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Nun war es Sommer! Einige der Dörfler im Isengrund machten vergnügte Gesichter. »Was für ein Leben ist jetzt bei uns!« sagten sie. Das waren die, die von den Fremden Verdienst hatten, kleine Händler, Führer, Träger. Andre hatten finstere Mienen. »Uns selber finden wir nicht mehr zurecht daheim,« murrten sie, »jeder zweite Mensch, den man antrifft, ist ein Fremder!« Das waren die, denen der »Löwe« und seine Gäste nichts eintrugen. Der Löwenwirt lachte mit dem ganzen Gesicht. Seine Stuben waren voll. An allen Hängen kletterten seine Gäste herum, der Jacki und andre Führer hatten kaum einen Tag Ruhe. Nur die Klubbisten von St. Felix stiegen ins Rottal hinauf und nahmen den Kehle-Gisler mit, den »Lätz.«
Jaun, der Doktor, hatte Arbeit. Die Fremden, die herkamen, hatten ihn nicht ungern. »Haben Sie den Doktor konsultiert, den Ziegler?« fragte wohl manchmal einer den andern und dann lachten beide Sprechenden. »Ein sonderbarer Mensch, ein unbeholfener, aber einer, der herauf paßt in die Bergeinöde, einer, dem man anmerkt, daß er daraus kommt und darin heimisch ist, und einer, der etwas kann!«
Von den Bauern kam keiner zu dem Jaun, die schwuren noch immer auf die Clari-Marie. Diese ging still ihrer Wege. Wo eine Frau ihre schwere Stunde hatte, war sie zur Hand, und ihre Hilfe war noch dieselbe, den Schwächsten und Verzagtesten Mut einflößende, aber stiller war sie als früher, und in keinem Hause ging sie länger aus und ein, als die Pflicht von ihr forderte. Denn sie hatte eine Art Trauer an sich, ein Gefühl, über das sie sich selber kaum klar war, als – als erdbebnete es in ihrem Leben.
Die Cille war nun schon lange fort. Die Severina lief fleißig hinüber zu ihr; die zwei Schwestern selber sahen sich kaum je. Die Clari-Marie versuchte mit der Viktorine, der Pfarrmagd, wieder Freundschaft zu halten; denn der Pfarrherr zeigte sich eifriger als je, und die Viktorine fehlte nie in seiner Predigt; die Clari-Marie aber war lange gewohnt, Menschenwert nach Frömmigkeit zu messen. Eines Tages kam der Töni, der gebrechliche, dem das Tagewerk nicht mehr leicht von Händen ging und für den sie, die Clari-Marie, die schwerste Arbeit selber tun mußte, heim und erzählte: »Habt Ihr's gehört wieder, das vom Pfarrherr von gestern?«
»Was?« fragte die Clari-Marie arglos.
»Nichts gemacht ist ein solches Leben,« schalt der Töni, »frei und offen sage ich's, nichts gemacht ist es für einen Pfarrherrn. Beim Truttmann, beim Wirt unten, haben sie ihn in der Straße gefunden! Sein Geburtstag sei gewesen, haben sie erzählt.«
Die Clari-Marie fror. Das war der Gottesdiener, von dem sie das sagten!
Der Töni, der mit den Jahren noch geschwätziger und eifriger geworden war, fügte hinzu: »Wie der Herr ist die Magd! Das wissen alle im Dorf.«
Die bleiche Frau schüttelte sich; ein Ekel kam sie an. Sie konnte dem Knecht nicht »nein« sagen! Wortlos ging sie aus der Werkstatt in die Stube, aus der Stube in die Kammer. Dort setzte sie sich nieder und legte die Hände in den Schoß. Es erdbebnete in ihrem Leben! Immer mehr wurde es ihr bewußt. Jetzt – jetzt war ihr die Kirche verloren gegangen.
Seit dem Tage sahen die vom Isengrund die nie mehr in der Predigt, die früher die fleißigste gewesen war. Sie wunderten sich und tuschelten, fragten hin und fragten her. Es erriet keiner, daß sie fern blieb, weil in der Kirche ein Unwürdiger zwischen ihr und dem Herrgott stand!
Dafür geschah es, daß sie manchmal am Abend nach der Rottalhütte hinaufstieg. Dort wußte sie den Furrer und sein Weib über der Bibel sitzen. Sie setzte sich zu ihnen und hielt Andacht, glaubte an die Inbrunst, mit der die beiden beteten, und wunderte sich darüber, wie neben dem Laster der beiden, dem Geiz, die fast leidenschaftliche Frömmigkeit Raum hatte.
So glühte der Sommer. Als die Sonnenglut am höchsten gestiegen und im Gasthaus im Isengrund kein freier Platz mehr war, weil so viele aus dem heißen Tal in die freiere, kühlere Bergluft hinaufstrebten, geschah das, was wie ein Blitzschlag aus dem heiteren Himmel fuhr und Fremde und Einheimische aus ihrer Ruhe rüttelte.
Bald nach Tagesanbruch trieb an einem Montag der Geißbub vom Isengrund, ein lebendiges und gesundhirniges Bürschlein, seine Tiere haldan und talein. Nach Verlauf einer Stunde, während welcher, wer im Isengrund gehorcht hätte, das Jodeln des Buben ferner und ferner, aber immer gleich keck hätte herabklingen hören, kam dieser, im Gesicht weiß wie der Winterschnee, zurückgestoben, warf in der Gasse beide Arme aus wie ein Verzweifelter und stieß gellende Rufe aus: »Jesses! Jesses!«
Die Weiber schossen aus ihren Türen hervor und auf den Buben ein, aber auch Männer traten herzu, und zwei Engländer, die früh aus den Federn waren, stellten sich mit in die Taschen gesteckten Händen breitspurig in den Kreis, der sich um den Buben bildete, und besahen sich diesen und sein absonderliches Gebaren.
»Was ist? Was hast?« plagten die vom Isengrund den Geißbuben. Eine Ueberneugierige packte ihn am Arm und schüttelte ihn, als könnte sie die Antwort aus ihm herausschütteln. Aber eine ganze Weile brachte er nur ein »Jesses« ums andre über die farblosen Lippen. Endlich, als der Pfarrherr zufällig des Weges kam, seine ganze Würde zusammennahm und den Erregten salbungsvoll zur Ruhe mahnte, zog dieser den Atem an, sah mit erschreckten Augen um sich und erzählte in abgerissenen Sätzen. »Am Weißbachwald oben, wo der Weg nach dem Wildgletscher geht – liegt – liegt der Jacki-Werner tot!«
»Jesses!«
Jetzt waren es die Weiber, die kreischten. Die Gesichter verfärbten sich. Nur die beiden Engländer, die nichts verstanden, sogen gleichgültig an ihren kurzen Pfeifen, die ihnen im Munde steckten.
»Er – liegt mit dem Gesicht dem Boden, zugekehrt!« stammelte der Bub.
»Und den Hut unter der Brust!« schrie eine Frau auf.
»Und den Hut unter der Brust, wie der Scharfegghüttler gelegen hat,« bestätigte der Bub.
Die Weiber ächzten. Ein paar Männer drehten sich wortlos und auf der Stelle. Sie stiegen den Weg hinauf, über den herab der Geißbub gekommen war. Der Pfarrherr, der zitterte und so weiß war wie sein Chorhemd, wenn die Viktorine es frisch gewaschen hatte, meinte: »Zum alten Jacki muß einer laufen zuerst! Der wird Bescheid wissen. Der würde doch wohl etwas haben verlauten lassen, wenn der Werner über Nacht gefehlt hätte daheim.«
Da gaben zwei, drei aus der sich schnell mehrenden Menge Bescheid: »Fort ist der Jakob, der Jacki, schon gestern ist er aus, über den Morgenhorngrat ins Oberland hinüber mit einem Fremden! Heute abend will er zurück sein!«
Dann lief und rannte, was Beine hatte, bergan die einen, den Männern nach, die vorausgestiegen waren, in die Häuser die andern, von Haus zu Haus: »Jesses, und denket, jetzt ist der Jacki-Werner auch erschlagen worden.«
In den »Löwen«, dessen Tür sonst vornehm alles fernhielt, was das »Herrenvolk,« das innen wohnte, belästigen konnte, sprang die Nachricht, laut, kreischend, just wie in jedes andre Haus. »Jetzt ist schon wieder einer ums Leben gebracht worden!« Auch das andre fehlte nicht, was im Dorf von Lippe zu Lippe ging: »Den Schuldigen werden sie auch diesmal nicht finden, auch diesmal nicht! Auf dem Gesicht hat der Werner gelegen und den Hut unter der Brust!«
Der Huber, der Löwenwirt, bekam einen roten Kopf. Er hätte die Nachricht gerne hinausgejagt, aber sie läutete schon in den Ohren aller seiner Gäste; und hinter der Menge der Dörfler, die jetzt nach dem Weißbachwald hinaufeilte, stiegen eine Anzahl Fremde. Um ein weniges vor ihnen schritt der Jaun, der Doktor, allein, bleich, mit gesenktem Kopf.
Irgendwie geschah es, daß das Schreckliche in das Zieglerhaus fast zuletzt drang. Ein Weib aus der Schar derjenigen, die noch immer in den Gassen standen, zuckte plötzlich auf. »Ist jemand bei der Clari-Marie gewesen? Weiß sie es schon, die Clari-Marie?«
Der ganze Haufe trollte sich darauf dem Rothornweg zu. In der Werkstatt fanden sie die Clari-Marie und den schwerhörigen Töni bei emsiger Arbeit. Beide sahen verwundert auf, als die Tür den Haufen Weiber einließ. Die kamen nicht weit herein; über die Schwelle traten die vordersten, dann hielten sie inne in jener Scheu, die sie immer in der Nähe der Clari-Marie befiel; hinter ihnen streckten und reckten die andern die Hälse: »Hast – hast es gehört, Clari-Marie?« fragten gleich zwei, drei auf einmal.
»Was?« sagte die Truttmannin. »Was ist denn?« fragte sie dann rascher und legte die Säge zur Seite, die sie geführt hatte.
»Der Werner Jacki ist erschlagen!«
Da strich sich die Clari-Marie mit beiden Händen das wirr gewordene Haar zurecht und trat vollends hinter dem Werktisch hervor und unter die Weiber. Unwillkürlich gaben sie ihr den Weg frei. »Was? Wo?« fragte sie erschreckt. »Das ist ja nicht möglich,« fügte sie hinzu.
Die Weiber sprachen von allen Seiten erklärend auf sie ein. Alle miteinander traten vor die Werkstatt hinaus; zu hinterst kam der schwerhörige Töni und ließ sich von einer Frau erzählen, was geschehen war. Die Clari-Marie sah sich um, es war etwas Hilfloses in ihrem Blick, halb zu sich selbst stammelte sie: »Was – was ist denn mit unserm Dorf auf einmal!«
Von den Weibern wich keine vom Fleck; es war, als warteten sie, daß die Clari-Marie einen Rat, eine Erklärung gebe. Auf einmal schallte ein schrilles Lachen über die Köpfe der Beieinanderstehenden hin. Die Spottlaute trafen diese so plötzlich, daß sie in neuem Schrecken aufzuckten. Ein Stück weit höher am Weg stieg der Kehle-Gisler, der Lätz, über den Holzhag einer Matte in den Weg hinein. Er hatte einen leeren Korb am Rücken hängen. Die Pelzkappe saß tief im spärlichen gelbgrauen Haar, der lange, dünne Bart wehte im Wind, die mächtigen gelben, hervorstehenden Zähne blinkten. Jetzt lachte er wieder. Es war wie das Meckern einer Ziege, und wie eine Ziege hatte der Gisler ein Gesicht. »Weiber, Weiber, nichts als Weiber,« spottete er. Dann sang er dazwischen und lachte wieder. »Weiber, Weiber, wie die Raben ums Aas stehen sie um den einen Fleck!« Er verfiel in neues Singen, tat ein paar Sprünge und hob an, wegan davon zu steigen.
»Ganz verrückt ist er bald,« sagte eine der Frauen. Einen Augenblick sahen sie ihm nach. Dann kam ihnen die Erinnerung an das, was sie hergeführt hatte, zurück; die Gruppen schlossen sich. »Was – was ist das mit uns hieroben auf einmal,« stammelte die Clari-Marie wieder. Die andern Weiber faßte ein Eifer. Ihre Unterhaltung wurde lauter. »Es kommt nicht aus, wer es getan hat,« sagte eine.
»Seines Lebens kann man nicht mehr froh sein, solang es nicht auskommt,« meinte eine zweite. Eine andre fuhr auf. »Der Herrgott wird es doch endlich an den Tag kommen lassen, wer so grunderdenschlecht ist,« zeterte sie.
»Am Ende ist es doch der vom Rottal – am Ende,« ließ sich plötzlich eine vierte vernehmen.
Das Wort erreichte die Clari-Marie. Langsam wie noch immer sinnend wendete sie sich nach der Sprechenden um. »Was redest jetzt, du dort, Seppe?« fragte sie. »Kannst dich dann mehr in acht nehmen, wenn du redest.«
Die andre, eine etwa vierzigjährige starke Frau mit offener Stirn, trat der Clari-Marie näher. »Er ist dein Schwager,« sagte sie, »aber vor dir darf ich deswegen doch frei und offen reden. Er hat dem Werner den Lohn versprochen, der Furrer, weißt noch, weil er ihm das vom Gewehr ausgebracht hat beim letzten Gericht.«
Die Clari-Marie starrte vor sich nieder. Selbst die langsamen Weiber errieten wie hinter ihrer geraden, eckigen Stirn die Gedanken sich jagten. Plötzlich warf sie jäh beide Arme fast leidenschaftlich aus. »Wer kann sagen: Der ist's und der! Wer kann sagen: Der vom Rottal ist's! Kann es nicht ein andrer sein! Kann es nicht ebenso gut der Halbverrückte sein, der Lätz, da oben, der an nichts glaubt!«
»Der Lätz?« echoten die Weiber. Es war, als leuchte ein Licht in ihnen auf. Die Mäuler regten sich aufs neue und emsiger. Der Lätz! – Gerade so gut der Lätz könnte es sein. Ein Gottesleugner war er, der Lätz! Sein konnte der's sicher! Aber – aber auch der andre …
Die Clari-Marie sah aus, als friere sie innerlich, ihr Gesicht war fast ohne Leben. Ein Weib fragte sie: »Willst ihnen entgegengehen, den Männern?« Da antwortete sie: »Was nutzt's? Geht ihr, wenn's euch darum ist. Ich will dann nachher hören, was weiter wird! Wenn sie ihn gebracht haben, den Werner.«
Damit machte sie sich langsam von ihnen los.
Als sie sahen, daß die Truttmannin unter die Haustüre trat, trollten sich die Weiber wieder ins Dorf hinab. Zuletzt stand der Töni, der Gesell, allein in der Gasse und staunte zerfahren um sich.
Die Clari-Marie war ins Haus gegangen. Drinnen in der Stube saß sie auf einem Stuhl, schwer und gebeugt und doch stark. – Dem Furrer trauten sie die Untat zu, dem Schwager! War es möglich? Menschenmöglich? Alles fiel ihr wieder ein, das mit dem Schaf, mit dem getöteten, der Geiz der beiden vom Rottal, das mit dem Gewehr, dessen Besitz der Furrer geleugnet und die Drohung, die der Furrer gegen den Werner ausgestoßen hatte! Aber eine andre Erinnerung erhob sich dagegen. Saßen sie nicht allabendlich über ihrer Bibel, der Schwager und die Schwester, wußten sich nicht genug zu tun mit Beten! Und zwei dermaßen Fromme sollten eine Schuld auf sich haben, eine solche Schuld! Die Clari-Marie schüttelte den Kopf, die Wangen wurden ihr heiß. Es bäumte sich etwas auf in ihr; es war, als rede etwas in ihr: Die gibst nicht auch noch her, den Schwager und die Schwester! Du bist nicht mehr so reich in deinem Leben, Clari-Marie, daß die auch noch hergeben kannst! Dann fühlte sie, daß sie sich wieder mit aller Macht dagegen stemmen würde, wenn sie die vom Rottal vor Gericht ziehen wollten.
Da klang aus der Ferne ein dumpfes Murmeln vieler Stimmen. Jetzt schlug die Kirchenglocke an, die kleine, mit der sie ins End läuteten! Sie brachten den Werner heim, den Erschlagenen!
Die Clari-Marie stand auf. Unwillkürlich trat sie ans Fenster, obschon sie wußte, daß sie nichts sehen würde. Sie schlug das Kreuz und betete.