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… eine Wahrheit wird erst zur Wahrheit,
wenn man sie tut.
Es half nichts, daß Mr. Clerk an diesem Junitag mit einem Hebelgriff das große Fenster seines Arbeitskabinetts schloß, die Klimaanlage regulierte und zwei Becher Eissoda herunterspülte. Der heiße Luftdruck, der von dem Hurrikan nach Norden getrieben wurde, ging ähnlich dem französischen Mistral durch Glas und Zement; er dörrte die Schleimhäute aus, geigte auf den Nerven, ließ die Asthmamäuse im Brustkorb tanzen und spannte die Kopfhaut wie eine Trommel. Clerk widerstand dem Wunsch, nebenan in den Waschraum zu gehen und eine kalte Dusche zu nehmen. Er kannte den Vorgang: Heißer Winddruck das verlangte Eissoda plus Kaltdusche; das erzeugte seinen Stirnhöhlenkatarrh, der wieder nur durch Heißinhalieren plus Schwitzbad behoben werden konnte … und das bei vierzig Grad Hitze draußen.
Ein Nonsens die Natur! Eine Fehlkonstruktion der Mensch!
Aber das sind kleine Fische gegen andere widerspruchsvolle Dinge. In dem Stoß Cables, die heute an den Präsidenten der C.C.C. – der Cecil Clerk Corporation – eingegangen waren, befanden sich wieder zwei »Knochenfinger«, wie er es nannte, zwei anonyme Telegramme. Das eine lautete:
Ihre Gespenster und Reiter werden ihrer Gesundheit schaden stop Grabsteine sind keine Würfeltische stop Monitor
Das andere besagte:
Greifen sie nach ihrem Telefonhoerer und melden sie James Odd dem Chef ihres Loyalitaetspruefungsamtes wieviel Rote sie noch in ihrem Betrieb beschaeftigen stop ein Buerger des Landes
Es war für Clerk nicht schwierig, diese Drohungen zu dechiffrieren. Das erste Telegramm spielte offenbar auf die letzten Kongreßwahlen an. »Gespenster«, das waren längst Verstorbene, die von bezahlten Trupps eigens zu den Wahlen zu kurzem Leben wiedererweckt wurden, damit sie ihre Namen in Form von »ghost votes«, von Gespensterstimmen, für Clerks Kandidaten in die Wählerlisten eintrugen. Diese Namen der Toten zählten also mit. Ähnlich verhielt es sich mit den »Reitern«, jenen gemieteten Wählern, die von Wahlbezirk zu Wahlbezirk zogen und auf diesem Ritt durchs Land mehrfach ihre Stimme abgaben. Wurden hier und da Zweifel an ihrer Wahlberechtigung geäußert, etwa weil ihre Namen in den Wählerlisten fehlten, so sorgte der mit ihnen reisende Gang – gute, hand- und schußfeste Burschen – dafür, daß die unnütze Fragerei schnell ein Ende fand und die chirurgische Abteilung des nächstgelegenen Hospitals ein paar neue Zugänge erhielt. Eine musterhafte Arbeit leisteten übrigens diese Boys vom Typ der Pendergastbande in einem als Wahllokal hergerichteten Grabsteingeschäft, wo sie die Wahlurnen der Einfachheit halber auf den umherliegenden Grabsteinen ausschütteten und die ungeeigneten republikanischen Stimmzettel durch demokratische ihres Patrons Mr. Cecil Clerk ersetzten. Hierauf bezog sich wohl das erste anonyme Cable, das somit eine ganz simple Wahlkorrektur tendenziös aufbauschte.
Aber erst in Verbindung mit dem zweiten anonymen Cable, das völlig sinnlos Clerk der Unterstützung der Roten beschuldigte, entstand die erpresserische Drohung, der unfaire Tiefschlag unter die Gürtellinie, wie ihn Clerk seinem früheren Kompagnon und jetzigen Gegner George Mc Kelley trotz allem kaum zutrauen mochte. Gewiß, er hatte vor acht Jahren George aus der von Old Josh und ihm firmierten »Meteor Eastern Steel Corporation« ausgeschifft, einfach, weil er George nicht mehr brauchte und weil eine Sache für zwei mehr abzuwerfen pflegt als für drei. Daran ist im Leben nichts Besonderes. Doch George, dieses kleine Stinktier, war ja immer so empfindlich und rachsüchtig, wahrscheinlich wegen seiner geringen Körpergröße. Viele dieser Halbzwerge sind stets voller Minderwertigkeitsgefühle, die sie in Ehrgeiz und Arbeitsfanatismus umwerten. So hatte sich dieses rasende Atom mit den gänzlich unamerikanischen, hochgebürsteten grauen Haarborsten zur Position eines Direktors der National City Bank hinaufgeschnellt mit gleichzeitigem Sitz im Aufsichtsrat einiger Schiffsbau- und Verkehrsgesellschaften, wodurch es ihm möglich wurde, bei allen Gelegenheiten Querschüsse gegen ihn abzufeuern.
Dieser Hundesohn!
Clerk fegt die Cables beiseite, erhebt sich, ruft das Vorzimmer an, daß er nicht gestört sein will, krempelt die Hemdsärmel auf und tritt nebenan in den Baderaum, wo er sich das kalte Wasser über die nackten Arme rinnen läßt. Er könnte ja hingehen und diesen Judas McKelley mit seiner behaarten Pranke zu Puppendreck hauen, auch ohne seine zwei Zentner in den Hieb zu legen. Er knetet am flaumigen Fett seiner starken Arme herum, dem leider abgewirtschafteten Kapital seiner Großväter, der Boys aus Texas und Arizona. Immerhin, das Knochengerüst, der mächtige Brustkorb, der muskelwulstige Nacken beweisen noch diesen fast schon prähistorischen Befund. Wegen dieses Äußern nennt man ihn »Cel, the Bull«, den Stier. Auch weil er bisher kein Hindernis respektierte, jeden Gegner frontal annahm – sogar Betonwände.
Diese Taktik hatte Erfolg gehabt zur Zeit der anlaufenden Konjunktur vor und nach dem ersten Weltkrieg, wo auf offenem Gelände noch Raum war für junge Bullen und das »freie Spiel der Kräfte«, von dem damals Franklin Roosevelts preisregulierendes »New Deal« in den Sand gestreckt wurde. Doch heute ist dieser fast harmlos anmutende Konkurrenzkampf der »freien Wirtschaft« von einem ganz anderen gigantischen Machtkampf der großen Gruppen abgelöst worden, wo es nicht mehr bloß um die Waffe der Preisbildung geht, sondern um neu gehandhabte politische Waffen. So ist die Einstellung des ERP-Administrators, der die Kriegswirtschaft lenkt, der Ausdruck einer Machtform, die nicht bloß Millionen Arbeiter und Werkzeuge in Bewegung setzt, sondern ebensoviel Soldaten und Waffen. Was nützt da – bei der fest eingeplanten Rohstoffzuteilung und den Staatsaufträgen durch die im Senat vertretenen Banken – dem »Bullen« die Kraft seines Stiernackens, wenn irgendeine mit dem Senat verklebte Mißgeburt ihm trotz seiner Wahlarbeit von hinten den Lasso um die Beine werfen kann?
Die Asthmamäuse springen und piepsen in seiner Brust. Lohnt es sich noch? Manchmal erscheint diese Frage wie ein Gespenst.
Das Fenster auf! Der Stirnhöhlenkatarrh? Come in!
*
Wenn er korrekt nachdenkt, so kann er die Schuld an seinem Zustand eigentlich nicht bloß den Fallstricken der »kleinen stinkigen Mißgeburt« zuschreiben oder einem boshaften Schicksal. Er hat vielmehr selbst einen entscheidenden Fehler zugelassen, der weniger in seiner nachlassenden geistigen Spannkraft begründet war, sondern gerade in seiner stiermäßigen Starrköpfigkeit, in der einmal eingeschlagenen Richtung weiterzurennen. So hat er seine alten Unternehmungen nicht umgestellt, sondern noch verbreitert. Er hat sich an den zivilen Eastern Airlines beteiligt, weil er seinem Sohn Donald, dem Fliegermajor, eine besondere Chance schaffen wollte; er hat zum Entsetzen seiner bigotten Schwester Fanny in Reno – jenem Ehescheidungsparadies im Staate Nevada – eine »Terraingesellschaft« neu aufgezogen, ungeachtet der dort stürmisch emporschießenden Häuser mit gewissen Appartements für gewisse Mädchen, die im Vierundzwanzigstundenbetrieb »round the clock« die Freuden dieser Welt vermehren helfen. Zweifellos entsprach dies dem Stil, wie man früher sein Kapital anlegte: Gab es auf dem einen Gebiet eine Krise, so arbeitete das Geld anderswo weiter. Heute aber ist »Konzentration der Kräfte« das Losungswort auch für den größten Boß. Clerk hat hiervon keine Notiz genommen. Weshalb soll er alle zehn Jahre umlernen?
Die C.C.C. sitzt also mit ihrer Terraingesellschaft, mit ihren Grundstücken, mit ihren Wohn- und Landhauskolonien fest; das Kapital ihrer Bodenbank blockiert sich selbst, und das gerade heute, da die Banken ihre Reserven flüssig halten, um sie schnell hierhin und dorthin in die Rüstungskonjunktur zu werfen, in die Stahl- und Flugzeugwerke im Lande und nach Übersee. Zudem ist die »Meteor Eastern Steel Co.« mit ihrem kühn auf den Himmel weisenden Namen größtenteils noch auf den Bau von feuerfesten Garagen, Metallbunkern und Stahltüren eingestellt, während jetzt spezialgehärtete Panzerplatten und Duralleichtmetall für Flugzeuge die Losungsworte der Industrie sind. Es ist klar, Clerk hat mit der Zeit nicht Schritt gehalten, und in Old Josh, dem Schachlöwen und Kokovoren, besaß er auch keinen zeitgemäßen Partner. So ist er also mit seinem Dutzend sehr verschiedenartiger, nicht koordinierter Unternehmungen in die Krise der mittleren Fabrikanten und Geldmacher hineingeschlittert, jener Betriebe, die heute oder morgen unweigerlich eine Beute der großen Gruppen werden. Hätte sonst George, dieses kleine Stinktier, dessen Bank mit den Schiffsbau-, Bahn- und Versicherungsgesellschaften liiert ist – hätte sonst dieser häßliche Zwerg jene dreisten Cables gewagt?
»Himmlische Trompeten!« faucht Clerk in hilflose!« Wut. »Diese Landhäuser und stählernen Hundehütten, diese Idiotie von Reno, diese Stahltüren für die Keller, um das klägliche Menschengewürm zu schützen …« Er ist jetzt bereit, zu verstehen, daß er die letzten Jahre in falscher Richtung geritten ist. Vielleicht wird er umsatteln müssen? Vielleicht auch absatteln? The hell with it!
Wenn er die Bude hier zumacht, so hat er in Connecticut immer noch sein Landgut mit großen Weideflächen, mit über hundert Stück Rassekühen und seiner Pferdezucht; auch in Texas und in Mexiko besitzt er je eine große Hazienda seines Vaters und seiner Frau. Dorothy drängt so schon ständig, daß er länger ausspanne und mit ihr nach dem Süden ziehe. Sie selbst ist dort geboren, sie hängt mit Leib und Seele an jener Landschaft, an den Ranchs mit den großen Herden, an der Steppe und den Bergketten mit ihrem wilden Pflanzenwuchs von der tropischen Region bis zur Schneegrenze, an den Menschen – den indianischen Carreteros mit ihren Ochsenkarren; sie hat von der väterlichen Hazienda die Familie des Manuel Montez nach hier mitgebracht: Manuel selbst als Gärtner und seine beiden Töchter, Adda, die Zeichnerin im Konstruktionsbüro, und Beß, die Stenotypistin. Dorothy behauptet, es genüge, diese Menschen ihrer Heimat nur ein- bis zweimal in der Woche um sich zu haben, um selbst wieder elastisch zu weiden. Dabei reitet Mrs. Clerk mit ihren fünfundvierzig Jahren im Herrensattel wie ein Cowboy, jedenfalls besser als ihre Tochter Francis, die Studentin des Richmond College.
*
Clerk sitzt an seinem Schreibtisch. Er hat den Tischventilator abgestellt und die Cables vom Boden aufgerafft; er baut aus ihnen jetzt Häuschen. Seltsam, vieles kommt ihm in letzter Zeit zwecklos vor. Er ist, wie seine Tochter Francis meint, ein »Bewegungstyp«, im Gegensatz zu Old Josh, der tagelang auf seinem Zimmer sitzen und über einem Schachproblem grübeln kann, wobei er sich von Kokosnüssen, Bananen, Orangensaft und Grahambrot nährt. Er selbst, Cecil Clerk, muß ständig auf vollen Touren laufen; doch jetzt bockt der Motor, die Zündung setzt aus. Was ist los?
Konnte man das bißchen Leben nicht billiger haben? Hatte er es nötig, für den Präsidenten mit »Gespenstern« und »Reitern« sich in die Nesseln zu setzen, damit jetzt der Hundesohn George sein Beinchen hebt und ihn als Eckstein benutzt? Hilft etwa der Präsident ihm aus seiner Lage? Noch zwei Jährlein, und er liegt als schöne Leiche auf dem Weg, den er jenem bereitet hat. Vielleicht wird er selbst dann bei der nächsten Wahl zu einer der »Gespensterstimmen«?
Apropos »Leiche«. Wie war das noch, was letzte Woche in dem »Readers Digest« stand? Plötzlich muß Clerk laut auflachen. Er haut mit der Faust auf den Tisch, daß der kleine Ventilator sich ein paarmal zu drehen beginnt. Da war also irgendwo im Staate Ohio eine Frau, die mit Erfolg ihre Ehescheidung beantragte, weil ihr Mann, ein begeisterter Kriminalromanleser, fast jede Nacht von ihr verlangte, daß sie als »Leiche« sich auf den Fußboden lege, damit er vom Bett aus die Details des eben verschlungenen Mordfalles möglichst genau rekonstruieren konnte. Anderseits habe in Brocktown im Staate Massachusetts eine Frau krank in ihrem Bett gelegen, als Feuer ausbrach. Diese Frau weigerte sich eisern, aufzustehn. »Ich darf das Bett nicht verlassen«, sagte sie, »der Doktor hat's mir verboten.« Sie wurde im Tumult vergessen und verbrannte.
Zwei Fälle um das Bett also, und doch: Bett ist nicht gleich Bett! Für die eine Frau ward es zum Ehescheidungsgrund, für die andere zum Sarg. Die Welt ist voller Widersprüche, die einander auf die Hacken treten.
Wenn ich die Bude hier wirklich schließe, überlegt Clerk, und mit Dorothy auf die Hazienda ziehe (dies alles natürlich bloß im Wennfall gedacht), so hätte der Hundesohn George mit seinen niederträchtigen Telegrammen sogar etwas Gutes angerichtet. Wer also ist hier der Sieger? Ist der Eckstein des Hundes wegen da oder der Hund wegen des Ecksteins?
*
Clerk erkennt, daß er hier in den vier Wänden keine Antwort auf seine – im Grunde überflüssigen – Fragen findet. Vielleicht ist es der atmosphärische Tiefdrück, diese heiße träge Luftsäule, die ihm das Sitzen zur Qual macht und die Asthmamäuse in seinem Brustkorb springen läßt?
Er nimmt die Cables, stopft sie in den Tischsafe, schließt ab, wirft sich das Jackett über und verläßt sein Büro. Die Direktionsräume liegen im obersten Stock des zehnetagigen Gebäudes. Durch die flachen breiten Fenster schaut man über die Parkanlagen der Außenstadt in den weißglühenden Himmel, der im Süden durch eine schaumige Welle braungelber Sandwolken getrübt wird. In allen Büroräumen haucht die Klimaanlage, arbeiten die Menschen möglichst stehend an ihren Plätzen, um sich dem Luftzug voll auszusetzen und so das Verkleben der Kleider am Körper und vielleicht auch der Hirnwindungen im Schädel zu vermeiden. Clerk stapft schneller als sonst durch die Räume; er hält sich nicht bei den Abteilungschefs auf. Im Lift fällt ihm ein, doch noch in der vierten Etage zu halten und im Konstruktionsbüro die neuen Modelle für feuerfeste Stahlbunker zu besichtigen. An sich wäre das ein Massenartikel, falls er tatsächlich in jedem Haus obligatorisch würde, unter Senkung des Herstellungspreises und bei staatlicher Materialzuteilung. »Unsinn«, resigniert er, »kleine Fische, alles kleine Fische!«
Der Chefingenieur Morris ist zum Werk gefahren, um einzelne Varianten in Naturgröße anfertigen zu lassen.
»Es ist noch das günstigste Krümmungspotential für die Belastung bei größeren Metallmänteln festzustellen«, meint Adda, die ihm auf dem Reißbrett die Zeichnung im Schnitt vorlegt. Sie erklärt ihm die Druckverhältnisse des Modells, ohne daß er mit ihren Worten mitkommt. Doch es gibt ihm eine gewisse Ruhe, diese Stimme zu hören. Er begreift, weshalb Dorothy dieses große indianische Mädchen, das sie aus dem Süden mitbrachte, gern um sich hat. Während Adda ihm die Zeichnung darlegt, betrachtet er ihren energischen Kopf mit der steilen Stirn, dem kräftigen Nasenansatz und den breiten Backenknochen; auch das feste blauschwarze Haar, das sie halblang zurückgekämmt, nur von einer Spange im Nacken gehalten, trägt, und die Bronzefarbe ihrer Haut bezeugen stolz ihre Herkunft. Sie muß Clerks Blick gefühlt haben; sie beendet schnell ihre Darlegung und beginnt mit Reißschiene und Zirkel auf dem Brett weiterzuarbeiten.
Clerk tippt mit seinem Finger auf die Wölbung des Bunkers.
»Wie meinen Sie, Adda«, fragt er schwerfällig, »ob wir dies Zeug wirklich einmal brauchen werden?«
»Hoffentlich nicht, Mr. Clerk.«
»Aber wozu stellen wir es denn her?«
Adda schaut ihn an: »Verzeihung, aber stellen wir nicht noch viel unnützere Dinge her?«
»Richtig«, quittiert Clerk mit einem jovialen Lachen, »ja, Adda, drunten in der Prärie brauchte man keine Stahlbunker.«
*
»Noch viel unnützere Dinge« – was so ein Mädel alles plappert! Wenn man's recht bedenkt … jetzt legst du dich auch noch aufs Philosophieren, alter Büffel … einfach, weil du annimmst, dein Laden gehe nicht mehr. Noch viel unnützere Dinge? Etwa die Appartements und Bordelle in Reno? Das fragt sich noch! Und die braven Burschen, die mit »Gespensterstimmen« handeln und den Dummköpfen das Maul schließen? Bitte sehr! Oder wenn Dorothy ein halbes Dutzend junger Ratten mit vier jungen Kätzchen aufzog und diese Tierchen ihre »Erbfeindschaft« vergaßen und jetzt friedlich aus einem Napf fressen? Das wäre wohl nichts? Im Zeitalter der Atombombe!
Schade, daß er nicht mehr ein junger Kerl ist. Er würde der Adda schon ein paar »unnütze« Dinge beibringen. Er lehnt die intellektuellen Weiber entschieden ab. Eigentlich ist auch der Beruf einer technischen Zeichnerin eine Beleidigung der Natur. Dieses kräftige Mädel mit den eckigen männlichen Schultern und den harten hohen Brüsten zeigt bei all ihrer äußeren Ruhe die alarmierendsten Widersprüche. Einfach nichts stimmt mehr heute! Wie gesagt, wäre er dreißig Jahre jünger, so würde er mit Vergnügen sich der Aufgabe unterziehen, bei Adda die Alarmstufe 5 zu überschreiten, um die Widersprüche in diesem Mädel zu lösen.
Doch er hat seine eigenen Probleme. Er muß sich jetzt entscheiden, ob die C.C.C. in der alten Richtung weiterzotteln soll, oder ob sie mitten in der neuen Hochkonjunktur noch umsatteln kann. Er will sich mit Old Josh beraten. So sehr dieser alte Sonderling in Fragen der laufenden Produktion versagt, in organisatorischen Dingen besitzt er oft einen unbeschwerten Weitblick, wahrscheinlich, weil er in seiner göttlichen Faulheit von keinem der Details belastet ist.
*
Die Clerks bewohnen am Ostufer des Flusses zwei landhausartige Villen, die in einem ausgedehnten Park gelegen sind. Wie Clerk zwischen den alten Zedern, die sein Vater schon zu seiner Kindheit als mächtige Bäume vom Gebirge hierher überpflanzt hatte, zum linken Portal des Onkels hinauffährt, dirigiert er plötzlich den Wagen zum eigenen Hause um. Es scheint ihm fair, doch auch Dorothy zu Rate zu ziehen. Obschon diese Tochter eines Besitzers von großen Ländereien, Gutshöfen mit Viehherden und einem Transportsystem mit den mexikanischen Ochsenkarren stets behauptet, auf Tiere verstehe sie sich, aber von Geschäften habe sie keine Ahnung, so bemerkte er im Laufe seiner über fünfundzwanzigjährigen Ehe mit dieser Frau, wie sicher ihr Urteil über Menschen war, mit welchem Instinkt sie ihm in kritischen Situationen erstklassige Ratschläge gab. Sie tat das alles eigentlich mit einer lächelnden Gleichgültigkeit, so wie man mit geschlossenen Augen auf eine Scheibe schießt und dabei die Zwölf trifft. Sie schoß wirklich gut auf Tontauben, Fasanen und Füchse – die frühere Miß Dorothy Nielsen, deren Vorfahren vor über hundert Jahren übern großen Teich in die Neue Welt gekommen waren und sich wie in ihrer Heimat sofort mit Viehzucht beschäftigten, allerdings unter andern Bedingungen. Zudem streiften damals riesige Büffelherden zwischen Arizona, Texas und Mexiko noch frei umher. Sie wurden in Massen abgeschossen. Ihre Häute brachten reichen Gewinn, ihr Fleisch gab üppige Nahrung. Die zahmen Rinderherden vermehrten sich um so schneller. Bald wurden aus einigen der eingewanderten Cowboys die wohlbestallten Besitzer großer Ranchs, die wieder neuzugewanderte Youngboys in Dienst nahmen, die sich mit den Mädchen der Angloamerikaner und, in selteneren Fällen, mit den mexikanischen Spaniern mischten. Die neuen Herren machten einen Teil der eingeborenen Indianer als Peons zu Leibeigenen, während eine andere Gruppe als Carreteros, als »freie Arbeiter«, stolz, aber im Grunde ebenso besitzlos, ihre Ochsenkarren für die weißen Señores waren beladen durch die felsigen, fast unwegsamen Berge fuhren.
Dorothy liebt diese stolzen, habelosen Carreteros. Sie hatte Manuel, Addas Vater, diesen indianischen Ochsenkarrenführer, der aus irgendeinem Grunde aus Mexiko geflohen war, zu sich genommen. Der anspruchslose Stolz und das tiefe Feuer einer uralten Kultur zogen sie, die Tochter eines Emporkömmlings, an. Gegensätze, die sich stoßen und berühren. Nach dem gleichen Gesetz hatte wohl auch der hitzige Draufgänger und junge Boß Cecil Clerk vor Jahren sich Miß Nielsen genähert, jener »schönen Marmorstatue«; so zogen seine Freunde ihn damals mit der »Dänin« auf. Nun, Cecil wußte es besser. Noch heute ist er in seine stattliche Frau verliebt, ohne daß die Geschäfte und sein Zustand es ihm gestatten, ihr dies zu beweisen. Wie viele Eheleute ihres Standes leben sie nebeneinander, indem sie die Burgtore nach stillem Übereinkommen zur freien Verfügung geöffnet halten.
Wie Clerk Dorothy aufsucht, erfährt er von der Zimmerfrau, daß Mrs. Clerk ausgefahren sei, wahrscheinlich zum Flugplatz.
»Zu Mr. Donald?«
»Ich denke, Mr. Clerk.«
Töricht, dies zu fragen! Gewiß, Donald, sein Sohn, ist Versuchsflieger auf dem Flugplatz F. 8; aber nicht weit davon liegt der große Zivilflughafen, als dessen Kommandant der Colonel Dean Kennedy fungiert. Kennedy, der im Dezember 1944 an der Ardennenfront abgeschossen wurde und den rechten Arm verlor, der damals von belgischen Bauern notdürftig versorgt und gerettet wurde, die er hagere, einarmige, schweigsame Offizier ist für alle Collegegirls der Prototyp des Kriegshelden aus einer geheimnisvollen, gespenstischen Welt. Und nicht bloß für diese Girls. Clerk weiß, wie Dorothy sich des fast zehn Jahre jüngeren Colonels annimmt, um ihn aus seiner »gefährlichen seelischen Selbstverkapselung« herauszureißen. Ein Kenner wie Clerk sieht allerdings, daß bei Kennedy der Alkohol eine nicht geringe Rolle spielt. Nun, Dorothy kann tun, was sie für richtig hält; sie kann diesen »boyish man« bemuttern, solange es nach außen diese Form nicht überschreitet. Schließlich ist Dorothy mit ihren fünfundvierzig Jahren noch jung und unverbraucht.
*
Clerk geht durch die Parkwege zur Villa nebenan. Hier hat er Glück. Old Josh, der Onkel, ist zu Hause. Er befindet sich im Seitenflügel des zweistöckigen Flachbaus bei Miß Fanny, Clerks unverheirateter Schwester.
Natürlich hat Miß Fanny eine Seance. Nachdem sie jahrelang auf die Sabbatisten und die Bibelauslegungen der Adventisten vom nahen Weltuntergang eingeschworen war, die Menschheit aber trotz der längst überschrittenen Daten programmwidrig weiterlebte, fand sie ein neues Betätigungsfeld, das eigens wie für sie geschaffen schien. Clerk trifft sie in ihrem kleinen, halb abgedunkelten Salon vor Old Josh stehend, diesem beschwörende leise Befehle erteilend. Der Onkel selbst ist mit geschlossenen Augen in einem Sessel zusammengesackt und stößt aus der Tiefe furchterregende dumpfe Laute hervor, aus denen sich noch schrecklichere Flüche entwickeln. Hinter dem brummenden, grunzenden, fluchenden Koloß aber reckt sich auf den Zehenspitzen ein hageldürres Männlein, mit einem rötlichen Haarpinsel auf dem sonst kahlen Schädel, der Clerk mit stummer Geste Schweigen gebietet. Jetzt vernimmt der Eindringling die eifernde Stimme seiner Schwester, die den in Trance sich krümmenden Old Josh förmlich durchbohrt. »Kehre zurück in das Leben vor deiner Geburt!« mahnt sie. »Erleide noch einmal die Qualen, die du im Mutterleib hattest! Was spürst du dort vom Leiden deiner Mutter?«
Und wieder beginnt der Ohm wie ein Riesenbaby sich um eine imaginäre Nabelschnur zu drehen; er stößt kindliche Bähschreie aus und wilde, knurrende Seufzer: »Man zerquetscht meine Leber … man schlägt mein Herz … ich ersticke!« Er bäumt sich auf, das Männlein hinter ihm sucht ihn zu halten; aber der Koloß reißt alles mit zu Boden: Männlein, Sessel und die ganze Stimmung des Wachschlafes.
Clerk ist manches von seiner Schwester gewohnt. Doch jetzt glaubt er sich in einem Irrenhaus oder in einer Folterkammer.
»Was willst du?« fragt ihn die Schwester streng.
»Ich habe mit dem Onkel zu sprechen.«
»Du hast seine Evolution gestört, seine innere Reinigung unterbrochen!«
Clerks Geduld ist zu Ende. »Schluß mit dem Nonsens!«
»Nonsens …« Schwester Fanny versagen die Worte.
Der kleine Herr mit dem rötlichen Haarpinsel tritt jetzt vor: »Beg pardon, Sir, mein Name ist Punch, Dozent der Metapsychologie am Richmond College, Buster Punch. Mr. Josua Clerk unterzieht sich soeben einer Behandlung seiner Leberstauung und Herzkongestionen durch die Methode der Dianetik.«
»Dianetik? Schon wieder eine neue Diät?« fragt Clerk.
Schwester Fanny schaut verzweifelt ob der brüderlichen Unbildung zur Decke, als könne ihr Blick den Gips dort sprengen und den Himmel zu Hilfe rufen.
»Würde auch dir nichts schaden, mein Junge«, meint der Onkel und stemmt sich im Sessel wieder hoch. »Das stülpt dich um wie 'nen alten Handschuh.«
Mr. Punch greift jetzt ein und gibt dem ins Vulgäre abgleitenden Gespräch eine seriöse Wendung: »Dianetik ist die Methode«, wendet er sich zu Clerk, »die Krankheitsschlacken an ihrem frühesten Ursprungsort aufzustöbern, das heißt bereits im Mutterleib, im geschädigten Embryo; denn die Schädigung beginnt bereits im Embryo vor der Geburt …«
»Und woher weiß das Embryo das?« unterbricht ihn Clerk.
»Oh, Sie begreifen bereits, Sie kommen mir entgegen!« Begeistert faßt ihn der Metapsychologe am Arm. »Richtig, wir selbst müssen wieder zum Embryo im Mutterleib werden, um diese Frage stellen, um sie beantworten zu können! Sehen Sie«, das Männlein wächst wie ein Geist empor, breitet die Arme aus, als wolle es einer Mutter gleich den Zwei-Zentner-Boß in sich aufnehmen, »jedes Ihrer heutigen Leiden – ob Asthma, Schnupfen, Migräne, Leberschwellung – ist die Folge eines vorgeburtlichen Traumas; Sie kennen doch Hubbard, den Marineoffizier Lafayette Hubbard, den genialen Entdecker unsrer Dianetikmethode und der Hubbardbeichte … Sie müssen sein Buch lesen, den Bestseller des Jahres, Sie müssen alle Leiden und Beschimpfungen Ihrer Mutter noch einmal durchmachen, und Sie werden wie neugeboren sein, ein junger Gott; bitte zweifeln Sie nicht! Mr. Hubbard sagt von seiner Lehre: das ist ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, der Erfindung des Feuers gleich …«
»Setz dich hierher, Cecil!« befiehlt Schwester Fanny, während der also Betroffene gerade überlegt, wie er diesen unheimlichen Raum am schnellsten verlassen könne. »Du bist derart mit Fremdstoffen belastet«, fährt die Schwester fort, indem sie den Überrumpelten zu einem Sessel drängt, »daß gerade du eine Reinigung deines vorgeburtlichen Lebens bedarfst; setze dich bequem!«
»Erlaube einmal …«, sucht Clerk zu protestieren.
»Es ist wirklich wunderbar, mein Junge!« ermuntert ihn Old Josh schadenfroh.
»Und nun neige den Kopf zurück«, Schwester Fanny hat ihm eine Schlummerrolle in den Nacken gelegt, »entspanne dich, atme tief, lockere auch die Nackenmuskeln … so … dein Leben wird jetzt wieder klein und zusammengerollt wie eine Kugel, winzig klein …«, flüstert Fannys Stimme, »und jetzt suche zurückzukehren in dein Leben vor deiner Geburt … spürst du, wie du dich krümmtest wie ein Wurm, wie du wimmern und schreien möchtest …«
Ja, ich möchte – gottverdammt – schreien, brüllen! denkt Clerk. Steht heut denn alles kopf? Sind sie alle wahnsinnig? Der Teufel hole den ganzen Zirkus hier! Gut, ich werde wimmern, schreien, brüllen … er hat noch eine Sekunde Hemmungen; dann springt er auf. »Ihr Narren«, tobt er los, »mögt ihr alle an eurer Nabelschnur wie in einem Lift auf- und abwärts fahren! Möge euer Nabellift unterwegs steckenbleiben und so lange mit euch Nichtstuern zwischen Himmel und Erde baumeln, bis ihr eure, meine und meiner Mutter Sünden abgebüßt habt, daß ihr nicht länger die Nerven vernünftiger Menschen ruinieren könnt …«
Schwester Fanny hat ihn am Rockkragen gepackt und fragt leise: »Du schämst dich nicht?«
Clerk wendet sich, als sei Schwester Fanny Luft, zu Old Josh und sagt: »Ich habe sofort mit dir zu sprechen!«
»Wie Ihre Stimme überspannt ist!« schaltet sich der kleine Buster Punch wieder ein. »Mein Herr, fassen Sie in diesem hypertonischen Zustand keine Beschlüsse! Gerade Sie benötigen dringend die Befreiung, die embryonale Entladung …«
»Noch ein Wort, Sie Clown!« brüllt jetzt Clerk. »Noch einen Mucks, und ich mache hier auf dieser Tischplatte Anchovispaste aus Ihnen, Sie fauliges Fischchen!«
»Fauliges Fischchen …«, haucht der Metapsychologe.
In diesem Augenblick schnarrt das Telefon.
Clerk will zum Apparat. Aber Schwester Fanny verlegt ihm den Weg. »In diesem Zustand nicht, Cecil! Ich sehe um deine Stirn eine violette Strahlung, die Aura des Höllenfürsten!«
Clerk hat schon die Muschel am Ohr: »Du bist es, Donald? Ja, ich höre … wie, habt ihr denn alle Rattengift im Bauch … Monde fliegen über den Himmel? Laß sie fliegen! Wie? Was soll ich denn draußen … wohl den Marsbewohnern meine Stahlbunker anbieten … danke bestens … mir genügt hier schon die Diametrie … was das ist …«
»Di-a-netik!« ruft ihm Buster Punch vom Fenster her zu.
»Ich denke nicht daran! Grüße mir deine Kollegen vom Mars und trinke auf ihr Wohl zwei Flips! Also zum Dinner! So long!«
Die andern stehen da und erwarten von Clerk eine Erklärung dieses sonderbaren Telefongespräches.
»Ein wirklich prächtiger Tag heute!« meint Clerk mehr zu sich, nimmt seinen Hut und verläßt den im grünen Blätterschatten des Parks liegenden Raum.