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Clerk hat »The Lord« richtig eingeschätzt, da er ihn in den respektablen Van-Dyck-Club bat. Wie gesagt, The Lord, der noch vor fünf Jahren der Frank Costello-Gruppe angehörte, besaß die ungemeine Kühnheit und Geschmeidigkeit, aus dem großen Gangsterring im Staate Louisiana, wo Costello von dem edlen Gouverneur Huey Long die Konzession für alle Spielklubs und Glücksautomaten erhielt, einfach auszubrechen und seinen eignen glorreichen Gang in Florida und weiter im Norden aufzuziehen.
The Lord – einst in seiner Jugend unter dem Gewaltmenschen AI Capone selbst ein Killer und Sniper –, The Lord hat sich auch deshalb von Costello entfernt, weil dieser trotz seiner zur Schau getragenen Biederkeit dennoch auf Joe Adonis, diesen typischen Schießer und Schläger, als seinen »verlängerten Arm« nicht verzichten wollte. Gewiß hat The Lord für ganz besondere Fälle ebenfalls seinen »verlängerten Arm«. Aber im Prinzip und in der Praxis bedient er sich heute völlig anderer moderner Methoden. Im Gegensatz zu den früheren »Königen der Unterwelt« legt er den größten Wert darauf, daß alle seine Handlungen und die seiner vielen hundert Angestellten und Mitarbeiter sich durchaus »im Rahmen der Gesetze« bewegen. Er lebt auch nicht im Kampf mit dem Steuerfiskus wie fast alle seine Vorgänger. »An den Staat muß man mehr zahlen, als man ihm schuldet«, ist einer seiner Grundsätze. Hierin ist er sogar weitschauender als ehedem der alte John D. Rockefeller, mit dem er das Prinzip gemein hat: privaten Wohlfahrtseinrichtungen eine große Summe zu spenden, falls er durch erweiterte Konzession für seine Spielautomaten die doppelte Summe dabei wieder herausschlagen kann.
»The Lord« – würdig dieses nom de guerre – prunkt auch nicht wie die andern Parvenüs mit schnell erbauten Schlössern im gotischen Stil oder Renaissancepalästen mit riesigen Alabasterschwimmbassins, an denen man seine Millionen weithin ablesen könnte. Vielmehr hat er seiner Tochter Nora in Lausanne, London und Rom die beste Erziehung zuteil werden lassen, die für eine junge Lady nur möglich ist. Nora hat Kunstgeschichte und Sprachen studiert. Es ist für den ehemaligen Killer und den Captain Al Capones eine traumhafte Genugtuung, wenn er mit seiner in den Colleges von Lausanne und London erzogenen Tochter durch die Museen geht und Nora ihm geduldig die alten italienischen und niederländischen Meister erklärt.
*
Das alles hat Clerk berücksichtigt, um gleich eine gute Atmosphäre für seinen Plan zu schaffen. Er ist, als The Lord fragte, ob er ihm seine Tochter vorstellen könne, noch weiter gegangen und hat seinen Sohn, den Fliegermajor, zu dieser Begegnung mitgebracht.
Nun sitzen die beiden alten Herren im Teeraum, in dem sich zwei »echte« van Dycks befinden – der Stolz des Klubs –, während Donald mit der dreiundzwanzigjährigen Nora die anderen Räume voll von wertvollen Kopien der niederländischen Meister des 16. und 17. Jahrhunderts besichtigt.
The Lord, der mit seinen lockeren knochigen Gliedern, seinem hageren Körper und seinem Langschädel tatsächlich den Typ des Briten darstellt, betrachtet den massigen Clerk wohlgefällig und ohne Spannung. Dann fragt er in seiner ungenierten Art: »Kann ich Ihnen behilflich sein, Mr. Clerk?« (The Lord bringt es fertig, daß immer er der Gebende ist.)
Auch Clerk macht keine Umschweife. Er breitet seinen Plan des Atombomben-Spielautomaten unverhüllt vor seinem Partner aus.
The Lord hört ihm aufmerksam zu. Zweifellos ist hier ein neuer Schlager, ein »Appell an die Nerven« des Großstadtmenschen. Und da Clerk die Karten so offen auf den Tisch legt und gerade ihn, den ehemaligen Gangster und Mann der Unterwelt, ins Vertrauen zieht, liegt kein Grund zu kleinlicher Diplomatie vor, etwa zu einem tiefsinnigen Schweigen oder Ersuchen um eine langfristige Option. Vielmehr erklärt The Lord die Idee für »splendid«; die Kriegspsychose sei heute eine erstklassige Sache, nur brauche sie ständig Nahrung, so wie ein Dieselmotor das Öl. Die Neuerung habe indessen nur Erfolg, wenn man etwa zehntausend dieser besonderen Spielautomaten mit einem Schlage in den Betrieb werfen könne. Bei dem heutigen Wettrennen zwischen Krieg und Frieden komme es auch dabei auf jede Woche an. Die Frage sei also, das nötige Kapital sofort flottzumachen, und es interessiere ihn, ob Mr. Clerk selbst mit einer größeren Summe einsteigen wolle, oder ob es notwendig sei, eine Bank zu bemühen?
Clerk glaubt, daß er selbst in der Lage sei, finanziell bei dem Unternehmen mitzuhalten, falls Tom – er nennt The Lord bereits mit Vornamen – ihm seine Liegenschaften und Logierhäuser in Reno, dem Ehescheidungsparadies in Nevada, ohne zu große Steuerbelastung verkaufen helfe. Es erweist sich, daß Tom gerade zu den Behörden des Staates Nevada ausgezeichnete Beziehungen unterhält, daß er auch einen milden Druck auf Reno ausüben kann, da er seit einiger Zeit selbst begonnen hat, ähnliche seriöse Institute zur Eheregulierung an der Westküste einzurichten. Hier bewegt sich The Lord schon auf der Ebene des Gentlemangangstertums: Geld, Macht und Einfluß auf Kosten derer zu erringen, die bereits ohne Konflikt mit dem Gesetz Geld, Macht und Einfluß an sich gerissen haben.
Also planen Cecil Clerk und Tom, The Lord, vorerst etwa zehntausend neue Spielautomaten der aufflammenden Atombomben, die der moralischen Unterstützung der Verteidigung von USA, dem Appell an die Nerven seiner Bewohner und dem Wohle von Clerk und The Lord dienen, in den großen Städten des Landes aufstellen zu lassen. Zwar sammeln diese Glücksspielautomaten bei jedem Hebelzug nur zehn Cents. Aber wenn man bedenkt, daß jeder dieser »einarmigen Räuber« mindestens zwölf Stunden täglich »arbeitet«, daß ferner alle fünf bis sechs Minuten ein Spieler den Hebel zieht und gegen die Kugel losschnellen läßt, so ergibt sich folgende einfache Rechnung:
10 000 mal 12 (Stunden) mal 10 (Spiele die Stunde)
mal 10 Cents, tägliche Einnahmen |
120 000 | Dollar |
abzüglich achtzig Prozent für die enormen Steuern,
den Umbau bzw. die Neuanschaffung der Apparate, ihre Aufstellung, für die Gehälter der Mechaniker und Kontrolleure |
96 000 | Dollar |
bleiben Reingewinn täglich | 24 000 | Dollar |
d. h. monatlich | 720 000 | Dollar |
und da man das Jahr – die zwei heißen Monate abgerechnet – mit zehn Monaten veranschlagen muß, so beträgt der Nettogewinn von den zehntausend Glücksautomaten im Jahr etwa 7 000 000 Dollar, eine Summe, die proportional der Einlage des Partners Clerk noch zwischen Clerk und The Lord zu teilen wäre.
Ähnliche Summen sind sowohl der Steuerbehörde wie der Öffentlichkeit bekannt. Hinzu kommen noch die nur annähernd abzuschätzenden Einnahmen, die The Lord aus seinen Grundstücken, Hotels und Rennbahnen bezieht. Für Kenner ist dieser Gentlemangangster also mindestens 10 bis 15 Millionen Dollar jährlich »wert«.
Schon deshalb kann Clerk mit ihm auf gleicher Ebene sich unterhalten. Übrigens bestätigt The Lord seinem neuen Partner, daß man unbedingt Tempo vorlegen und seine Chance wahren müsse, »da Moskau Schwierigkeiten mache« und jetzt dauernd mit Friedensverhandlungen auf Korea drohe. Zwar dürfe man sich auf den Präsidenten und den General Ridgway verlassen, die dank der Mobilisation der Achtzehnjährigen und der neuen Milliarden Rüstungskredite die Sache in Korea keinesfalls einschlafen ließen; aber man könne trotz allem nicht wissen, was 1952 sei?
Nun, meint Clerk, das Pentagon in Washington arbeite mit dem Marshallplan und dem Rüstungsprogramm auf weite Sicht. Und was Korea angehe, so stehe im Hintergrund immer noch eisern McArthur, der keiner Gefühlsduselei unterliege, sondern klar bekundet habe: das, was er als Soldat in Korea sah, habe seinen alten Augen gut getan.
The Lord spielt mit zwei dünnen runden Stäbchen das altchinesische Spiel: Mandarin oder Bauer; schließlich erklärt er, das Militär bestehe nicht nur aus General und Soldaten; vielmehr hätten in Pittsburgh sogar in den Militärbetrieben wie im großen Panzerwerk die Arbeiter gestreikt, ebenso bei General Motors …
Ob er, Tom, Pessimist sei?
Pessimist – Optimist, das seien bloß Worte, irreführende Worte; es gebe für ihn nur Sehende oder Blinde, einsichtige Menschen oder Dummköpfe. Man sei aber blind, wenn man nicht wahrnehme, daß bei riesigen Stahlwerken wie der Jonas and Laughlin Steel Corporation die Arbeit eingestellt werden mußte, weil die Angestellten der Material zuführenden Eisenbahn streikten; daß bei den Douglas-Flugzeugwerken in Südkalifornien sich tausend Arbeiter im Ausstand befänden und bei den Wrightwerken in New Jersey zehntausend; das sei eine ernste Gefahr für die von den Luftstreitkräften benötigten Düsenmotoren. Und wie stände es mit den tausend Hafenarbeitern in New York?
Wozu man denn das Taft-Hartley-Gesetz habe?
»Ich weiß es nicht«, sagt The Lord und zieht einen Platinring mit einem tief eingebetteten Diamanten von blitzend grünlichem Feuer über seinen Fingerknöchel, wobei sich die kleinen rötlichen Haarbüschel am Gelenk sträuben. Gut, daß Nora es nicht bemerkt; sie behauptet, wenn er sich diese behaarten Orang-Utan-Finger nicht rasieren lasse, erkenne man schon daran seinen früheren Beruf. Richtig, auch damals ging gerade manch todsichere Sache schief. Da war er vor zwanzig Jahren der Chef einer Fuhre, als sie den »Stotterer« (er hatte im entscheidenden Augenblick stets Ladehemmungen seiner Maschinenpistole) aus dem Jail bei Chikago herausholen sollten. Der Direktor hatte sein Honorar erhalten, ebenso die beiden Inspektoren. Er brachte seine Leute alle schwer bewaffnet in Särgen durchs Tor. Aber im Zuchthaus selbst war nichts vorbereitet. Der Direktor, diese feige Bestie, hatte Urlaub genommen, und auch die Inspektoren hatten das Personal nicht verständigt. Als sie die Sache doch forcieren wollten, die Wärter mit Feuerwaffen in Schach hielten und alles gut ging, da warf die nervöse »schwarze Hasenscharte« eine Handgranate, deren Luftdruck die Alarmvorrichtung in Gang setzte. Eine Stange Gold kostete die Lösesumme. »Nein, man kann heute keine Sache hinziehen!« sagte The Lord. »Wenn, dann muß man schnell handeln.«
»Genau das, Tom!«
»Es ist ein großes Wettrennen mit der Zeit: Kommt der Russe früher an oder wir? Das ist primitiv gedacht, denken Sie; nun, es ist genauso primitiv gedacht, wie es ist. Mein Gott, ich philosophiere wieder. Daran ist Nora schuld; verdammt viel weiß das Mädel …« Er schaut zum Treppenaufgang, wo seine Tochter im Gespräch mit dem Fliegeroffizier Donald hinblickt zu einem großen Bild, das einen massiven holländischen Patrizier im schwarzen Gewand mit mächtiger weißer Halskrause darstellt.
The Lord ruft Nora heran, um diesen seinen wertvollsten Brillanten aufblitzen zu lassen. »Hallo, Nora, sage uns, wie steht es mit diesen würdigen holländischen Herrn? Waren damals ihre Geschäfte genauso weiß wie die Spitzenkragen um ihren Hals? Gab es damals auch schon Kriege und blutige Hände?«
»Willst du mich prüfen, Pap?«
»Nein, bloß Mr. Clerk und ich, wir sprachen gerade, in welch mörderischem Tempo die Zeit heute dahinrollt, während in den damaligen ruhigen Tagen …«
»Verzeihung, Pap, aber diese Zeit vor drei- bis vierhundert Jahren war gar nicht so ruhig. Im Dreißigjährigen Krieg ging die Hälfte von Europa zugrunde, und in Holland folterte man schrecklich die Religionskämpfer und die Freiheitsmänner, die sich Geusen oder Bettler nannten …«
»Wahrscheinlich haben auch diese Freiheitskämpfer und Bettler schon damals sich durch Streiks und Sabotage betätigt«, stellt Clerk fest.
»Nun, die Halskrause der Mijnheers, der großen Kaufherren, blieb jedenfalls weiß«, doziert Nora, das College-Girl.
Und Donald, nicht ohne Zynismus: »Sogar bis heute!«
Aber diese drei Worte genügen Vater Clerk nicht. Er möchte auch mit seinem Sprößling ein wenig paradieren; scheinbar gänzlich zusammenhanglos fragt er: »Wie steht es eigentlich mit den geheimnisvollen Flugkörpern, Don, mit den Fliegenden Untertassen?«
Donald ist durch diese Frage überrascht, da der Vater bisher dieses ganze Problem ablehnte. »Nun, das läßt sich nicht in zwei Minuten erklären«, erwidert Donald, »aber vielleicht kommt ihr eines Tages in die Nähe unseres Flugplatzes, solch eine leicht zerbrochene Untertasse zu besichtigen.«
Diese geheimnisvolle Andeutung macht Donald im voraus zum Helden eines noch geheimnisvolleren Luftkampfes. »Mein Sohn ist Versuchspilot und Nachtflieger«, ergänzt Clerk vielsagend diese mystische Sache.
»Glauben Sie, daß diese Untertassen auch russische Bomben mit sich führen?« fragt Nora erregt.
»Wir müssen mit allem rechnen«, erwidert Donald.
Und Nora: »Oh, Sie werden mich doch anrufen, wenn Sie einen Russen abgeschossen haben?«
*
Auf der Heimfahrt nimmt Clerk den Sohn in zwiefacher Hinsicht ins Gebet. Erstens verlangt er von ihm, daß er sich keinesfalls in »ein Abenteuer mit einem dieser unbekannten Flugkörper« einlasse. Es sei durchaus möglich, daß dieses russische Monstrum doch eine Atombombe an Bord habe. Und zweitens, da er schon von der russischen Gefahr spreche, verlange er als Vater strikte von ihm, dem Sohn, daß er »jeden Verkehr mit den Roten«, die, ohne daß man es wisse, meist russische Agenten seien, abbreche.
»Verkehr mit russischen Agenten? Bist du toll, Vater?«
Und nun berichtet Clerk dem Sohn, was er von dem F.B.I.-Mann über Adda, Beß und deren Onkel Ernest Lee erfuhr.
Donald weist diese Vermutung als lächerlich zurück. »Adda, eine russische Agentin? Pap, ich traue dir wirklich etwas mehr Urteil zu!«
»Gibt es denn für dich keine anderen Frauen als diese technische Zeichnerin in unserem Büro?«
»Natürlich gibt es. Bloß, mit Adda balge ich mich ab und zu wie in unsrer Kinderzeit.«
»Einmal, Donald, hört man auf, Kind zu sein.«
»Der Fall interessiert mich wirklich nicht, Pap«, bricht Donald ziemlich flegelhaft das Gespräch ab.
Doch der Fall interessiert Donald plötzlich sehr. Wenn Adda tatsächlich in eine solche Sache verwickelt ist? Adda und die seltsame kleine Beß? Und jener Ohm Ernest? Und wenn er, Donald, es weiß und jetzt die Schlinge in seiner Hand hält?
Meist sind die Weichen der Schicksalsbahn zweier oder dreier Menschen so gestellt, daß die Leben auch mitten im wilden Hin und Her wohlgelenkt dahinfahren; plötzlich aber summieren sich alle bisher verborgenen Fehlerquellen, machen sich gleichsam selbständig und rasen – die Menschen hinter sich her ziehend – aufeinander zu.
Eines Abends trifft die heimkommende Adda ihre Schwester Beß, wie sie am Tisch sitzt gleich einer Wachsfigur, unbeweglich, blaß, auf einen eng beschriebenen Brief starrend. Da sie Beß anspricht, wird die Kleine von einem haltlosen Schluchzen geschüttelt. Wortlos rennt sie nach oben in ihr Zimmer.
Adda nimmt den Brief. Er ist von Robby. Es sind zwei gefaltete Bogen, acht Seiten. Robby schreibt in sehr kleinen Buchstaben, als müsse er in einen vorgeschriebenen Raum möglichst viel hineinquetschen, die Geschichte seines kurzen Rekrutenlebens … wie gesagt, in engen, hastigen Lettern, die plötzlich von hohen H-Strichen wie von gespießten Aufschreien durchbohrt sind: Er sei als Rekrut dem großen Truppenübungsplatz FLW zugeteilt worden. Eines Morgens beim Appell wäre der Lagerleiter, ein Major, vor die Front getreten und habe nach einer kurzen Einleitung über Sauberkeit der Stiefel und des Lederzeugs sowie über die Disziplin gesagt: »Ihr jungen Soldaten wißt, daß unser Präsident euch nicht zu einem Baseballspiel hergerufen hat. Ihr werdet die Ehre haben, unsre christliche Zivilisation gegen die asiatische Bestie zu verteidigen. Das ist eine ebenso heilige wie harte Sache. In Korea kämpfen eure Kameraden schon ein Jahr gegen die kommunistischen Horden auf Tod und Leben. Unser hervorragender General Ridgway hat dort, wie er es nennt, die ›Aktion Killer‹ gestartet. Je härter wir den Krieg führen, um so humaner ist er, um so schneller wird er beendet sein. Das muß man wissen! Ich bin hier nun berufen, um aus euch solche Soldaten der Aktion Killer, um aus euch gute Mörder zu machen, und ihr könnt sicher sein, ich werde auch den Befehl unsres hiesigen Generals Hershey ausführen, der fordert, aus euch eine ganze Generation von Killern zu machen, euch zu den kaltblütigsten Killern auszubilden.« –
Meine liebe, kleine Beß, Du wirst glauben, ich bin betrunken oder ich phantasiere. Leider ist das nicht der Fall. Nun, ich glaubte erst selbst, ich hätte mich verhört. Auch viele andere Kameraden glaubten das. Die meisten starrten bloß vor sich hin. Mir selbst fiel plötzlich ein Gespräch ein, daß ich mit meinem Kollegen Pat hatte, Du weißt, dem Studenten aus unsrer Reparaturbude, wo auch Ohm Ernest arbeitet. Man will uns also hier zu »kaltblütigen Mördern« ausbilden; hatte das der Major wirklich gesagt? Und dann: auf nach Korea! Beim Mittagessen haben wir uns dann gegenseitig vorsichtig ausgehorcht, was der Major gesagt habe. Aber es stimmte schon.
In den nächsten Tagen gab es auffallend viel Kranke in der Revierstube. Einzelne zeigten furchtbar geschwollene Beine, so daß man sie ins Lazarett bringen mußte; diese hatten sich mit spitzem Tintenstift in die Ader gestochen und so eine schwere Blutvergiftung erzeugt. Andere bekamen Herzkrämpfe, weil sie abgekochten Tabaksaft glasweise tranken. Alle diese kommen nach ihrer Entlassung aus dem Lazarett ins Zuchthaus. Liebe Beß, ich habe an Dich gedacht und mich nicht so zugrunde richten wollen. Ich habe bloß gebeten, mich ins Sanitätskorps einzugliedern. Es hat mir einfach davor gegraust, daß man einen »kaltblütigen Killer« aus mir machen will. Nun, man hat mich ausgelacht und sofort »den Trick durchschaut«. Als ich dann mich weigerte, mich zu solch einem Killer ausbilden zu lassen, da wurde ich wegen Gehorsamsverweigerung verhaftet. Man hat mich vor ein Kriegsgericht gestellt und zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Kannst Du Dir, meine liebste kleine Beß, vorstellen, was das bedeutet, »Zwangsarbeit« zusammen mit wirklichen Verbrechern? Wahrscheinlich irgendwo in der Sandhölle von Nevada, in der Atomwüste, wo sie Versuche machen und kein Besuch und kein Brief einen erreicht? Und danach als kommunistisches, »subversives Element« noch weiter in Haft gehalten werden? Oh, wäre ich doch damals nur geflohen! Jetzt bin ich ein Verbrecher, weil ich kein Mörder werden will! Und um kein Zwangsarbeiter und Verbrecher zu sein, hätte ich zum Mörder werden müssen! Aber vielleicht werde ich beides nicht sein, sondern wie so mancher hier einfach Schluß machen. Ach, Beß, meine liebste kleine Frau, weißt Du denn keinen Rat? Muß ich hier vor die Hunde gehn? Kann denn niemand helfen?
Jetzt starrt auch Adda auf den Brief, als sei er ein Menetekel, eine gespenstische Feuerschrift, von Geisterhand niedergeschrieben. Eine Warnung. Eine Forderung. Ein Hilfeschrei. Man muß handeln! Man muß Robby retten, ehe es zu spät ist!
Morgen oder übermorgen wird er zur Zwangsarbeit abtransportiert, weit weg, vielleicht irgendwohin in die isolierten Gebiete der Sandsteppen Nevadas oder Arizonas? Sie wird zu Ohm Ernest fahren, sofort! Zu Robbys Vater! Oder zu Dr. Boyle? All das wird zu umständlich sein, zu lange Zeit benötigen, ehe sie überhaupt die militärische Dienststelle erreicht. Aber was? Man müßte direkt zu der militärischen Stelle fahren! Doch Robby hat den Brief offenbar in größter Hast geschrieben, ohne genaue Adresse des Absenders; natürlich, wie durfte er auch? Er hat den Brief herausgeschmuggelt.
Addas Gedanken geraten durcheinander. Eines ist notwendig. Sie geht hinauf in die Schlafkammer zu Beß, sie nach der Adresse zu fragen.
Beß wirft sich wie ein wildes, verwundetes Tier fauchend im Bett umher; sie ist halb wahnsinnig. Vater Manuel hat ihr kalte Kompressen gebracht, die alle irgendwo am Boden liegen. Der Alte geht traurig wieder nach unten und macht sich draußen im Schuppen zu schaffen. Er versteht schon lange nicht mehr, was das alles bedeutet.
Adda hockt wieder unten mit hochgezogenen Knien auf der Couch. Sie müßte Pat befragen. Auch Robby schreibt ja von Pat. Pat weiß auf alle Fragen eine Antwort. Oder Gene? Gene als Fliegerfunker kommt mit den Offizieren zusammen. Ja, Gene ist hier der Richtigere; sie wird ihn anrufen.
Wie sie aufsteht, fällt ein Lichtkegel durch die Vorhänge. Clerks großer Wagen braust draußen durch die Einfahrt. Mein Gott, das wäre natürlich noch wirksamer!
Adda schiebt den Vorhang beiseite. Clerk und Donald verlassen den Wagen. Donald wendet sich, wie er die Treppe zur Villa emporsteigt, er schaut nach dem Gärtnerhaus. Will er sehen, ob dort Licht ist?
Donald befindet sich nach dem Bericht seines Vaters über Adda, »die russische Agentin«, in höchster Spannung. Seine Gedanken arbeiten in einer Richtung. Er sieht hier seine Chance. Adda denkt von einem ganz anderen Ausgangspunkt auf Donald hin.
Wie Donald nach einer halben Stunde ans Fenster klopft, hält sie den Atem an. Spürt sie, was von der nächsten Minute abhängt? Sie kämpft ihren Widerwillen nieder. Ihr einziger Gedanke ist, Beß und Robby zu helfen.
Sie geht zur Tür, sie öffnet Donald und läßt ihn schweigend herein. Donald ist voll ungeduldiger Spannung; er mißversteht Addas schnelle Bereitwilligkeit, ihn so spät zu empfangen. Wunderbar sieht Adda aus. Die Röte ihres Gesichtes verrät ihre Erregung. Also hat sie endlich ihren blöden Stolz überwunden und ihn erwartet. Sie bittet ihn, auf der Couch Platz zu nehmen, und setzt sich selbst auf einen Stuhl.
Wie sie in seine heißen Augen schaut, wird ihr klar, daß sie keine falsche Stimmung aufkommen lassen darf, daß sie sofort mitten in die Sache springen muß. Sie nimmt den Brief, reicht ihn Donald und sagt: »Ich bitte, Don, lies das!«
Er beginnt, schaut jedoch nach kurzem über die Zeilen weg, angestrengt nachdenkend, ohne zu lesen. In seinen graugrünen Augen flackert ein Flämmchen; dann liest er weiter, schneller und schneller, über der Nasenwurzel klemmen sich dünne Falten; er fährt sich über die Stirn, als wische er Schweiß weg. Adda spürt zum erstenmal im Leben ihr Herz am Hals schlagen; sie holt tief Luft, aber es wird nicht besser. Ihre Kehle ist ganz trocken, sie möchte aufstehen und ein Glas Wasser trinken; aber sie wagt es nicht. Hat sie richtig gehandelt?
»Das ist kein guter Brief«, meint Donald und legt ihn auf den Tisch.
»Du mußt helfen, Don! Beß ist völlig verzweifelt; wenn einer helfen kann, dann nur du!«
»Ihr beehrt mich mit einem großen Vertrauen«, erwidert Donald, ohne im geringsten zu verraten, welche Wut und Enttäuschung in ihm kochen. Also deshalb hat Adda ihm geöffnet? Dafür ist er ihr grade genug, einem subversiven Element, einem Roten aus der Patsche zu helfen? Großartig! Jetzt hat er sie in doppelter Schlinge. Er nimmt den Brief, als studiere er noch einmal den Inhalt. Dann schaut er auf und bemerkt, wie die Haut um Addas Augenwinkel in nervösem Tic zuckt. »Du stellst dir das wahrscheinlich sehr einfach vor, Adda; aber es handelt sich hier, soweit ich lese, zum mindesten um militärische Gehorsamsverweigerung, wenn nicht um Meuterei, da eine Gemeinschaftshandlung vorliegt.«
»Ich weiß nicht, um was es sich handelt. Ich weiß nur, daß man helfen muß, helfen, Don, um zwei junge Menschen zu retten!« Sie steht jetzt vor ihm, fordernd, keuchend. Auch er ist aufgestanden.
»Man müßte vor allem wissen, wo jener Bursche sich befindet.«
»Ich werde Beß fragen!«
»Und dann«, er schaut auf seine Uhr, »drüben wartet mein Freund, der Captain Ferry, den du von unsrer Farm her kennst; man müßte auch ihn fragen.« Er faßt sie an den Armen; sie steht zitternd, ohne sich zu wehren. Er spürt jetzt ihre festen Brüste in seinen Händen. Noch immer wehrt sie sich nicht.
Fast flehend flüstert sie: »Man muß doch Beß fragen!«
Er gibt sie frei, als sei sie ihm gleichgültig; sie ist ihm ja sicher.
Adda springt die Treppe hinauf.
Einmal nur muß er dieses stolze, widerspenstige, kräftige Mädchen haben! Einmal nur! Dann wird sich die brennende Wunde in seinem Gehirn schließen. Vorher wird keine Ruhe sein. Jetzt steht er vor dem Tor; ein Ruck, und es wird sich öffnen. Sie, diese Abweisende, ist jetzt selbst eine Besessene – besessen von dem Gedanken, jenen Burschen und die Schwester zu retten.
Adda kommt mit Beß die Treppe herunter.
Zum erstenmal bemerkt Donald mit Aufmerksamkeit die kleinere Schwester; sie hat sich schnell einen Pullover übergezogen, ihr Gesicht ist nicht mehr blaß, sondern von dem Weinen und Wühlen im Bett gerötet; es ist breit und von hellem, wirrem Haar umschlossen. Ein leidendes Kindergesicht mit dem reifen Mund und dem Körper einer Frau.
»Seine Adresse ist Fort Leonard Wood«, sagt Adda, die mit ihrem rechten Arm den Kopf der Schwester schützend an ihre Schulter preßt.
»Fort Leonard Wood?« fragt Donald und schaut die Kleine an.
Beß nickt.
»Wir müßten jetzt zu meinem Kameraden, dem Captain Ferry, hinübergehen«, meint Donald zu Adda.
»Du siehst doch, ich kann nicht von Beß weg. Hole den Captain hierher, wo wir Ruhe haben.«
»Und ich bitte dich, komm mit, der Captain erwartet mich.«
»Der Captain ist nicht da!« erklärt Adda.
»Und wenn er nicht da ist!« erwidert Donald erbittert. Er spürt, wie Adda ihm entgleitet und wieder ihre Festigkeit gewinnt. Adda schickt Beß nach oben, sie komme gleich nach.
Die beiden sind allein.
Adda fragt jetzt ruhig: »Willst du uns helfen, Don?«
Donald geht in der engen Stube auf und ab. Noch hat er die Schlinge in seiner Hand. Er streift den Vorhang etwas beiseite und schaut in den nächtigen Park, wo die Platanenstämme, vom Licht der Kandelaber der großen Freitreppe getroffen, klotzige Schatten werfen. Dann wendet er sich zu Adda: »Weißt du eigentlich, was du von mir verlangst, von einem Offizier? Daß er einem militärischen Verbrecher hilft …«
»Robby ist kein Verbrecher!«
»In deinen Augen natürlich nicht.«
»Weshalb – natürlich nicht?«
»Hör mich, Adda«, er ist dicht vor sie hingetreten, die Hände in den Hosentaschen, »an deiner Stelle würde ich mich ganz ruhig verhalten nach dem, was beim letzten Fliegeralarm bei jenem Ohm Ernest geschah.«
»Was hat das mit Robby zu tun?«
»Daß für einen amerikanischen Soldaten eine russische Agentin nicht die geeignete Fürsprecherin ist.«
»Russische Agentin? Wer soll das sein?«
»Nach den Akten der F.B.I. – du!«
Adda schaut ihn an; sie weiß nicht, will er sie bluffen, oder meint er es ernst? Spöttisch erwidert sie: »Da kann man der F.B.I. zu ihrer Entdeckung ja gratulieren!«
»Vielleicht bist du morgen schon anderer Ansicht, du und Ohm Ernest!« schreit Donald, der jede Selbstkontrolle verloren hat. »Auch mich beobachtet man, weil man mich mit dir in letzter Woche sah.«
»Was weißt du?« fragt Adda ernst.
Donald schweigt. Verdammt, er hat sich von dieser schlauen Bestie provozieren lassen und schon alle Karten ausgespielt.
»Laß uns ruhig reden!« meint Adda.
»Mit dir?«
»Mit mir.«
»Ich bin Amerikaner!«
»Und ich?«
Beß ist leise die Treppe heruntergekommen; ihr Gesicht scheint jetzt weiß wie eine Kalkwand, unnatürlich groß sind die sonst hellen Augen. Sie geht wie eine Nachtwandlerin auf ihre große Schwester zu, umklammert deren Arme und sinkt an ihr dann nieder bis zur Erde.
»Mein Gott, Beß, was tust du?« Adda zieht sie empor.
Beß schüttelt stumm und heftig den Kopf, als müsse sie etwas verneinen. Dann fährt sie zu Donald herum: »Habt ihr wieder vom Krieg gesprochen? Weshalb habt ihr so geschrien? Weshalb helft ihr Robby nicht?«
»Das mußt du Adda fragen«, erwidert Donald; er nimmt seine Mütze und geht hinaus.
*
Adda hat Beß auf die Couch gelegt; doch die Kleine wälzt sich herum, bis sie ihr Gesicht nach unten verbergen kann. Adda hockt am Fußende. Sie starrt auf den Tisch. Da liegt Robbys Brief, genauso wie am Anfang. Was war das bloß mit der Drohung von Donald, sie sei eine russische Agentin? Und mit Ohm Ernest? Und der F.B.I.? Gleich morgen muß sie mit dem Ohm sprechen, am besten auch mit Pat! Dr. Boyle sagte, sie könne sich stets an ihn wenden! An wen, an wen?
Sie ist todmüde.
Wie der alte Manuel hereinkommt, tritt er schwerfällig zu Adda und hebt ihren Kopf, der nach Form und Hautton dem seinen sosehr gleicht, nur daß sein Gesicht noch von hundert Falten und Fältchen durchzogen ist. »Jesus Maria«, meint er, »könnt ihr nicht Frieden halten? Mein Vater sagte: Die Menschen haben noch mehr Gift als die Schlangen. Geht jetzt schlafen, Kinder; geht schlafen! Buenos noces!«
Während Donald im Gärtnerhaus Adda erfolglos zu erpressen suchte, hat Clerk in der Villa mit mehr Glück seinen Pfeil gegen Dorothy und ihren Freund Sherman – die »zeilennässende Wanze« – abgeschossen. Wie es sich schon bei der letzten Party auf Clerks Farm Dealwood zeigte, ist Dorothys Interesse von Sherry auf den Fliegerobersten Kennedy übergegangen; wobei es jetzt wohl einfach zu ihrem Komfort gehört, zwei Liebhaber zu besitzen: den zivilen Gehirnakrobaten und den verwundeten, überreizten Offizier, der ihre Launen mit seinen Nerven noch übertrumpft. In »Key« tritt ihr zum erstenmal ein Mann gegenüber, der sich ihr nicht unterwirft, sondern dem sie – die physisch und biologisch Stärkere – dienen muß, will sie ihn nicht verlieren. Denn dieser Key kennt nur sich. Mit brutaler Rücksichtslosigkeit schiebt dieser von Alkohol und anderen Giften zerrüttete Mensch alles beiseite, was ihm nicht zu Willen ist. Als Dorothy ihn vor zwei Wochen in seinem Bungalo am Rande des großen zivilen Flugplatzes besuchte, nötigte er sie zu rauchen, obschon sie bisher kaum eine Zigarette zwischen die Lippen genommen hatte. Key ließ sich nicht abbringen. Und sie kennt seinen verbohrten »jungenhaften« Trotz, von dem sie im Grunde sich gern beherrschen läßt. Doch schon nach der zweiten Zigarette empfindet sie merkwürdige Sensationen: der japanische Bronzelöwe auf Keys Rauchtisch beginnt sich zu bewegen, er packt sie mit seinen gewaltigen Pranken, wirft sie zu Boden und haucht ihr feurigen Atem ins Gesicht, so daß sie die Augen schließt. Dann aber ist es plötzlich Key selbst, der über ihr steht, sie mit der Pistole bedroht und sie wie ein Dompteur zwingt, auf allen vieren sich am Boden zu bewegen. Es ist eine schamlos erniedrigende Szene, der sie sich unterwerfen muß.
Da sie nach zwei Stunden zur Stadt fahren, erwacht sie im Wagen plötzlich wie nach einem dumpfen Traum. Auf ihre Frage, was geschehen sei, ob sie Marihuana geraucht hätten, antwortet Key nur mit der Gegenfrage: ob es ihr unangenehm gewesen sei?
Am nächsten Tag sucht sie einen Nervenarzt auf und erfährt, daß es sich bestimmt um Marihuana handle, das, ähnlich dem türkischen Haschisch, als Rauschgift sehr stark auf die erotische Sphäre wirke und gewisse Halluzinationen erzeuge.
Sie habe es zum erstenmal geraucht, bemerkt Dorothy.
Gewiß, dieser südamerikanische, stark narkotische Stoff aus getrocknetem Hanf sei bisher vorwiegend von den Soldaten und Seeleuten in die Unterwelt eingeschmuggelt worden. Doch neuerdings komme die Sache auch bei den Oberklassen in Mode, zumal das Vergnügen für die andern mit der Zeit recht kostspielig werde. Man wisse ja schon oft nicht mehr, ob im Pullmancar der Gegenübersitzende, selig vor sich Hinsprechende wirklich eine Chesterfield oder eine Marihuana genieße?
Mrs. Clerk fährt sofort hinaus zum Flugfeld, um Kennedy zur Rede zu stellen. Doch auch dieser Besuch endet wie der vorhergehende. Dorothy gerät selbst unter den Einfluß des Rauschgiftes. Ihre sonst so festen Nerven beginnen zu flattern, wenn man sie aus der Marihuanasphäre herausreißen will.
*
Deshalb findet Clerk anfangs nicht Dorothys volle Aufmerksamkeit, wie er die fingierte Geschichte von ihrem Freunde Sherman und dessen Renommage über sein intimes Verhältnis zu ihr auftischt. Eben jener Sherman habe letzte Woche in einem größeren Kreis von Presseleuten und Künstlern mit seinen erotischen Beziehungen zu Mrs. Clerk geprahlt.
»Sherman, diese Kröte?«
»Ja.«
»Beziehungen zu mir?«
»Ja.«
Über Dorothys Stirn ziehen sich böse Falten; ihr Gesicht ist dunkelrot. Clerk ist hart am Ziel. Besorgt fügt er noch hinzu: »Ich könnte den dreisten Verleumder ja zu mir bestellen und selbst züchtigen. Aber ich möchte ihm nicht die Ehre antun, als müßte ich mit seiner Person mich beschäftigen.«
»Du hast recht«, sagt Dorothy, während sie nachdenkt, »es ist unangenehm, eine Kröte zu zertreten.«
Noch am gleichen Abend ruft sie Sherman an und verabredet mit ihm am nächsten Tag eine Begegnung auf der Farm Dealwood. Welch niederträchtiges, erbärmliches, undelikates Gewürm ist dieser Sherry im Vergleich zu Key, der sogar in seinem Laster noch Größe und mit der Pistole in der Faust noch soldatischen Stil zeigt! Aber dieser »schweinslederne Sherry« – Francis hatte recht mit ihrem Spott –, sie wird diesem niedrigen, undankbaren Reptil eine Schlußlektion erteilen, die er nicht vergessen soll.
Sie raucht noch eine Marihuana, um sich zu beruhigen und den brutalen, nervlich fiebernden Key in ihrer Einbildung sich heranzuholen.
Sie hat eine Marihuana geraucht, als man ihr am nächsten Nachmittag draußen in Dealwood Mr. Sherman meldet. Es gibt für sie keine Hemmung, wie sie den völlig Überraschten mit rauher Stimme zur Rede stellt und ihn, ohne seine Antwort abzuwarten, mit zwei erbitterten Hieben ins Gesicht gegen den Tisch taumeln läßt. Ein erbärmlicher Jammerlappen sei er, sie wünsche weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung. Aber sie erwarte, daß er ihr zum Abschluß den bitteren Geschmack beseitige, sich einem Feigling geschenkt zu haben. Deshalb fordere sie ihn auf, sie auf einem letzten Ritt zu begleiten. (Sie weiß, daß Sherman ein schlechter Sportsmann ist.)
Draußen hat der Stallmeister die Pferde vorgeführt, für Mrs. Clerk ihren ungarischen Fuchs, für Mr. Sherman jene Halbblutstute, die mit Dr. Boyle davongeprescht war. Wieder tänzelt das Tier äußerst nervös. Sherman zögert. Aber kann er noch zurück, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren? Vielleicht ergibt sich unterwegs auch die Möglichkeit, diese paradoxe Sache aufzuklären. Es kann lediglich der Artikel im »Citizen« sein. Der Stallmeister hält ihm den linken Bügel. »Soll ich mitkommen, Mrs. Clerk?«
»Danke, wir reiten nicht weit.«
Es geht im Schritt an den Gärten vorbei und dann im leichten Trab dem Waldrand zu. Sherman sucht sein Pferd Seite an Seite mit Dorothys Fuchs zu bringen; aber sie ist immer eine halbe Länge voraus. Plötzlich, kurz vor dem Wald, biegt sie im scharfen Winkel nach der Wiese ab und setzt den Gaul in Galopp.
Die Stute folgt dem Fuchs, der auf der offenen Fläche mächtig ausgreift. Sherman spürt, wie er die Gewalt über das davonjagende Tier verliert; er muß seine ganze Kraft dazu verwenden, bei den weiten Sätzen des Pferdes das Gleichgewicht zu halten und im Sattel zu bleiben. Plötzlich erkennt er Dorothys Plan: sie hält auf den Sprunggarten zu und zwingt ihn, den unerfahrenen, schwächlichen Sonntagsreiter, auf der dahinrasenden Stute neben dem trainierten Hengst die für ihn geradezu mörderischen Hindernisse zu nehmen.
Ist das fair? Was heißt bei einem zornigen Weib wie Dorothy fair? Es ist Rache! Das spürt Sherman, wie sie in weitem Bogen sich der Sprungbahn nähern. Die Stute liegt jetzt galoppierend hart an dem Fuchs. Im Zehntel einer Sekunde erkennt Sherman in Dorothys gerötetem Gesicht, wie ein böser Triumph in ihrem Auge flackert. Schon reißt es ihn nach vorn: da ist die erste Hürde, die auch sein Pferd im fliegenden Galopp nimmt. Doch bevor das nächste Hindernis, der Querbalken, kommt, merkt er, daß er den rechten Steigbügel verloren hat und das Tier mitten im Lauf zweimal zusammenzuckt, wie er hilflos in dessen Mähne greift. Ein Glück! Denn so werden die Zügel locker, und die Stute springt kurz hinter dem Hengst über die Barriere.
Noch einmal sucht Sherman das Gelände zu überblicken. Drei Längen voraus galoppiert der Fuchs. Stolz und elastisch sitzt Dorothy auf dem hoch gebauten Tier, den Haarknoten über ihren breiten Schultern. Und während sie vor ihm davonjagt, saust etwas anderes auf ihn zu – die hohe Wand, hinter der sich der Wassergraben verbirgt. Mit einem riesigen Satz nimmt der Hengst das schwierige Hindernis. Sherman scheint es plötzlich, als stehe die Wand schief und neige sich ihm entgegen. Vielleicht kann er noch abspringen? Er duckt sich wie vor einem Ungeheuer, er klammert sich an die Mähne der Stute, er hängt förmlich am Hals des Pferdes, das im rasenden Schwung nicht mehr einzuhalten vermag, aber auch die Last am Nacken nicht los wird. So kommt die Stute nicht richtig ab. Die Kraft des Galopps und ihres ehrgeizigen Willens, den Fuchs zu erreichen, reißt sie noch mächtig hoch, so daß sie mit der Vorderhand über die hohe Wand fegt; doch mit den Hinterhufen knallt sie hart gegen die Kante und stürzt, sich überschlagend, in weitem Bogen über den Graben zur Erde. Ein schwerer Sturz für Pferd und Reiter. Schrecklich schreit das Tier. Schrecklich stöhnt der darunterliegende Mensch.
Dorothy galoppiert zurück zur Unfallstelle. Es gelingt ihr, das Pferd noch einmal für eine Sekunde in den Knien hochzureißen; doch dann bricht es röchelnd seitlich zusammen. So wird wenigstens Sherman frei. Sein Gesicht ist fahlgelb. Er ächzt vor gräßlichen Schmerzen; er kann sich nicht erheben. Was da am Boden liegt, ist nur noch der Rest eines Menschen.
Dorothy reitet eiligst zur Farm. In fünf Minuten ist sie mit dem Stallmeister und zwei Knechten zurück. Das Pferd ist verloren; das sieht der Master mit einem Blick: Fesselbruch und innere Verletzungen.
Man trägt jetzt Mr. Sherman vorsichtig ins Haus. Schon auf dem Wege erbricht er und fällt in Ohnmacht. In einer Stunde erscheint der Arzt. Er gibt je eine Strophanthus- und Tetanusspritze. Es handle sich vorerst um einen rechten Schenkelbruch und einen Unterkiefersplitterbruch. Ob noch eine ernste innere Sache vorliege, werde erst im Krankenhaus festgestellt.
Leise wimmernd, mit halbem Bewußtsein ruht Sherman auf der Couch. Alles an ihm scheint plötzlich geschrumpft; sein Köpfchen ist wie das eines Maikäfers, die Haut gelbgrün. Der Arzt untersucht noch die Kniereflexe, während Dorothy ihn beobachtet.
Dann bittet sie den Doktor in den Salon. Der fragt: »Sahen Sie die unteren Gliedmaßen, ohne Reflexe, völlig gelähmt, paretisch … zweifellos schwere Verletzung der Lendenwirbelsäule, Querschnittssache, Durchtrennung des Segments …«
»Das heißt?«
Der Arzt schaut auf die stattliche Frau im Reitkleid, die seinem Blick standhält. »Das heißt«, antwortet er, »bei der zu erwartenden Lähmung von Blase und Darm ein Siechtum von etwa drei bis vier Monaten. Soweit ich sehe – der Mann ist erledigt.«
*
Vergebens hat Gene die letzte Woche auf dem Flugfeld eine Möglichkeit gesucht, die Stafettenkapsel zu den Weltjugendfestspielen zu befördern. Seine vorsichtigen Versuche scheiterten vor allem daran, daß er keine genaue Adresse wußte, an die er sein »persönliches Paket« schicken konnte. Pat hatte bei Ohm Ernests Geburtstag von dem Brief eines deutschen Studenten gesprochen; aber eher biß er – Gene – sich die Zunge ab, bevor er diesen Klugscheißer, der Adda mit seinen Reden einwickelte, um die Adresse bat. Wenn bloß einmal einer der Funker erkrankte, so daß er selbst hinüberfliegen konnte! Adda würde da schon sehen, was für eine Nummer er ist!
Aber gerade in diesen Tagen beanspruchte ihn der Kornmandant Oberst Kennedy mehr als sonst. Man hatte von dem Funkdienst des Flugfeldes nicht zu dechiffrierende Zeichen aufgefangen. Es waren auch wieder solche geheimnisvollen tellerartigen Flugkörper mit mächtigen Feuergasen heckwärts beobachtet worden … vielleicht ferngelenkte Raumraketen, aber mit einer kaum meßbaren Geschwindigkeit in einer Höhe von mindestens 12 000 Metern.
Oberst Kennedy kam jetzt öfters nachts in Genes Funkbude. Offenbar vermutete oder wußte er Genaueres über die geheimnisvollen Signale, die zeitlich eng zusammenhingen mit jenen Flugkörpern, den Fliegenden Untertassen – wie sie immer wieder einzelne Piloten meldeten.
Manchmal schien es auch, als fürchtete sich der Oberst vor dem Alleinsein. Er saß dann bis tief in der Nacht bei Gene in dem kleinen Raum. Beide hatten die Kopfhörer übergestreift, jedoch ein Ohr frei gelassen. Sie begannen meist mit einer oberflächlichen Schachpartie, um bald auf ihre gemeinsamen Erlebnisse während der Winterschlacht in den Ardennen überzugehen, wobei sie schließlich die vergangenen Flugabenteuer mit dem heutigen Untertassengespenst vermischten. Hinzu kam, daß Gerüchte und Panikmacherei die Luft erfüllten, und daß die Lage in den letzten Monaten sich rapid zuspitzte.
Die Kriegsvorbereitungen griffen nun fühlbar in das Leben jedes einzelnen ein: die Achtzehnjährigen wurden zu den Waffen gerufen. Trotz guter Arbeitsmöglichkeit in der Rüstungsindustrie verteuerte sich das nackte Dasein; die Arbeiter großer Metallwerke streikten, 60 000 Hafenarbeiter, Seeleute und Flieger der Westküste hatten im Juni die Arbeit niedergelegt, die Sache drohte auf die Dockers im New Yorker Hafen überzugreifen. Die Waffenstillstandsverhandlungen und »die drohende Friedensgefahr« machten die Börsenleute vollends nervös. Edgar Hoover, der Chef der F.B.I., habe für den Fall »nationaler Dringlichkeit« bereits Konzentrationslager für 14 000 »Verdächtige« vorbereitet. Aber »die Friedensfanatiker« kämpften um so erbitterter; auf ihrem Kongreß in Chikago waren 5000 Delegierte erschienen, nachdem schon vorher ein Friedensmarsch nach Washington stattgefunden hatte mit über 2500 Vertretern der Gewerkschaften, der Intelligenz, der Neger-, Frauen- und Jugenddelegationen. Konnte die Regierung trotz vereinzelten Zugriffs etwas Wirksames gegen diese »kommunistische Gefahr«, gegen diese »Friedensaggression« unternehmen? Im Verhältnis zu der täglich anwachsenden Bewegung sehr wenig. Es war, als wenn man eine steigende Flutwelle in ein paar Kücheneimern auffangen wollte. Die Verwirrung wurde vollkommen, als die »New York Times« die Losung: »Schluß mit dem Krieg in Korea!« als staatsfeindlich erklärte und an anderer Stelle desselben Blattes die Worte des Senators Taft groß wiedergab: »Der Koreakrieg wurde von Truman begonnen. Truman ist ein gefährlicher Mann für jeden, der für den Frieden eintritt.«
Und immer deutlicher schwang in das Bewußtsein der einfachen Leute die Tatsache hinein, daß am 25.Juni, dem ersten Jahrestag des Koreakrieges, der Vertreter der Sowjetunion bei den Vereinten Nationen in einer Radioansprache den Vorschlag zur sofortigen Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen gemacht hatte. Zugleich aber berichteten die Börsenblätter mit brutaler Offenheit, daß Charles Wilson, der Direktor der Rüstungsmobilisation, der in seiner Doppelrolle als Vertreter von Wallstreet auch im Aufsichtsrat der Morganbank saß und die Interessen des riesigen General Electric Trusts vertrat, daß dieser Charles Wilson bei Truman interveniert und vor einer ernsthaften Durchführung der Waffenstillstandsverhandlungen gewarnt habe.
Inzwischen stiegen auch die Verlustziffern der Boys in Korea, und die Angehörigen warteten vergebens auf Briefe. Alles das riß an den Nerven. Das Land hatte einen einzigartigen Rekord, einen »Superrekord an Selbstmorden« erreicht. Zugleich brachte das weitverbreitete »Colliers Magazin« einen Bildartikel, wonach ein Geschwader der B. 36 Moskau und den Kreml überfliegt und Flugblätter abwirft, daß innerhalb einer Woche Atombomben Moskau in Staub und Asche verwandeln werden.
Diesen Artikel und das Bild mit dem bajonettbewehrten MP-Mann, den Fähnchen über dem okkupierten Leningrad und Moskau vor Augen, hatte Oberst Kennedy zwei Marihuanazigaretten bereits hinter sich. Er hatte auch Gene veranlaßt, mit solch harmlosen Stäbchen einmal ins hellsichtige Traumland zu segeln.
Nun sitzen die beiden in dem Marihuanarauch vor dem Schachbrett, und die vier zusammengerückten Türme sind plötzlich die Kremltürme, und die schwarze Königin ist »die Zarentochter Tatjana«.
»Nein, es ist eine rote Kommissarin, ein strammes Weib … siehst du es nicht, Mann?« fiebert Kennedy, »da, Rita Hayworth mit ihrem Atombusen Nr. 1, die Mutter von Drillingen, ich werde ihr befehlen, in die Wolga zu springen … aber vorher muß sie mit dem Relativitätsjuden Einstein ein Wettschwimmen veranstalten, beide natürlich nackt!«
»Ein lausiges Vergnügen … kannst du überall haben«, lehnt Gene ab. »Das kaufst du dir für zehn Cents in den Comic Books an jeder Ecke; ich will was Besseres!« beharrt er eigensinnig.
»Na schön, Brüderchen, du bist ein mißglücktes Schwein, ein Fehlzünder; macht nichts …«, lallt Kennedy. »Bleiben wir bei der Zarentochter und dem Kreml … klinkere mal die Napalmbombe aus, heißer als die Hölle …«, und schon phantasiert der Oberst mit dunkelrotem Gesicht und tränenden Augen: Die roten Wachen sind vernichtet, Kennedy und Gene sind als Fallschirmspringer auf dem Roten Platz gelandet, sie rennen durch das gesprengte Tor der Kremlmauer, sie zerren jetzt zornig an den zwei Seiten des Schachbretts, nicht mehr Funker und Oberst, sondern zwei gleichwertige, erbitterte Rivalen – jeder will zuerst zu der Zarentochter, die dort im halbdunklen Keller auf einer Pritsche liegt … »Zurück, rote Bestie, du wirst sie nicht berühren!« fährt Kennedy den andern an.
Und der: »Wende den Blick weg, du Hurensohn, oder ich zertrete dich wie einen Wurm! Siehst du nicht, daß sie nackt ist?«
»Nackt oder nicht … Zarenblut und schottischer Kolonistensaft, das mischt sich erstklassig!«
»Zurück, schottischer Kot!« faucht Gene.
Der Oberst macht eine Bewegung, als zöge er aus der Tasche seinen Revolver. Wie Gene sich auf ihn stürzt und die am Boden Kämpfenden vom umkippenden Tisch nicht gerade sanfte Rippenstöße bekommen, kehrt zuerst Gene ins alte Bewußtsein zurück. Er reibt sich die Augen, besieht den Schaden und hebt den Oberst wieder auf den hingebauten Stuhl.
Ein tolles Kraut, diese Zigarette! Man kann aus einem Menschen in einer Minute ein anderes Wesen machen; man kann mit Hilfe dieser greifbaren Traumbilder einen Mann völlig in die Irre führen, ihm den Willen rauben. Niemals hätte Gene sich im Leben so vergessen, niemals sich mit dem Oberst am Boden gewälzt wegen der »Zarentochter Tatjana«. Welchen Mächten ist der Mensch ausgesetzt?
Auch Oberst Kennedy ist erwacht. Wütend blickt er auf eine Stelle am Boden, wo er eben mit Gene kämpfte. Doch jetzt zieht er sich den Rock zurecht und lächelt sehr höflich, indem er zugleich eine Verbeugung vor dem Punkt am Boden macht. Dann ist selbst dieses Stadium verraucht. Kennedy überfliegt mit einem Blick den Raum.
»Angenehm?« fragt er Gene.
»Oh, sehr!« antwortet Gene.
»Falls wichtige Meldungen kommen oder Äthersignale, ich bin bei mir.«
Er geht hinaus.
Gene beschließt, nie wieder dieses Gift zu rauchen. Sein Schädel ist voll dicker Watte. Niemals mehr!
Bloß, wenn man bei andern damit was erreichen könnte?