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Der letzte Sonntag im August. Ein strahlender Tag.
Ohm Ernest hat sich's im Liegestuhl hinter den Bohnenstauden bequem gemacht. Inzwischen verfärbt sich auch sein linkes Auge und die Strieme über der Stirn von dem harten Schlag. Sonst fühlt er sich in Ordnung, sogar mehr als je. Die Versammlung gestern abend hat gezeigt, daß die Menschen auch in diesem Land nachzudenken beginnen. Man kann wohl vorübergehend ein Volk betrügen, auf die Dauer nicht. Das ist eine tröstliche Gewißheit, die allerdings immer wieder erprobt werden muß. Das Gestern mag als solch eine Probe angesehen werden, vor allem für die kleine Gruppe, die zum erstenmal in den Kampf trat.
Gewiß, der Kampf hat erst jetzt richtig begonnen. Ohm Ernest ist sich klar darüber, daß man einen Bullen wie Clerk nicht zum Spaß an den Hörnern faßt und seinen Namen in Verbindung mit dem Tod von Beß nennt. Sekundenweise hat er bei dieser Erwägung das Empfinden, als ob sein Blut in den Fingergliedern zu gerinnen beginnt. Doch dann durchströmt ihn heiß das Gefühl, einen guten Kampf zu kämpfen, endlich gegen diesen mächtigen, gefährlichen, bösartigen Gegner mit blanker Waffe angetreten zu sein.
Vom Fluß her weht eine Morgenbrise. Ohm Ernest hört die kleine Ille und ihren Freund Jimmy im Haus das Liedchen vom »kleinen schwarzen Stier« singen. Er selbst hat es den Kindern beigebracht und ihnen erzählt, wie vor fast hundert Jahren Abraham Lincoln seinen jungen Freund Hill Lamon aus Virginia oft bat, ihm gerade diesen Song zum besten zu geben, wobei Lamon auf seinem Banjo in rasendem Stakkato sich selbst begleitete. Und jetzt tönen die hellen Kinderstimmen durch den Garten:
Der kleine, schwarze Stier kam hinab zur Wiese,
Hoosen Johny, Hoosen Johny,
Der kleine, schwarze Stier kam hinab zur Wiese,
Lang ist's her, lang ist's her.
Er scharrte mit den Hufen, dazu brüllte er,
Hoosen Johny, Hoosen Johny,
Er scharrte mit den Hufen, dazu brüllte er:
Lang ist's her, lang ist's her.
Er blinzelte mit den Augen zu einer jungen, roten Kuh,
Hoosen Johny, Hoosen Johny,
Er warf die Erde an der roten, jungen Kuh Kopf,
Lang ist's her, lang ist's her.
Bei dem Verschen: »Er warf die Erde an der jungen, roten Kuh Kopf« sind die beiden Kinder in den Garten gerannt, um das Spiel echt zu Ende zu führen, wobei Jimmy tatsächlich mit seinen Füßen die Gartenerde gegen seine kleine Freundin zu scharren sucht. Aber Ille wehrt sich. Sie packt plötzlich Jimmys Bein und zieht ihn mit einem Ruck zu Boden. Zugleich tut es ihr leid, sie kniet hin und nimmt den Jungen huckepack, mit ihm durch den Garten galoppierend, wobei sie lachend kreischt: »Schwarzer, kleiner Stier … junge, rote Kuh … rote, schwarze Erde …«
Ohm Ernest schaut lächelnd auf die tollenden Kinder. Sie werden es vielleicht einmal schaffen. Die sommersprossige elfjährige Ille hat ganz die Art ihrer Mutter Ann – tatbereit, kampflustig, kameradschaftlich, mutig, und dabei schon mütterlich. Sie braucht keine Puppen. Sie balgt sich wie ein Junge mit ihrem Freund Jimmy herum; aber wenn er sich zu sehr erhitzt, ist sie sofort um ihn besorgt, bricht das Toben ab und überredet ihn zu ruhigerem Spiel oder neuerdings zum Singen.
Ohm Ernest hat in letzter Zeit ihnen alle Lieder und Songs, die er kennt, vortragen müssen, wobei es sich herausstellt, daß er außer dem »kleinen, schwarzen Stier« eigentlich nur die älteren Kampflieder wie »Solidarity forever« oder einige Songs des hingerichteten Joe Hill kennt. Doch die können die Kinder nicht genug hören, zumal jenes, das Ohm Ernest besonders liebt und das er in dem harten Rhythmus stets mit Begeisterung, ja mit wilder Kraft singt. Es soll auf Joe Hills Tod gedichtet worden sein; es ist dasselbe, das einzelne Schauerleute in ihrer Hafenversammlung angestimmt hatten, und beginnt so:
Mir träumt, ich sah Joe Hill die Nacht:
»Ist's nicht schon zehn Jahr her,
Joe, daß man dich hat umgebracht?« –
»Niemals sterb ich!« sagt er.
»Salt Lake Joe«, sag ich, »bei Gott,
Sie fingen dich nicht fair.« –
Doch Joe sagt drauf: »Ich bin nicht tot!
Niemals sterb ich!« sagt er.
Ohm Ernest hat den Song vor sich hin gesungen. Die Kinder sind herangekommen; sie hocken sich auf den Liegestuhl neben ihn, Ille rechts und Jimmy links.
»Sing doch weiter, Grandpa!« bittet Ille.
Er überlegt einen Augenblick – denn jetzt kommen die beiden Streikverse –, aber warum nicht? War Ille nicht mit auf der Versammlung, wo es auch nicht gerade nach Veilchen roch? Hat sie nicht mit den anderen Kindern vorn am Podium gestanden, ihr Plakat um den Hals? Also fährt er fort:
»Joe Hill«, sagt er, »nicht sterben kann,
Kann sterben nimmermehr …«
»Ihr wißt doch, wer dieser Joe Hill war?« fragt der Ohm, indem er seine Hände um die Schultern der Kinder legt.
»Das war doch der, den sie ermordet haben, weil er streikte!« antwortet schnell die kleine Ille.
Und Jimmy: »Hast uns das ja schon mal vorgesungen!«
»Der Teufel hol's! Ihr Rasselbande vergeßt auch nichts!« Ohm Ernest gibt Jimmy einen Klaps; dann legt er nochmals los:
»Joe Hill«, sagt er, »nicht sterben kann,
Kann sterben nimmermehr;
Solang im Streik steht noch
ein Mann,
Steh ich bei ihm!« sagt er.
Von San Diego bis nach Maine
Maschinen schreien schrill.
Wo Männer an der Werkbank stehn,
Steht mit ihnen Joe Hill.
Die Kinder haben sich an den Alten geschmiegt, so wie sie's gewohnt sind, wenn er singt oder ihnen erzählt. Sie warten, wie es weitergeht, ob noch eine Erklärung dafür kommt, weshalb der tote Joe Hill zu den Männern an der Werkbank noch sprechen kann? Es ist warm und still in dem kleinen umhegten Garten. Auch der Flußwind hat sich gelegt.
»Sag mal, Grandpa«, fragt jetzt Ille, »wieso kann Joe Hill noch sprechen, wenn er tot ist?«
Ohm Ernest schaut in ihr helles, sommersprossiges Gesicht mit den kleinen festen Denkknubbeln auf der Stirn. »Oh, ihr vertrackten Fragemäuler!« brummt er. »Habt doch nicht genau hingehört … ›Mir träumt, ich sah Joe Hill die Nacht‹ … so fängt das Lied an.«
»Ah, im Traum können auch die Toten sprechen!« bestätigt Jimmy.
»Und sonst nicht?« läßt Ille nicht locker.
Ohm Ernest überlegt, ob er ausweichen und nicht ein anderes Lied den Kindern vorsingen soll? Aber schließlich soll man keine Fragen von Kindern unbeantwortet lassen. Diese Kinder, die heute reif dafür sind, in den Schulen ihre Sterbemarke um den Hals zu tragen, sind schließlich auch reif, andere schwierige Dinge zu erfahren. So sagt er: »Denkst du nicht mal an deinen Pap, Ille?«
»Oh, oft!«
»Siehst du, dann ist er also doch nicht ganz tot.«
»Weißt du, Grandpa, jetzt im Sommer denk ich oft, wie Pap, bevor er nach Korea mußte, mich vor zwei Jahren zum erstenmal mit runter zum Fluß zum Schwimmen nahm, wie er mich auf seine Arme legte und zählte: eins und zwei – eins und zwei … seitlich mit den Beinchen, kleiner Frosch!«
»Das sagte dein Pap?« meint Jimmy nachdenklich.
»Und dich werde ich auch nie vergessen, Grandpa, wenn du mal tot bist!« stößt die kleine Ille hervor und umarmt stürmisch den Alten. »Sprichst du dann auch mit mir oder wirst du singen?«
»Gar nichts werde ich, ihr Rasselbande!« poltert Ohm Ernest. »Wer denkt denn an so 'nem schönen Morgen ans Totsein? Los jetzt, geht zu Pat, er ist drin, er soll mit euch zum Fluß!«
»Auch du sollst mit, Grandpa!«
»Da werden ja die Fische erschrecken vor meinem blauen dicken Auge.«
»Aber ich box wieder, wenn sie mich schlagen!« erklärt plötzlich Ille. »Und die Hundemarke trage ich nicht, auch Jimmy trägt sie nicht, und schon viele andere Kinder auch nicht!«
Es stellt sich heraus, daß in letzter Woche bei einem der Probeluftalarme für die Schulen Ille ihre Erkennungsmarke, die von den Kindern an einer Schnur um den Hals getragen werden muß, abgelegt hat und sich offen weigerte, diese »Hundemarke« zu tragen. Schon das Wort »Hundemarke«, diese Bezeichnung, daß sie wie Hunde registriert werden sollen, erregte einen Teil der Kinder derart, daß sie sich Illes Protest anschlossen.
Die Phantasie der Kinder ist sehr empfänglich. Eine unangenehme Vorstellung geht bei ihnen ohne die Hemmungssperre sogleich in Abwehrhandlungen über … vom Verspotten und Nachäffen des Lehrers bis zu psychischen Hink- und Zitterepidemien ganzer Schulklassen. Da man nun in den offiziellen Merkblättern sowie in jenen Comic stripes der Kioske die Nerven und die Phantasie der Kinder durch sadistische Schilderung eines zukünftigen Atombombenangriffs schon seit Wochen überspannt hatte, wozu daheim noch die Aufregung der Eltern kam, die an Hand gewisser Bilder verkohlter Kinderleichen nicht gerade sanfte Worte gegen die Regierung brauchten, so wirkte auch das Wort »Hundemarke« bei den Kindern selbst jetzt wie ein Funke über einem Pulverfaß.
In Illes Klasse lehnte schon am nächsten Tage fast die Hälfte der Schüler das Tragen der Erkennungsmarke ab. Und diese Abwehr der Kinder verbreitete sich, wie der Schulleiter – ein trockener Fisch und Anbeter der »Big Business«-Schulverwaltung – meldete, »gleich einer Epidemie von einem roten Bazillus«. Am Tag darauf begann bereits die Hexenjagd gegen zwei Klassenlehrer und eine Lehrerin, die von der Schule vorerst suspendiert und einem Verhör unterzogen wurden. Aber die Aussagen der Kinder bestätigten, daß sie ganz von sich aus »die Hundemarke« ablehnten und nicht als verkohlte Leichen erkannt werden wollten. Hierbei kam noch heraus, daß die elfjährige Ille Lee das Wort »Hundemarke« zuerst gebraucht und damit die andern Kinder aufgewiegelt habe.
Bisher ist noch nichts gegen die Kinder selbst unternommen worden, auch nicht gegen die Eltern. Auch waren Ann und Ohm Ernest, denen Ille begeistert von ihren Heldentaten berichtete, letzte Woche mit der Vorbereitung der Versammlung zu sehr beschäftigt gewesen. Jetzt aber scheint es Ohm Ernest, als werde dieser Widerstand der kleinen Ille und ihrer Kameraden gegen den Atombombendrill keine kindliche Angelegenheit mehr bleiben, sobald die Schulbehörde und der Staatsapparat sich damit befassen. Also sind auch die Kinder »aus dem Schneckenhaus getreten«.
Für die F.B.I. deuten nun alle Spuren in einer Richtung; sie laufen auf einen Punkt zusammen: auf das Häuschen hier an dem kleinen Fluß, auf den Liegestuhl und das daraufliegende Individuum, namens Ernest Lee, Automonteur bei Pop Matthews. Ohm Ernest erkennt das klar. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, wie nach ein oder zwei Wochen man in einer Abendstunde ihn abholen wird, oder wie er eine Vorladung erhält, der er sich nicht entziehen kann.
Hätte er also in der Versammlung nicht auftreten sollen? Vielleicht nicht Clerks Namen nennen sollen? Jetzt, da grade die Herren das niederträchtigste aller Verbrechen – den Krieg – offen vorbereiten?
»Jimmy meint, ich soll nicht wieder schlagen, wenn man mich schlägt wegen der Hundemarke?« fragt Ille den Ohm.
»Deine Mutter wird mit dem Schulleiter sprechen.«
»Aber vielleicht machen sie dann etwas gegen Mutter?« meint die Kleine.
»Wenn man fürchtet, daß sie's machen, dann machen sie's bestimmt«, sagt Ohm Ernest. »Aber sei ganz ruhig, Ille, deine Mutter fürchtet sich nicht. Die hatte schon als kleines Mädel, als sie genauso alt war wie du, keine Furcht, nicht vor den großen Jungen, nicht vor ihrem Pap, noch vor dem Lehrer, damals, als sie dem kleinen rothaarigen Stotterer half, wie der die Fensterscheiben eingeworfen …«
»Welcher rothaarige Junge hat die Fensterscheibe eingeworfen?« will Ille wissen.
Und Jimmy: »Erzählen, Ohm, erzählen!«
Wie die kleine Ann den
»Fuchs« verteidigte
Die beiden hocken wieder am Fußende des rohrgeflochtenen Liegestuhles – die hellhäutige Ille und der dunkelköpfige Jimmy. Wie sich doch so manches auf dieser Erde zu wiederholen scheint, denkt der alte Autoschlosser, nur immer auf einer etwas anderen Windung der Spirale. Wie war das damals vor über zwanzig Jahren, als die kleine sommersprossige Ann aus dem Nachbarhaus ähnlich mit ihrem Schulfreund, dem Mackie, spielte, ihn genauso kommandierte und bemutterte, und wie echt und ungetrübt ihre Liebe war, der nichts etwas anhaben konnte – nur der Krieg und das sinnlose Ende. Das aber soll sich nicht wiederholen, dieses Ende! Und wenn die kleine Ille heute ihren winzigen, leidenschaftlichen Mut im Protest gegen das Anlegen der »Hundemarke« auf die riesige Waagschale wirft, so hat vor zwanzig Jahren die kleine Ann dazu vielleicht den Grund gelegt – denkt Ohm Ernest, wie er schon mitten in der Erzählung den vor ihm hockenden Kindern mit Handbewegungen und bisweilen stotternder Stimme das Ganze lebendig zu machen sucht.
»Denn jener kleine rothaarige Junge – ›der Fuchs‹, wie die andern Schulkinder ihn foppten – stotterte. Zudem war er recht schwächlich, hatte keine Mutter mehr, auch keine Geschwister. Er hauste allein mit seinem Vater, der früh auf Arbeit ging und abends, meist schwankend, mit einer Alkoholfahne aus dem Mund heimkam, wobei weder er noch auch der kleine Rotfuchs etwas zu essen fanden, sondern der Junge meist ohne jeden Grund verprügelt wurde. Diese letzte Betätigung verschaffte dem Alten die nötige Bettschwere. Es war klar, daß ›der Fuchs‹ oft mit zerrissener Jacke oder Hose in die Schule kam und vom Lehrer dafür in die Ecke gestellt wurde. Die kleine Ann hielt das für ungerecht; sie sagte, daß keiner zu Hause sich um den ›Fuchs‹ kümmere, worauf der Lehrer die Vorwitzige zurechtwies: sie solle den Mund halten, bis sie gefragt sei! Doch Ungerechtigkeit machte die Ann direkt wild; sie gab eine freche Antwort und erhielt dafür eine Tracht Prügel.«
»Und was tat der kleine Fuchs?« fragt Ille mit hochrotem Kopf.
»Der war damals noch viel zu eingeschüchtert«, fährt der Ohm fort. »Auf dem Schulhof, wenn die andern Kinder im Spiel herumtobten, hielt er sich immer an der Mauer mit Rückendeckung, damit keiner ihn von hinten packen konnte. Und wenn man ihn ansprach, wagte er nicht zu antworten wegen seines Stotterns. Ann, die das beobachtete, hatte Mitleid mit dem ›Fuchs‹. Und obschon sie selbst nicht größer war als er, nahm sie ihn eines Morgens bei der Hand und ging mit ihm mitten über den Schulhof, während die andern Jungen jetzt riefen: ›Seht, das Gänschen führt den Fuchs spazieren!‹
Die Ann merkte sich die Rufer und balgte sich nachher einzeln mit ihnen auf der Straße, wodurch auch der kleine Fuchs mehr Respekt bekam. Aber dann gab es doch den Krach. Einmal spielten die Jungen in der Pause ›Schinkenkloppen‹. Auch ›der Fuchs‹ mußte da mitmachen. Das war ein besonderer Spaß. Die kräftigen Jungen schlugen mächtig zu, und der kleine Rothaarige war viel zu aufgeregt, die Schläger zu erraten, zumal der ganze Haufen ihn mit verstellten Stimmen verwirrte. Er hatte schon mehr Hiebe einkassiert als alle seine Vorgänger zusammengenommen. Vor Schmerz und Wut rannen ihm die Tränen über die Backen, während sein schmächtiger Körper zwischen die Knie eines kräftigen Kerls gepreßt war. Da – so erzählt man – sei plötzlich die kleine Ann aufgetaucht, habe sich mitten zwischen die Jungen geworfen und den ›Fuchs‹ befreit. Nun faßte auch der Fuchs Mut und begann sich zu wehren. Weil er aber schwächer war, bewarf er seine Angreifer mit Steinen. Eine Fensterscheibe klirrte …«
»Vom Schulzimmer?« fragt Jimmy erregt.
»Richtig. Der Lehrer fuhr wie ein Blitz auf den Hof: ›Wer hat die Scheibe eingeworfen?‹ – Die Jungen schwiegen. Es sei totenstill auf dem Schulhof gewesen, bis die kleine Ann vortrat und sagte: ›Ich war's!‹«
»Wo sie's gar nicht war?« meint Jimmy.
Und Ille: »Weiter!«
»Natürlich war sie's nicht! Aber was glaubt ihr, was der Lehrer mit dem schwächlichen Jungen, den er schon so nicht verknusen konnte, gemacht hätte? Und erst der Vater, der ja sein ganzes Geld ins Wirtshaus trug, wenn der die Scheibe hätte bezahlen müssen? Jedenfalls nahm die kleine Ann die Sache auf sich und zerschlug noch ihre Sparbüchse. Na, schließlich halfen wir Älteren ihr wieder zu 'ner neuen Büchse; daher weiß ich das alles.«
»Und die Jungen sagten nichts dazu?« fragt die Ille.
»Die waren heilfroh, daß sie so davonkamen.«
»Schufte!« faucht die Kleine mit zornigen Tränen.
»Na, mal friedlich, Ille!« meint Ohm Ernest. »Deshalb erzähl ich euch doch keine Geschichten, daß ihr gleich heult! Aber ein bißchen stolz sein kannst du auf deine Mamm!«
»Bin ich ja! Sollen sie mal kommen!« mault sie immer noch unter Tränen. »Die Hundemarke trag ich nie und nimmer! Eher schmeiß ich ihnen damit auch ein Fenster ein!«
*
Etwas später gehen die Kinder mit Ann und Pat zum Fluß. Das ganze Ufer ist bevölkert von Kleinen und Großen, die das Wasser und die Sonne genießen. Pat findet eine seichte Stelle mit runden Steinen. Schnell sind die Kleider herunter. Ille wird verpflichtet, mit Jimmy nur am Rande zu baden, bis Pat und Ann zurück sind. Dann schwimmen die beiden los. Es wird schnell ein Wettschwimmen. Sie wollen über den Fluß. Pat möchte Ann nicht zu weit hinter sich lassen. Doch er stellt bald fest, daß Ann vorzüglich krault und es mit ihm aufnehmen kann. Gleichzeitig kommen sie ans andre Ufer, in guter Zeit, etwas außer Atem.
Wie Ann die Badekappe abnimmt und ihr Haar zurückbindet, sieht er ihren straffen, kräftigen, noch unverbrauchten Körper. Er wirft sich wieder ins Wasser und schwimmt zurück zu den Kindern. Ille paddelt mit Händen und Füßen wie ein junger Hund.
»Jetzt brauchst du nur noch zu bellen, Ille!« spottet Pat. »Komm her! So wirst du nie über den Fluß schwimmen!« Er bückt sich zum Wasser und nimmt sie flach auf seinen linken Arm, mit der Rechten dirigierend: »Eins und zwei – eins und zwei! Die Beine auseinanderschlagen! Eins und zwei!«
Die kleine Ille hat Wasser geschluckt. Nun soll Jimmy heran. Aber Ille hält sich fest an Pats Hals. »Noch mal! Noch mal!« schreit sie. »Du machst es genauso wie Pap!«
Und wieder legt sie Pat aufs Wasser. Und wieder geht es: »Eins und zwei – eins und zwei! Gut auseinandertreten mit den Beinen!«
Auch Ann ist inzwischen zurückgekommen. Aufmerksam schaut sie zu. Mit einem seltsamen Blick schaut sie auf die beiden.
Am Montag früh geht Ohm Ernest wie immer in die Werkstatt. Auch Pat erscheint pünktlich. Er bekommt von Old Bill einen ziemlich ausgedienten Studebaker zum Überholen.
Bill ist seit der Affäre mit seinem Sohn Robby noch verschlossener; er bringt kaum mehr die Zähne auseinander. Der Wurm frißt in ihm. Aber er selbst ist viel zu verbissen, sich jemandem anzuvertrauen und so sich Luft zu verschaffen. Im Gegenteil, er sieht die Schuldigen in den »Roten«, in Ohm Ernest und Pat, die Robby verhetzt haben. Mit diesem Vorwurf sucht er, sich über die eigene Schweinerei Ohm Ernest gegenüber hinwegzutäuschen … als er in jener Alarmnacht dem Boß und dem F.B.I.-Mann die Angaben machte. Bisher geschah nichts weiter. Bloß gestern hat auch er von der Versammlung am Hafen gehört. Zudem spricht das verfärbte Auge von Ohm Ernest seine eigene Sprache. Sollen sie ihre Suppe auslöffeln!
Gegen zehn Uhr wird Ohm Ernest ins Büro gerufen. Der Boß, nur kurz von seinen Geschäftsbüchern aufblickend, gibt »Mister Lee« den »freundschaftlichen Rat«, sich nach einer andern Stelle umzusehen. Er wolle sich auf keine langen Diskussionen einlassen, da nach einer Meldung in jener Versammlung von ihm und einem gewissen Doktor staatsfeindliche Reden geführt worden seien. Er – Pop Matthews – habe aber kein Interesse daran, daß die F.B.I. sich mit seinen Angestellten beschäftige und seine Kundschaft vertreibe.
Natürlich protestiert Ohm Ernest, daß sein Privatleben nichts mit der Arbeit in der Werkstatt zu tun habe. Er werde sich an die Leitung der Automobilarbeiterunion wenden.
Das möge er halten, wie er wolle.
Ob der Boß ihm eine gesetzwidrige Handlung nachweisen könne? Oder eine Anzeige, die gegen ihn vorliege?
Pop schaut jetzt auf mit einem direkt milden Lächeln. Ob er auf dem Mond lebe? Nur weil sein Sohn, der Mackie, in Korea für das Land gefallen sei, habe er – der Boß – ihn nicht hochkant hinausgefeuert. Er schlage ihm also »aus alter Freundschaft« eine vierzehntägige Kündigung vor.
Wie Ohm Ernest das Büro verläßt, überlegt er, welche Gemeinheit der Boß noch in der Hinterhand habe, weil er so weich mit ihm sprach?
Obwohl alle in der Familie Lee nach der Versammlung mit gewissen Maßnahmen rechneten, herrscht jetzt im Haus doch eine ziemlich gedrückte Stimmung. Man spürt, das ist erst der Anfang. Die Bestie – einmal gereizt – wird noch ganz anders ihre Krallen und Zähne zeigen. Wenn man mit Ann ebenso verfährt und mit Pat? Wird Ohm Ernest auf die Gewerkschaft rechnen können? Wenn man behauptet, er habe sich gegen die Staatssicherheit vergangen?
Inzwischen rührt sich auch der Doktor. Adda kommt abends. Sie berichtet von der kurzen Verhaftung und von einem Verfahren wegen »unamerikanischen Verhaltens«, das er erwarte. Man solle ihn vorerst nicht aufsuchen. Aber es sei bereits für diesen Samstag eine neue Versammlung des Friedenskomitees geplant, diesmal im Stadtzentrum, mit gutem Saalschutz unter Mitwirkung der Hafenarbeiter. Ohm Ernest und Der Zorn Gottes seien wieder als Sprecher vorgesehen. Der Doktor werde auch dort sein.
Diese Nachricht gibt neuen Auftrieb. Besonders die Tatsache, daß auch die Dockers sich für die Sache des Friedenskampfes zu interessieren beginnen. Ohm Ernest erinnert daran, welch gewaltigen Eindruck der Streik der 40 000 Hafenarbeiter der Westküste im Juni hervorgerufen hatte, da Dutzende von Schiffen mit Kriegsmaterial für Korea nicht geladen werden konnten. Und jetzt beginnt es auch hier zu brodeln. Da hilft kein Taft-Hartley-Gesetz. Wenn beide Bewegungen zu einem Strom zusammenfließen könnten …
Diesmal soll die vorgesehene Resolution unbedingt zur Abstimmung gelangen! Man besitzt jetzt Erfahrung. Man wird die Lichtleitung und das Podium zu sichern wissen – Honeycut und Mark, der Athlet, stellen hierfür eine Gruppe. Soviel Adda von dem Doktor erfuhr, ist für die Versammlung das gleiche Hauptthema angesetzt: Hände weg von Korea! Und als Unterthema: Wir protestieren gegen die »Action killer«!
Ob dieses Thema feststehe? fragt Ohm Ernest.
Adda erklärt, daß der Doktor ihr alles nur in großer Eile in einem Café mitgeteilt habe, daß er Ende der Woche ihn selbst noch einmal sprechen wolle.
Ob gegen sie – Adda – vom Betrieb etwas unternommen worden sei?
Bisher nicht.
Und wie es mit Gene stehe? fragt Pat.
Es gehe ihm gut.
Mom Rose rollt, wie immer, wenn Besuch da ist, wie eine rotglühende Kugel zwischen Küche und Wohnzimmer umher, Kaffee, Bier, Sandwiches und die kleinen Kuchen herantragend und dabei stöhnend: »Oh, ihr Kinder, wann werdet ihr endlich mit der Politik fertig sein?« Sie stellt sich die Politik als eine Arbeit vor, mit der man eines Tages doch zu Ende kommen muß, etwa wie mit dem Ausbessern einer Jacke oder der Reinigung einer Wohnung. Sie hat Pop Matthews' Drohung in dem Trubel nur mit einem Ohr aufgenommen. Pat meint, obschon die Gewerkschaft hier auch noch ein Wörtlein mitzureden habe, solle Ohm Ernest am Sonnabend lieber nicht auftreten. Doch damit ist der Ohm keineswegs einverstanden.
Schließlich einigt man sich, daß Ohm Ernest, der Doktor, Pat und Adda am Freitagabend sich an einem noch zu bestimmenden Ort treffen werden.
*
Inzwischen beginnt die Hexenjagd an den verschiedensten Punkten. Weder die King Joe-Leute noch die F.B.I. können in diesem Falle länger warten. Für King Joe droht die Bewegung der Schauerleute durch die »Friedensapostel« politische Nahrung zu bekommen. Die F.B.I. ihrerseits hat erkannt, daß diese Friedenskämpfer keine bloßen »Gehirnakrobaten und Kohlrabi-Apostel« sind, sondern daß es hier um eine recht militante Gruppe mit wirksamen Forderungen geht. Zudem beginnt die linke Presse sich des Clerkskandals zu bemächtigen, der vielleicht noch weitere Kreise ziehen kann. Nicht zufällig ist auch der Kinderstreik gegen das Tragen der Erkennungsmarke grade in dem Schulbezirk ausgebrochen, in dem jener Ernest Lee wohnt.
Nachdem also der Schulleiter auf einen Wink von oben den Lehrer und die Lehrerin der aufsässigen Klassen zwangsbeurlaubt hat, wird den Eltern mitgeteilt: falls ihre Kinder bis morgen nicht wieder die Erkennungsmarken trügen, so würden sie in eine andre, entlegene Schule für »schwererziehbare Jugendliche« überführt.
Die Hälfte der Eltern und Kinder geben am nächsten Tag nach. Aber die kleine Ille, Jimmy und zehn andere Kinder bleiben fest. Sie schließen sich noch enger zusammen. Die ersten beiden Tage geschieht nichts Besonderes. Am Mittwochnachmittag jedoch erscheint bei Betty Jones – Jimmys Mutter – ein Mann, dessen unterer Gesichtsteil gleichsam ohne Mund, nur aus einem Fleischkeil: Nase und Kinn besteht. Dieser Mann, der sich als Beamter des Kriminaldienstes ausweist, teilt Betty mit, daß die Aufenthaltsgenehmigung für sie selbst und ihren Sohn Jimmy wegen regierungsfeindlicher Haltung zurückgezogen werde, und daß sie in den nächsten Tagen den Ausweisungsbefehl zum Verlassen der Staaten erhalte. Der Beamte – es ist »der Zahnstocher« – verschwindet, ohne auf Mrs. Jones verzweifelte Zusicherung, der kleine Jimmy werde die Erkennungsmarke wieder tragen, zu reagieren. Er klappert noch einige Nachbarhäuser ab, wo die Kinder ebenfalls gegen die Hundemarke streiken; hier stellt er bei den verängstigten Frauen Ermittlungen an, ob die Männer an dem letzten »Tumult« am Hafen teilgenommen hätten? Er läßt durchblicken, daß sie als »Rote« wohl kaum mehr in staatlichen Betrieben geduldet werden könnten.
Inzwischen ist der kleine Jimmy zu Ille gerannt. Die beiden pirschen durch die Gärten zu den andern aufsässigen Kameraden. Wie nun der F.B.I.-Mann mit seinem starren Reptilgesicht aus einem der niederen Häuschen tritt, stürzt plötzlich aus den Eingängen eine ganze Horde Kinder, die ein Höllenkonzert anstimmt und hinter dem unheimlichen Schleicher herruft: »Hundefänger! Hundefänger! Häng deine Hundemarke dir selbst um den Hals!«
»Der Zahnstocher« ist völlig überrascht. Wütend fährt er herum, sich einen der Rufer zu greifen. Aber die Kinder sind viel schneller. Wie ein Schwarm Sperlinge und kleiner Meisen bei Tag einem schrecklichen Uhu zusetzt, so lassen sie von dem jetzt schon fast fliehenden Mann nicht mehr ab. Aus allen Winkeln und Häusern spritzen neue Gruppen von Kindern heran, die das Ganze als einen tollen Spaß betrachten und den merkwürdigen Flüchtling verfolgen. Staunend, besorgt oder schadenfroh schauen überall die Mütter aus den Fenstern, vergebens ihre Sprößlinge zurückrufend. Die ganze Straße hallt jetzt wider von dem wilden Kinderchorus: »Hundefänger! Hauhauhau! Hundefänger! Behalt deine Hundemarke! Hauhauhauhau!«
Joe Apollo spuckt vor Wut, wie er von dem idiotischen Vorgehen des »Zahnstochers« hört. Diese hirnlosen Beamtenseelen glauben, sich überall als Staatsmacht aufspielen zu müssen, um dann von einer Schar Schulkinder im Schweinsgalopp heimgeschickt zu werden. Leider kann er heute mit seinem Gang die Behörden nicht mehr wie in der Glanzzeit der Prohibition und des Alkoholschmuggels mit harten Sachen unter Druck setzen. Aber er kann dennoch diesen Sturköpfen zuvorkommen und seinen Auftrag erledigen.
Wichtig ist, daß er erfuhr, am Sonnabend – also in zwei Tagen – sei wieder ein Meeting dieser Friedensapostel angesagt, und zwar im Zentrum der Stadt. Aus den Handzetteln, die am Hafen umlaufen, geht hervor, daß neben dem Zorn Gottes und noch einigen anderen Größen auch jener Ernest Lee als besondere Kanone aufgefahren wird.
Oder besser – aufgefahren werden soll.
Erst am Dienstag erfährt Francis, die sich über das Weekend in Dealwood aufhielt, von Dr. Boyles Rede auf der Friedensversammlung, und erst am Mittwoch gelingt es ihr, den Doktor in seiner Sprechstunde zu erreichen.
Francis hört durch die Polstertür eine schrille Frauenstimme, auf die ein gutmütiges Brummen antwortet. Plötzlich schießt durch die Tür eine üppige Blondine mit hektischen Wangen. »Ihre Kunst in Ehren, Herr Doktor!« trompetet sie. »Aber kann ich es verantworten, meinen Körper einem Roten anzuvertrauen!?«
»Nein, das können Sie nicht«, erwidert Dr. Boyle. Er begrüßt Francis lächelnd, während die Verantwortungsbewußte wütend abdampft. »Diese Walküre habe ich von einer Intercostalneuritis geheilt«, erklärt der Doktor jetzt Francis, »von einer schweren Nervenentzündung, die noch der Nachbehandlung bedarf; aber nach der Versammlung unsres Friedenskomitees kann dieses Roß – verzeihen Sie – seinen edlen Körper nicht mehr einem Roten anvertrauen; wie finden Sie das?«
Francis schaut auf den grauen Kopf des Doktors, der ihr im Arztmantel plötzlich fremd erscheint. Es sind dieselben aufrichtigen, sensiblen, nachdenklichen und doch kampfbereiten Züge in diesem ihr so nahen männlichen Gesicht; doch dann distanziert der weiße Arztmantel wieder den Besucher. Francis überwindet die Hemmung. Sie hat heute früh aus einem kurzen Gespräch mit ihrer Mutter entnommen, daß in jener Versammlung unter dem Vorsitz des Doktors die Familie Clerk aufs schwerste angegriffen wurde, daß man ihren Vater dort als Mörder bezeichnet habe, und daß diese skandalöse Sache bereits in die Presse kam. Das alles unter der Versammlungsleitung Dr. Boyles! Wie war das möglich?
Sie weiß, daß der Doktor stets aus sauberen Motiven handelt. Aber kann er im heutigen politischen Kampf nicht das Opfer einer Mystifikation und Falschmeldung geworden sein? Hat er gar nicht ein wenig an sie – Francis – gedacht? Doch das spielt in diesem Augenblick keine Rolle. Am Sonnabend finde eine neue Versammlung der Friedensfanatiker statt, sagte die Mutter. Und Dr. Boyle werde wohl wieder »sich in Rüstung werfen«. Es ist also keine Zeit zu verlieren. Darum geht Francis gleich auf den Kernpunkt los; sie meint, er – der Doktor – habe sich bei jenem Meeting wohl sehr weit vorgewagt, vor allem in Kraftworten.
Was sie unter Kraftworten verstehe?
Worte wie »Mörder«, Worte voller Übertreibung für einen bestimmten Zweck, Behauptungen, für die noch die Beweise fehlten.
Der Doktor sieht mit Erstaunen, wie das sonst so freimütig ihm geöffnete Gesicht von Francis plötzlich sich verhärtet und verschließt. Also ist hier die Grenze? Mr. Clerk, dem Vater, zuzutrauen, daß sein Sohn Donald den Anstoß zum Selbstmord der kleinen Beß gab, und daß zweifellos Mr. Clerk deren Leiche – um einen Skandal zu verhüten – ins Wasser werfen ließ, daß er ferner als Rüstungsmann und Kriegsnutznießer einer der legalen Mörder der Jugend des Landes ist, dies zu erkennen übersteigt auch ihre Kraft. Dennoch glaubt er, den Versuch wagen zu müssen, ihr die »Beweise«, das heißt den Tatbestand, so wie er ihn von Gene erfuhr, darzulegen.
Aber das Ergebnis ist eine weitere Abwehr. Wo der Beweis sei, daß Donald die kleine Beß verführt oder genötigt habe? Ob nicht vielleicht Beß umgekehrt Donald an sich gezogen habe? Und mit welchem Recht man einen Menschen »Mörder« nenne, der die Tote nicht einmal angerührt habe? Diese Methode politischer und menschlicher Ehrabschneidung lehne sie ab!
Nachdenklich schaut der Doktor in ihr erregtes klares Gesicht. Schade! Solch ein im Grunde gerecht denkender Mensch! Aber wie soll sie die tägliche Einwirkung ihrer so gut funktionierenden »fairen« Umwelt durchbrechen können? Da ist die dichte, sauber geschnittene Taxushecke im väterlichen Park hinter den Oleanderbüschen. Bitte, versuche einmal, hindurchzudringen! Und das sind bloß Tausende kleine Zweige, die kreuz und quer sich vergittern. Man müßte ein Buschmesser nehmen, einen Weg bahnen und die Hecke zerfetzen. »Die schöne Hecke!« schreit der Mensch auf. Aber hat man Zeit zum Warten?
Der Doktor meint, die tausend »kriminellen Mörder« im Lande, die vielleicht zweitausend Menschen umbrächten, seien furchtbar, aber doch nicht so gefährlich wie jene potentiellen Mörder, die auf legale Weise Zehntausende …
»Ich weiß, ich weiß! Aber noch gefährlicher sind diese politischen Schlagworte, die ebenfalls morden! Man kann doch mit Worten nicht umgehn wie mit Revolverkugeln!«
»Wer tut das?«
»Wer das tut?« Sie schaut ihn mit Augen an, die vor Erregung funkeln. »Ein Mörder ist für mich ein Mensch, der einen anderen Menschen mit Absicht getötet hat.«
»Und wenn er andere dazu verleitet?«
»Bleiben wir bei unserem Fall, bei Mr. Clerk! Wo ist in diesem Falle …«
»Mögest du recht behalten, Francis … in diesem Falle!« erwidert der Doktor plötzlich erschöpft. »Ich wünschte sehr, daß du recht hast!«
Doch diese Antwort befriedigt Francis nicht. Etwas scheint zwischen sie beide und ihr gutes Vertrauen getreten zu sein. Traurig sucht Dr. Boyle den kleinen metallenen Perkussionshammer parallel zur Tischkante zu legen.
»Sie haben mir nicht richtig geantwortet, Doktor«, sagt Francis.
Der Doktor schaut sie an. »Ich möchte sehr, Francis, daß du recht hast, und daß es keinen weiteren Toten mehr gibt … in diesem Falle.«
*
Francis findet auch zu Hause keine Ruhe. Gewiß, sie ist daran gewöhnt, daß der Vater immer mehr sich absondert, daß er sich das Essen in sein Arbeitskabinett bringen läßt, sich dort einschließt, und daß man von droben, auch durch Tür und Fußboden hindurch, bis in die Nacht den kurzen, hellen metallischen Klang der von dem Nickelgriff losgeschnellten Metallkugel des neuen Spielautomaten hört. Dieser Apparat, dem Clerk in geradezu wilder Besessenheit sich unterworfen hat, soll jetzt in Serienproduktion hergestellt werden. Old Josh muß mit seinen siebzig Jahren wieder in die geschäftliche Leitung eingreifen und die Hauptproduktion der C.C.C., die Herstellung von Stahltüren und Platten für Panzergewölbe, überwachen. In einer kurzen Aussprache mit Mrs. Dorothy hat er zu verstehen gegeben, daß Cecil in letzter Zeit ihm »nicht sehr gefalle«.
Aber Dorothy hat selbst ihre eigenen Sorgen. Colonel Kennedy – ihr »Key« – kommt fast täglich hereingeschneit, doch stets nur für Minuten. Seit jenem Presseartikel im »Democratic Globe«, wo die Fliegenden Untertassen als ein Zweckschwindel zur Panikerzeugung entlarvt und als amerikanische Raumraketen bezeichnet wurden, ist Kennedys Nervenüberreizung in eine Art paranoischen Wahn übergegangen. Er entsinnt sich dunkel, daß er im Rausch der Marihuanazigaretten dem Oberfunker Gene Stevens Andeutungen über jene Raketen vom Typ des »W.A.C.-Corporal« gemacht hat. Aber die Preisgabe dieses militärischen Geheimnisses in Verbindung mit Donalds und des Mädchens Tod … das kann nur die Handlung einer Spionageorganisation sein, in deren Netz er selbst jetzt hineingezogen wird! Überall sitzen diese Ostagenten! Vielleicht ist der Oberfunker selbst ein Agent oder ein Opfer?
Jeden Tag wird Dorothy von ihrem Key mit diesen Vermutungen, die sich schon zu einem System des Verfolgungswahns verdichten, unablässig geplagt. In diesem Zustand scheinen bei Kennedy sowohl Alkohol und Marihuana wie auch die mächtigen weiblichen Reserven seiner Freundin zu versagen. Er kommt nicht von seiner fixen Idee weg. So ist das ganze Haus wie vom Teufel besessen.
Und da erscheint noch Francis, die sonst hier wie eine Fremde lebt; sie möchte von der Mutter eine Aufklärung erhalten über die Anschuldigungen, die man in jener Versammlung gegen den Vater erhob. Mrs. Dorothy, die sich wegen ihrer Migräne in ihr Boudoir zurückgezogen hat, empfängt nur ungern die Tochter. Aber kann man wissen, ob in diesen Wahnsinnstagen nicht wieder eine neue Nachricht droht, auf die man sogleich reagieren muß? Seit ihrer Kindheit kommt Francis zum erstenmal wieder zur Mutter, um in ihrer Hilflosigkeit einen Rat zu erhalten, eine Linderung gegen den Schmerz. Doch wie sie diese auf dem Bett ausgestreckte, üppige Frau bemerkt, in einer Wolke von Fleurs de Lila und Jamaikarum – die Flasche mit dem Negerkopf steht noch auf dem niedrigen Nachttischchen –, da sperrt sich in ihr ein Widerstand, der weit stärker ist als der Widerwille am Morgen gegen den Doktor. Ist diese Frau wirklich ihre Mutter? Wird sie ihren Drang, die Wahrheit zu erfahren, verstehen?
Tatsächlich ersucht Mrs. Dorothy die Tochter, ihre Zeit nicht weiter mit Beachtung der »Revolverpresse« zu vergeuden und vor allem den Vater nicht mit sinnlosen Fragen zu beschweren. Francis erklärt, deshalb sei sie ja zu ihr, der Mutter, gekommen. Schließlich habe Dr. Boyle – ihr Hausarzt – die Versammlung geleitet …
Dieser Dr. Boyle!
Mrs. Dorothys Gesicht verzieht sich plötzlich zu einem Ausdruck von wildem Haß. Das sei der Dank jener Schmarotzer, die sonntags an ihrem Tisch die besten Weine herunterspülten, um sie am Werktag gegen ihre Gastgeber als Gift zu spritzen! Kröten!
Das ist nicht mehr die Mutter, das ist ein böses, gefährliches Weib, ein rachsüchtiges Weib: zu weit solle der Doktor es nicht treiben! Mrs. Dorothy hat sich aufgerichtet. Ihr massiger Körper beugt sich drohend vor gegen Francis, als sei diese der Feind. »Die Wahrheit behauptet dieser radikale Herr zu suchen?« Sie lacht auf. »Die Wahrheit, so hat er's sicher auch dir eingeblasen? Aber ich sage dir, Francis: Hände weg! Man kann auch mit der Wahrheit lügen!«
»Doch die Tatsachen, Mutter?«
»Die Tatsachen? Schön, nehmen wir einmal an, es stimmt, was in dem Blättchen steht. Wird dadurch etwas anders, daß man in den Leichen nach der Kugel herumwühlt und Dutzend Lebende wie dich und mich, die absolut nichts mit der Sache zu tun haben, ebenfalls verletzt und mit einem widerlichen Skandal gesellschaftlich töten will?«
»Aber, Mutter, dann kann man ja nie ein Verbrechen verfolgen?«
»Verbrechen?!« Mrs. Dorothy ist aufgesprungen. »Wo sind die Beweise? Hat man gesehen, was zwischen Donald und dem Mädchen geschah? Wer die Leiche wegschleppte? Willst auch du diesen gemeinen Unsinn kolportieren? Ich verlange von dir, Francis, jawohl, ich verlange es, daß du jede Verbindung mit diesem niederträchtigen Ehrabschneider abbrichst!«
»Das kannst du nicht verlangen, Mutter.«
Sie stehen einander gegenüber – diese imposante, wütende Frau, die ihre Tochter fast um einen Kopf überragt, und die schlanke, feste Francis. Zwei Welten. Francis schaut die Mutter ruhig an. Sie weicht keinen Schritt zurück. In ihr, die eigentlich beim Betreten des Boudoirs eine Bestätigung der Grundlosigkeit des Presseartikels und der Behauptungen Dr. Boyles erlangen wollte, vollzieht sich gegen ihren Willen eine Wendung. Die hysterische Reaktion der Mutter entspricht nicht einer inneren Sicherheit oder der Furcht vor dem Skandal. Die Mutter hat bisher stets auf die Meinung der anderen »gespuckt«. Wie anders verhielt sich der Doktor, der ihre Zweifel respektierte und mit einem Unterton der Trauer schließlich erklärte: Ich möchte bloß, daß du recht hast, Francis, und daß es keinen weiteren Tod mehr gibt in diesem Falle!
»Also, du hast mich verstanden, Francis?« sagt Mrs. Dorothy, die sich wieder niedergelegt hat und ein Taschentuch mit Eau de Cologne auf die Stirn preßt. »In diesem Falle verstehe ich keinen Spaß!«
*
Francis ist weniger mit sich im reinen als vorher. Sie muß sich Luft machen. Irgendwohin fahren. Wie sie vor der Garage steht, den Wagen herauszuholen, ist ihr alles zu laut. Ruhe. Nachdenken. Insichhören. Vielleicht kommt man so der Sache näher? Sie geht den schattigen Weg unter den alten Platanen und Zedern entlang bis zu der Böschung mit der Taxushecke und den Oleanderbüschen, wo sie letzte Woche mit dem Doktor sprach.
Auf einmal springen aus all den hin und her stürmenden Gedanken die Sätze der Mutter hervor: »Zu weit soll es der Doktor nicht treiben!« Und: »In diesem Fall verstehe ich keinen Spaß!«
Was bedeutet das? Der Doktor ist in Gefahr! Wenn er am Sonnabend in der Versammlung auftritt? Ob man ihn noch davon abbringen kann?