Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Zwei rote Lichter tanzten am Berg, das eine aufwärts, abwärts das andre; über kurzem mußten sie sich treffen.
Jenseits über dem Axen dämmerte ein andrer Schein herauf, dort war der Himmel grauweiß; eine silberige Linie säumte das Gebirg; es begann zu tagen. Im Isengrund war noch alles Schatten und Nacht. Die Sterne standen über dem Tal, sparsam, vereinzelt. Im blauschwarzen Himmelsgrund blitzte es manchmal noch auf, als versinke etwas im Dunkel; das waren die Sterne, die erloschen.
Die Lehnen lagen verhüllt, Tannen und Fels und Matte, Hütten und Gaden, alles gleich verloren in Finsternis. Nur die zwei Lichter lebten darin; langsam stieg das eine, langsam sank ihm das andre entgegen.
»Wer kommt dort den Weg herab?« fragte der Fremde, der mit Pickel und Seil ausgerüstet auf dem Weg nach dem Rothorn war und dem Jakob Jacki, der Führer, mit der Laterne voraufstieg.
Der andre zuckte die Achseln. »Vielleicht der Scharfegghüttler,« murrte er leichthin. Dann fiel ihm die Höflichkeit ein, die nicht zu seinen Alltagsgewohnheiten gehörte, und er erläuterte: »Er wohnt da oben am höchsten am Berg, der Scharfegghüttler.«
Sie stiegen weiter. Der rote Laternenschein lief ihnen voran; blitzartig sprang mit jeder Aufwärtsbewegung ein neues Stück Weg ins Licht, zertretenes graubraunes Erdreich, glatter Fels, Geröll und armseliger Graswust. Der Stein kreischte zuweilen unter den schweren Bergschuhen der Ansteigenden, hie und da brach ein kurzes Klingklang dazwischen, wenn die Spitze des Eispickels auf Felsen traf. Friedrich Kirchhofer, der Städter, schritt groß aus mit wiegendem Gang, als wie mit geschmierten Gelenken. Jacki, der Führer, tappte schwerfällig vor ihm her; es war, als arbeitete er zäh, fast verdrossen Stück um Stück des Bodens unter sich. Sein Gesicht blieb hell dabei. Er sah nach Osten hinüber. »Die Laterne brauchen wir bald nicht mehr,« sagte er.
Der Herr blickte wieder über den Weg hinan. »Ihr, Jacki, ein Weibervolk ist's, was da kommt,« sagte er lachend.
Des Führers Blick folgte dem seinen. In dem knochigen, an Wangen und Kinn zur Not rasierten Gesicht wurden die Züge starr, die Augenbrauen rückten zusammen, bis sie wie zwei scharfe Ecken standen, daraus brach spähend der Blick der hellen blauen Augen.
Das Schwarz der Lehne hellte sich allmählich zu dämmerndem Grau. Ein Stück Weges oberhalb der Stelle, wo die Männer schritten, wurden die Umrisse einer weiblichen Gestalt sichtbar; neben ihr schwebte das zweite Laternenlicht einher. Jacki, der Führer, stand still. Er wandte den grauen, festen Kopf nach dem Herrn zurück. »Die Clari-Marie, die Hebamme,« sagte er, und fügte wie nach kurzem Besinnen hinzu: »Richtig, bei dem Scharfegghüttler seiner Frau wird sie gewesen sein!« Bei den letzten Worten hatte seine Stimme hellere Färbung. Das »Clari-Marie« hatte dunkel und leiser, fast scheu geklungen. Wieder stiegen sie darauf weiter.
»Tag, Jacki!«
»Tag, Clari-Marie!«
Die Stimmen des Führers und des Weibes mischten sich ineinander, als sie aufeinander trafen. Der Weg war schmal, zwei Grundstücke abgrenzende Lattenzäune engten ihn an der Stelle, die Clari-Marie warf den Arm über den einen und stellte sich mit dem Rücken an ihn, die Männer vorbeizulassen. Der Führer blieb stehen; er hatte mit der schweren Hand am Filz gerückt, als er gegrüßt hatte, eine sonderbare Art zwischen Gleich und Gleich. »Ist die Hüttlerin ins Bett gekommen?« fragte er. Der Städter stand dicht unter ihm und sah nach der Frau. Sie trug ein schwarzes, sauberes Gewand und hatte ein farbiges Tuch kreuzweise über die starke Brust geschlungen. Sie war mittelgroß, schwer, ihre Arme füllten die Aermel ihres Kleides so, daß diese sich in Falten spannten, und sie hatte ein gelbliches, volles Gesicht; Säcke hingen ihr unter den Augen, ihre Stirn war nicht hoch, strebte aber gerade, fast eckig zum dünnen, schwarzbraunen Haar auf. Um dieses Haar hatte sie ein farbiges Schnupftuch mit nach hinten hängendem Zipfel gebunden, das unterm Kinn verknüpft war. Auf des Führers Frage nickte sie zustimmend; in ihrer Haltung aber lag Ungeduld, als gäben ihr die Männer den Weg nicht rasch genug frei. Jakob Jacki tat einen Schritt bergan, aber er schien zum Plaudern aufgelegt und bemüht, der andern freundliche Worte zu geben. »Der Hüttler ist auf Strahlen aus,« sagte er, »du –« da stockte er und ließ die blauen Augen die Freundlichkeit sagen, die ihm in Worten nicht einfiel.
»Das Buckeli hat mich gerufen,« sagte die Clari-Marie. Dann fügte sie, während sie sich abwendete und an dem Städter vorübertretend den Abstieg wieder aufnahm, trocken und kurz hinzu: »Ja, es ist eine ganz schwere Nacht gewesen.«
»Guten Tag,« grüßte Kirchhofer, als sie, mit dem Arm fast den seinen streifend, vorüberging.
»Ja,« gab sie zurück. Es klang kurz hervorgestoßen, und es lag schon ein Stück Weges zwischen ihnen, als sie es sagte; der Städter wußte nachher kaum, ob sie ihn gegrüßt hatte oder nicht.
Die beiden Männer begannen wieder ihr gleichmäßiges, stetes Bergansteigen. »Was ist das für eine?« fragte Kirchhofer der Clari-Marie nach, »eine Kurze scheint sie.«
»Ja, das ist schon eine,« gab der Führer mit seltsamer Betonung Bescheid. Im Weitersteigen stieß er in Absätzen und langen Zwischenpausen eine Auskunft nach der andern heraus, während der Städter schweigend hinter ihm schritt. »Die weiß mehr als eure Doktoren im Tal, Herr!« – »Ein Doktor ist im Isengrund noch keiner gesehen worden.« – »Ja, eine Gute ist sie schon, die Clari-Marie!« – »Schreinern kann sie auch.« Hier wandte Jacki den Kopf und lachte. »Schreinern! Habt Ihr auch schon ein Weibervolk mit Hobel und Stemmeisen hantieren sehen?«
Kirchhofer strich sich den langen braunen Bart und lachte mit.
»Seit der Truttmann, ihr Mann, tot ist, schreinert sie weiter mit dem Toni, dem Gesellen, zusammen,« berichtete wieder weiter tappend der Führer. Seine Gedanken kamen lange nicht von der Clari-Marie los. Oft stiegen sie lange wortlos fürbaß, dann brach er plötzlich wieder mit einer Bemerkung dazwischen, die auf die Truttmannin Bezug hatte. »Ja, ja, ein Doktor kommt nicht nach dem Isengrund,« wiederholte er, als sie schon hoch über dem Tale standen, wo der Weg auf Firn übertrat und sie sich ans Seil banden.
»Ich bin aber ein halber,« gab Kirchhofer zurück, »ein Apotheker bin ich.«
Darob mußte Jacki lachen. »Und seid doch hergekommen, meint Ihr,« sagte er. Sein Blick hing dabei mit treuherziger Neugier an dem schönen Manne. »Es nutzt auch nicht viel, das Pillen- und Salbenzeug, das Ihr verkauft,« meinte er trocken.
Kirchhofer lachte wieder und herzlicher. Dann hoben sie die Firnwanderung an. Es war jetzt ganz hell. Wie ein zartes, knisterndes Goldgewebe lag der Schein der aufsteigenden Sonne über dem verschneiten Rothorngipfel. Der Himmel war blau, er quoll zu beiden Seiten des leuchtenden Berges hervor. Der Gletscher, der wie ein fahler Mantel um des Berges Schultern geschlagen war, lag noch im Schatten. Er war kalt, tot. Zwei schwarze Punkte auf bleichem Feld zogen der Führer und der Herr über ihn hin.
*
Die Laterne der Clari-Marie stand daheim zwischen den Gitterstäben des kleinen Fensters, das neben der dunkelgrünen Haustür mit dem Messingknopf wie zur Wacht auf den Rothornweg schaute, wenig oberhalb der Stelle, wo dieser in die Dorfstraße mündete. Dort stand sie seit Stunden wieder, stand dort, bis wieder einer des Nachts mit der Faust an die Tür schlug: Clari-Marie, komm, hilf! In die Ecke, die die zwei Wege bildeten, war das Haus der Truttmannin hineingebaut. Das Haus und die Werkstatt! Eigentlich war das alles nicht ihr allein eigen; es gehörte den vier Schwestern, den Zieglermädchen, von denen die Truttmannin eine war; auch die früheren Eigner wohnten mit darinnen; der Chrysostomus Ziegler, der Vater, und sein Weib; diese beiden aber waren nur noch Menschenreste, armselige Reste, die im Sommer an die Sonne und im Winter an den Ofen gesetzt werden mußten, damit das bißchen warme Leben im hundertjährigen Körper nicht erstarrte. Das Haus war klein und sauber, eines der besten im Dorfe, seine vier Mauern trugen grauen Besenwurf, zu dem die grünen kleinen Fensterladen der zwei Stockwerke wohl standen. Das Ziegeldach saß tief auf dem Unterbau, das ganze Haus, da es tiefer stand als der Rothornweg, hatte etwas sonderlich Bescheidenes, gleich einem Menschen, der sich gern in der Menge der übrigen versteckt und halb scheu, halb schalkhaft aus ihr hervorpiept. Wie das Haus waren die Ziegler selber, sie liebten es nicht, vorn zu sein, waren ihrer Lebtag stille Leute gewesen. Von einer der hohen Berglehnen herab gesehen, fiel das Zieglerhaus unter den andern Hütten dennoch auf, just weil es harte Bedachung trug, während seine nächsten Nachbarn, die von Alter und Stürmen braun gewordenen Hütten des Altdorfes, noch alle mit Schindeln gedeckt waren. Als es vor ein paar Jahren das neue Dach bekommen sollte, war für die Truttmannin einer der seltenen Anlässe zum Lachen gewesen. »Ein neues Dach muß das Haus haben?« sagte sie, »so müssen Ziegel darauf, natürlich; Ziegler müssen unter Ziegeln wohnen!« –
Der Tag war auf. Am Rothorn brannte das Frühgold. Die Clari-Marie war geraume Zeit von ihrem Gang nach der Scharfegghütte zurück. Sie kam aus ihrer im oberen Stock gelegenen Kammer, bleich wie vorher, aber frisch; in den Augenwinkeln und an den Schläfen standen noch Tropfen des kalten Wassers, in das sie den Kopf gesteckt hatte, und das schwarzbraune, straff am Kopf zurückgenommene Haar war feucht. Sie ging in demselben schwarzen, sauberen Gewand, nur die Tücher hatte sie abgelegt. Durch die niedere Tür, dem Hauseingang querüber, trat sie in die Wohnstube; die sah mit vier kleinen Frontfenstern nach Osten, wo in einiger Entfernung die Kirche von Isengrund am Taleingang stand, scharf hingezeichnet wider die blaue Luftlinie, als hörte hinter ihr die Welt auf und ginge der Himmel an. Ein Seitenfenster gab der Stube Ausblick auf den Nebenbau, die Werkstatt. Der Wohnraum selbst war sauber und traulich; den langen, der Frontfensterflucht entlang stehenden Tisch deckte ein braunes Wachstuch. Auf der Fensterseite liefen Bänke an ihm hin, diesseits standen schlichte, dunkelgebeizte Stühle. Ein abgenutzter Nähstock war an das Seitenfenster gerückt; in der Ecke zur Linken der Tür stand ein breiter, tannener Schrank, ihm war Nachbar, breitspurig die ganze Ecke füllend, der Ofen aus grauem Granit. Die Clari-Marie trat zum Tisch, rückte ein paar Tassen zurecht, die dort, wie just hereingetragen, in einem Haufen standen und lagen, und wandte sich dann nach einer Nebenkammer. Indessen kam die Cille aus der Küche, die zweitjüngste der Zieglermädchen, und trug das Morgenbrot auf. Die Cille, die groß und hager war und fast gebückt gehen mußte, damit sie mit dem in schweren Zöpfen den Kopf umspannenden schwarzen Haar nicht die niedere Diele streifte, trat an die Nebenkammertür, sprach ein Wort hinein: »Essen«, tat dann das Seitenfenster auf und rief mit einer herben, spröden Stimme dasselbe Wort: »Essen« nach der Werkstatt hinüber. Daraufhin und während die Cille noch hantierend hin und wieder ging, füllte sich die Stube mit denen, die zu den Mahlzeiten an den Tisch gehörten. Der Chrysostomus Ziegler, der Alte, kam zuerst herein, er kam am Arm der Clari-Marie, in dicke Schafwollkleider gewandet, obwohl es Sommer war; an den Füßen hatte er Filzschuhe, so mächtig, daß der kleine, gebrechliche Mensch darinnen fast unterging, auf dem Kopf trug er eine Pelzkappe tief in die Stirn gedrückt, in der sich, wie mit sicheren Stichen genäht, Falte an Falte reihte. So von unzähligen Falten durchzogen war das ganze kinderhaft schmale, bartlose Gesicht, den Wirrwarr von Runzeln unterbrachen nur die Augen, die als zwei trübe, rotumrandete Punkte tief in den Höhlen standen. Ihr Blick war spähend, mühsam, der Hundertjährige reckte den Hals vor, als er mühselig an den Tisch schlich. »Sind die andern noch nicht da?« fragte er in langsamem und doch verdrießlich keifendem Tone.
Die Clari-Marie gab keine Antwort. Sie ließ ihn in die Bank treten, und als er sich selber weiterhelfen konnte, wandte sie sich und ging in die Kammer zurück. Indessen schallten schlürfende Männertritte im Flur, dann trat ein graubärtiger, nach vorn gebückt gehender Bauer in die Stube, der die Weste offen und die Hemdärmel bis zu den Ellbogen der dunkeln, knochigen Arme aufgekrempelt trug und dem der Holzstaub an den Kleidern hing, der Toni, der Schreiner. Er und ein bleicher Bub, der hinter ihm ging, setzten sich an den Tisch; auch die Cille nahm Platz. Aus der Nebenstube kam die Clari-Marie mit einer Last auf den Armen gegangen. Es sah sich an wie ein Bündel Kleider. Aber der Clari-Marie an der Brust lag ein eisgrauer, kleiner Kopf. Diese trat an die Bank, ließ das Häuflein Menschenleib, das sie trug, nieder und rückte es dem Alten nahe, dem die Cille Milch und Brot rüstete. Das war die Ziegler-Anni, des Alten Weib, der noch zwei Jahre an dem vollen Hundert fehlten, und die doch gebrechlicher war als der, mit dem zusammen der Herrgott sie hatte überzeitig werden lassen. »Jere-ja,« seufzte das greise Weib auf; es klang fast wie ein Schluchzen. So mit Seufzen hob sie jeden neuen Tag an, und mit ihrem weinerlichen, halb kindischen »Jere-ja – jere-ja« fuhr sie immer wieder dazwischen, während die andern über dem Morgenbrot von dem und jenem hin und her redeten. Die Clari-Marie saß am unteren Tischende; bei ihr liefen die Fäden des Gesprächs zusammen; irgendwie geschah es und unbewußt, daß jedes ihr etwas zu sagen oder sie etwas zu fragen hatte. Mit der Cille sprach sie von einem Bauer, der am frühen Morgen dagewesen, von einer Frau, die kommen wollte. »Das und das tust nachher,« wies sie den Toni, den Gesellen, an. Dazwischenhinein fand sie Zeit, den Vater zu tadeln, der nicht hungrig schien: »Esset das Brot, Vater, seid nicht so wählerisch,« und die Mutter zu schelten, die wieder ihr »Ja-jere-ja« sang: »Jammert jetzt nicht immer; Ihr macht dem Herrgott seine Welt nicht anders.«
Einmal wandte sie sich zu dem Buben: »Heute muß die Streu ein, du, gleich nachher kannst gehen, so bist am Abend rechtzeitig zurück.«
Jaun Ziegler, der Bub, bog den Kopf mit dem langen, fleckigen schwarzen Haar tiefer über die Tasse und murrte halb scheu, halb verdrossen ein »Ja«. Die Cille sah auf und nach der Schwester hin; sie tat den schmallippigen herben Mund auf, als wollte sie reden, aber die Clari-Marie streifte mit einem flüchtigen Blick ihr hageres Gesicht und sagte: »Er wird wohl gehen können, der Bub; vom Stubenhocken wird er nicht stärker.«
Da flogen dem Jaun zwei kleine rote Flecken auf die kalkweißen Wangen; er hob das unschöne Gesicht und sagte heftig und gekränkt: »Natürlich kann ich.«
Die lange Cille aber beendete ihr Frühstück und stand auf, und obwohl sie gerade und aufrecht hinausging, war es, als trüge sie eine Last auf dem Rücken. Auch die Clari-Marie war bald satt; sie rückte die Tassen an den Tisch und sprach mit dem Toni von Geschäften. Indessen kamen die Alten mit der Mahlzeit zu Ende; dann verließen der Knecht und der Bub die Stube. Die Clari-Marie hob die Mutter von der Bank und trug sie zum kalten Ofen hinüber; dort hatten die Alten ihren Platz. Ihr nach hinkte auch der Ziegler, vom Tisch zur Wand, von dieser zum Ofen. Er kletterte neben sein Weib, schnaufte mühsam; nach einer Weile grub er in der Tasche seiner rauhen Hose nach der Pfeife, holte sie heraus, stopfte und brannte sie an. Es war eine lange und langwierige Arbeit. »Jere-ja,« ächzte sein Weib dicht neben ihm.