Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

 

14. Jeff kommt zu Gene. Gene stellt sich Adda.

Gene ist nicht sehr erstaunt, wie er aus der Funkerbude gerufen wird und der Negergefreite Jeff vor ihm steht. Zu oft hat er die letzten zwei Tage nach den enthüllenden Worten des Colonels Kennedy auch an das kurze Erlebnis in der Autogarage von F. 8 denken müssen. Die Sache der toten Beß wird immer lebendiger.

Wie und wo starb Beß? Hat er selbst nicht in jener Nacht gesehen, wie sie mit dem Major im Auto wegfuhr? Und als Adda ihn aufforderte, vor dem Kriminalkommissar auszusagen, wich er da nicht aus und riet Adda, sich ruhig zu verhalten?

Aber die Sache verhielt sich nicht ruhig.

Da steht der breitschultrige Negergefreite Jeff Johnson und bittet, ihn eine Viertelstunde sprechen zu können. Gene läßt sich von einem Kollegen vertreten und geht mit Jeff zum Baseballplatz am Südrand außerhalb des Flugfeldes. Sie setzen sich auf die schräge Böschung.

Jeff schaut vor sich hin und fragt unvermittelt: »Glauben Sie an Jesus Christus?« Und da Gene nicht sogleich antwortet, fährt der andere fort: »Es ist vielleicht hier nicht so wichtig. Aber Sie glauben wahrscheinlich, daß Gott die Menschen nicht zum Morden und Ermordetwerden geschaffen hat, oder so: daß kein Mensch den andern töten soll? Das ist doch richtig?«

»Richtig«, erwidert Gene.

»Gut. Dann ist es auch richtig, daß ein Mensch den andern nicht dorthin bringt, daß er sich selbst tötet, sich selbst töten muß?«

»Was soll das heißen?«

Jeff schaut Gene jetzt an. Seine dunklen Augen forschen angestrengt in des Funkers Gesicht, als müsse er eine Frage suchen, bei der es kein Ausweichen gibt. »Haben Sie einmal gelogen … bitte, wie darf ich Sie nennen?«

»Gene.«

»Ich meine in einer ernsten Sache, Gene? Verzeihen Sie mir die Frage!« Schweißtropfen stehen auf seiner Stirn und rinnen herab. Sein mächtiger, wie aus dunklem Holz gehauener Kopf drückt ebenso Qual wie Entschlossenheit aus. »Wir lügen auch oft, indem wir schweigen«, fährt Jeff fort. »Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke?«

Gene ist dies Gespräch erwünscht und peinlich. Er schaut über die weite Rasenfläche des Sportplatzes zu dem Funkturm, der wie eine große dunkle Schachfigur das Flugfeld überragt. Er denkt an das letzte Gespräch mit dem benebelten Colonel über die Moby Dicks. Wir lügen oft, indem wir schweigen. Muß denn erst der Alkohol oder der Marihuanarauch die Wahrheit befreien?

»Verzeihen Sie, Gene, wenn ich Sie langweile!« sagt jetzt Jeff, der des anderen Stummheit mißdeutet. »Die Sache ist schnell gesagt. Ich habe Sie damals in der Garage belogen, durch Schweigen belogen. Ich kann die Lüge nicht länger ertragen.«

»Der Major und die Frau?«

»Ja.«

»Was ist?«

»Ich sah die Frau mit Major Clerk.«

»Sie lebte?«

»Mein Gott, ja, sie lebte. Aber dann, danach …«

»Danach?«

»Ich hatte Furcht, Gene, furchtbare Furcht; Sie sind kein Neger, Gene, Sie können das nicht fühlen; doch Sie haben gelesen, wie man die sieben Neger aus Martinsville hinrichtete, darunter einer fast ein Knabe, auf dem elektrischen Stuhl hat man sie gekocht, richtig gekocht bei lebendigem Leibe … und auch Willie McGee, einen Vater von fünf Kindern, bloß auf die Aussage einer hysterischen Frau …«

»Ich weiß«, unterbricht ihn Gene. »Aber die Frau, von der wir sprechen, war eine gesunde Frau.«

»Eine gesunde Frau, ich nehme es an … doch als sie dalag, den Schuß in der Stirn, den Revolver hielt sie in der Hand …«

»Und der Major?«

»War schon lange weg, auf dem Düsenjäger, lange vor dem Schuß … aber die Frau lag fast nackt auf dem Boden, und das Bett war schrecklich durcheinander … Gott hat den Menschen doch nicht erschaffen, daß er sich selbst töten muß, oder daß ein anderer ihn dahin bringt, so wie sie dalag …«

»Wer hat es getan?« fragt Gene unwillig.

»Ich glaube an Gott, mein Vater glaubte an ihn, meine Mutter, mein Großvater, ich wuchs so auf … aber hören Sie, Gene, es scheint, der Mensch ist heute stärker als Gott, daß er einen anderen dazu bringen kann, sich selbst zu töten … das ist gegen Gott, und doch geschieht es …«

»Genug davon, Jeff! Wollen Sie alles vertreten, was Sie gesagt haben?«

»Ich will es – Gott ist mein Zeuge, ich will es!« eifert Jeff. »Gott hat gesagt, du sollst nicht lügen, und ich habe gelogen. Gott hat gesagt, du sollst nicht töten, und sie töten überall; die weiße Frau töten sie, und sie töten die Farbigen, gerade die; sie wollen uns zwingen, uns Farbige, mit der Furcht, mit Drohung, Mord und dem elektrischen Stuhl, mit der furchtbaren Furcht …« Er hastet die Worte herunter, als könne die nächste Minute ihn am Sprechen hindern. »Ich habe keine Furcht mehr. Gene, Gott ist mein Zeuge! ER kann es bezeugen, aber ER konnte mir bei allem Beten die Furcht nicht nehmen. ER konnte es nicht schaffen … erst als ich vor mir selbst ausspuckte: ›Jeff, du bist schlimmer als ein Hund! Du bist weniger als diese Spucke!‹, da verschwand die Furcht, da spürte ich, daß dem Menschen die Kraft gegeben ist, daß er sich selbst hilft. Es wird schlimm für mich sein, Gene; aber Sie können damit rechnen, daß ich alles vertreten werde.«

»Ich weiß nicht, was wird?« meint Gene. »Und wenn ich Sie beim Wort nehme?«

»Tun Sie es, ich habe keine Furcht mehr«, beteuert Jeff, und dann: »Seltsam, daß ein Mensch Gott helfen muß, damit Gott nicht lügt. Finden Sie das nicht, Gene?«

»Ich verstehe davon nichts«, sagt Gene und erhebt sich.

»Sie müßten es eigentlich verstehen«, bemüht sich der Neger, neben ihm gehend. »Sie haben mir geglaubt; das ist gut.« Und dann leiser, fast zweifelnd: »Wie denken Sie, ob es überhaupt Gott gibt?«

»Für mich gibt es nur eines …«, entgegnet Gene, aber er vollendet den Satz nicht.

 

Es ist ein herrlicher warmer Sommerabend. Der Westen glänzt noch in mattem Gold, das zum Zenit in ein durchsichtiges Grün und Hellblau übergeht. Die Luft ist voll zarter Geräusche. In etwa 4000 Meter Höhe ziehen mit leise giemendem Ton zwei Flugzeuge ihre Kurven. Unten im Gras geigen in fast unhörbar hohem Zirpen die Grillen.

Vor dem Funkturm drückt der Negergefreite Genes Hand. »Ich danke Ihnen, Gene, daß Sie mir zugehört haben.« Sein gutmütiges Gesicht lächelt freundlich. Dann wendet er sich und geht zur Chaussee. Leicht wiegt er den starken Körper in seinem federnden, geräumigen Schritt.

*

Am nächsten Abend fährt Gene zu Adda. Er weiß, er setzt alles aufs Spiel. Aber er kann nicht anders. Er ist tief getroffen von dem Mut des Negers. Ein einfacher Mensch, der dem Ruf seines Gewissens folgt. Ein Neger, der mit offenen Augen – darüber besteht für Gene kein Zweifel – sein Leben riskiert, um die Wahrheit zu sagen, der mit dem ehrwürdigen Gott ringt auf Biegen und Brechen, um nicht länger auf sich spucken zu lassen und vor sich selbst ausspucken zu müssen.

Kann ein Mensch ohne Selbstachtung leben? Ohne Wahrheit? Die Antwort lautet: Nein! Zum mindesten bei diesem Negergefreiten. Kann man über seinen eignen Schatten springen? Die Antwort lautet: Ja! Zum mindesten bei diesem Neger.

 

Gene trifft Adda noch zu Hause; sie ist gerade im Begriff wegzugehen. Er bittet sie, noch eine halbe Stunde zu bleiben; er habe ihr Wichtiges zu sagen.

»Eine halbe Stunde?«

»Ich kann dich auch zum Kursus begleiten.«

Adda schaut vor sich hin und antwortet nicht. Es ist zwischen ihnen wie ein luftleerer Raum, in dem weder ein Schall noch ein Gefühl sich fortpflanzt. Gene war die letzten Tage so sehr mit sich und seinen Erlebnissen beschäftigt, daß er ganz vergaß, wie Adda nach dem Gespräch in Dr. Boyles Wohnung die Tür hinter sich zuschlug. Aber kann man die Tatsache auslöschen, daß er dieses große kräftige Mädchen nicht bloß einmal umarmte, daß sie seinen Kopf zwischen ihre Hände nahm und ihn küßte?

»Ich muß zu Dr. Boyle«, sagt sie kurz.

»Du allein?«

»Es sind auch die andern da.«

»Du konntest mich nicht anrufen?«

»Ich wußte nicht …«

»Was?«

Mit einem Ruck antwortet sie herausfordernd: »Ich wußte nicht, ob du … Bedenken hattest?«

»Weshalb bist du nicht ehrlich und sagst – Furcht?«

»Also – Furcht.«

Jetzt schaut sie ihn an wie einen Gegner, entschlossen zum Kampf. Kein leichter Gegner, fühlt Gene. Aber alle Unsicherheit ist von ihm gewichen. Auch seine Zweifelsucht. Er verspürt eine Lust, mit diesem Menschen zu kämpfen, sich ihm zu stellen, Brust gegen Brust, seine Kraft mit diesem ernsten, hartnäckigen Mädchen zu messen. »Ich habe dich belogen«, schießt er los, »einfach belogen. Die Stafettenkapsel ist noch hier; ich kannte auch niemanden, dem ich sie geben konnte, natürlich auch keinen Flieger.«

Adda kneift die Augen zusammen, um ihn schärfer aufs Korn zu nehmen; dann sagt sie ruhig: »Ich wußte es.«

Auf diese Antwort ist Gene nicht gefaßt. Das ist wie ein Fleckschuß, der ihn umzuwerfen droht. Um einen Moment Zeit zu gewinnen, fragt er: »Wieso hast du es gewußt?«

»Wieso? Nach dem Abend, als du nicht zum Kommissar wolltest.«

»Glaubst du, der Doktor oder Ohm Ernest wären mitgegangen?« Noch während er spricht, spürt er die Schwäche der Erwiderung. Schon folgt der nächste Schuß.

»Du bist nicht der Doktor und nicht Ohm Ernest; jedenfalls wolltest du mich allein gehen lassen.«

Gene schweigt. Sein ganzes Konzept scheint ihm verdorben. Was soll er darauf antworten? Feige war er und lieblos. Auch lieblos. Daß sie dieses Argument noch ins Feld führt! Zorn brennt in ihren Augen. Ihre Brust atmet schneller. Er wußte doch, daß er alles auf eine Karte setzte. Wird er wieder ausweichen?

»Adda, es geht nicht um uns beide; es geht um Beß und mehr.« Er hat sich gesetzt.

Sie nimmt ihr Barett ab; sie tritt, wie sooft, ihre Erregung zu verbergen, zum Fenster und schaut auf die Riesenkolonnen der alten Platanen.

»Daß ich feige war, weiß ich«, beginnt er wieder. »Wir können, wenn es dich interessiert, später davon reden. Doch jetzt ist dieses wichtig: Ich erfuhr, daß Beß bei Donald war, in seiner Wohnung auf dem Flugfeld, und daß sie schon dort tot mit der Schußwunde gefunden wurde.«

»Tot in Donalds Wohnung?« Adda hat seine Hand gefaßt; sie läßt sie sogleich wieder los.

Gene berichtet nun, was er von dem Negergefreiten erfuhr. Adda hört zu, ohne ihn zu unterbrechen. Wie er geendet hat, sagt sie bloß: »Willst du nicht mit mir zu Dr. Boyle und dort alles noch mal erzählen?«

»Gewiß.«

»Aber … falls dies Folgen hat?«

»Wie meinst du?«

Sie zögert einen Augenblick, bevor sie wiederholt: »Verzeih, doch es könnte auch für dich nicht ohne Folgen bleiben.«

»Du kannst mich beleidigen, Adda«, bricht er jetzt los, »du hast ein Recht dazu! Nein, laß mich, ich fühle mich gar nicht gekränkt, das wäre lächerlich. Aber daß man mir nichts mehr zutraut, daß auch du mich wegen einer Schwäche so völlig abschreibst …«

»Gene, wer sagt dir denn …«

»Du sagst es nicht, Adda, du tust es! Ich reklamiere nicht unsre früheren Gefühle, bei Gott auch keine mildernden Umstände; wie ich mich verhielt, das war schamlos, war erbärmlich, war feige, glaubst du, ich weiß es nicht … weshalb bin ich sonst hier? Ihr dürft mir dies auch auf den Kopf zusagen, fest zugehauen, bitte, es ist nicht so unerträglich, wie in der Wunde herumstochern … ich denke, man muß jedem Menschen, der sich noch mit seinen Fehlern müht, eine Chance geben …«

Adda ist ganz nahe zu Gene getreten; sie macht eine kurze Bewegung, als wolle sie wie früher ihm ihre Hand auf den Mund legen. Er spürt ihren Atem, da sie erklärt: »Einverstanden, Gene! Aber du mußt auch mir die Chance geben, mich wieder auf dich einzustellen.«

Draußen, nachdem er den Motor angetreten hat, sagt er zu Adda durch den ratternden Lärm: »Ich hielt es nicht mehr aus, Adda. Man kann einfach so nicht leben.«

»Das ist es?«

»Das, Adda.«

»Und das andere?«

»Laß uns beim Doktor darüber sprechen!«

Er besteigt die Maschine und schiebt den Gang ein. Adda sitzt hinter ihm auf. Gene legt in der geraden Avenue ein höllisches Tempo vor; er bremst scharf in den Kurven. Doch Adda hält sich an den Eisengriffen neben dem Sattel und nicht an der Schulter des Fahrers.

 

15. Gene berichtet der Gruppe. »Daß wir aus der Eierschale kriechen.«

Nachdem Gene berichtet hat, wagt zuerst keiner der Freunde zu sprechen. Einmal weiß man nicht, ob nach diesen eine völlig neue Situation schaffenden Tatsachen nicht noch weitere auftauchen werden. Auch kann man die neuen Fakten noch nicht so schnell in den geplanten Vorstoß des Friedenskomitees eingliedern. Sodann ist einem »das Hemd näher als der Rock«; die Nachricht über den Tod der kleinen Beß scheint die ganze Aufmerksamkeit der Freunde zu beanspruchen und alle andern Gedanken hinwegzufegen.

Bei Ohm Ernest kommt noch hinzu, daß er über seine eigenen Beobachtungen am Hafen berichten wollte, daß er jedoch damit zurückhielt, als Adda – gleich nach Betreten des Doktorzimmers – erklärte, Gene könne Einzelheiten über Beß' Tod mitteilen.

Der Doktor hat seine Brille abgenommen und reibt sie, bevor er sie wieder aufsetzt, nachdrücklich zwischen den Enden seines Taschentuches, als könne er danach den Fall klarer erkennen. »Sie halten den Negergefreiten für unbedingt zuverlässig, Gene?«

»Unbedingt. Es kostete ihn große Überwindung, mir alles zu erzählen.«

»Dann gibt es nach Addas und Genes Bericht also folgende Momente«, eruiert der Doktor, »erstens: Donald nahm Beß in jener Nacht in sein Quartier, wo er ihr Hilfe für ihren Freund, den Rekruten, versprach und sie mißbrauchte; zweitens: sie wurde dort erschossen aufgefunden …«

»Der Schuß soll erst gehört worden sein, nachdem jener Major Clerk aufgestiegen war?« fragt Pat.

Und Ann: »Selbstmord? Wer das glaubt!«

»Du weißt nicht, wie sie schon die Tage vorher war, Ann«, erklärt Adda.

»Du willst das noch begründen?«

»Ich will nur …«

»Wo dieser Lump ihre Verzweiflung ausnutzte …«

»Moment, Ann!« unterbricht sie der Doktor. »Bleiben wir bei den Tatsachen! Der Neger hat Gene noch berichtet, daß er von einem Captain genötigt wurde, die Leiche in eine Decke zu schnüren, und daß etwa eine Stunde danach ein fremder Wagen bei dem Bungalow vorfuhr und nach zehn Minuten wieder verschwand … so war es doch, Gene?«

»Nach dem Bericht.«

»Woraus hervorgeht, daß man die Leiche ins Wasser warf wie eine tote Katze, um die Spur zu verwischen. Ein typischer Fall, und damit basta!« bemerkt Pat.

»Das behauptet hier niemand, Pat!« verweist ihn der Doktor.

»Aber dann müßten wir damit sofort an die Öffentlichkeit!« drängt der kleine Flagg, der sich eifrig Notizen gemacht hat. »›Wie eine tote Katze‹, das ist ein Artikel; aber Mord oder Selbstmord – vierzehn Tage alt – existiert für die Presse nicht mehr.«

»Ihr wollt die Tote noch röcheln hören?« meint Ann.

»Nicht ich, aber jene.« Und zu Gene: »Kann man den Negergefreiten sprechen?«

»Ich möchte davon abraten.«

»Wenn er den Mut hatte, dies zu gestehn …«, fährt Pat dazwischen.

»Er ist ein religiöser Neger«, sagt Gene, »er kam in seiner Gewissensnot zu mir, sich zu erleichtern …«

»Und du hast ihn nicht gefragt, ob er bereit sei, offen auszusagen?«

»Er selbst erklärte sich bereit, er war in großer Erregung; aber ich gebe euch zu bedenken, was ihm als Neger in dieser gar nicht bis ins letzte geklärten Sache droht.«

»Wir sind hier nicht in Alabama …«

»Aber es geht um die Familie Clerk …«

»Beß ist wohl nichts?« ruft Ann da hinein.

Und Pat: »Wenn man stets zurückweicht …«

»Was mich betrifft«, entgegnet Gene, »so bin ich bereit.«

»Na?« meint Pat von der Seite.

»Was heißt das?« fragt Adda erregt. »Gab Gene euch einen Grund, an seinem Wort zu zweifeln? Es ist unsrer unwürdig …« Plötzlich hält sie inne, als stecke ihr etwas in der Kehle.

Übrigens kommt ihr ungewollt Ohm Ernest zur Hilfe, indem er erklärt: »Ich muß Gene hier recht geben. Es hat keinen Sinn, den Negergefreiten jetzt einzuspannen und den andern eine billige Gelegenheit zu bieten, die Sache auf ein sensationelles Geleise abzuschieben. Freund Flagg, stecken Sie Ihr Notizbuch ruhig wieder ein; es geht hier gar nicht so sehr um Beß …«

»Was?« fragt Ann.

»Ja, Kinder«, fährt Ohm Ernest fort, »ja, Ann, ich könnte genausogut sagen: der Fall des Rekruten Robby Cass ist heute wichtiger als der Tod meines Mackie. So ist der Fall Clerk und alles, was damit zusammenhängt, wichtiger als der für uns so furchtbare und schmerzliche Tod unsrer lieben kleinen Beß.«

»Das läßt sich doch nicht trennen!« wirft Pat dazwischen.

»Richtig. Die Frage ist bloß, wo setzen wir den gemeinsamen Hebel an?«

»Ich versteh dich nicht, Vater«, opponiert Ann, der vor Wut und Schmerz die Tränen kommen, »ich will, daß die Bande büßen soll für Mackie und Beß, daß diese so ruhigen Herrschaften auch mal Blut schwitzen sollen, und wenn wir die Beß noch mal ausbuddeln und sie ihnen ins Schlafzimmer stellen!«

»Ich finde auch, Ohm Ernest, wir müssen diesen Kriminalfall so behandeln, wie er nun einmal ist«, meint der Doktor, »die allgemeine Auswirkung erfolgt dann fast zwangsläufig.«

»Fast zwangsläufig …« Ohm Ernest schüttelt den Kopf. »Ich wundre mich ein wenig über Ihre Worte, Doktor.«

»Unser politischer Chef will – wenn ich recht begreife – aufs Ganze, die Sache im Weltmaßstab behandeln«, stichelt der kleine Al Flagg. »Bloß, wenn man zu hoch im Mastkorb sitzt, dann erblickt man den Horizont und die See, aber nicht mehr das Schiff.«

Ohm Ernest bläst jetzt eine dicke Rauchfahne aus seinem kurzen Kloben. »Wenn ihr schon dabei seid«, erwidert er, »so will ich euch verraten, daß mich die Schiffe mächtig interessieren, daß ich sie mir die letzten Tage verflucht genau angesehen habe am Eastriver … die Schiffe und die Ladekrane und die Dockers … grade wegen Beß.«

»Das also war deine Krankheit?« fragt Pat.

»Genau das. Seht ihr, Freunde, ich war am Hafen, um dahinterzukommen, wie und wo man Beß herausfischte. Ich wußte noch nichts von all dem, was uns Gene eben berichtet hat. Aber mir schien es wichtig, nachdem unsre Beß und mein Mackie so elend zugrunde gegangen sind, den Hebel zu finden, um mit einem Schlag die ganze Haube vom Motor zu lüften, die Klappe, durch die man in den Maschinenraum steigt …«

»Und was war da am Hafen …«

»Sahen Sie was von Beß …«

»Und die Klappe zum Maschinenraum?« will Pat wissen.

Ohm Ernest erzählt seine Erlebnisse an den Docks. Alle hören mit großer Aufmerksamkeit, wie er gestern zum zweitenmal die »White Rose« und die Ohiobar besuchte, und wie die Dockers nach Ablehnung ihrer Forderungen durch die Union beschlossen haben, in diesen Tagen eine Versammlung der Schauerleute gleich unten am Hafen abzuhalten.

»Hallo!« quittiert Pat. »Diese Klappe hast du also aufgemacht?«

Und Ann: »Die Mädels und Jungens vom Friedenskomitee werden dabeisein!«

»Aber wozu hat Gene euch denn das alles von Beß berichtet?« wirft Adda dazwischen.

»Damit können wir den Schauerleuten nicht kommen, wenn sie um Lohn und Arbeitsgarantie kämpfen«, entgegnet Pat.

Der Doktor: »Hier geht dreierlei durcheinander …«

»Atombombe!« ruft der kleine Flagg.

»Lassen Sie das bitte!« sagt Ohm Ernest. »Natürlich können wir unsere Sache nicht in die Versammlung der Hafenarbeiter bringen, wenigstens nicht morgen und nicht sofort … es müßte denn bei einer Gelegenheit wie von ihnen selber kommen. Aber wir können doch unsere Friedenskundgebung ganz gut unten in einem Hafenlokal abhalten. Einmal sind wir dann gleich am Ort, wo Kriegsmaterial verladen wird; dann gibt es gerade am Hafen eine für uns nicht schlechte Stimmung und wird es den Cops und F.B.I.-Burschen nicht so leicht fallen, unsere Versammlung zu sprengen.«

»Richtig! Das ist eine ganz andere Sache als irgendwo im Kaufhausviertel oder in einem Villenvorort«, bestätigt Pat. »Wenn sie uns hinausknüppeln, so ist draußen der Hafen voll von den Streikenden.«

Ann umarmt stürmisch Ohm Ernest. »Einmal muß es doch werden, Vater!«

»Es wird überall, sogar mächtig!« erklärt Pat. »Wir hier wissen nur viel zuwenig davon.« Er zieht aus seiner Brusttasche einen Briefumschlag. »Da … Bonn am Rhein … da antwortet mein Kriegskamerad von der andern Seite, mein Studienkollege Heinz Böttger … Ihr wißt doch noch, ich las euch seinen ersten Brief vor, wie sie dort ebenfalls Killer spielen sollen, aber wie die Jungens gar nicht begeistert davon sind, und jetzt schreibt mir mein Freund …«

»Nachher, Pat, nachher!« unterbricht ihn Ohm Ernest; er wendet sich zu Ann: »Wie steht es mit der Jugendliga in eurem Betrieb? Ich meine, könnte man jetzt etwa unter der Parole: Unsere Jungens wollen in der Heimat leben und nicht in Korea sterben! ein Meeting am Wochenende zusammenbringen?«

»Unbedingt!« sagt Ann. »Für unsere Keksfabrik möchte ich garantieren. In der Backabteilung, der Fahrbereitschaft, dem Transport allein sind über sechshundert Jungens, und wir Frauen und Mädels in der Konditorabteilung, der Packerei und dem Versand sind über tausend, wenn bloß ein Viertel von denen kommt …«

»Wir bringen auch noch fünfzig bis hundert Autotransporter zusammen … was, Ohm Ernest?«

»Wie steht's mit der Liga der Progressiven?« fragt der Ohm jetzt den Doktor.

Der beginnt wieder seine Gläser sorgsam mit dem Taschentuch zu reinigen. »Wie es damit steht …«, überlegt er. »Nun, auch unsre Freunde weichen nicht aus; aber die meisten werden noch auf Urlaub im Gebirge oder an der See sein; zudem in vier Tagen … das ist nicht wie in einem Großbetrieb … also, ich hoffe auch noch fünfzig mitzubringen.«

»Gut, gut«, bekräftigt der Ohm, »es kommt darauf an, daß wir ein halbes Dutzend sattelfeste Redner haben. Wer soll die Versammlung leiten?«

»Der Doktor …«

»Richtig!«

»Nein, der Doktor soll das Hauptreferat halten, wenn er will …«

»Frage, ob es angebracht ist?« erwägt Ohm Ernest. »Der Doktor ist eins unsrer stärksten Geschütze; wenn man ihn gleich in die vordere Linie schiebt …«

»Nicht übertreiben!« wehrt Dr. Boyle ab. »An mir ist nicht mehr viel zu verderben. Ich stehe längst auf der schwarzen Liste und warte nur auf die Vorladung vor das Smithkomitee. Aber mir scheint, nach allem, was Ohm Ernest berichtet hat, nunmehr auch für uns der Punkt erreicht zu sein, daß wir aus unsrer Eierschale kriechen – dazu müssen eben ein paar Schalen zerbrechen –, und schließlich sind wir's auch unsrer Beß schuldig …«

»Bravo, Doktor!« Ann, die jedesmal, wenn von Beß die Rede ist, sehr erregt wird, wohl auch im Andenken an ihren Mackie, preßt Dr. Boyle an sich. »Es ist wirklich an der Zeit! Wirklich, die Jungens und Mädels werden aufatmen, daß wir uns endlich wehren wollen. Ich werde auch sprechen, jawohl, ich!« Und als habe Ohm Ernest protestiert –: »Diesmal wirst du mich nicht abhalten, Vater! Ist denn Mackie nicht dein Sohn und mein Mann? Und jetzt vielleicht nur noch ein Klumpen Knochen und Erde am Yalufluß? Gott soll mich verdammen, wenn ich's nur eine Stunde vergesse!« Und wieder gegen Al Flagg, Adda und Gene: »Wen bringt ihr denn mit? Niemanden? Weil es euch gut geht? Aber wißt ihr, wie lange ihr noch so leben werdet? Also, niemanden?«

Der kleine Flagg meint verlegen: »Ich kann bloß meinen Notizblock mitbringen und zu Hause meine Schreibmaschine in Gang setzen.«

»Und ihr?«

Adda erwidert schnell: »Du kannst ruhig sein, Ann; ich werde aus meiner Abteilung mitbringen, was Beine hat.«

»Adda und Gene sollen vorerst draußen bleiben!« sagt Ohm Ernest.

»Auch meine Meinung«, stimmt Dr. Boyle zu.

»Zur Versammlung werde ich kommen!« erklärt Gene.

»Lassen Sie das!« entscheidet der Ohm.

Es wird vorgeschlagen, daß für den kommenden Sonnabend um 20 Uhr im Ballsaal eines der Hafenrestaurants von der Labor Youth League und den Young Progressives of America ein Meeting einberufen werden soll mit dem Thema: Schluß mit dem Koreakrieg und der Zwangsrekrutierung! Als Versammlungsleiter wird genannt der Reverend James Hugh, als einer der Referenten Dr. Boyle; als Diskussionsredner sollen Ohm Ernest und Pat, der Werkstudent, auftreten; dann natürlich noch ältere und jüngere Arbeiter und Arbeiterinnen der Betriebe. Die Sorge für die Sicherung der Versammlung wird Ann und Pat mit der Jugend übernehmen.

»Und falls die Versammlung auseinandergeschlagen wird?« fragt der kleine Flagg.

»Dann zücken Sie Ihren Presseausweis«, flachst Pat, »und drohen mit der Öffentlichkeit.«

Doch Ohm Ernest mahnt: »Ihr laßt euch keinesfalls provozieren, Jungens, durch nichts, und zu keiner Schlägerei verleiten, sondern geht ruhig auf die Straße und den Kai. Dort sind am Sonnabend bestimmt hunderte Dockers, die zu uns stoßen werden …«

»Und wir machen dann 'n Meeting im Freien und nehmen sie in die Mitte!« erklärt Ann begeistert.

Der Doktor: »Meeting im Freien … das wird eine unkontrollierbare Sache, die uns aus den Händen gleitet.«

»Laßt das meine Sorge sein!« beruhigt Ohm Ernest. »Die Schauerleute haben schon ihr Komitee, das die Sache führt, und die ›rank and file‹ will ein Flugblatt verteilen, in dem sie zwar mit den Löhnen, der Preissteigerung und den letzten Unfällen beginnt, aber auch die Gründe der Preissteigerung, der Hetzarbeit und der Unfälle aufdeckt und danach auffordern wird, kein Kriegsmaterial mehr nach Korea zu verladen.«

»Da sind wir ja mittendrin …«

»Na also!«

»Großartig, Vater!«

»Auch wir müssen ein Flugblatt herausbringen, ähnlich wie das der Schauerleute«, sagt Pat, »und unsere Kollegen auffordern, die Gestellungsbefehle nicht zu beachten; wir müssen zeigen, daß unsere Jungens in dem Kampf nicht allein stehn! Freunde«, er entfaltet wieder seinen Brief und feuert jetzt los: »Wißt ihr, was die deutschen Jungens machen – ihr müßt es jetzt hören, wir können es in unserm Flugblatt verwerten –, sie gießen Zement in die von den Besatzungstruppen in Westdeutschland angebrachten Sprenglöcher, überall, an den Brücken, auf den großen Straßen, sie werden verhaftet, in die Gefängnisse gesperrt, auch ihnen droht die Zwangsrekrutierung, aber sie beginnen, ihrem Boß die Zähne zu zeigen … hier, hört bloß!«

 

16. Der zweite Brief aus Deutschland. Gene wird ausgeschlossen.

Pat überfliegt die ersten Zeilen und übersetzt dann:

 

… jetzt kommen zu der höflichen Aufforderung: Ami go home!, die nicht bloß an Brücken und Hauswänden steht, sondern jetzt auch überall auf dem Trottoir und den Autostraßen groß aufgemalt ist, noch diese drei Worte: Not our boys! Früher war das die Parole von Mr. Eisenhower, der unsern Jungs den ehrenvollen Vortritt ins Massengrab lassen wollte; jetzt aber geben wir Euch diese schöne Losung zurück. Mein Studienkollege Hans Berger erzählte mir kürzlich …

Pat unterbricht hier und erklärt: »Dieser Hans Berger ist natürlich mein Freund Heinz Böttger selbst …«

»Er muß auch schon seinen Namen vertuschen?« fragt Ann.

»Es scheint so; paß auf, warum.«

 

… ja, dear Patty, auch bei uns gibt es mächtig Democracy, für die wir in den neuen Krieg sollen, und zwar: schnell, schnell! – jetzt auch als L.S.U., als Labor Service Units, als bewaffneter Arbeitsdienst. Dabei behandeln sie unser Land als ›unentwickeltes Gebiet‹, als Kolonie, jagen die Bauern aus den Dörfern, um Schieß- und Flugplätze daraus zu machen, verwüsten ganze Landstriche, und das mitten im Frieden … alles für die Democracy und Freiheit. Verzeih, Patty, aber ich glaube, bei den amerikanischen Soldaten in Süddeutschland und Berlin einen bestimmten einheitlichen Zug bemerkt zu haben: eine Menschenmißachtung ohnegleichen. Sie nehmen sich unsre Dörfer, Wohnungen, Männer und Mädchen wie leblose Sachen, wie Stückgut … wahrscheinlich kennt ihr da Eure Landsleute weniger als wir …

Pat schaut auf, als wolle er ausdrücken: Was sagt ihr hierzu? Ohm Ernest nickt nur, während die andern schweigen und auf den eng beschriebenen Brief schauen. Jetzt liest Pat weiter:

 

Wenn Du unsre Zeitungen sehen könntest, Patty, jeden Tag stehen da Nachrichten, wie amerikanische Soldaten unsre Taxichauffeure niederschlagen und berauben, oder wie sie Frauen überfallen, und das alles für Freiheit und Democracy …

»Das muß in unser Flugblatt hinein!« fährt Ann dazwischen.

»Weiter!« sagt Ohm Ernest.

 

… aber glaub mir, Pat, es beginnt jetzt ein Umschwung bei uns. Der deutsche Michel reibt sich die Augen und denkt nach. Was mich angeht, so war mir interessant, was Du mir schreibst von den Hexenprozessen gegen Eure Intelligenz und wie man Euch in Gottes eignem Land den Maulkorb vorhängt. Nun, Patty, Ihr wehrt Euch gegen den Maulkorb und den Rekrutierungszwang; das ist gut. Ich denke, mit der Sache bei Euch und bei uns steht es so: Die Freiheit ist die einzige Sache, die man nicht erhalten kann, wenn man sie nicht auch den andern gewährt; oder noch besser so: Man kann niemandem die Freiheit bringen, solange man sie nicht bei sich selbst durchgesetzt hat …

Und Ann: »Freiheit kann man wohl überhaupt nicht von außen bringen.«

»Aber helfen kann man!« meint der kleine Flagg.

»Ich möchte wegen der Stafettenkapsel für Berlin etwas sagen!« wirft Gene hier ein. »Ihr müßt wissen …«

»Dazu kommen wir noch«, erklärt Pat.

Und Adda erregt: »Aber es ist wichtig, es vorher zu hören; ihr müßt Gene wirklich jetzt hören, ihr könntet sonst glauben …«

»Nachher, Adda!« bremst der Doktor. »Der Brief geht uns doch alle an.«

»Hört wirklich einmal bis zum Ende!« bittet Pat. »Da steht also weiter:

 

Ja, mit der Freiheit bei uns ist das so ein eignes Ding. Da ich hier in Bonn zu wählen hatte zwischen der Freiheit, mich als Nachtportier weiterzubilden oder als Gepäckträger am Hauptbahnhof die neuesten Gestalten der deutschen Geschichte zu studieren, beschloß ich, eine kleine schöpferische Pause einzulegen und meine Neugier zu befriedigen, ob hinter dem Eisernen Vorhang auch noch Deutschland liege …

»Eisernen Vorhang?«

»Na ja, Ann, so nennen die Trumans im Westen die Elbgrenze, die Deutschland in zwei Hälften teilt. Also …«, er sucht wieder die Briefstelle:

 

… so schloß ich mich denn einer kleinen Studentengruppe der Freien Deutschen Jugend an und ging mit ihr illegal über die grüne Grenze in die Sowjetzone, wie man bei uns sagt. Wir wollten zu den Weltjugendfestspielen. Das alles erzählen, Pat, kann ich nicht, man müßte ein kleines Buch drüber schreiben. Nur soviel, es war für mich wie die Entdeckung einer neuen Welt. Christoph Kolumbus muß es ähnlich zumute gewesen sein, als er Land sah …

»Sind das die Jugendfestspiele, zu denen wir die Botschaft in der Kapsel schicken wollten?« fragt Ann.

Eine Sekunde überlegen alle.

Adda hält den Atem an.

»Jawohl, die Stafettenkapsel«, erklärt Gene mit etwas heiserer Stimme, »und ich muß euch hierzu berichten …«

»Aber bitte, nun laßt mich den Brief schon lesen!« wehrt Pat ab. »Ihr werdet sehen, wie klein die Welt, oder besser, wie groß unsre Sache schon ist.«

 

Du kannst es Dir nicht vorstellen, Patty, es war tatsächlich mehr als die Entdeckung eines Erdteils; es war, als hätte die Jugend aller Erdteile für einen Augenblick in den Straßen Berlins, in den Sälen, Theatern, auf den Sportplätzen, selbst in den Häusern sich die Hand gereicht, und mehr als das – sich umarmt. Unvorstellbar. Ich spreche nicht von dem Strom einer halben Million junger Menschen aller Farben, Rassen und Länder – Chinesen, Russen, Franzosen, Deutscher, Italiener, Neger, Araber, Inder, Engländer, Koreaner, Polen, die zwei Wochen lang mit ihren Liedern, Tänzen, Spielen und Turnieren buchstäblich jeden Winkel der Stadt mit neuem Leben erfüllten; nun gut, wirst Du sagen, das ist eine Frage der Zahl und der Dimension, woran man sich schnell gewöhnt; stimmt, Patty! Aber da war noch ganz was andres, und der Teufel hol mich, noch jetzt läuft's mir heiß und kalt den Rücken herunter, wenn ich mich daran erinnere, wie plötzlich die jungen Französinnen mit dem Band der Trikolore um die Brust aus ihrer Festaufstellung heraussprangen und die anrückenden Mädchen Vietnams unter Tränen umarmten und küßten, um die Schmach des »schmutzigen Krieges« – wie die Jugend es nennt – von ihrem Lande abzuwaschen. Glaub mir's, Pat, es war mir merkwürdig zumute.

Es ist ganz still im Zimmer, bevor Pat fortfährt:

 

Es war mir noch nicht klar, was da in mir vorging, wie dann später die Fahnen der englischen und amerikanischen Jugend sich tief zum Gruße senkten, als die Jugend aus Korea – einige in ihrer Felduniform – mit ihrem Banner bei uns defilierten …

Ohm Ernest hat Pat den Brief aus der Hand genommen. Auch Ann beugt sich erregt über das Papier, um sich zu vergewissern. Doch beide verstehen nicht Deutsch. Langsam gibt Ohm Ernest den Brief Pat zurück. Gene blickt auf Adda, die – zwei senkrechte Falten auf der Stirn – angespannt auf die Tischdecke schaut; der Kupferton ihrer Haut ist noch dunkler als sonst.

 

… natürlich war ich auch auf den Sportplätzen und sah an einem strahlenden Morgen ein scharfes Basketballspiel zwischen Russen und Chinesen. Verzeih mir, Patty, wenn ich Dich langweile! Aber Du mußt verstehen, was für uns in Westdeutschland das Interessanteste war. Nach diesem Spiel betrat eine englische und koreanische Mannschaft den Platz. Selbstverständlich begrüßten sich die Kapitäne beider Teams; ich saß ganz nah dabei auf einer der Zementstufen des Stadions. Pat, es waren vielleicht nur drei Sekunden, daß die Hand des jungen Engländers und die des ebenso jungen Koreaners länger als gewöhnlich ineinander ruhten, vielleicht auch bloß zwei Sekunden. Da legte der englische Kapitän plötzlich noch seine andre Hand auf die des Koreaners, so daß er dessen Hand wie schützend zwischen seinen Händen hielt. Und beide sahen sich dabei an. Das Ganze dauerte wie gesagt höchstens zwei bis drei Sekunden. Von den Zehntausenden des Hauptstadions sah es überhaupt niemand, und von den vielleicht dreihundert Zuschauern dieses Nebenstadions bemerkten es höchstens zwanzig bis dreißig Menschen der zunächst Sitzenden. Und doch schienen mir die zwei Sekunden wichtiger als alles. Ich mußte schnell mein Taschentuch hervorzerren und so tun, als trockne ich mir den Schweiß von der Stirn; mir stürzten die Tränen aus den Augen; ich habe mich damals noch geschämt und dies zu verbergen gesucht. Heute, Patty, schreibe ich es Dir mit Stolz und Hoffnung. Denn das war mein größtes Erlebnis. Zumal, wenn man weiß, daß diese jungen Engländer nur auf einem großen Umweg über Österreich kommen konnten, daß sie bei Innsbruck – von amerikanischen Soldaten bewacht – zwei Tage und Nächte auf offenem Bahngeleise stehen mußten und zum Teil schändlich verprügelt wurden. Vielleicht war das der allerletzte Anstoß gewesen, daß der junge Engländer so fest die Hände des jungen Koreaners in den seinen hielt, während zur gleichen Zeit die englischen und amerikanischen Flieger koreanische Städte in Trümmer warfen. Wir hier in Deutschland, lieber Pat, wissen, was das heißt. Dort in Berlin aber dachte ich oft an Dich und an Deinen letzten Brief, wie auch Ihr Jungens in USA Euch zusammentut gegen einen neuen Wahnsinn. Und da sah ich plötzlich Euch und uns und den Händedruck des jungen Engländers und Koreaners, und – glaub es oder nicht – ich atmete tief auf, weil mir klar wurde: Trotz allem, wir sind die Stärkeren! Ich sage noch einmal, Pat: Wir! Zu schade, Patty, daß Du nicht hier warst!

»Wir müssen dem deutschen Freund sofort antworten!« eifert Ann.

Und Pat: »Vielleicht kann man es wieder durchs Flugzeug?«

»Ich muß etwas sagen … die Stafettenbotschaft ging noch nicht ab!« stößt Gene hervor.

»Noch nicht?«

»Ist was passiert?«

»Wollte dein Freund, der Pilot, nicht?« fragt Pat.

»Ich hab keinen solchen Freund.«

Schweigen.

Adda hält den Atem an und schaut auf Pat.

»Wie …«, überlegt Pat, »aber du hast doch versichert …«

»Es stimmte nicht.«

»Dann hast du uns belogen?«

»Belogen.«

Ein heftiges Fragengewirr. Ann und Pat wollen die Gründe wissen. Das sei ein beispielloser Vertrauensbruch! – Und dazu noch unter Kameraden! – Die Weltjugendfestspiele gehen bald zu Ende, und all die Mühe der hiesigen Jungens sei nutzlos vertan durch solch eine niederträchtige …

»Ruhe!« bremst Ohm Ernest, und zu Gene sich wendend: »Wie kam das?«

»Ich … weiß es selbst nicht.«

»Ich weiß es selbst nicht!« höhnt Pat.

»Weshalb läßt du ihm nicht Zeit?« tritt Adda dazwischen.

Und Ann: »Ach so, du bist mit im Spiel?«

»Ann …«

»Er soll Rede stehn …«

»Aber, Kinder, was heißt denn das? Ich glaube nicht, daß Gene es in schlechter Absicht getan hat«, sucht der Doktor die Jugend zu dämpfen. »So kommen wir nicht weiter, und ich denke, es gibt für uns jetzt Wichtigeres …«

Ohm Ernest schaut Gene an und fragt: »Bitte, Gene, sagen Sie uns offen, was los ist. Das hier ist kein Kinderspiel; wir werden nur dann zusammenarbeiten, wenn wir einander unbedingt vertrauen können.«

Gene hält dem Blick stand. Sein Gesicht ist von einem hektischen Rot verfärbt. Er schweigt – es sind schreckliche Sekunden; dann erklärt er: »Ich wollte es unbedingt selbst machen, ich allein; ich wollte nicht, daß Pat es machte.«

»Und warum nicht Pat, du Großmaul?« faucht Ann. »Wollte sich hier aufspielen, der Herr Oberfunker!«

»Dazu hast du kein Recht, Ann!«

»Natürlich, sie will den Freund decken …«

»Sei still, Ann!« sagt Ohm Ernest. »Und auch du, Adda, könntest dich etwas beherrschen! – Ich denke, Sie sehen ein, Gene, daß Ihr Verhalten unverantwortlich war, und daß Sie uns die Kapsel zurückbringen werden.«

»Gewiß.«

»Was ist damit getan?« platzt Pat los. »Das Ganze ist einfach eine bodenlose Schweinerei! Wir müssen alle unsre Pläne mit der Versammlung, den Flugblättern und den Dockers jetzt umstoßen …«

»Weshalb?«

»Weshalb, Adda? Wer garantiert uns nach solch einer Lüge gegenüber den Kameraden, nach solch 'ner Gemeinheit, daß dieser Herr nicht auch …«

»Daß dieser Herr …« Gene hat wie rasend blitzschnell eine der Whiskyflaschen hochgerissen, sie dem andern über den Kopf zu schlagen. Doch Ohm Ernest wie auch Adda haben ebenso schnell seine Hand gepackt und zurückgedreht, so daß die Flasche auf den Tisch fällt und von dort klirrend zu Boden rollt. Gene steht wie versteinert da.

»Ihr wollt Friedenskämpfer sein und benehmt euch wie … nun, ich muß schon sagen, wie Gangster!« fährt Ohm Ernest sie an. »Eine Schande für uns alle!« Und mit einem Blick auf Pat: »Nichts wird an unserm Plan fürs Weekend geändert, kein Jota! Diese Chance geben wir Gene. Wenn ich mich da täuschen sollte, will ich mich aufhängen.«

Gene beißt seine Zähne aufeinander, daß die Kiefer knacken. Die Tränen treten ihm in die Augen. Er will hinaus. Ohm Ernest hält ihn am Handgelenk, während Gene ihm den Rücken zukehrt, das Gesicht zur Wand.

»Das ist das eine, Gene! Auch daß Sie die Stafettenkapsel bis morgen abend hierher zum Doktor bringen!« sagt Ohm Ernest. »Ich hoffe, ihr seid damit einverstanden?« Dann spricht er leiser in das Schweigen. »Und weiter – Sie werden einsehen, Gene, daß wir auf Ihre Mitarbeit verzichten müssen, vorerst. Verstehen Sie das, Gene?«

Gene wendet sich und schaut ihn an. Er gibt ihm die Hand und geht hinaus.

In die Stille hinein erklärt der Doktor: »Ich denke, Ohm Ernest hat in unser aller Sinn gehandelt. Und doch, es ist schade um Gene …«

»Wir sollen es vielleicht weiter darauf ankommen lassen?« fragt Ann.

»Nein, die Sache ist klar.«

»Wer macht das Flugblatt?«

»Pat, Ohm Ernest …«

»Auch Ann und Adda sollen dabeisein«, sagt der Doktor.

Und der kleine Flagg: »Ich werde einen Artikel schreiben.«

»Wenn wir Beß mit hineinbringen, wird es mächtig Staub aufwirbeln und alle Hunde auf uns hetzen …«

»Wennschon!«

»Überlaßt mir die Sache!« meint Ohm Ernest. »Wir werden sehen, wie die Versammlung läuft.«

»Aber den Brief des Bonner Studenten benutzen wir?«

»Unbedingt!« drängt Ann. »Vor allem die Begegnung der jungen Französinnen mit den Mädchen aus Vietnam …«

»Moment, Ann, eh ich's vergesse«, unterbricht sie Pat, »ich denke, wir sollten die Stafettenkapsel mit Schiff oder Flugpost sofort an meinen Freund Böttger senden. Vielleicht kommt sie doch noch rechtzeitig ans Ziel? Oder habt ihr 'nen andern Vorschlag?«

Adda ist aufgestanden. Alle schauen zu ihr hin. »Ich möchte an der Besprechung nicht weiter teilnehmen«, sagt sie.

»Weshalb?«

»Bist du mit unserm Entschluß nicht einverstanden?« fragt Ohm Ernest.

»Doch«, antwortet Adda. »Ihr habt richtig gehandelt, fair und gerecht. Ich finde, es ist gut, wenn ihr die Kapsel mit der Botschaft sofort an Pats Freund weiterschickt. Das ist völlig in Ordnung. Ich werde auch am Samstag bei der Versammlung sein und Flugblätter verteilen und alles tun, was man mir aufträgt. Aber hier, an den … internen Besprechungen, möchte ich vorerst nicht mehr teilnehmen.«

Es scheint, daß alle Addas Wunsch respektieren. Mit einem stummen Gruß verläßt sie das Zimmer.


 << zurück weiter >>