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Achtes Kapitel

 

13. Wenn noch alle Zündkerzen funken. Die, welche das Unrecht zulassen …

Die Geburtstagsrunde bei Ohm Ernest hat sich durch den Alarm kaum stören lassen; sie sind trotz Mom Roses Mahnung nicht in den Keller gegangen, sondern haben nach Verhängen des Fensters mit einer Wolldecke beim Schein einer alten Petroleumlampe die Feier fortgesetzt. Man kann sogar sagen, daß dieser Probealarm die Gespräche noch belebte; denn es wurde klar, daß der Krieg immer näher rückt.

»Sie wollen uns einfach überfahren mit ihrem Krieg«, meint Pat, »mit ihrer Luftschutzübung, ihrer Zwangsrekrutierung der Achtzehnjährigen und dieser ganzen Musik; wenn das so weitergeht, gibt es bald kein Zurück mehr.«

»Das wissen wir alle«, sagt der Doktor sondierend.

Und ebenso Ohm Ernest: »Wir alle … schön; doch wieviel sind wir?«

»Hängt das nicht von uns ab?« entgegnet Pat. »Wir sind doch keine Pflastersteine, einmal gemacht, ausgezählt und fertig, sondern eher eine Art Lawine, wenn wir wollen.«

»Es gibt auch da noch Gesetze«, bemerkt Gene.

»Natürlich«, kontert ihn Pat, »insofern der menschliche Wille die stärkste Energiequelle ist, das heißt, wenn bei ihr noch alle Zündkerzen funken! Freunde, es gibt unsre Labor Youth League – dahinein müßte wohl jeder junge Arbeiter, der nicht nach Korea will – und es gibt unsre Young Progressivs of Amerika, die ebenfalls offen auftreten gegen diesen ganzen Schwindel von Atompanik und die Zwangsrekrutierung – dahinein sollten die Intellektuellen, die noch an die Vernunft glauben!«

Der Doktor, dermaßen angesprochen, erklärt: »Richtig, es gibt in unserm Land Menschen, die noch an die Vernunft glauben, die aber außerdem den richtigen Zeitpunkt abwarten möchten, wann man die Schleusen der Vernunft am besten öffnen wird!«

»Und falls die andern zuvorkommen«, platzt Adda dazwischen, »und die Schleusen samt den Menschen wegfegen?«

»Und falls wir ihnen unsre besten Leute heute sozusagen auf dem Tablett servieren?« fragt Ohm Ernest. »Als hätten sie mit dieser verfluchten McCarran Bill nicht schon jetzt unsre brauchbarsten Männer auf einen Schlag viel zu früh abserviert und uns den Kopf abgeschlagen.«

»Aber wenn wir bei der rapiden Gefahr heute nicht unsre Stimme erheben?« Adda ist aufgesprungen und zum Fenster getreten, die vorgehangene Decke mit ihren Fäusten knäulend. »Wenn wir warten, bis alle liquidiert oder vom Warten ermattet und entmutigt sind; wenn wir warten, bis die erste Bombe fällt.«

»So lange werden wir nicht warten, Adda!« sagt Ohm Ernest.

»Bloß, wie lange?«

»Stimmt, es kommt sehr auf den Zeitpunkt an. Ich habe euch schon früher einmal von Lenin und den Oktobertagen 1917 in Rußland gesprochen. Lenin hat sich damals in einem ganz andern Fall sehr bemüht, den möglichst genauen Zeitpunkt zu ermitteln, da man nicht mehr warten kann; aber er hat auch deutlich erklärt: mit der Avantgarde allein könne man nicht siegen; es müsse – so verstehe ich's – die Mehrheit des Volkes sein, die hinter einer Sache stehe. Auch dürfe man nie mit einer so großen Sache spielen; wenn man aber begonnen habe, dann solle man wissen, daß man bis zum Ende gehen müsse.«

Ohm Ernest, der es sich sonst selten versagt, seine Rede mit Ironie zu würzen, hat diese Gedanken mit großem Ernst vorgebracht. Auf allen lastet die Frage: Was kann man in diesem Zeitpunkt wirklich tun? Und alle finden hierauf noch keine Antwort. Ist es nicht so: Der Zug der Menschheit steht auf einem großen Rangierbahnhof unter Dampf. Das Feuer brennt auf dem Rost. Die Bremsen sind gelöst. Die Weichensteller warten auf das Zeichen: Freie Fahrt!

Adda, die am meisten bewegt ist, meint: »Schließlich setzt sich die große Sache ja aus vielen kleinen Sachen zusammen; könnte man damit nicht beginnen?«

»Unbedingt! Bravo, Adda!« akklamiert Pat. »Wie gesagt, wir müssen mit der Arbeiterjugend und den Progressiven die Verbindung aufnehmen! Jede Stimme und Hand zählt da, und unsre Jungens sind gar nicht begeistert davon, sich als Koreakiller drillen zu lassen, um drüben überm Wasser zu sterben.«

Und Gene: »Aber doch gehen sie.«

»Aber wie, Mann?! Letzte Woche haben sie auf dem Union Square einen schwarzen Sarg aufgestellt mit einem sitzenden Gerippe drin; das hatte auf der Brust 'ne Papptafel: MR. TRUMAN, BITTE NACH IHNEN!«

»Seht ihr's. Wenn wir's nicht tun, so tun es andre!« eifert Adda. »Dabei haben wir noch die Stafettensache für Berlin!«

Schnell erwidert Gene, als könne ihm ein andrer zuvorkommen: »Das mit dem Flugzeug wird; in ein paar Tagen habt ihr Bescheid!«

Ohm Ernest beobachtet diese Jugend, wie sie bloß auf den Starter wartet; er muß die Erregung seines eignen alten Herzens bremsen und doch den jungen Menschen das Blickfeld offenhalten. »Ihr habt recht«, sagt er, »wir können nicht abseits stehn, das ist klar. Wenn es uns vorerst hier auch noch gut geht infolge der Rüstungskonjunktur, so ist das in Europa kaum so.«

»Ich müßte euch eigentlich einen Brief vorlesen«, unterbricht ihn Pat, »den ich von einem befreundeten deutschen Studenten aus Bonn bekam. Ja, da sieht es anders aus! Die Preise steigen dort, die Menschen lehnen die Rekrutierung ab, überall höre man: ›Ami go home!‹ Die Kosten des kalten Krieges unterhöhlen alles. Mein Freund schreibt: ›Wir leben wie auf einer dünnen Eisdecke, die jederzeit einbrechen kann. Ihr könnt Euch vielleicht nicht vorstellen, wie groß die Unsicherheit bei uns ist und wie jeder gern wissen möchte, was morgen wird?‹«

»Was morgen wird?« wiederholt Dr. Boyle. »Ziemlich neugierig ist dein Freund dadrüben.«

»Sind wir's nicht?« meint Ohm Ernest. »Brennen unsre Menschen vielleicht nicht darauf, zu wissen, wie lange die Unsicherheit noch andauern soll und wohin die Reise geht? Ob die Anregung des sowjetischen Diplomaten Malik für Waffenstillstandsverhandlungen in Korea erfolgreich sein wird oder nicht? Da kann, wie Adda meint, jeder vorerst an seinem Platz im kleinen was tun.«

»Und doch müssen wir aus unserm Familienklub hier mal raus!« fordert Pat.

»Schön, soll einer von der Arbeiterjugendliga bei uns im Vorort sprechen!«

»Auf jeden Fall sollten wir auch hier noch zusammenhalten«, erklärt der Doktor, »hier und in den Werkstätten!«

»In unsrer Bude aber mit Vorsicht, Pat!« wendet sich Ohm Ernest an den Werkstudenten. »Wenigstens, was Old Bill und Robby betrifft.«

»Wo sind Robby und Beß?« fragt Adda und lauscht nach der Tür, wo man Schritte hört.

Es sind Ann und Betty Jones, die jetzt eintreten. Sie schauen sich in dem schwach erleuchteten Raum um. Aber da sie auch hier die Kinder nicht finden, sinkt Betty verzweifelt auf einen Stuhl. Sie glaubt überhaupt nicht an einen Probealarm, sondern an das Gerücht, daß rote Fallschirmspringer landeten, und daß ihr Jimmy einem Menschenraub zum Opfer fiel; sie weint hemmungslos.

Das Verschwinden der Kinder ist tatsächlich beunruhigend. Adda will sofort hinaus, die beiden suchen. Doch Ohm Ernest ist gegen ein auffälliges Herumrennen auf den Straßen; man solle vorerst im Nachbarhaus bei Old Ray nachsehen.

Die Durchsuchung des Hauses hat keinen Erfolg. Nach einer Viertelstunde sind alle wieder bei Ohm Ernest versammelt. Es ist klar, daß man diese Kriegsübungen nicht einfach hinnehmen kann; es muß etwas geschehn, doch klug und wirksam.

»Vor allem von den Frauen!« fordert Ann.

Und Adda erregt: »Gehen wir Frauen jetzt auf die Straße mit unsern Taschenlampen und rufen wir überall nach den Kindern! Sollen sie wagen, uns zu verhaften!«

»Sie werden es wagen, Adda«, erklärt Ohm Ernest, »und es wird für sie gar kein Wagnis sein, drei, vier Frauen festzunehmen; ja, wenn es hundert oder tausend wären …«

»Also warten, warten?«

»Organisieren!«

»Ich hätt einen Plan«, meint Ann; sie schaut auf Ohm Ernest.

»Nun?«

»Wir Frauen könnten im hiesigen Bezirk und im Betrieb morgen früh mit andern Frauen sprechen, und dann müßten zehn, zwanzig, dreißig von verschiedenen Telefonapparaten ununterbrochen am Nachmittag die Dienststelle der Luftabwehr und die Zeitungen anrufen, gegen den Alarm protestieren, immerzu, die Leitungen blockieren; das spricht sich rum!«

Hier stimmt Dr. Boyle zu; es sei bekannt, wie sogar McCarran, dieser fischblütige Großinquisitor, aus dem Häuschen geriet, als er letzte Woche täglich über 7000 Privatbriefe erhielt, die ihm wegen seines »unamerikanischen Verhaltens« einheizten. McCarran verlor die Nerven, er schrie seinen Sekretär an: »Wer erlaubt Ihnen, diese Schimpfereien zu öffnen? Sind Sie auch ein Roter?« Auch Truman erhalte täglich Tausende solcher »Begrüßungsschreiben«, so daß man in Washington auf der Post ein Büro des Geheimdienstes zum Sortieren der Briefe einrichten mußte.

»So kommen die Briefe doch nicht an?« fragt Gene.

»Sie kommen an!« erwidert Pat.

*

In diesem Augenblick öffnet sich leise die Tür, und plötzlich stehen die kleine Ille und Jimmy mitten im Zimmer. Betty Jones stürzt sich auf ihren Jungen, sie reißt ihn an sich wie einen dem Tode Entronnenen, während Ann gleich ihre Ille ins Verhör nimmt. Doch aus den Kindern ist nicht viel herauszuholen; sie seien durch den Alarm erschreckt aus der Wohnung gerannt und in einen Luftschutzkeller geraten. Jimmy hat ganz glühende Backen vor Erregung; er möchte zu gern seine Heldentaten auspacken; doch jedesmal, wenn er loslegen will, hält ihn die kleine Ille mit ihrem Blick zurück.

»Auch hier fängt's jetzt an!« klagt Betty Jones. »Wohin sollen wir bloß?«

»Wohin? Wir bleiben!« erklärt Jimmy männlich.

Und Betty leise zur kleinen Ille: »Hat er wieder gezittert?«

»Keine Spur.«

»Bei Ille ist er immer ruhig«, meint Ann.

»Man muß die jungen Pferde ans Feuer heranführen und sie feuerfest machen«, äußert Dr. Boyle mehr zu sich. »Minus mal Minus gleich Plus. Dennoch ein seltsamer Fall.«

Die Kinder werden von Ann und Betty Jones schlafen gebracht.

Mom Rose, die bisher stumm zwischen Küche und Stube umherfegte, sagt jetzt: »Die großen Jungens liegen in Korea im Dreck, und die Kinder jagen sie mit ihrem Spuk auch schon in die Nacht.«

Die Petroleumlampe qualmt. Ohm Ernest dreht den Docht herab. Alle schweigen.

Es ist klar, der Krieg rückt näher. Er wird auch in diesem Land vor den Kindern nicht haltmachen. Eines Nachts werden also auch hier die kleinen brennenden Fackeln mit wahnsinnigem Hilfeschrei durch die qualmenden Straßen rennen, sofern sie nicht in der riesigen Stichflamme mit 1 Million Hitzegrad im Nu ins Nichts verdampften. Wer aber sind dann die »Babykiller«? Die Atombombenwerfer des Flugzeugs, die Staatsmänner, die jahrelang mit dem Mordwerkzeug jonglierten und erpreßten, die großen Bosse, die Millionen davon profitierten, oder die kleinen Leute, die dabeistanden und es zuließen?

Pat schaut auf Adda; sie blickt angestrengt nach unten auf die Tischplatte, der Olivton ihrer Haut hat sich ins Kupferne verdunkelt, auf ihrer Stirn buckeln wieder die kleinen Wülste vom zornigen Nachdenken … Wie beim Moses des Michelangelo! denkt Pat, der Kunststudent, und lächelt über sich selbst und diesen Vergleich. Und plötzlich fällt ihm der Satz ein, den er einmal in einer Biographie Romain Rollands las: »Ceux qui submissent le mal, sont aussi criminels que ceux, qui le font!« … eine Sache, die verteufelt stimmt: daß die, welche das Unrecht geschehen lassen, ebenso schuldig sind wie die, die es tun.

Da blickt Adda auf. Erstaunt schaut sie ihn an. Und wieder die kleinen Buckel vorn über der Stirn. Jetzt wendet sie den Kopf zu Ohm Ernest. »Wir können das nicht zulassen!« sagt sie. »Es werden hier noch viele Mütter sein, deren Kinder man aus dem Schlaf aufgeschreckt hat; wir müssen mit ihnen sprechen. Wir Frauen müssen da gemeinsam handeln, wie Ann meinte, so oder so; wir müssen telefonieren, schreiben, sprechen!«

»Stimmt«, bestätigt Ohm Ernest. »Bloß, wer ist das – wir?«

Und der Doktor: »Das ist die Kernfrage.«

Und Gene: »Dieses Wir müßte man erst schaffen.«

Darauf Pat: »Soll heißen … müssen wir jetzt schaffen; aber auch das stimmt so nicht; denn jene Kameraden der Liga der Arbeiterjugend und der Progressiven zählen schon nach Zehntausenden; darf ich Sie, Adda, mit zu uns zählen?«

»Ich möchte die Kameraden kennenlernen.«

Pat strahlt: »Das könnte bald sein!«

»Es ist die Frage«, meint der Doktor, »ob wir Adda schon exponieren?«

Und Adda: »Ihr sorgt euch um mich, gut. Bloß bitte ich, nicht gar zu peinlich abzuwägen und gegen eure gewichtige Sorge auch mein Nachdenken mit auf die Waagschale zu legen.«

»Wo kann ich Sie in den nächsten Tagen treffen?« fragt Pat.

 

14. Die Kinderbriefe wirken weiter. Die F.B.I. spinnt ihr Netz.

Die »Kinderbriefe« hatten ziemliches Aufsehen erregt. Nachdem der Luftschutzkeller der Gemüsehändlerin Mrs. Webster durch das Herabreißen der Azetylenlampe und den Frauenaufruhr gleichsam von innen gesprengt war und die Menschen sich wieder in ihre Häuser zerstreut hatten, saßen Mr. Berry, der Abwässerhygieniker, und Mrs. Webster bei neu entzündeter Lampe im Keller und durchforschten als Amateurdetektive das verlassene Schlachtfeld. Es fanden sich da noch fünf weitere »Briefe«, alle gleichen Inhalts, alle mit Blockschrift auf Rechnungsformularen geschrieben, bei denen der obere Teil abgetrennt war. Nur bei einem hatten die Schreiber es offenbar vergessen; dort stand als Kopf:

 

POP MATTHEWS
Reparaturwerkstatt für Motorfahrzeuge

 

Es handelte sich hier also um die typische »Fehlleistung« routinierter Verbrecher, die bekanntlich im 1001. Falle sich die Schlinge selbst um den Hals legen! stellt der Großwild witternde Mr. Berry fest, der im Nebenberuf einer der zehntausenden kleinen Agenten von Edgar Hoovers F.B.I. zur Überwachung der »Kommunisten« ist. Er verläßt mit den Briefen schnell die bestürzte Gemüsehändlerin und läuft auf der finstern Straße einer Polizeistreife in die Arme. Bereits auf dem Weg zur Wache wird er von zwei Agenten des Außendienstes angehalten und gelangt so mühelos zum mobilen Büro der F.B.I.

Der Chef des Büros, ein kleiner hagerer Herr mit Brille und einem unbeweglichen »Pokerface« nimmt die Meldung und die Inspektion des kriminellen »Briefes« ohne sichtliche Erregung entgegen. Doch als er von einem der örtlichen Agenten darauf hingewiesen wird, daß Pop Matthews eigentlich zu ihrem Helferstab zähle, fragt ihn der Chef nicht ohne verächtliches Mißtrauen, ob er schon einmal von der Mimikry der Roten gehört habe, und ob er – der örtliche Agent – sich für Mr. Matthews persönlich verbürgen wolle? Der Agent, der einen Zahnstocher wie eine Zigarette zwischen den Lippen hin und her schiebt, verneint erschrocken und bittet, Mr. Berry in die Werkstatt des Pop Matthews sogleich begleiten zu dürfen.

In jener Stunde des Alarms wollte der alte Automonteur Bill Cass seinen Sohn Robby, mit dem er wegen der Einberufungsorder einen heftigen Wortwechsel hatte, bei der Geburtstagsfeier des Ohm Ernest aufsuchen, aus dem dunklen Gefühl heraus, daß der Junge irgendeine Unüberlegtheit begehe. Er suchte also Ohm Ernests Häuschen zu erreichen, wurde jedoch mehrfach von den Luftschutzhelfern verwarnt; schließlich flüchtete er schnell in Pop Matthews' Haus und die nahe Werkstatt.

Dort sitzen sie bei einigen Green River Whiskys und Gins im abgedunkelten Büro; sehr bald beginnt Old Bill seine Besorgnis über Robby und dessen Gespräche mit Pat und Ohm Ernest auszupacken. Früher hätte der Boß die beiden einfach aus der Bude hinausgefeuert. Doch heute, da trotz der Taft-Hartley-Bill sogar in den großen Panzerwerken in Pittsburgh und bei den Wright-Flugzeugwerken in New Jersey gestreikt worden war und man nachher auch die Streikposten wieder einstellen mußte, heute konnte eine Maßregelung unerwünschte Überraschungen bewirken. Gewiß, noch vor kurzem hatten die Burschen des F.B.I.-Chefs Hoover nach bewährter Gangstermethode die »Aktion Fleischmühle« gestartet, bei der einige »Rote« von schweren Lastautos bis zur Unkenntlichkeit zermalmt auf der Landstraße »verunglückt« liegenblieben; aber das muß für den äußersten Fall reserviert bleiben.

Pop nimmt also ohne großes Fluchen Old Bills Mitteilung zur Kenntnis; er deutet dem Alten bloß an, daß er jetzt durch ständige Informierung seines Bosses sich doppelt sichern müsse, da die Roten sonst ihn – Old Bill – als »Verräter« schutzlos liquidieren würden. Mit dieser liebevollen Drohung legt Pop seine Hand gewissermaßen fest um des alten Monteurs Gurgel.

Doch des Bosses Erpressung löst fast im gleichen Moment eine Art Kettenreaktion aus. Während Old Bill noch in Pops schwammiges, krebsrotes Gesicht starrt, mit dem unangenehmen Gefühl, sich selbst dem Boß ausgeliefert zu haben, klopft es hart an der Tür; schon treten zwei Männer ein, der Kanalhygieniker Mr. Berry und der Agent mit dem Zahnstocher. Mr. Berry grüßt mit einem stummen Tippen seines Zeigefingers an den Hutrand, wobei er und sein Begleiter mit einem Blick auf Old Bill die Situation im Zimmer zu übersehen suchen.

Der Agent mit dem Zahnstocher beehrt jetzt ohne lange Zeremonie Pop mit der Frage, ob er noch einige Kollegen hier zu fröhlichem Tun erwarte? Worauf Pop erwidert, jeder Mann mit einer ehrlichen Nase im Gesicht und zwei amerikanischen Beinen unterm Hintern sei ihm willkommen. Mr. Berry im Bewußtsein seiner Macht und des in seiner Tasche steckenden Indiziums mißfällt des Bosses etwas klotzige Antwort. Er fragt den Zweizentnermann, was der andere Herr hier zu suchen habe?

Nachdem der Mann mit dem Zahnstocher Pop überzeugt hat, daß er antworten müsse, erwidert er: »Der andere Herr ist mein Monteur Bill Cass, den Sie als hier Ansässigen eigentlich kennen sollten; im übrigen nehmen Sie Platz, verehrte Gäste! Oder suchen Sie ein andres Objekt Ihrer Inspektion?«

»O nein«, erklärt der Zahnstocher, »grade hier dieses Objekt ist für uns interessant.«

Mr. Berry hat aus seiner Rocktasche den »Kinderbrief« mit dem Firmenkopf gezogen und hält ihn dem Boß unter die Nase. Der nimmt das Blatt, dreht es um und wieder um und liest den kindlichen Aufruf.

»Was ist das?«

»Das wollen wir von Ihnen wissen«, sagt der Agent.

Zuerst sucht Pop Matthews jede Möglichkeit auszuschließen, als könne einer seiner Arbeiter diesen Brief geschrieben haben, wobei er Old Bill zu seinem Zeugen anruft. Auch Old Bill findet es sinnlos, daß einer der Arbeiter mit verstellter kindlicher Handschrift und Redeweise auf einem Geschäftsformular solch einen Brief schreibt und damit den Ausgangspunkt sofort verrät.

Die Konkurrenz, faucht der Boß, die Konkurrenz habe ihm den Streich gespielt, oder die Roten!

»Die Roten« – das ist auch für Old Bill das Stichwort. Er traue weder Pat, dem Studenten, noch Ohm Ernest, erklärt er plötzlich wie unter dem Zwang des Gespräches vom Nachmittag. Jeder von denen habe ein Geheimnis.

»Und Ihr Sohn?« fragt der Agent.

»Mein Sohn?«

»Robby Cass.«

»Wo ist er?«

»Im Gewahrsam der Polizei.«

Old Bill will hinaus. Aber der Abwässerhygieniker Mr. Berry hat jetzt auf einem Stuhl gleich vor der Tür Platz genommen, und der Agent fixiert ihn mit Augen wie Stecknadeln. Der Boß ist wie vor den Kopf geschlagen: das Flugblatt auf seinem Rechnungsformular? Und Robby, sein Arbeiter, verhaftet? Heute ist alles möglich. Der F.B.I.-Mann scheint jedenfalls höllisch informiert. Pop widerspricht nicht, wie der Zahnstocher eine Durchsicht der Werkstatt anordnet.

Sie tasten im Schein der Taschenlämpchen über den Hof, zwischen demontierten Wagen hindurch in die Werkhalle, wo der Agent mit Mr. Berry die Handschuhkästen der Autos durchstöbert, die Werkzeug- und Kofferkästen. Dann läßt er sich die schmalen, metallenen Kleiderspinde der Monteure und Arbeiter in der Umkleidebox zeigen, wobei auch hier, wie in der Werkhalle, sein Lämpchen öfters aussetzt, und plötzlich, nach einem solchen Moment, hält der Zahnstocher einen Zettel, den er offenbar in einem der Spinde fand, hoch. Alle treten mit ihren Lämpchen näher. Es ist einer der »Kinderbriefe«.

Gefunden hier im Spind.

Des Meisters Ernest Lee.

Hegt da etwa jemand noch Zweifel?

Der Boß schaut nicht gerade freundlich auf den F.B.I.-Mann. Er ist sich noch nicht klar darüber, weshalb der Zahnstocher gerade in seiner Werkstatt und gerade bei Ohm Ernest den Zettel »gefunden« hat? Klar ist eines, daß ihn die Sache ein Sümmchen kosten wird, damit es nicht an die große Glocke kommt und man ihn nicht als »Roten« stempelt. Er, Pop Matthews, ein Roter? Man sollte diese beiden Gauner gleich hier einmal in Kur nehmen! Doch schnell besinnt er sich. »Blas mir die Trompeten!« sagt er. »So was!«

»Sie sprachen vorhin von einem Ohm Ernest«, wendet sich der Zahnstocher jetzt an Old Bill, der ziemlich zerknittert dasteht. »Ist jener Ohm Ernest identisch mit Ernest Lee?«

»Ja«, erwidert Old Bill mit trockner Kehle.

Man geht mit dem »Kinderbrief« zurück in das Büro. Dort diktiert der Agent dem Boß einen Tatbestand in die Maschine, den er – Pop Matthews –, der Monteur Bill Cass und der Städtische Beamte Fred Berry unterschreiben. Der F.B.I.-Mann verpflichtet alle zu absolutem Schweigen. Dann ist Old Bill entlassen, weil die beiden Gäste mit dem Boß noch zu reden haben.

*

Wie Robby und Beß eintreten – beide fast bis zur Unkenntlichkeit vom Kohlenschlamm beschmutzt –, findet keiner zuerst ein Wort.

»Nun, ihr lieben Anverwandten, ladys and gentlemen …« beginnt Robby und klopft mit seiner schmierigen Pratze Ohm Ernest auf die Schulter: »Have a good time, old man!« Dabei bleckt er sein weißes Gebiß in dem kohlenschwarzen Gesicht.

»Was ist das, Beß?« fragt Adda bestürzt und zieht die Schwester, deren Kleider vor schwarzer Nässe an ihr kleben, zur Mitte unter die Lampe. Wo wart ihr?«

Beß stiert vor sich hin, während es in ihrer Kehle schluckt.

»Laß sie!« wehrt Mom Rose. »Ich bring heißes Wasser.« Sie verschwindet in der Küche.

Und Ohm Ernest zu Robby: »Im Kohlenkeller … konntet ihr wirklich nichts Besseres finden?''

»Nein, beg pardon, wir konnten wirklich nichts Besseres finden als diesen blöden Keller, beg pardon!« Robby lacht schallend auf. »Denn die Cops hatten uns hierzu eingeladen, Beß und mich und noch ein Dutzend andere Rote, die grade auf der Straße waren.« Und nun rast er den ganzen Vorgang herunter.

Plötzlich bricht Beß, die zusammengesunken auf dem Stuhl sitzt, stoßartig in Schluchzen aus, ihr Körper wird hin und her gerissen wie bei einem Schüttelfrost; schnatternd schlagen ihre Zähne aufeinander.

»Ist da kein Mantel, keine Decke?« fährt Adda die andern an; schon springt sie zum Fenster, zerrt dort die Decke, die zur Abdunklung dient, herunter und wickelt Beß darin ein. Und wie Dr. Boyle die Tischdecke vors Fenster hängen will, reißt sie auch diese herab. »Jetzt geht's um Beß, um nichts anderes …«, heult sie los, »nur um Beß, verstehen Sie das?! Darf man denn den Menschen so fertigmachen? Was stehen Sie herum? Sie sind doch Arzt, helfen Sie wenigstens!« Doch sie wartet nicht ab; sie hat Beß ohne Rücksicht auf Schmutz und Nässe in ihre Arme genommen und zur Reinigung in die Küche getragen.

»Machen wir wenigstens das Licht aus!« sagt der Doktor.

»Ich glaube, es kommt nicht mehr darauf an«, meint Ann und folgt Adda.

Das alles verläuft mit einer rasenden Geschwindigkeit. Nun möchte Robby sich auch waschen. Ohm Ernest geht, ihm einen Eimer heißes Wasser aus der Küche zu holen. Pat, der nachdenklich bisher den ganzen Tumult beobachtet hat, bemerkt, während Robby sich die Dreckschwarte fluchend mit dem Messer abkratzt: »Vielleicht war der Alarm ein ganz gutes Training …«, und wie Robby aufschaut, »ich meine für die nächsten Wochen beim Militär.«

»Fang nur damit nicht wieder an!« knurrt Robby.

»Allen Ernstes, Robby«, schmunzelt Pat gutmütig, »auch das Gehirn des jungen Kriegers muß sich rechtzeitig ans Verkohlen gewöhnen; stimmt's, Gene?« Er hat sich an den Fliegerfunker gewandt, der, in sich verbohrt, am Radio rückkoppelt.

Während Robby mit zwei Eimern warmen Wassers im Gärtchen hinterm Haus eine Mohrenwäsche vornimmt, wird der Alarm abgeblasen. Adda will mit Beß bei dem Onkel übernachten. Gene verabschiedet sich; er nimmt Pat zwei Häuserblocks weit mit. Dr. Boyle geht zu seinem Wagen. Allen ist klar, etwas Neues ist im Anrollen. Das große Wettrennen zwischen Krieg und Gegenaktion verschärft das Tempo. Der heutige Alarm hat es gezeigt. Ob die Gruppe der Friedenskämpfer aus ihrem Schneckenhaus heraustreten und jetzt vereint mit anderen zu offenerem Widerstand übergehen soll?

Daß Adda die Wolldecke herabriß und die Abdunklung beseitigte, war vorerst bloß ein Impuls. Man muß sich nächste Woche nochmals treffen.

 

Pat, der schon vor der Tür seines Hauses steht, denkt plötzlich an die Kapsel der Friedensstafette. Er zögert einen Augenblick. Dann rennt er die zwei Häuserblocks zurück. Er trifft Adda, wie sie mit Mom Rose und Ann noch aufräumt. Aber die Kapsel wird sie ihm nicht geben, bevor nicht eine Nachricht von Gene da ist. Die beiden andern Frauen rumoren jetzt in der Küche.

Adda hält mit dem Aufwischen des Tisches inne; sie stützt sich mit den Händen auf die Holzplatte und schaut Pat an: »Sprachen Sie nicht von einem Brief, den Sie vorlesen wollten?«

»Richtig, den Brief meines Freundes, eines deutschen Studenten! Wollen Sie ihn hören?«

»Nicht jetzt, nicht hier.«

»Gut, ich werde Sie anrufen«, und da auf ihrer Stirn wieder die kleinen Buckel erscheinen, »Sie können auch Ohm Ernest in der Werkstatt Bescheid sagen.« Er sucht in seinen Taschen nach einem Bleistift und schreibt die Nummer auf den Tischrand. »Ob Sie sich's merken?«

Sie liest und wischt die Zahl mit dem feuchten Lappen weg. Sie schaut ihn ruhig an, wie er beim Weggehn ihre Hand drückt, eine breite, kräftige Hand.

*

Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß in jener Nacht während des Luftalarms und der Verdunklung nur die Cops, die F.B.I.-Männer und die Gangster gearbeitet hätten, daß ferner nur Ille und Jimmy ihre »Kinderbriefe« unters Volk brachten. Vielmehr fand man am nächsten Morgen die Straßen und Gärten der Vorstadt förmlich übersät mit Tausenden kleiner runder Pappdeckel, die offenbar von einem Flugzeug abgeworfen waren. Jeder dieser Pappdeckel aber trug die Aufschrift:

FLIEGENDE UNTERTASSE

hat Wert einer 10-Cents-Ermäßigung

auf ½ Kilo Wurst in Blanks Market


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