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26

Der Winter war nun auch zu Ende. Die Clari-Marie saß an dem Fenster, das auf die am »Löwen« vorbei und der Kirche zu führende Straße Ausblick hatte. Sie saß da nun den lieben langen Tag und arbeitete; nur wenn sie zu einer Frau geholt wurde, ging sie aus dem Hause. Aber im Isengrund hieß es, sie wolle ihr Amt abgeben, sobald die vom Rat eine Jüngere gefunden hätten.

Mit dem neuen Frühjahr ging die Hoffnung des Löwenwirts, einigermaßen die Hoffnung der ganzen Isengrunder, auf wie das Gras an den Lehnen. Jetzt mußten die fetten Zeiten wiederkommen, wo das Fremdenvolk ins Tal kam und Verdienst brachte! Im Mai stand in einer großen Zeitung ein Artikel, ein Stimmungsbild aus dem Isengrund. Da mußte irgendein Zeitungsschreiber im Dorf herumgekundschaftet haben.

»Auf dem schönen Alporte,« schrieb er, »liegt ein schwerer Schatten; die zwei dort geschehenen Morde sind unaufgeklärt; der, den die Stimme des Volkes als Mörder bezeichnet, wohnt noch immer im Tal und wagt sich nicht in seine Hütte zurück, im Dorf selbst aber herrscht eine schwere, lastende Stille, als könnten sie da nicht mehr fröhlich werden, bis die Taten ihre Sühne gefunden.«

Der Zeitungsmann hatte sich nicht die Mühe genommen, zu erforschen, daß die Stille im Dorfe von der Trauer herrührte, die seit dem Winter an vielen neuen Gräbern auf dem Friedhof weinte.

Es mochte an dem Zeitungsbericht liegen, an mancher andern Ursache auch, die Gäste, die der Löwenwirt und die vom Isengrund erwarteten, kamen nicht. Die Clari-Marie sah von ihrem Fenster aus zuweilen einen Fremden, auch zwei, eine kleine Schar dorfein schreiten. Am nächsten Tag konnte sie sie wieder davonziehen sehen. Der Löwenwirt klagte nicht mehr; ein paarmal reiste er ins Tal; eines Tages kam er zurück und hatte sich einen Käufer für sein Gasthaus geholt, einen schlichten jungen Menschen, einen Bauern. Eine Bauernwirtschaft wird er führen, wie der »Löwe« vor Jahren gewesen ist. Fremde will er keine herziehen, hieß es im Dorf!

In diesen Tagen kam die Cille zur Clari-Marie, ein seltener Gast. Am Fenster saßen sie beieinander, die hagere Große und die schwerfällige Starke.

»Ja – und jetzt hat eben der Kirchhofer dem Jaun wieder geschrieben,« hob die Cille an, als die ersten kurzen Alltagsreden zwischen ihnen hin und her gegangen waren. »Ein Doktor will seine Praxis abgeben unten in St. Felix. Der Jaun kann sie bekommen, wenn er will. Gerade ein Glücksfall ist es für den Jaun, so ist es.«

»So,« sagte die Clari-Marie. »Und er will gehen?« fügte sie hinzu.

»Ja, gehen will er,« antwortete die andre. Dabei seufzte sie. »Hier vergißt er sie doch nicht, die Severina.« Dann sah sie zum Fenster hinaus, sah das weite, leuchtende Tal, die Kirche, die blauen Himmel und Sonnengold zum Hintergrund hatte, und seufzte wieder. »Es wird mir schon schwer, das Fortgehen, Clari-Marie,« sagte sie. Der hagere Kopf hing ihr vornüber, ihre Hände preßten im Schoß sich ineinander, ihre dünnen Lippen zitterten.

Die Clari-Marie sah auf und sah sie an. Vor Zeiten würde sie dareingeredet haben, jetzt nickte sie kaum sichtbar und schwieg. Nach einer Weile und nachdem abermals die kargen Alltagsreden ihr Gespräch beschlossen hatten, ging die Cille.

Noch zwei Wochen saß die Clari-Marie am Fenster, ehe sie von diesem aus die beiden, den Jaun und die Cille, für immer aus dem Isengrund gehen sah. Es geschah noch das mit der Claudi vorher, daß mitten in der Nacht der Hansi am Zieglerhaus pochen kam.

Es war just nicht selten, daß einer die Clari-Marie herausklopfte. Als sie diesmal den Kopf aus dem Türfenster streckte, sah sie den Hansi draußen stehen, ungeduldig und noch keuchend vom raschen Gang, ohne Hut, auf dem braunen Kopf den Schein der mondklaren Nacht.

»Base,« sagte er hastig, »die Claudi – ich habe es Euch ja gesagt – es wird Zeit mit ihr! Kommt schnell!«

Die Clari-Marie besann sich nicht. Vor Wochen würde sie ihn weggewiesen haben: Hast mich nicht gefragt, als du sie genommen hast, jetzt brauchst mich auch nicht! Nun rüstete sie sich ohne Zögern und ging mit ihm.

»Ich danke Euch, Base, daß Ihr kommt,« sagte der Hansi, als sie vom Hause hinwegstiegen. Er atmete tief auf; das Fragen war ihm nicht leicht geworden.

»Hast nichts zu danken,« gab sie zurück, »dafür bin ich jetzt noch da im Dorf.«

Dann schwiegen sie lange und stiegen schnell über den mondfahlen Weg. Der Hansi, breitschultrig und hoch in blauem Kattungewand, machte die mächtigeren Schritte; er mußte zuweilen anhalten, damit die Clari-Marie nachkomme; der wurde der Weg nicht mehr leicht. Einmal fragte er sie: »Gelt, Ihr seid dann schon recht mit – mit der Claudi?«

Das klang halb zaghaft, halb treuherzig; das Blut stand ihm dunkel in den Wangen dabei.

»Hab keine Angst,« gab sie kurz zurück.

Bald darauf erreichten sie die Hütte, die der Hansi mit dem Gisler gemeinsam aus Gemeindenutzholz gezimmert hatte. Sie war nicht groß und stand in der Nähe des Fuchsbaus, wo der Gisler früher Unterschlupf gehabt hatte. Die weißtannenen Wände und das Schindeldach schimmerten im Mondlicht, und in den kleinen Scheiben lag der Glanz, daß sie wie Spiegel ihn zurückwarfen.

In der Schlafkammer im Unterbau neben der kleinen, fast geräteleeren Wohnstube lag die Claudi. Der kleine rote Schein einer Lampe und das große Mondleuchten stritten sich in der Kammer um die Herrschaft. Der Gisler kam aus ihrer Tür, als der Hansi und die Clari-Marie eintraten.

»Es ist recht, daß du kommst, Clari-Marie,« sagte er, als sie schweigend an ihm vorüber in die Kammer trat. Der Hansi ging mit ihr hinein.

»Guten Abend,« grüßte die Clari-Marie, ihr ruhiger Blick streifte das bleiche Gesicht der Claudi. Die tat ihre großen Augen weit auf, hatte einen Schimmer von Tränen darin und sah den Hansi an.

»Dank, daß Ihr kommt,« sagte sie zur Clari-Marie, und dann mühsam lächelnd und die Worte mit Anstrengung formend: »Jetzt – jetzt soll er hinaus, der Hansi! Allein will ich sein mit Euch, Clari-Marie.«

Diese, die in einem mitgebrachten Körbchen stöberte, sah fast erstaunt auf, ihre Züge gewannen einen Schein von Milde. »Ja, geh,« sagte sie zu dem Hansi.

Der packte eine der Hände der Claudi, drückte sie. »Du, helf Gott,« stammelte er erregt. Dann ging er.

Die Clari-Marie sorgte um die junge Frau; die wußte nicht, wie es kam, daß Kraft und Mut ihr wuchsen, seit die Truttmannin um sie war.

»Es wird bald da sein,« sagte jetzt die Clari-Marie.

Da legte die Claudi die Hände zusammen, sah ernsthaft vor sich hin und sagte leise: »So will ich noch einmal beten vorher.«

Die Clari-Marie fuhr jäh auf. »Beten?« fragte sie. Da bewegte die Claudi schon die Lippen und hatte den Blick an der Diele hängen. »Lieber Herrgott, hilf! Weißt, er hat auch Freude, der Hansi – und – wenn ich am Leben bleibe!«

Die Clari-Marie starrte das junge Ding an. Der da ihr Vater war ein Heide! Die war nie in die Kirche gegangen, und jetzt – jetzt betete sie doch. Und –

Als die Clari-Marie am Morgen von der Hütte des Hansi zum Isengrund hinunterstieg, ging sie in tiefem Sinnen. Gebetet hat sie, die Claudi! Und Heidenvolk, hast du gemeint, sind die da oben! Viel lernen mußt du, Clari-Marie, und – und bist doch zu alt zum Lernen, viel zu alt!


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