geborgenen Habseligkeiten um, zwei Kisten und demselben gelb bemalten, schmucklosen Holzkoffer, den er vor vielen Jahren aus seiner Gabel selber zu Tal getragen hatte. Das Ufer war nah.
»Da sind wir bald,« sagte der Schiffmann, aufschnaufend, es mochte ihm durch den Kopf gehen, daß er noch selten einen langweiligeren Gast gefahren. Jaun langte nach dem Hut und stand auf. Wenn er noch ein Geißbub gewesen wäre, so würde er gejodelt haben, obgleich er nie zu den Singlustigen gehört hatte; es drängte etwas in ihm, das hinausgejauchzt sein wollte. Die Brust war ihm weit. Jesus, wie war das Land schön, dem er da entgegenfuhr. Er begriff es nicht, daß er nicht Heimweh gehabt hatte, unzähmbar, schon lang. Daß das Heimkommen nicht ganz glatt war und nicht ganz freudig, vergaß er ganz; es war ihm, als müßten oben auf der Höhe schon die Cille und die Clari-Marie mit offenen Armen stehen und vor Ungeduld hin und her trampeln, bis daß er komme. Es war alles klar und sonnig und schön an diesem gesegneten Morgen, da der Jaun heimfuhr.
Jetzt stieß der Nauen auf den Uferkies. Ein Fahrknecht des Ländewirts, dessen Haus an der Stelle stand, wo die Straßen sich teilten, ergriff die Bootkette. Außer ihm war niemand nah. Aber der Jaun griff selber mit an und half jenem die drei Kisten an Land stellen, lohnte den Schiffmann ab und lud ihn zu einem Trunk ins Wirtshaus. Nach einer kurzen Weile begann er selber den Aufstieg nach seinem Dorf. Seine Siebensachen ließ er beim Wirt. Unbeschwert, mit Schritten, die die Ungeduld flink machte, stieg er hinan. Immer war die drängende Freude in ihm und die Lust zu jauchzen und die Erwartung: Droben werden sie stehen! Erst als er der Höhe ganz nahe war, fiel ihm ein, daß sie im Isengrund nicht wußten, daß er heute kam. Unterwegs waren ihm ein paar Menschen begegnet, zwei Weiber mit Bündeln, die zu Markt fahren mochten, ein Bauer, der eine Kuh wegabwärts trieb, und zwei Knechte mit Gabeln, alle hatten ihm das »Tag« geboten, aber mit jener kurzen, scheuen Art, die vorbeigeht und nachher mit offenem Maule nachgafft. Er hatte keinen gekannt. Es war eine lange Zeit, die er fort gewesen war!
Jetzt kam die letzte Straßenwindung, die Luft wurde frei. Tief unten der blaue See, hoch oben der blaue Himmel, dazwischen glitzerndes Leuchten! »Wie schön,« dachte der Jaun wieder und schnaufte. Jetzt sah die Kirchturmspitze über den Saum der Isengrundebene, jetzt wuchs die Kirche selber hervor, die graue, starke! Die war noch immer wie früher und der Weg dorfein auch; Haus um Haus schlüpfte aus dem grünen Talgrund herauf, an dessen Hängen, unter den Wäldern sonderlich, noch einzelne unsaubere Schneestellen hafteten. Nun lag das Tal ganz offen. Da hatte sich nichts geändert, weit hinein liefen die grünen Mattenbänder und die dunkeln der Baumwälder und die Rotfelsen darüber und im Westen, die Mauer und Schranke, strahlte der Wildifirn. Der Jaun blieb unwillkürlich stehen; er hatte Herzklopfen, es war ihm, als müßte er den Hut abnehmen, warum, wußte er nicht recht; und dann, weil er scheu war, vor sich selber scheu, ließ er ihn sitzen, den Hut.
Die Straße war leer. Langsam hob er an, dorfein zu gehen, an der Kirche vorbei, dem »Löwen« zu. Niemand begegnete ihm, bis er an das Gasthaus kam. Er besann sich, ob er dort eintrete. Da war feine Wohnstatt, da war er jetzt daheim! Aber es litt ihn nicht, er mußte zuerst hinüber, um die Ecke, ein paar Schritte den Rothornweg hinan.
Als er am Gasthaus vorbeiging, ließ er den Blick von ungefähr nach der Höhe der Lehne gehen. Der Rothornweg verlief dort im Walde. Es fiel ihm auf, daß eine ganze Schlange von Menschen an diesem Weg sich auswärts bewegte, und er wunderte sich, was dort geschah. Es muß eine »Gräbt« sein, fiel ihm ein.
Nach wenigen Schritten stand er vor der grünen Türe des Zieglerhauses. Wieder wie vorhin beim Eintritt ins Dorf war ihm der Atem kurz. Er zögerte einzutreten; dabei faßte ihn ein Erstaunen, daß es in allen Straßen leer war, daß die Häuser wie ausgestorben lagen. Selbst drüben die Werkstätte der Clari-Marie stand offen, und es war niemand im Innern. Noch einmal sah er über den Rothornweg hinan. Da mußten alle hinaufgelaufen sein. Was da geschehen war?!
Nun legte er die Hand auf die Türklinke, aber die Tür ging gleich darauf von selber zurück. Ein Mädchen stand im Flur in schlichtem, wohl um die zierliche Gestalt sich schmiegendem, dunkelbraunem Kleid. Es war bleich, mochte erschrocken sein, daß da plötzlich einer an der Türe stand. Die dunkeln Augen schauten einen Augenblick verstört aus dem schmalen Gesicht. Ein Ton wie ein unterdrückter Schrei war ihr entfahren.
»Ist die Frau Clari-Marie daheim?« fragte Jaun. Der Heimdialekt kam ihm von selber und da, als sie ihn reden hörte, flog ein Lächeln um der Severina schönen Mund, die Flügel der zierlichen Nase zuckten.
»Ihr – bist du – gelt, du bist der Jaun, der Doktor?« sagte sie verwirrt und doch in ausbrechender Lustigkeit. Ein leises Rot kam dabei in ihre Wangen.
»Wer bist denn du?« fragte er statt aller Antwort; er lachte selber ein wenig, aber dabei stand er unbeholfen da, wußte nicht wohin mit den langen Armen, nur für die Augen hatte er einen sicheren Platz, die kamen nicht los von der Severina Gesichtlein.
»Die Severina bin ich,« sagte diese.
»Ist nicht möglich,« staunte er, »der Base Trine ihre Severina?«
»Sicher,« lachte das Mädchen.
Der Jaun tat einen Schritt in den Flur, er streckte jetzt doch die Hand aus. »So, gut Tag, du,« sagte er.
»Gut Tag«! Sie legte ohne Scheu die Hand in die seine und ließ sie in seiner knochigen Rechten, die so weiß war wie sein farbloses Gesicht; die Hand war das einzige, das nicht mehr bäurisch war an ihm.
Der Jaun hielt die Finger der Severina lang, er wußte nicht mehr, wie er sie loslassen sollte, zuletzt leitete er das Mädchen der Wohnstube zu. »Sind sie drinnen?« fragte er.
Die Severina schrak zusammen. »Jesses, nein,« sagte sie hastig, wendete sich und eilte nach der Haustüre zurück. Dort blickte sie hinaus, nach oben, nach unten. »Ist er schon hinauf, der Pfarrherr?« stammelte sie, und als der Jaun hinter sie trat: »Da kommt er just, der Pfarrherr.«
»Was ist denn?« fragte Jaun.
»Denk doch, den Scharfegghüttler, den Strahler, den Wipfli, haben sie tot gefunden da oben.«
»Verunglückt?« fragte Jaun.
Draußen über den Weg stieg eben der Pfarrherr hinauf, ein paar Buben hasteten vor ihm einher, die nach ihm ausgeschickt worden sein mochten.
»Erschlagen, hat einer gesagt, – Geld fehlt ihm, hat einer gesagt vorhin,« erzählte die Severina zitternd.
Jaun richtete sich auf. »So will ich einmal hinaufsehen,« sagte er und trat schon aus die Schwelle. »Siewerden oben sein, die Clari-Marie und die Mutter?« fragte er. Die Severina nickte.
»Gehst auch mit?« fragte er noch.
Aber sie schauderte. »Nein! Ich kann keinen Erschlagenen sehen.«
Da nickte er ihr zu und stieg rasch bergan. Kein Mensch kam ihm entgegen. Sie hielten alle oben aus. Jetzt sah man sie in dichten Haufen, an der steilen Halde stehen, die meisten in einem Halbkreis um eine bestimmte Stelle geordnet, Männer und Weiber mit gesenkten Köpfen, dicht aneinander gedrängt, die Hinteren mühsam über die Vornstehenden hinspähend. Das graue Schindeldach des Rottalgadens schien von der Sonne getroffen, silberig über sie herab, ein paar Buben hockten oben und schlenkerten die nackten Beine in der Luft. Sie hatten sich die Plätze erobert, von wo aus die beste Aussicht in ein fahles, blutiges Gesicht war, das von den rohen Pflastersteinen, der Gadenmauer zu feiten, in den blauen Himmel hinaufsah. Der Pfarrherr erreichte eben die Schar der Dörfler; eine Gasse tat sich für ihn auf und schloß sich wieder. Ein paar Bauern hatten sich nach ihm umgewendet und dabei den Jaun erblickt, der hinter ihm herstieg. Sie wunderten sich über den, der da im schwarzen Gewand heraufkam und nicht zum Dorfe gehörte. Sie stießen einander an; mehr Köpfe drehten sich; ein Flüstern hob an.
Jaun stieg vollends hinauf. Als er mit einem stummen Nicken zu ihnen trat, gaben sie soweit Raum, daß er einen Durchblick auf das gewann, was im Kreise vorging. Dort lag der Scharfegghüttler lang ausgestreckt; er erkannte ihn noch an dem braunen spärlichen Bart, der wie zerfetzt aussah und nur grau geworden war in den Jahren; es schien ihm, als stecke der Bauer noch im selben abgetragenen Schafwollgewand wie damals, als er, der Jaun, noch ein Bub gewesen war. Neben dem Toten kniete der Pfarrherr und betete erst, dann hob er an, die Leiche zu betasten und zu untersuchen. Ihm gegenüber stand die Clari-Marie, dem Jaun klopfte das Herz rascher, als er auf einmal ihr gelbbleiches Gesicht voll gegen sich gerichtet sah. Es wunderte ihn, daß sie ihn nicht erkannte; einmal flog der strenge Blick ihrer grauen Augen gerade über sein Gesicht. Auch sie hatte sich wenig verändert. Vielleicht war ihre schwere Gestalt noch voller geworden, noch mehr in die Breite gegangen, und in ihrem Gesicht war ein herrischer Ausdruck, den sie früher nicht gehabt hatte.
»Gebt Euch weiter keine Mühe, Pfarrherr, erfallen ist er, das ist sicher,« sagte sie jetzt. Dabei waren ihre Züge still und hart. Der schmale Mund war wie ein fester Strich von einer weißen, faltigen Wange zur andern. Ihr Kinn sprang vor und der starke Unterkieferknochen schimmerte weiß durch die Haut.
Jetzt sprach einer aus der Menge der Gaffer. »Aber das Geld! Ich bin sicher, daß er Geld bei sich gehabt hat. Er ist mit einem ganzen Sack voll Strahlen Kristalle. ins Tal gegangen; zurück bringt er keine. So hat er sie verkauft.«
»Sicher hat er,« murmelte es unter den Zuschauern. Einer knurrte: »Verkauft, jawohl, wer hat es gesehen?«
Die Clari-Marie sagte: »Vom Tal herauf ist ein weiter Weg, da kann er das Geld hundertmal verbraucht, vergeben oder verloren haben.«
»Ja, ja,« gab ein Haufe ihr recht. Der, der vorhin gemurrt hatte, stieß ein unwirsches »Natürlich« durch die Zähne. Der Jaun blickte nach ihm hinüber, der verdrossene Ton fiel ihm auf, er erkannte den Rottalbauern. Er stand etwas im Hintergrund, war so lang, daß er leicht über alle andern hinsah, und hatte ein Gesicht, so fahl wie der, der tot wenige Schritte vor ihm am Boden lag. Aber das hatte er immer gehabt, der Furrer. Dem Jaun fiel ein: Wozu bist du ein Doktor, geh und sieh zu, was dem Toten geschehen ist.
»Laßt mich durch,« sagte er zu den Zunächststehenden, dabei stemmte er die Ellbogen ein und drängte vorwärts. Unwillkürlich machte man auch ihm Platz. Als nur noch die letzte Reihe zu durchbrechen war, sah er einen Augenblick den Weg durch ein hageres, langes, schwarz gekleidetes Weib gesperrt. »Laßt mich durch,« sagte er auch hier. Da drehte die Frau sich nach ihm um. »Jesses,« entfuhr ihr ein halber Schrei. »Jaun, bist du es?« fragte sie dann.
Er hatte bei ihrem Ausruf aufgeblickt. »Ihr,« sagte er nur; in seinen sonderbaren Augen, von denen man nie wußte, wohin sie blickten, war für eines Gedankens Länge ein warmes Licht. Er reichte der Cille, seiner Mutter, die Hand, und drückte die ihre. Dann trat er an ihr vorbei zu dem Toten.
»Der Jaun! – Der Doktor! – Siehst! – Wahrhaftig der Jaun! – Man kennt ihn noch wohl!« Ein Gewirr erregter Stimmen wurde laut.
Der Pfarrherr stand auf und lüftete den Hut.
»Was ist geschehen mit dem Mann?« fragte Jaun. Sein Wesen war auf einmal sicher und kraftbewußt; von diesem Wesen, das er fand, wenn er an ein Krankenlager trat, fugten die Professoren und Studenten zu St. Felix, daß es ihn, den sonderbaren Menschen, den Bauern, völlig verändere und jedem, selbst dem, der just noch über seine Linkischheit hatte lachen wollen, Achtung abzwinge.
Der Pfarrherr stand ihm Rede. »Erfallen soll er sein, sagen die einen! Nicht, Clari-Marie, erfüllen, meint Ihr?«
Die Clari-Marie stand, die Arme ineinander geschlagen da. Sie nickte zu dem, was der Pfarrer sagte. Da blickte der Jaun auch sie an. »Tag,« sagte er leise. Ueber den Toten streckte er ihr die Rechte hin und mit der Linken rückte er unwillkürlich wie aus innerem Zwang am Hut. Das hatte er vorhin bei der Cille nicht getan. Die Clari-Marie löste langsam die Arme und nahm kurz seine Hand. »Tag,« sagte sie; ihr Gesicht zuckte nicht dabei.
Darauf ließ er sich bei dem Toten nieder. »Helf einer, entkleidet muß er sein!« sagte er. Ein Mann trat herzu, auch der Pfarrherr griff an. Der Jaun untersuchte genau, lange sagte er kein Wort. Dicht an der Schläfe trug der Tote eine Wunde. Die untersuchte er zuletzt. Als er die Hand daran legte, scholl eine Stimme hinter ihm. »Lang hast gebraucht, bis du das gefunden hast!« Die Clari-Marie hatte noch immer dieselbe klare, laute Stimme. Der Jaun wußte, daß jetzt viele höhnische Gesichter in seinem Rücken waren. Er gab keinen Bescheid; aber es stieg etwas heiß in ihm auf. Sorgfältig prüfte er die Wunde. »Von einem Gewehrschuß,« sagte er dann in kurzem, sicherem Ton. Er stand auf dabei.
»Was?« kam ein hastiges Fragen aus der Menge. Die Köpfe reckten sich weiter vor. Da sah sich die Clari-Marie um. Ihr Blick ging über die Gesichter, scharf, gerade. »Narrheit«, sagte sie. »Wie sollte so etwas geschehen im Isengrund! Wer sollte dem etwas zuleid getan haben! Da soll jetzt nicht einer herkommen wollen und das Dorf in Verruf bringen und das Gericht herauf. Wir können ohne Gericht sein da oben, haben lang genug schon keins gebraucht. Erfüllen ist er, der Wipfli, erfallen da am Gaden!« und sie wies an die scharfe Eckkante der Scheuer, wo eine Blutspur deutlich sichtbar war.
»So hat er gelegen, als ich ihn gefunden habe,« sagte der Furrer, der plötzlich im vordersten Glied stand. Sein Ton war ein wenig heiser. »Dort hat er mit dem Kopf aufgeschlagen.« Er deutete auf die blutige Stelle und wies mit den Händen, welche Lage der Körper gehabt hatte.
»So ist es,« sagte die Clari-Marie. »Da ist er ausgeglitten, und die Ecke hat. ihm die Schläfe eingeschlagen.«
Der Jaun sah sie an. Als ihr Blick den seinen traf, mußte er zu Boden sehen und wußte nicht warum. Aber er schüttelte den Kopf. »Es wird sich zeigen,« murmelte er. »Anzeigen werde ich es.«
»Anzeigen, du?« fragte die Clari-Marie. Da trat der Huber, der Löwenwirt, aus der Menge und zum Jaun und begrüßte ihn.
»Es ist nichts anzuzeigen,« fuhr die Clari-Marie laut wie vorhin fort. »Eine Tragbahre schaffen könntet ihr und ihn hinabtragen ins Beinhaus! Ein Gewehrschuß, jawohl! Erfallen ist er und das ist sicher.« Sie gab mit einer kurzen Bewegung ihrer Arme den Worten Nachdruck. Als sie das letzte sagte, war sie schon im Gehen. Sie schien jede weitere Entgegnung abschneiden zu wollen: Tut wie ihr wollt, glaubt oder glaubt nicht! Sie zog das schwarze Kopftuch fester und stieg bergab. Als sie sich hinweg wandte, war es wie ein Zwang auf den Bauern und ihren Weibern, eines nach dem andern folgte ihr. Jaun und Huber standen mit dem Pfarrherrn zuletzt fast allein neben dem Toten, über den der Jacki, der Wildhüter, seinen Rock gedeckt hatte. Jaun sah sich unwillkürlich um, als es ringsum leer wurde. In langem Zug bewegten sich die gegen das Dorf hinab, die sich wortlos zur Partei der Clari-Marie bekannt hatten. Einige drehten die Köpfe nach ihm um; in dem und jenem Gesicht stand ein Hohnlächeln, auch finstere Blicke sah er, so als fluchten jene in sich hinein über den Hergelaufenen, der in ihre Angelegenheiten hineinredete. Aus der Reihe der hintersten wandte sich der Jakob Jacki, der Wildhüter, strich sich mit der schweren Hand über das volle, graue Haar, als ob er sich besänne, und kam dann in seinem schwerfälligen Schritt zurück. »Es kann nicht alles fortlaufen,« sagte er herantretend, »es wird jemand die Bahre tragen müssen, wenn sie sie bringen.« Die Worte waren halb an den Pfarrherrn gerichtet, er trat aber an diesem vorbei, noch immer wie in Gedanken, stellte sich neben den Toten und sah auf ihn nieder. Seine unter den eckigen Brauen hervorspähenden Augen glitten über den Leichnam hinaus, bald hierhin bald dorthin; einmal auch hob er plötzlich den Kopf und sah mit einem jähen und scharfen Blick hinter dem Rottalbauern her, der als einer der letzten in der Richtung nach seiner Hütte hin sich gemächlich entfernte, unterwegs die Pfeife ansteckte und, den Rücken den beim Gaden Stehenden zugewendet, stille stand, als läge ihm just an, zu zeigen, daß er keine Eile habe, von der Stelle, wo der Tote lag, wegzukommen.