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Das jüngste Kind einer Welschen war krank, eines armen Weibes, das zehn Kinder zur Welt gebracht und erfahren hatte, welche Hilfe die Clari-Marie für ein Bettelweib wie sie war. Die schickte nicht zum Doktor, als ihr vierjähriger Bub sich an dem Uebel legte, das im Dorf war und nicht weichen wollte; zur Clari-Marie rannte sie: »Komm, Frau, hilf!«
Die Clari-Marie ging hin; sie hatte schmale Lippen, als sie in die dumpfe, fürchterliche Stube trat, in der die andern Kinder mit dem kranken zusammengesperrt waren; auf der Zunge lag ihr ein: »Schick zum Doktor, Frau; der gilt jetzt im Dorf, nicht mehr ich.«
Aber als sie das Elend wieder sah, das sie zehnmal hatte kennen lernen können, brachte sie es nicht anders über sich und war es ihr, als könnte hier kein andrer, als müßte sie helfen. Sie mühte sich um das Kranke, ordnete die Stube, lüftete und sah doch, daß die Geschwister des erkrankten Kindes da nicht bleiben konnten, sollte das Uebel nicht auch an sie kommen. Sie brachte die älteren nach vielem Bitten und Betteln bei Nachbarn unter, drei nahm sie selber nach Hause. »Da, Kind, hast Gesellschaft und kannst abwarten,« sagte sie zur Severina. Die war froh wie kaum je, räumte zwei Kammern zurecht und verzog von der Clari-Marie, damit sie nachts in der Nähe des welschen Kleinvolks sei, über die Treppe hinauf in eine der beiden Dachstuben.
Am nächsten Tage schon waren die Kinder heimisch, und die Severina ging mit leichten Schritten im Hause umher, hatte glänzige Augen und lachte mit dem Kleinvolk um die Wette. Jetzt war Leben im Haus!
Eines Tages kam die Clari-Marie zurück, blickte nicht so bitterlich streng und verschlossen wie sonst, hatte fast ein leises Rot der Freude auf den Wangen. »Jetzt wird er gesund, der Welschen ihr Bub,« sagte sie. Die Nacht war sie fortgeblieben und hatte bei dem kranken Kind gewacht. Wunder, Wunder, jetzt wurde es gesund, ihr wurde es gesund!
Die Severina, die ihr in den Flur entgegengegangen war, sah bleich aus. »Aber,« sagte sie hastig, »mit der Maria, dem Mädchen, ist es nicht recht. Es liegt noch oben im Bett. Die ganze Nacht hat es gefroren, mit nichts habe ich es erwärmen können. Zu mir habe ich es genommen, und doch hat es geschüttelt vor Frost.«
Die Clari-Marie blieb mit einem Ruck auf dem Weg in die Stube stehen. »Oben liegt es, das Kind?« fragte sie.
Die Severina nickte. Da trat die Clari-Marie auf die Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Aber sie wendete sich plötzlich wieder: »Zu dir hast es genommen?« fragte sie hastig und mit kurzem Atem. Und kopfschüttelnd ging sie hinauf zu dem Mädchen.
Am Ende war es: Das Mädchen der Welschen, die Maria, wurde krank im Hause der Clari-Marie, während der Bub daheim bei der Mutter rasch genas. Da ließ die Clari-Marie die zwei gesunden Kinder in ihre eigne Stube bringen und verbot ihnen, die kranke Schwester zu sehen; sie selber trat oben bei dieser die Wacht an. Die Severina hieß sie auf die gesunden achten. »Daß du mir nicht mehr zu der Maria hinaufgehst,« schmälte sie.
Aber die Severina hatte für das Kranke mehr Liebe und Mitleid als für die Gesunden, stand manchmal plötzlich hinter der Base, wenn diese um das fiebernde Kind sorgte, und lieh ihr Hand; und die Frau war so versunken und eifrig in der Pflege, daß ihr oft nicht auffiel, wie die Severina ihr eignes Gebot übertrat. Plötzlich freilich pflegte sie dann zu erwachen, schob das Mädchen mit unwirscher Eile aus der Kammer, sagte ein: »Jetzt kommst mir nicht mehr, hörst,« aber ihr Drängen war nicht so streng wie sonst; da sie zu wohl unterschied, wie das warme Herz die Severina zum Helfen trieb, und sie darum nicht schelten mochte.
Dann geschah auch das Große und Freudige noch, daß dieses zweite Kind genas. Es kam der Tag, an dem die Clari-Marie die Kinder wieder heimbrachte zu deren Mutter. Mit festem, raschem Griff tat sie bei der Welschen die Tür auf. »So,« sagte sie im Eintreten mit ihrer klaren, starken Stimme, »jetzt ist wieder einmal Sonntag, Frau! Jetzt kannst deine der Reihe nach ansehen; es ist keines mehr mehlfarbig wie auch schon.«
So ließ sie dem Weibe die Gesundheit in der Stube zurück und einen kleinen Reichtum, die Tage neu anzufangen; ein Laib Brot lag auf dem Tisch, ein paar Franken daneben, und drei der Kinder gingen in neuem Gewand von dem starken Tuch, wie die Clari-Marie es selber aus Schafwolle spann.
Die Krankheit wich nicht nur aus der Elendstube der Welschen; sie verließ auch das Dorf. Da hatte der Jaun sie vertrieben. »Das ist denn schon ein Geschickter,« sagten die vom Isengrund.
Der Winter ging zu Ende. Es wurde wärmer im Tal. Schmutzige Eiskrusten lagen noch über den Wegen, aber über die Mittagsstunden rannen Bäche daraus und die Dachtraufen liefen, und oben am Rotstock kam die große Laue, die immer den Frühling ansagt.
»Brauchst auch nicht mehr so einzuheizen, jetzt,« sagte die Clari-Marie zur Severina. Sie saß über eine rauhe Näharbeit gebeugt und öffnete jetzt das Kleid am Halse. »Jesses, wie heiß,« stöhnte sie.
»Es ist doch noch kalt,« gab die Severina zurück. Da sah die Clari-Marie erst, daß sie am Ofen stand und sich wärmte.
»Ja, frierst denn, du?« fragte sie staunend. »Gestern und heute friere ich immer,« antwortete die Severina. Jetzt sah die Clari-Marie das andre noch, das, daß das Mädchen wundersam aussah, wie ein Wachsbild, Nase, Stirn, Wangen und Lippen, alles weiß, aber scheinig, wie mit unsagbar feinem Werkzeug geschnitten und geglänzt, das Gesicht schmal, von großem Ebenmaß. Der Clari-Marie fuhr es wie ein Stich ins Herz: Wie ein Engel ist sie, das Kind!
Sie erhob sich langsam, legte die Arbeit weg, schüttelte den Kopf. »Was hast denn? Was ist denn mit dir?« Mit diesen bedächtigen Reden kam sie langsam an die Severina heran, die lächeln wollte und doch einen ängstlichen Ausdruck in den Augen hatte. Die Clari-Marie nahm sie bei der Hand, aus ihrer Stimme klang eine leise Unruhe. »Zeig her – hast – hast Fieber?« Sie griff dem Mädchen den Puls; einen Augenblick stand sie still, die weiche Hand der Severina war wie Samt an ihren glasigen Fingern. Jetzt ging ein Schauder durch des Mädchens Gestalt.
»Leg dich nieder,« sagte die Clari-Marie. Sie schob die Severina selber vom Ofen hinweg und in die Schlafkammer hinüber. »Hast dir am Ende doch etwas geholt bei dem Kind, der Maria,« schalt sie, während jene sich entkleidete, und zweimal schritt sie die große Kammer auf und ab, als litte es sie nicht an einer und derselben Stelle. Nachher maß sie das Fieber, murmelte etwas in sich hinein und kramte dann in einem Schrank nach Kräutern und Tränken. Lange stand sie davor, wählte und legte wieder zurück, besann sich, kam zum Bett und ging wieder zum Schrank. Endlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte, aber in der Stube draußen, in die sie jetzt trat, hielt sie plötzlich inne, atmete zitternd und kurz, als ob ihr eng sei und besann sich wieder – lange. »Jesus, mein Gott,« sagte sie, als sie nachher in die Küche ging, einen Trank für die Severina zu richten.
Die Clari-Marie war tags ihres Lebens keine zaghafte Frau gewesen. Ihren Weg war sie gegangen, wie es ihr recht dünkte, gefragt hatte sie keinen um sein Gefallen. Die Weiber vom Isengrund rühmten ihre sichere Hand, die Männer ihren Mut, der immer noch aushielt, wenn selbst dem Mann sich ein: »Herrgott, mach ein Ende« auf die Lippen drängte. Und jetzt zitterte die Clari-Marie.
Es sah es ihr keiner an. Nach außen war sie dieselbe, bleich, ruhig, von klarem Blick und scharfer Rede. Nur sie wußte, daß das Zittern in ihr war. Sie konnte nicht essen und nicht schlafen.
Die Severina bat: »Leg dich doch, Base.« Aber sie wies sie an: »Schlaf jetzt und kümmere dich um mich nicht, zuerst mußt jetzt du gesund sein, nachher kommt das andre.« Dann ging sie hin und her zwischen Kammer, Stube und Küche, immer und nicht weiter, keinen andern Weg, nur zwischen Kammer, Stube und Küche.
Am Morgen des zweiten Tages, da die Severina lag, kam ein Bauer gelaufen: »Jesses, komm schnell, Clari-Marie, meine Frau – jetzt liegt sie in Krämpfen, du weißt ja.«
»Ich kommen?« frug sie und sah ihn mit zornigen Augen an. »Das und das und das kannst ihr geben, der Frau, hast gehört?«
»Aber komm doch selber,« drängte der, »sie will auch nicht sein ohne dich.«
»Um kein Geld kann ich kommen jetzt! Das Kind ist krank, die Severina, keinen Schritt komme ich fort jetzt.«
Im Flur ließ sie den Bauer stehen, die Mittel in Händen, die sie ihm gegeben hatte. Er wollte sie rufen, lief ihr nach in die Stube, aber sie trat eben in die Nebenkammer und kam nicht zurück, so ging er endlich seufzend und war der erste, der die Truttmannin umsonst um Hilfe gebeten hatte.
An diesem Abend wuchs das Fieber der Severina. Sie lag in den buntbedruckten Kissen des großen Bettes und hatte jetzt zwei Farben im Gesicht: das Weiß noch immer, nur gedämpft wie Seerosenblässe, wenn der Mond sie durchleuchtet, und daneben auf beiden Wangen ein heißes, fliegendes Rot; zwei Rosenfarben hatte die Severina. Die Clari-Marie stand in einer Kammerecke und sah sie an, während jene irre sprach, und mußte fast ein »Jesus, wie schön« stammeln. Dann aber trat sie wieder zum Bett, legte nasse Tücher auf und kämpfte gegen das Fieber, das nicht weichen wollte. Die ganze Nacht währte der zähe, stumme Streit. Die Säcke unter den Augen der Clari-Marie waren von dunkeln Ringen umspannt. Manchmal hatte sie da im Isengrund um Leben und Tod gestritten; so bitterlich ernst war es noch keinmal gegangen! Gegen Morgen erhob sie sich von einem Stuhl, auf dem sie am Bett gesessen hatte, sah die Kranke an und ging zur Tür; aber auf der Schwelle kehrte sie um und setzte sich wieder. Es war ein seltsames Tun, das sie von da an wieder und wieder begann, als streite sie mit sich selber, als reiße sie etwas hin und her. Einmal, als sie eben wieder neue Kompressen aufgelegt hatte und die Severina zu schlummern schien, fuhr sie jäh auf, ging hastig in die Stube hinaus, nahm ein Tuch um, als müßte sie hinwegeilen. Und doch legte sie auch das Tuch wieder von sich, kam langsam zurück und setzte sich wieder ans Bett.
Dann kam der Morgen, der mit fahlem Licht durch das Fenster zündete. Langsam wandelte sich überall das Nachtschwarz in Grau, an der Diele, den Wänden, den weißen Bodenbrettern und am Bett der Severina, nur der ihr Gesicht war jetzt wieder bleich und bleicher als der fahle Tag. Sie schlief. Da stand die Clari-Marie doch auf, wankte, als sie vom Stuhl hinwegschritt, nahm sich aber zusammen, glättete die Haare am grauen Scheitel und ging aus Stube und Haus, ging raschen, ruhigen Schrittes gaßab und straßüber an die Haustür klopfen, wo der Jaun, der Doktor, wohnte.
Zwei Köpfe fuhren aus den Fenstern, oben der des Bauern, bei dem der Jaun wohnte, unten der der Cille.
»Was ist? – Ja – ja – du?« fragte diese.
»Der Jaun soll kommen! Herauf zu mir, jetzt gleich! Die Severina ist krank!« Das war kurz und rauh hervorgestoßen. Die Clari-Marie wartete nicht; mit denselben sicheren Schritten ging sie zurück, mit denen sie gekommen war. Nur als sie beim Zieglerhaus wieder hineintrat, würgte sie etwas. Herrgott, Herrgott! Einen solchen Gang hast noch keinen tun müssen wie der so schwer!
Der Jaun ließ nicht auf sich warten. Er kam, wie er zu jedem Kranken ging, in seinen städtischen und doch ungeschickt geschneiderten schwarzen Kleidern, die Hosen kurz, die Aermel lang, auf dem Kopf einen steifen runden Filz, wie ihn seiner Lebtag kein Bauer auf hatte. In der Hand brachte er eine kleine Ledertasche, in der er immer seine Utensilien trug. Just so unbeholfen wie in jede fremde Stube trat er in die wieder, wo er so lange daheim gewesen war; über die Schwelle stolperte er, so daß ihm der Hut ins Gesicht rückte. Darum sah er nicht gleich, daß die Stube leer war. Nachher legte er Hut und Tasche ab und strich sich mit der Hand über die Stirn, auf der ihm der Schweiß stand, obwohl er nicht zu rasch gelaufen war. Er sah scheu nach der Kammer hinüber, deren Tür angelehnt war und wo er die Clari-Marie und die Severina erriet. Da kam die Cille, die ihm nachgegangen war, bleich, den langen Oberkörper ein wenig mehr noch als früher vornüberhängend, das volle Haar auch schon grau, herein. »Wo sind sie?« fragte sie leise auf der Schwelle.
Der Jaun nickte gegen die Tür hin und war so leichenblaß im Gesicht, daß die hochbogigen schwarzen Brauen wie Farbstriche schienen und die scheu blickenden Augen wie Kugeln. Dann ging er zur Nebenkammertür, die die Clari-Marie just da von innen aufzog. Auch über diese Schwelle stolperte der Jaun, und vor der Clari-Marie nickte er in Gedanken, als ob ihn ein vornehmer Kunde gerufen hätte, dem er besondere Höflichkeit schulde. Aber als er die Severina angeblickt hatte, fuhr ihm eine rote Flamme so jäh ins Gesicht, daß die Clari-Marie ihn staunend ansah; dann rückte er einen Stuhl zum Bett, setzte sich und faßte nach des Mädchens Hand. Jetzt war seine Art sicher und rasch. Die Severina, die noch immer geschlafen hatte, erwachte. Sie war noch sehr matt, nichts verriet, daß sie aufwachte, als daß die Lider sich hoben und in dem schmalen Gesichtlein wieder die schimmernden Augen standen. Plötzlich sagte sie: »Jesses, der Jaun!« und lächelte dazu.
Der Jaun hielt ihre Hand und sah auf die Uhr, ließ die Hand fallen und legte die seine auf die Stirn der Severina, nahm sie weg und brachte sein Ohr an ihre Brust. Zuerst war er ganz ruhig und seine Art die gemessene des klugen Arztes. Aber als die Untersuchung weiter schritt, war es auf einmal, als gehe sein Atem rascher. Die Cille stand an der Tür und sah auf ihn, und die Clari-Marie hatte sich zu Füßen des Bettes aufgestellt und wandte kein Auge von ihm.
Jetzt hob sich auf einmal Jauns ganze Gestalt und schütterte unter stoßweisem Atem.
»Was hast, Jaun, du zitterst ganz?« sagte leise die Severina. Da ließ er mit einem Ruck von ihr. »Eis – holt Eis, Mutter, beim Löwenwirt bekommt Ihr,« sagte er zur Cille mit kurzer Stimme, die keinen Klang hatte. Er selber stand auf und ging der Tür zu. »Ich muß – eine Medizin will ich holen,« stieß er heraus. Als er in der Stube war und die Tür hinter ihm zuging, entfuhr ihm ein Aechzen, als risse etwas in ihm entzwei, und dann sah er die Cille nicht mehr an, die ihn etwas fragte, und rannte hinaus.
Die Clari-Marie war allein bei der Severina. »Habt Ihr den Jaun gerufen, Base?« fragte diese. Sie lächelte wieder und blickte ganz froh. »Ganz lang bin ich jetzt nicht mehr drüben gewesen,« sprach sie weiter.
»Ja, ja,« gab die Clari-Marie zurück, ging hinaus und kam wieder. »Der Pfarrherr wird auch kommen nachher,« sagte sie jetzt.
Da sah die Severina einen Augenblick vor sich hin auf die Decke. Ihre Lippen zuckten. »Muß – muß ich sterben, Base?« fragte sie. In ihre Augen sprang das Wasser, und dann schluchzte sie so bitterlich, daß die starke Clari-Marie die Zähne verbiß, auf daß sie nicht flenne, sie nicht, die Clari-Marie, die in ihrem Leben nie geflennt hatte.
»Der Jaun holt die Medizin,« sagte sie dann, »sie sagen, er sei geschickt, der Jaun.« Ihre Stimme war schon wieder fest. Aber die Severina fuhr auf: »Aber Ihr, Base – wenn Ihr nichts mehr wisset für mich! Und Ihr wisset –«
Die Clari-Marie kniete ans Bett nieder, schwer, gemach, mit beiden festen Armen griff sie übers Lager und faßte die Hände der Severina, daß sie sie falten mußte. »Vater unser,« begann sie, und betete weiter und hob wieder an: »Vater unser, der du bist in den Himmeln!« Das war die Art, die sie hatte, den Leidenden und Sterbenden Hilfe zu bringen; lag es in ihrer Stimme oder im Griff ihrer Hände oder in ihrer Nähe nur, wie sie schwer, stark und ruhig kniete – die Severina, die ein Staunen fassen wollte, konnte nicht anders, sie schluchzte die Worte nach, die die Clari-Marie sprach, und ihre Stimme erstarkte an der der andern, sie selber wurde ruhig, und es war ihr, als wehe eine Kühle sie an, die wohl tat, und würde ihr das Herz weit und groß. Jetzt betete sie, sehnsüchtig, inbrünstig, mit weitem, klopfendem Herzen: »Vater unser, der du bist in den Himmeln.«
Der Jaun kam zurück. Sie hörten ihn keuchend durch den Flur kommen; in der Stube aber trat er sacht auf, und in die Kammer kam er leise herein.
»Gebt mir Wasser,« sagte der Jaun zur Clari-Marie. Die brachte das Verlangte. Dann gab er der Severina ein Pulver. Indessen brachte die Cille das Eis. Der Jaun legte die Umschläge an. Die Severina lag ganz still und sah auf seine Hände, die immer zitterten. »Jetzt wirst dann schlafen können,« sagte er.
Die Severina lächelte wieder. »Meinst, kannst mir helfen, Jaun?« fragte sie, still aus den Kissen blickend.
»Ja – ja –« stammelte er, und sein Gesicht war heiß. Da strich sie mit der Hand über die seine. »So schlaf ich jetzt,« sagte sie.
Er nickte nur und ging in die Stube. Die Clari-Marie kam hinter ihm her. Die Cille setzte sich zu der Severina.
Draußen war der Jaun ans Fenster getreten. »Ich will zum Pfarrer schicken,« sagte die Clari-Marie leise, die die Schlafkammertür hinter sich zugemacht hatte.
»Ja,« gab er zurück; er schien kaum zu wissen, zu was er ja sagte. Er legte die Hand an den Kopf und sann und ließ die Hand wieder sinken.
»Dem Hansi will ich auch berichten,« sagte die Clari-Marie wieder. Diesmal klang es wie eine Frage, und sie stand hinter ihm, als müßte er sich umwenden und ihr das sagen, was sie nicht fragen wollte: Hast – hast also auch keine Hoffnung wie ich?
Er wendete sich wohl kurz um, aber nur um gleich wieder aus dem Fenster zu blicken, die Hand an der Stirn, grübelnd. »Ja,« sagte er wie vorher, der Clari-Marie zur Antwort. Die ging zur Tür.
Als sie hinaus war, trat der Jaun vom Fenster weg, maß zweimal die Stube und stand wieder still, immer grübelnd. Hast nichts gelernt, was noch helfen könnte! schrie es in ihm; und dann war ihm, als müßte er fortstürzen, irgendwohin, laufen, bis der Atem versagte! So drängte die Qual in ihm. Dann nahm er sich gewaltig zusammen und ging wieder zitternd hinein zu der Severina, zu sehen, ob sie schliefe.
Der Pfarrherr kam im Ornat, den Sigrist im Begleit. »Gerade oft muß ich jetzt daher kommen,« sagte er unter der Tür zur Clari-Marie, die nicht vor ihm, aber vor dem Allerheiligsten das Knie bog. Dann amtete er in der Kammer der Severina, und die Clari-Marie wohnte bei.
Als der Pfarrherr sich wieder entfernt hatte, blieben die drei mit der Severina allein. Die hatte geschlafen, aber je mehr der Tag sich dem Abend zuneigte, desto höher stieg das Fieber, bald war sie nicht mehr bei Sinnen und redete irr. Vom Hansi redete sie, der in der Kehlehütte sitze, in dem warmen Nest mit der Claudi zusammen.
Sie phantasierte noch von dem Hansi seinem Glück, als der mit den Abendschatten selber ins Haus kam. Er trug einen Feiertagsanzug, ein rauhes, stattliches Gewand; in dem hatte er vor Monaten Hochzeit gehalten. Die Cille war die erste, auf die er traf. Sie war auf dem Weg zum »Löwen«, neues Eis zu holen. »Was ist? Ist sie denn schon lange krank, die Severina? Ist es schlimm mit ihr?« fragte er hastig. Sein Gesicht war heiß vom raschen Lauf, sein dichtes braunes Haar feucht.
»Es geht nicht gut,« sagte die Cille. Ohne Anhalten ging sie an ihm vorüber. Nachher war es ihm, als hätte er ein kurzes Schluchzen gehört. Er trat in die Wohnstube, die schon ganz dämmerig war. Der Jaun und die Clari-Marie saßen da, der Jaun am Tisch, die Clari-Marie am Ofen, beide müßig. Beide blickten auf, als er eintrat.
»Still, sie schläft wieder,« sagte die Clari-Marie leise. Sie war aufgestanden, trat an den Tisch, wo der Jaun saß, rückte dem Hansi einen Stuhl hin und setzte sich zu ihnen auf die Fensterbank.
»Ich bin auf dem Taglohn gewesen,« flüsterte der Hansi. »Erst jetzt hat sie mir's sagen können, die Claudi, ich bin so schnell gekommen, als ich konnte.« Er neigte den breiten Oberleib weit über den Tisch, damit sie sein leises Sprechen verstünden. Die andern taten es ihm unwillkürlich nach. Sie waren eine sonderbare Gruppe, drei Köpfe, der wohlgeformte braune des Hansi, der schmale kohlschwarze des Jaun, dessen Gesicht so weiß war, daß es durch das Dämmern der Stube leuchtete, und der graue, eckige der Clari-Marie.
»Ist – ist sie am Sterben?« fragte jetzt der Hansi wieder. Er sah die Clari-Marie an dabei. Die wendete das Gesicht dem Jaun zu; sie würgte an etwas.
»Kannst helfen?« fragte sie plötzlich; es klang rauh, obwohl sie ihre Stimme dämpfte wie die andern.
Leicht war das Wort nicht gekommen. Der Jaun fuhr wie aus einem Traum auf. Sein zerfahrener Blick ging über den Tisch hin; wieder zitterten ihm die Hände und die Lippen und die ganze Gestalt. »Warum habt Ihr mich nicht früher geholt?« sagte er; das war fast gestöhnt, er biß die Zähne zusammen nachher, sie hörten das Knirschen.
Die Clari-Marie zog die Arme weg. »Das – das sagst mir zu leid,« sagte sie zornig.
»Euch – Euch zu leid,« stammelte er, »meint Ihr – ich – ich denke an Euch jetzt!?«
Das Elend sah ihm aus dem Gesicht. Er hatte die Worte im Aufstehen gesagt, beide Fäuste ein wenig gehoben, wie um den Worten Nachdruck zu geben.
Die Clari-Marie fror; mit unsicherer Handbewegung strich sie etwas am Kleide zurecht. Dem – dem da, dem Jaun, ging das Leben entzwei mit der da drinnen, mit der Severina, das sah einer ohne Reden! Und – und – »Warum habt Ihr mich nicht früher geholt?« hatte er gesagt.
Sie hielt sich am Tisch. Es erdbebnete! Feststehen, Clari-Marie, es geht in Stücke – alles – alles – feststehen, Clari-Marie!
»Willst – soll man's ihnen zu wissen tun, deinem Vater und deiner Mutter?« fragte sie plötzlich den Hansi; sie stand jetzt aufrecht, nur die Hand noch am Tisch, ganz leise bebte ihr die Stimme.
»Denen?« sagte der starke Hansi laut. »Denen beim Eid nicht!«
Er stand jetzt auch auf. Alle drei gingen sie leise in die Kammer hinüber. Die Severina fing an im Fieber zu sprechen.