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Da Mrs. Dorothy sich zurückgezogen hat und auch Mr. Clerk unsichtbar ist, glaubt Adda, sich um die Gäste etwas kümmern zu müssen. Zu einem Ausritt wäre die Erlaubnis von Mr. oder Mrs. Clerk nötig; anders gibt der Stallmeister die Pferde nicht her.
So einigt sie sich mit Donald auf ein Tontaubenschießen oben am Hang beim Staubecken. Auch Captain Ferry, Dr. Boyle, Francis und Susan sind von der Partie. Weiß der Teufel, wo Mr. Sherman und Flagg sich herumtreiben? Doch auch sechs Schützen genügen. So bekommt jeder vorerst zehn Schuß.
Sie nehmen Aufstellung auf einer Holzkanzel etwa 100 Meter vor dem Hang, der als Kugelfang dient. Es wird mit Schrot aus doppelläufigen Gewehren geschossen. Den Abwurf der Tontauben durch den Katapult besorgt wie üblich John, der alte Butler des Hauses, die Ansage Mac, einer der Pferdeknechte.
Dr. Boyle und Susan sind im Taubenschießen noch unerfahren: Sie werden von Donald und Adda belehrt, daß man hier das Gewehr nicht fest in die Schulter einzieht und nicht umständlich über Korn und Kimme visiert, sondern am besten den Lauf beweglich hält, damit man die in verschiedener Richtung auftauchenden »Tauben« im Bruchteil einer Sekunde »mit dem Gewehr packen« und treffen kann. Schön gesagt. Aber die erste Runde – jeder hat zehn Schuß, die hintereinander gefeuert werden – verläuft so, daß Dr. Boyle und Susan ohne Treffer bleiben, Francis eine »Taube«, Captain Ferry drei und Donald und Adda, die schon als Kinder gemeinsam übten, je sechs Tauben schießen. Dabei hat der alte John am Katapult nicht einmal sehr die Richtung gewechselt. Bei der nächsten Runde finden Dr. Boyle, Francis und Susan die Schießerei ebensowenig unterhaltsam wie ihre fehlenden Treffer; sie lagern sich unten am Hang, während Captain Ferry bei der dritten Runde, die Adda und Donald allein bestreiten, als Zuschauer auf der Kanzel bleibt.
Die beiden Schützen haben sich nun die besten Gewehre auswählen können und werden durch kein Gerede neben sich gestört. Sie rufen Old John zu, daß er ihnen endlich etwas zumuten soll! Adda tritt als erste an. Sie schießt ohne Auflage, das Gewehr frei auf der Hüfte wiegend und – wenn die »Taube« durch die Luft kommt – mit dem wie ein Schlangenkopf hin und her pendelnden feuernden Lauf dann blitzschnell zustoßend. Acht von den zehn Tonkugeln zerplatzen getroffen im Flug. Applaus von der Gruppe am unteren Hang. Donald, zu ehrgeizig und durch Addas Erfolg zu erregt, hat wieder nur sechs Treffer. Doch bei der nächsten Runde schießt Donald acht Tauben und Adda bloß sieben.
»Noch einen Satz!« ruft Adda zu Old John.
»Den letzten!« sagt Donald und zum Katapult: »Mehr Tempo, John, und schwärmen lassen!«
Auch Adda ist erregt; es ist das Jagdfieber der Indianerin. Da kommt schon die erste Taube im spitzen Winkel auf sie zu; sie zerknallt in der Luft. Und die zweite mit 180 Grad jetzt im Längsflug parallel zum Schützen zerplatzt auf halbem Weg. Das Tempo nimmt zu, bloß unterbrochen durch das Laden der Gewehre. Die Gruppe vom untern Hang eilt herauf. Bereits acht Treffer von Adda und kein Fehlschuß! Der von der Hüfte feuernde Gewehrlauf pendelt weiter. Die neunte Tonkugel steigt plötzlich senkrecht hoch; sie zerspringt in 50 Meter Höhe im toten Punkt der Kulmination. Zum zehnten fliegen dicht beisammen zwei Tauben; auch sie zerknallen im Schrothagel kurz vor dem Niedergang.
»Bravissimo! Splendid!« schreien die Mädels.
Dr. Boyle, der alte Hausarzt, meint: »Laß mich deinen Puls fühlen, Adda! Wahrscheinlich hast du 55 in der Minute wie der erste Napoleon.«
»Ihr gestattet?« sagt Donald etwas pikiert, da man ganz seine letzte Runde vergessen hat.
»Ruhig, Brüderchen, ich halte dir den Daumen!« redet Francis ihm zu. Aber damit ist nichts getan. Wieder sechs Treffer für Donald und keinen mehr. Er stößt die leeren Hülsen aus dem Gewehr, gibt Adda die Hand und sagt: »Stahlvogel neigt sein Haupt vor der Feuerschlange.«
»Hereditäre Belastung! Siouxblut!« stellt Dr. Boyle fest. »Höre, Adda, könntest du eigentlich im Ernstfalle auch zehn Bleichgesichter so abknallen?«
»Nicht einmal zehn lebende Tauben«, erwidert Adda lächelnd.
»Richtige Tauben oder falsche Menschen«, wirft Captain Ferry ein, »auf alle Fälle ist es nicht schlecht, wenn man sich zu verteidigen versteht.«
Dr. Boyle schaut ihn an: »Verteidigen – das ist bei uns ein Wort, mit dem man so ziemlich alles meinen kann.«
»Und was meinen Sie, Doktor?« zielt Donald.
»Was ich meine, ist nicht so wichtig. Wichtiger ist schon die Meinung des Präsidenten der Universität von Tampa, des ehrwürdigen Reverend D. E. Nance, den die ›Chicago Tribüne‹ zitierte: er, der Reverend, werde, nachdem er mit seiner Gemeinde gebetet habe, diese auf den Schießstand führen, damit sie sich im Gebrauch von Feuerwaffen übe.«
»Finden Sie es so schlimm, Doktor, wenn jeder Mann und jede Frau in unserm Land auf den Gegner schießen kann?«
»Mein lieber Donald, Reverend Nance meint weiter, unsre Vorbereitungen sollten vollkommen sein und auf dem Gesetz des Dschungels beruhen.«
»Gesetz des Dschungels?« ruft Francis dazwischen. »Wer will uns denn hier überfallen, daß wir uns wehren müßten?«
Donald fährt los: »Wo lebst du eigentlich, Francis! Glaubst du, diese Fliegenden Untertassen kommen vom Mond und fegen zum Spaß über den Himmel?«
»Ich denke, wir sollten uns da nicht auf Spekulationen einlassen«, sagt Dr. Boyle.
»Spekulationen? Wo die Dinger alle aus Osten einfliegen! – Stimmt's, Bill?«
»Zum mindesten eine ganze Anzahl«, bestätigt der Captain.
»Das nächste Mal werde ich schneller sein und das Monstrum in der Luft stellen, und wenn's in 15 000 Meter Höhe ist!«
Francis opponiert erregt: »Unsinn, Don! Wenn es besondere Waffen besitzt und auf dich stößt?«
Hier aber hat Susan wieder Anschluß gefunden mit ihrem geistigen Arsenal. »Zwei verschieden geladene Einheiten«, bemerkt sie, »stoßen stets aufeinander. Der Krieg aber ist der Vater aller Dinge!«
»Heiliger Heraklit, übe Gnade an dieser Unschuld!« stöhnt Dr. Boyle. Soviel Nonsens gehe ja nicht auf einen Haufen! Wenn man ernsthaft behaupten wolle, die Dinge – etwa Feuer und Wasser – führten einen Krieg bis zur Vernichtung, so gäbe es bald weder Wasser noch Feuer mehr, keine Existenz, kein Leben.
»Sie wollen Heraklit leugnen?« fragt Susan.
»Beim Gott der Unterwelt, nein! Wenigstens nicht den Satz, daß der Kampf es ist, das heißt die aus der Gegensätzlichkeit entstehende Bewegung, die Gegensätzlichkeit von Feuer und Wasser, von Pflanze und Tier, von Sauerstoff und Stickstoff, aus der überall der Kreislauf des Lebens entsteht. Der Kampf der Gegensätze ist der Vater der Dinge, nicht aber der Krieg der Menschen. Diese letzte Wendung stammt nicht von einem Philosophen, sondern von einem Munitionsfabrikanten; sie bedeutet …«
»Genug!« sagt Francis und tritt schnell dazwischen, bevor Donald, der mit gerötetem Gesicht und einem seltsamen Blick zugehört hat, loslegen kann. »Der ganze schöne Nachmittag geht zum Teufel. Wo bloß die andern stecken?« Sie beginnt, den Doktor und Adda mit sich ziehend, den Abhang hinunterzurennen.
*
In dem kleinen Rauchzimmer vor Old Joshs Schachbrett verläuft das Gespräch anfangs in weit ruhigerer Form, obschon es um ein ähnliches Problem geht. Old Josh, der alte Fuchs, hat den Ausgangspunkt derart gewählt, daß er als »unverbesserlicher Einsiedler« sich in seinen alten Tagen noch ein wenig mit dem königlichen Spiel auf den 64 Feldern beschäftige, daß er aber dennoch die Gelegenheit benutzen möchte, sich von den Vertretern zweier namhafter Blätter über das weltliche Spiel da draußen etwas informieren zu lassen – falls die Herren diese Sache für bemerkenswert genug hielten?
Die Sache sei leider mehr als bemerkenswert, erklärt Sherman; die Sache sei alarmierend! Dichter wie Thornton Wilder, Annouihl und Sartre hätten die Gefahr schon längst signalisiert; bei der hereinbrechenden Katastrophe aber habe das Dasein sich selbst entfremdet; der Mensch bestehe nicht mehr als geschichtliche Gattung und nicht mehr als gesellschaftliches Wesen, da seine Existenz durch die im Geist vollzogene Erfindung der totalen Vernichtung bereits aufgehoben sei.
»Sie meinen, wir rücken ins Selbstmatt?« fragt der Alte.
»Das Selbstmatt ist in uns!« korrigiert ihn Sherman. »Von draußen wissen wir nichts.«
»Und was ist mit den unheimlichen Flugkörpern, von deren Dasein Sie soeben durch unsre Flieger erfuhren?« sucht Clerk, der sich durch das Geflunker des Journalisten vor Old Josh blamiert fühlt, Sherman auf eine brauchbare Linie zu drängen.
»Und was wissen wir tatsächlich von ihnen, Mr. Clerk? Bitte! Was wir auch in diesem Falle feststellen können, ist einzig, daß wir kein objektives Wissen besitzen, daß alle diese Erscheinungen Ausgeburten unsrer kosmischen Weltangst sind.«
Offenbar wird es dem jüngeren Al Flagg nun doch zu bunt; er rempelt den existentiellen Kritiker an: »Ihre kosmische Angst, Kollege, in Ehren; doch für meine bescheidenen Verhältnisse genügt vollkommen die Tatsache Hiroshima und alles, was damit zusammenhängt wie jene Panik in der Subway mit den Toten und Verwundeten; das ist unabhängig von meiner edlen Seele existent.«
Eine gute Schnauze hat der Junge, denkt Clerk. Und Old Josh meint, ebenfalls den Mann prüfend, mit träger Stimme, man müsse mit dem Wort »Panik« wohl etwas vorsichtiger umgehn? Flagg dagegen eifert, man müsse den Mut haben, das Kind beim Namen zu nennen! Wo Panik sei, sei auch, eine Ursache, eine reale oder eine fingierte, so oder so!
– So oder so? Hm. Aber man müsse doch etwas dagegen tun, als Schriftsteller und Journalist.
– Wie?
– Auf die enormen drohenden Gefahren hinweisen.
– Man müsse den Menschen Verhaltungsmaßregeln geben, schaltet Clerk sich ein, aber keine Brompülverchen und ähnlichen Unsinn gegen A-Bomben und Lufttorpedos!
Er hat in dem Magazin »Life« einen Artikel aufgeblättert: Wie schütze ich mich bei einem Bombenangriff? Er hält ihn den Journalisten vor die Augen und fährt mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang; hier die Anweisungen: Flüchte hinter einen Baum! Eile sofort in einen Hauseingang! Im Falle einer nahen Explosion blicke nicht nach dem Fenster; der Atomfeuerball steht während zwei Sekunden mit einer Million Grad Hitze in Glut; er verbrennt dich und der nachfolgende Sturm wird dir den Glasstaub der Fensterscheiben ins Gesicht blasen!
»Solch ein Blödsinn! Solch ein verbrecherischer Dilettantismus!« fährt Flagg auf.
»Sehen Sie!« sagt Clerk. »Man muß also einen ganz andern Artikel schreiben!«
»Und zwar unverzüglich!« bemerkt Sherman witternd.
»Aber nicht Sie mit Ihrem kosmischen Gerede!« verweist ihn Clerk. »Die Leute müssen verstehen, was ihnen droht, und daß man ihnen helfen will, und zwar mit solider Hilfe. Wir haben viel Geld und Arbeit hineingesteckt in unsre feuerfesten Stahlbunker. Ich werde mich selbst in einen hineinsetzen, wenn es losgeht.«
»Das gäbe allerdings eine originelle Illustration zu einem originellen Gedanken«, sucht Sherman sich wieder einzufädeln, »Mr. Clerk liest, auf seinem Feldbett liegend – bei einer Million Grad Hitze draußen –, im sichern Clerkbunker unsern ›Daily Citizen‹ …«
»Sie irren, Kollege«, wirft Flagg ein, »in solcher Stunde wird Mr. Clerk zur Beschäftigung seines Geistes den ›Democratic Globe‹ lesen, während draußen die Hölle los ist, die Wolkenkratzer zusammenbrechen und die Erde schmilzt …«
»Der junge Mann hat Phantasie«, stellt Old Josh fest, »er wird den Artikel schreiben; dreihundert Dollar für diesen Anlauf.«
»Vielen Dank; aber ich weiß doch nicht …«
»Was?«
»Ob ich geeignet bin?«
»Ihrem Lande zu nützen?«
»Und noch etwas …«
»Nun?«
»Panik zu erzeugen …«
»Ich will Ihnen etwas sagen, junger Freund«, erklärt Old Josh, indem er mit seinen schweren Händen sich noch ein Stück der Kokosnuß losbricht, »Panik erzeugen, richtig; aber wissen Sie, was Sie noch erzeugen, was auch nicht unwichtig ist: Arbeit erzeugen Sie gleichzeitig, Arbeit für zehntausende Arbeiter, Verdienst, Nahrung, Wohlstand. Reden wir offen wie unter Männern mit Gehirn: Wenn wir Korea nicht hätten, hätten wir heute hier eine Million Arbeitslose mehr, und gäbe es für uns keine Waffenlieferungen für Atlantik und für Europa, so gäbe es hier zwei bis drei Millionen weiterer Arbeitsloser und wahrscheinlich auch für Sie, meine Freunde, keinen Job, keine Presse für Ihre kosmischen Artikel, keine vollen Theater und Parties; so steht die Sache!«
Diese brutale Eröffnung zerreißt den Vorhang und zeigt die Basis. Al Flagg kennt diese teuflische Begründung bis zum Überdruß. Hundert Einwände brennen ihm auf der Zunge; aber er weiß, daß er in einen lebensgefährlichen Strudel geraten ist, bei dem ihm nichts bleibt, als tauchend hindurchzuschwimmen. So erwidert er vorerst nichts. Zum Glück sucht sein Kollege Sherman jetzt das Rennen zu machen; er findet, daß die Panik ein mächtiger Motor des heutigen Lebens sei, daß Clerks Stahlbunker inmitten der nahen Apokalypse den einzigen sicheren Punkt im Bombenhagel – wenn er recht verstanden habe: der Russenbomben – darstelle.
Etwas lange habe es gedauert bei seiner Intelligenz! meint Clerk.
Manchmal stehe einem die eigene Intelligenz im Wege, stellt Sherman fest.
Jetzt, da der tote Punkt überwunden ist, einigt man sich schnell über die Einzelheiten, über Länge, Bebilderung und gute Placierung der Artikel, über die Verwertung durch die Agenturen, durch Radio und Televisor. Erstaunlich, welche Phantasie die Herren mit einem Mal entwickeln, so, als seien latente Kräfte in ihnen entbunden, wie sich ganze Kettenreaktionen in ihnen entladen, wie der schwerfällige Old Josh Feuer fängt und sich geradezu verjüngt, wie er seine Tips gibt; man könnte glauben, es stünden um Mitternacht erregte Spieler mit ihren Jetons um ein Roulett.
Al Flagg spielt mit. Er weiß genau, was es bedeutet, jetzt aus dem Spiel zu springen. Und was bedeutet es, das Spiel mitzuspielen?
*
Clerk tritt mit den beiden Journalisten auf die Terrasse. Er spannt seinen Brustkorb und holt tief Luft. Sein Leben, das seit Monaten auf einem Nullpunkt war, hat neuen Impuls. Er muß sich ausarbeiten. Die Abendluft fordert heraus.
»Reitet einer der Herren?«
Ah, diese Gehirntrichter! denkt er, da beide verneinen.
Drunten an der Koppel trifft er Donald mit seinem Freund, den Doktor und die Mädels. Alle machen mit. Wunderbar. Francis rennt nach »Blue Jeans«, den blauen Farmerhosen, für sich und Susan. Auch Dr. Boyle ist bei der Partie.
Schnell sind die Pferde gesattelt und vorgeführt. Clerk besteigt seinen vom Stallmeister täglich zugerittenen starken irischen Sprunghengst; auch Donald, Francis und Adda erhalten die ihnen vertrauten Pferde. Für Susan ist da ein Apfelschimmel, das zweite Pferd von Mrs. Dorothy, da der ungarische Fuchs nur von ihr selbst geritten wird. Bei dem letzten Tier, einer hohen, nervös tänzelnden Halbblutstute, verzichtet Captain Ferry gern zugunsten des Doktors. Die Kavalkade – Mr. Clerk an der Spitze, der Doktor als Schließender – setzt sich in leichten Trab und hält auf einen Waldweg zu. Bald rückt man paarweise auf. Solange es durch den Wald geht, wahren die Gäule ihre Ordnung, obschon die Stute des Doktors immer tänzelnd mit der Trense im Maul spielt und nach vorne drängt. Francis, die im aufsteigenden Bodennebel neben ihm trabt, findet, daß eigentlich nur diese »stumme Natur« den Menschen anspreche, daß aber all das Gerede heute nachmittag kaum die Luft bewegt habe. Nun gut, man könne nicht mehr in den Wäldern leben. Aber dieser ganze Nervenkrieg sei doch ein direkt unwirklicher Wahnsinn. Die Welt sei voll von Menschen, die guten Willens sind.
Der Doktor meint leichthin: »Natürlich, lauter Menschen, die guten Willens sind – die einen, um zu arbeiten, die andern, um diese arbeiten zu sehen.«
Auch der gute Doktor ist überreizt, denkt Francis; schade!
Vorne sagt Donald zu Adda: »Wenn Vater doch mal etwas Tempo vorlegte! Ich möchte mit dir nachher über die Heide pacen, wer zuerst am Sprunggarten ist?«
»Wir müssen uns an die andern halten.«
»Du willst nicht?«
»Vielleicht morgen.«
Nein, sie möchte jetzt nicht mit Donald um die Wette reiten. Sie weiß, sie kennt im Reiten kein Maß; sie wird gradezu toll, wenn der Gaul im Caracho dahinfegt; sie holt das letzte aus dem Tier heraus; wie eingeseift steht nachher das Pferd dann im Hof, und der Stallmeister wird ihr wieder eine Predigt halten; sie weiß das. Wahrscheinlich bricht wirklich da ein Urahne durch. Sie muß auch an das Taubenschießen denken und an den Blick Donalds, als er ihr zu den zehn Treffern gratulierte. Manches ist nicht gut. Donald war immer ehrgeizig. Und nun war er zum Krieg »zu spät gekommen« und hatte nur eine Auszeichnung erhalten, während die andern ihre Kreuze und Medaillen schon nicht mehr in einer Ordensschnalle unterbringen können.
Da ist die Heide.
Clerk hat zum Galopp angesetzt. Die Gäule, von der offenen Fläche hingerissen preschen jetzt los. Dr. Boyles Stute rast ventre à terre davon, überholt die andern, bis sie Seite an Seite neben Clerks Hengst galoppiert.
»Nanu, Doktor?« ruft Clerk ihm zu, und dann: »Lassen Sie die Zügel locker; es kommen Hürden!«
Dr. Boyle war als Student kein schlechter Reiter; er versteht Clerks Mahnung. Die Tiere aber wissen, daß es heimwärts geht. Sie flitzen – aufs Springen trainiert – über die Hürden, bis sie vor dem eigentlichen Sprunggarten stehen.
»Alles da?« konstatiert Clerk. »Springen sollen mit mir nur Donald und Adda.«
»Erlaub mal, Vater!« protestiert Francis.
»Ich weiß, was ich sage, Kind! – Also los!«
Francis reitet gekränkt mit Susan nach dem Stall, während Dr. Boyle noch dem Springen zusehen will; er nimmt seine tänzelnde Stute, die stallwärts linst, kurz auf Trense. Plötzlich wirft das Tier den Kopf hoch, steigt auf der Hinterhand, geht dann nieder und prescht in Richtung des Stalls davon.
Das alles geschieht so schnell, daß es dem Doktor gar nicht zum Bewußtsein kommt, wie er die Steigbügel verlor, die nun der davonrasenden Stute dauernd in die Flanken schlagen. Ein durchgehender Gaul ist wie ein Wahnsinniger; für ihn gibt es kein Halten, er rast ebenso in den dichten Wald hinein wie gegen eine Mauer oder gegen ein geschlossenes Scheunentor.
Donald hat als erster von der Sprungbahn her das davonjagende Tier beobachtet; er schreit mit aller Kraft Dr. Boyle etwas zu. Adda, die grade den kleinen Graben genommen hat, bemerkt am Ende der Bahn Donalds Blick; sie reißt ihr Pferd herum, sie erkennt, daß es hier nur eine Möglichkeit gibt: quer über die Wiese und den Gemüsegarten die Straßenbiegung abzuschneiden. So prescht sie los – das Wörtchen »Gemüsegarten« klingt hier vielleicht harmlos; aber wenn dieser Garten von einem spitzen Eisenstaketenzaun umschlossen ist, den man zweimal aus kurzem Abstand überspringen muß – Adda denkt nicht daran; sie erblickt das rasende Pferd an der Straßenbiegung, sie zwingt ihr Tier zweimal in kurzem Sprung über das Eisengitter; zehn Meter vor dem heranjagenden Pferd gelangt sie auf die Straße, sie pariert ihren bebenden Gaul dicht vor der angaloppierenden Stute, die mit flockendem Maul zur Seite ausbrechen will; aber da hat Adda sie mit hartem Griff an der Trense gefaßt und ihr Pferd neben sie gedrückt; beide Tiere kommen jetzt in scharfem Trab schnaubend und schaumbedeckt vor dem Stall an, wo der Master und Mac sie übernehmen. Adda und der Doktor sind kaum aus den Sätteln, da traben auch die andern ein.
Sofort fragt Clerk den Stallmeister, wann die Stute zuletzt geritten sei. Und der Master muß zugeben, daß sie die letzte Woche keinen Sattel getragen habe. Clerk wendet sich zu dem Doktor: »Sie haben keine Schuld, Mr. Boyle; ich muß mich entschuldigen. Mit einem durchgehenden Gaul, der den Haferstich hat, ist nicht zu spaßen; das hätte buchstäblich den Kopf kosten können.«
»Nun, Mr. Clerk, mein Kopf ist nicht gerade aus Porzellan.«
»Aber diese Mauer hier ist aus Stein und dieser Torbalken aus Eiche!« erwidert Clerk. »Auf jeden Fall haben wir Adda zu danken!«
»Oh, verzeihen Sie!« sagt Dr. Boyle und gibt ihr die Hand. Addas Haut scheint wie Kupfer; sie wendet sich zu ihrem dampfenden Pferd und führt es vor dem Absatteln im Hof herum.
*
Nach dem Abendessen, bei dem Mrs. Dorothy sich wegen ihrer Migräne entschuldigen läßt, nimmt die Jugend sich Decken und Polster nach draußen mit. Man lagert zwischen den »fünf Eichen«. Man hat aus Reisig und alten geteerten Schwellen ein Feuer angezündet, das vor allem auch die Mücken abhält. So beschließt man, daß jeder eine selbsterlebte Geschichte erzählen soll und daß Dr. Boyle, der mit seinen fünfzig Jahren gleichsam der Gefangene der Jugend ist, beginnen muß; doch möglichst nicht so: Als ich noch Arzt in Nordkansas war, da kam eine alte Frau zu mir, der hatte ein Rentier mit seinem Geweih …
Der Doktor meint, was er denn sonst erzählen solle, da die besten Geschichten und Märchen doch von den Ärzten erfunden würden – nämlich die menschlichen Krankheiten, wobei die Ärzte an Erfindungsgabe nur noch von gewissen Politikern übertroffen würden.
»Jesus Christ, keine Politik!« fleht Francis.
Donald und Captain Ferry schieben noch zwei Holzschwellen in die Glut, daß ein Funkenregen zu den dunklen Eichenästen hochschießt; dann schauen alle wieder in das auflodernde Feuer, während der Doktor seine Erzählung beginnt:
Die Geschichte von dem Horoskop
und dem Tizianbild
Er sei 1944 Arzt in einem Lager für deutsche Kriegsgefangene gewesen, einem ehemaligen Stadion. Dort war auch ein alter deutscher Oberleutnant mit schon völlig ergrautem Haar; dieser Mensch saß stundenlang, ohne sich zu bewegen, auf den obersten Stufen der Kampfbahn und starrte über das Gewimmel der Gefangenen hinweg in die Ferne. Er glich einem Raubvogel in seinem Horst. Es war der bekannte Kunsthändler R. aus Berlin. Eines Nachts, als er, Dr. Boyle, einen Schwerfiebernden im Lager aufsuchen mußte, habe der Kunsthändler ihn gestellt und erregt gefragt, ob er – der Arzt – an Astrologie glaube, an die Voraussage durch die Sterne? Bevor er aber auf die überraschende Frage antworten konnte, habe R. ihn am Arm genommen, ihn zu seinem Horst hinaufgeführt und folgendes berichtet:
Es war Anfang August 1939, in jenen Tagen, da das Zünglein der Waage noch zwischen Krieg und Frieden schwankte. Grade damals habe er einen kleinen, aber einwandfreien Tizian an der Hand gehabt, und zwar lieferbar und zahlbar am 1. Oktober in New York. »Als nun die Kriegsgefahr immer näher heranrückte«, so erzählte R., »besprach ich mich mit meiner sehr gescheiten Frau, ob ich das wertvolle Stück sofort selbst nach New York bringen solle, oder ob es besser sei – da die Plätze I. und II. Klasse infolge der Panik auf allen Schiffen auf Wochen vorausverkauft waren – zu warten und das Bild bei Bekannten in Genf zu deponieren. Meine Frau glaubte nicht an die Möglichkeit eines modernen, totalen Krieges, und zwar deshalb, weil er unlogisch sei, weil sogar die sogenannten Kapitalisten kein Interesse am Chaos hätten. Die Frage war bloß, ob jene sonst so klugen großen Leute hier logisch dachten? Vor allem aber wollte ich selbst in solch einer wichtigen Sache wie der fristmäßigen Lieferung des Tizian nicht glauben, sondern wissen.«
»Was wollte dieser sonderbare Mensch eigentlich wissen?« meint Francis, die nur halb hingehört hat.
»Ob Krieg wird, Schwesterlein«, spottet Donald, »genauso, wie heute gewisse Kunstkenner davon orakeln.«
»Heute braucht man dazu kaum ein Kunstkenner zu sein«, bemerkt Al Flagg.
»Und was wird mit Tizian?« fragt Adda gespannt.
»Nun, da die Frau die Möglichkeit des Krieges verneinte, der Mann sie aber bejahte«, fährt der Doktor fort, »und man unbedingt eine Gewißheit gewinnen wollte, ging man zu einem der berühmtesten Berliner Astrologen. Dieser große Mann habe nun sehr sorgfältig die drei Horoskope aller drei an dieser Sache Beteiligten hergestellt: das Horoskop des Kunsthändlers R., das Adolf Hitlers und schließlich das des Malers Tizian, wobei es gar nicht so einfach war, die fünfhundert Jahre zurückliegende Sternenkonstellation beim Tage von Tizians Geburt zu ermitteln. Dann zeichnete der Astrologe die drei Horoskope – das des Kunsthändlers R., das von Hitler und das von Tizian – auf eine Milchscheibe, beleuchtete diese von unten und stellte aus dem Gesamthoroskop fest, daß es keinen Krieg gäbe und R. also ruhig mit dem Transport des Tizian warten könne. Und nun gab es doch Krieg! klagte der Kunsthändler; an was soll man da noch glauben?«
»An was soll man da noch glauben, hat er gesagt?« Donald biegt sich vor Lachen.
»So erhaben sind wir ja auch nicht bei unsern Methoden«, wirft Adda dazwischen.
»Wie meinst du das?«
»Nun, wenn man glaubt, Marsbewohner könnten uns angreifen oder die Russen hätten letzthin in die Metro eine Atombombe geworfen … das kann schon konkurrieren mit dem Horoskop des Kunsthändlers.«
»Vielleicht behauptest du auch, die Fliegenden Untertassen seien Astrologie?« fährt Donald jetzt los.
Doch Adda meint seelenruhig: »Und wie denkst du über die Hexenprozesse bei uns oder über …«
»Kinder, Kinder, das ist ja, um in die Hängematte zu klettern!« unterbricht sie schnell der Doktor. »Da hatte ich nun wirklich eine Patientin, Betty McRee mit Namen, etwa sechzig Jahre alt, die Gattin eines pensionierten Seeoffiziers; die hatte sich zwei Rippen gebrochen, weil sie aus der Hängematte gefallen war, da ihr Mann – der pensionierte Seeoffizier – darauf bestand, daß sie nachts mit ihm in einer Hängematte schlafe.«
»Das ist die wahre Liebe!« meint der kleine Flagg.
»Nun, Mrs. McRee war nicht dieser Ansicht«, fährt der Doktor fort, »sie klagte mir, während der dreiundzwanzig Jahre ihrer Ehe sei sie über dreißigmal aus der Hängematte gefallen; sie könne sich das heute nicht mehr leisten, sie fange an, alt zu werden, und bitte um ein ärztliches Zeugnis gegenüber ihrem Gatten.«
Während alle noch über diese Hängemattengeschichte lachen, ist Donald aufgestanden und entfernt sich wortlos.
Captain Ferry und Susan wollen ihm nach. Doch Francis hält sie zurück: »Das ist doch Unsinn! Setzt euch! Don ist ein unerzogener Junge!«
Aber man ist nicht mehr so recht bei der Sache. Auch Flaggs Geschichte zieht nicht mehr, wie in Houston Texas die Nationalbank an einem Samstag vormittag von einer drohenden Stimme angerufen wird: Alle Herren sollen sofort das Gebäude verlassen, da es innerhalb zehn Minuten in die Luft gesprengt werde! Worauf der Portier antwortet: Die Herren seien leider bereits weg; man solle Montag früh um neun nochmals anrufen!
Das Feuer ist niedergebrannt; man steht auf und geht zum Haus. Dr. Boyle hält sich zu Adda und bugsiert sie seitwärts. »Sie müssen sofort zu Donald und ihm sagen, daß alles eine Kinderei war! Hören Sie! Mit solchen Sachen wie Hexenprozessen spaßt man in diesem Lande nicht!«
Adda ist erstaunt über den Ton des Doktors.
»Kommen Sie in einer halben Stunde auf die Terrasse!« sagt er. Er schließt sich den andern an, die zum Haus bummeln.
*
Adda weiß, sie hat etwas Falsches geredet. Doch der Grad ihres Fehlers ist ihr nicht klar. Noch nie sah sie den Doktor so ernst; er wird schon recht haben.
Also will sie Donald suchen. Im Haus findet sie ihn nicht. Er ging ja zum Park. Die Nacht ist sternhell. Aber wie soll man in dem riesigen Gelände jetzt jemanden finden? Sie irrt eine kurze Zeit ziellos umher. Von der Sprungbahn streift sie am Gemüsegarten vorbei und kommt auf die Straße, wo sie das durchgehende Pferd aufhielt; sie hört eine zornige Stimme aus dem Stall. Drinnen bei den Boxen flucht Donald gegen Mac: Pferd und Mensch hätten das Genick brechen können, bloß weil die Pfleger zu träge seien, die Tiere täglich zu bewegen! Eine Schweinerei sei das! Beinahe Mord!
Adda ist hinzugetreten. Wie Donald sie bemerkt, verläßt er den Stall. Adda bleibt neben ihm.
»Was ist mit dir, Don?«
Er geht schneller.
»Deine Nerven, Don …«
»Kein Wunder!«
»Was hab ich dir getan?«
»Schlimm genug, daß du fragen mußt! Achte lieber auf deinen Umgang!«
Sie stehen wieder an der niedergebrannten Feuerstelle der fünf Eichen. Die vom Nachtwind aufatmende Glut wirft einen schwachen Schein auf die Gesichter der beiden jungen Menschen. Donalds Augen sind böse.
»Welche?«
»Panik! Bombenpanik!«
»Gibt es die etwa nicht?«
»Und Hexenprozesse?«
»Jeder Mensch spricht davon.«
»Bist du feige?« Er hat sie an der Schulter gepackt.
»Laß das!« Sie will ihn abschütteln; doch er drückt sie rückwärts, bis sie am Stamm einer Eiche Halt findet.
»Wer hat dir das beigebracht? Antwort!«
Er preßt die Sichwehrende gegen den Baum; ihre Brüste treffen ihn wie zwei Steinwürfe. Er will sie niederzwingen. Doch sie ist zu kräftig, sie stemmt sein Kinn und seinen Kopf zurück und reißt sich los.
»Versuch das nicht wieder!« sagt sie. Mit einem Sprung setzt sie über die kaum noch glimmende Feuerstelle und geht zum Haus.
*
Auf der Terrasse, die nur vom Licht der Kandelaber der Freitreppe angeleuchtet wird, haben sich an der Rückwand des Speisesaals zwei Gesprächsgruppen gebildet. An einem Tischchen rechts sitzen der Professor Low, Sherman, Captain Ferry und Susan. Die diskutieren grade über das Problem der kosmischen Strahlung, ferner der Kurzwellen aus dem Weltall und ihrer Erkennbarkeit mittels des Radargeräts und Radioteleskops, eines »Himmelröntgenapparats« – wie es der Professor nennt, weil man mit ihm die Kurzwellenimpulse der Sonne und der Sterne »unter die Lupe« nehmen könne. Dem Captain kommt es nun darauf an, aus Lows Theorie zu folgern, daß die Himmelskörper nicht bloß Lichtwellen aussenden und in der »kosmischen Strahlung« ebenfalls nicht nur atomare Geschosse: Elektronen, Protonen und so weiter, sondern – sogar von unsichtbaren »Dunkelsternen« aus riesiger Entfernung – jene Radiokurzwellen von einer vielmilliardenfach größeren Energie als die Lichtwelle. Während also der Fliegeroffizier den Professor auf das physikalische Phänomen zu fixieren sucht, steuert Sherman immer wieder auf die philosophische Frage der Unerkennbarkeit und Unendlichkeit des Universums hin. Diese These der Agnostiker, daß wir im Grunde nichts wissen können, bedeute aber, daß – Atombombe hin, Flugkörper her – die Entscheidungen nur in der »Grundbefindlichkeit des Daseins« jedes einzelnen zu suchen seien. Hiergegen stößt allerdings in Shermans Gehirn plötzlich wieder drohend und verlockend der hochdotierte Reklameartikel für Clerks Bombenbunker.
Am andern Ende der Terrasse haben sich Francis, Dr. Boyle und Al Flagg niedergelassen. Hier geht es um wesentlich simplere Dinge. Francis findet das Verhalten ihres Bruders »ganz unmöglich«. Die Fliegeroffiziere glaubten wohl, sie seien erneut die Götter des Tages. Der Doktor will das Gespräch ins Medizinische abbiegen: Infolge der ungeheuren Rüstungen und des offenen Kriegsgeredes beginne die hysterische Panik in diesem Lande bereits zu einem Normalzustand zu werden, zumal wenn man sich die Großbombenangriffe auf die Wolkenkratzerstädte ausmale. Der kleine Flagg meint hier, man dürfe andererseits die Menschen nicht wieder in jenen Zustand der Sorglosigkeit fallen lassen, in der Annahme, daß aus diesem oder jenem »logischen« Grunde ein Krieg heute unmöglich sei. Dabei liegt ihm der von Clerk erteilte saftige Werbeauftrag schwer im Magen; er möchte weg von diesem verfluchten Thema. Doch Dr. Boyle doziert weiter, daß es in diesem Lande schon über eine Million registrierter Geisteskranker gäbe und daß jeder zehnte Bewohner nach der Statistik in Berührung mit einem Nervenarzt komme.
»Wobei es bekanntlich zweierlei Lügen gibt«, bemerkt Flagg, »die gewöhnliche Lüge und die Statistik.«
»Nein, spotten Sie nicht!« sagt Francis. »Sie wissen, ich habe großes Verständnis für Exzentrik und Späße; aber was da letzte Woche in unserm College passierte, das kann man auch nur als Massenpsychose bezeichnen. Sie haben von der Geschichte mit der Nackttänzerin gehört?«
»Die ausgepfiffen wurde, weil sie kommunistische Propaganda machte?«
»Sind Sie wahnsinnig? Grade umgekehrt! Man wollte sie zur antikommunistischen Propaganda einsetzen.«
»Können wir nicht etwas leiser reden?« meint der Doktor.
»Wir sind hier in unsrer Ecke«, erwidert Francis. »Zudem wird der Fall noch ein öffentliches Nachspiel haben. Die Sache ist nämlich recht kompliziert. Man hatte ›Die Herrin der sieben Schleier‹ aus einem Varieté für unser Sommerfest als Schlußnummer engagiert. Von geistreichen Kollegen war ihr nun auf den letzten Schleier rechts über dem Gesäß der Sowjetstern gemalt worden und links Hammer und Sichel. Als nun jene Herrin der sieben Schleier die ersten sechs Schleier fallen ließ und sie sich weiter mit dem siebenten Schleier, auf dem die Sowjetembleme standen, produzierte, da interessierte die Kommilitonen sehr wenig die Antisowjetpropaganda; sie warteten vielmehr ungeduldig auf das Fallen des letzten Schleiers. So schrien die Burschen der Tänzerin zu, sie solle nun endlich das Feigenblatt fallen lassen! Die Tänzerin aber war verpflichtet, mit dem Sowjetemblem auf dem Gesäß ihren Bauchtanz auszuführen. Die Boys wurden immer wilder; sie tobten: ›Herunter mit dem Taschentuch!‹ Die Tänzerin war verwirrt, sie hielt inne, sie wollte etwas sagen; doch man brüllte sie nieder, man bewarf sie mit Zigarettenschachteln, mit Jacken, ja einzelne hatten ihre Halbschuhe abgestreift und schleuderten sie auf die Bühne; es war bestialisch. Die Tänzerin auf dem Podium brach schluchzend zusammen. Ich war wie gelähmt …«
Adda ist von der Seite herangetreten; sie will wieder gehen, wie sie den Doktor mit den andern sieht; doch er hat sie bemerkt und ruft sie heran.
»Adda, du hattest recht!« sagt Francis, noch außer sich von ihrer Erzählung.
»Liebe Francis«, beruhigt sie der Doktor, »was Sie da berichteten, ist wirklich keine schöne Sache; aber ich bin doch nicht Ihrer Ansicht, daß Adda eben recht hatte.«
»Weshalb nicht?«
»Wenn Sie gestatten, so möchte ich dies Adda erst allein sagen. Sie beide aber bitte ich, sich drüben auf Sichtweite an einem Tischchen zu plazieren.«
»Eine Verschwörersitzung?« meint Flagg.
Und der Doktor lobend: »Einen Platz hinauf, junger Mann; aber dort an der andern Seite!«
*
Adda hat sich schräg in die Ecke gesetzt, so daß sie den andern den Rücken zuwendet. Dr. Boyle sieht, wie verstört sie ist; er spricht sehr ruhig mit ihr: »Hören Sie, Adda, Sie brauchen mir jetzt nichts zu sagen. Lehnen Sie sich bequem zurück, schauen Sie in die Bäume und hören Sie mir ein bißchen zu. Vielleicht haben auch Sie etwas davon abbekommen, wovon Francis eben erzählte? Das Böse kriecht heute aus allen Löchern. Die Gemeinheit. Die Lüge. Dabei schlägt es – wie bei der mißbrauchten Tänzerin – ab und zu in sein Gegenteil um. Minus mal Minus gleich Plus. Auch in der Medizin ist dies eines der interessantesten Phänomene. Die ganze Serumtherapie beruht darauf: Pockengift gegen Pocken, Diphtherieserum kontra Diphtherie! Der Wiener Arzt Wagner-Jauregg heilte die Paralyse durch Impfung der Kranken mit Malaria! Also Krankheit mal Krankheit gleich Gesundheit! Oder die künstliche Hyperämie bei Furunkulose und Kniegelenkentzündung: künstliche Entzündung mal Entzündung gleich Beseitigung der Entzündung … Verzeihung!« Boyle weiß selbst, wenn er sich auf sein Steckenpferd schwingt, dann ist er für die nächste Stunde verloren. Doch er sieht, wie Adda ihm ernst und gesammelt zuhört. »Ja, der Gesundungsprozeß des sogenannten Heilfiebers«, bemerkt er, »ist bei uns leider noch die Ausnahme. Die Luft ist in diesem Land geschwängert mit Infektionskeimen. Die Kranken gehen durch das Land, sie trinken aus denselben Quellen wie wir und verseuchen sie, sie schlafen in denselben Betten. Darum muß man vorsichtig sein, Adda; verstehst du das?«
Adda nickt.
»Ich kenne dich von Kind auf, Adda; du bist in Gefahr, Adda«, sagt er leiser. (Wie von selbst kommt das frühere Du.) »Übrigens geht es uns allen so, die wir noch ein wenig Verstand behielten. Aber für dich gilt es besonders, Adda. Du bist ein gerechtdenkender und einfacher Mensch, dir sitzt das Herz auf der Zunge. Das ist heute unmöglich. Ich sage es dir. Hast du nicht Donalds Augen beobachtet, wie du von den Hexenprozessen sprachst … mein Gott, wie ein wildes Tier sah er auf dich. Du mußt dir heute dreimal auf die Zunge beißen, Adda, eh du ein Wort herausläßt! Und wenn du es nicht zurückhalten kannst, sag es mir, Adda! Wir wenigstens müssen zusammenhalten!«
Er schweigt.
Adda bittet leise: »Sprechen Sie weiter! Was kann ich tun?«
»Du stellst gleich die schwerste Frage, mein Kind.« Der Doktor überlegt. »Was kann man tun? Nun, wir haben schon einige Möglichkeiten. Siehst du, Adda, im Winter da stellen die Präriepferde sich zusammen gegen den Schneesturm und gegen die Wölfe … die Köpfe zueinander, die Hufe nach außen, ein Riesenpferd. Auch bei uns ist jetzt Wolfszeit, Adda, eine verdammt eisige Zeit; manchmal scheint's mir, als komme das Gute nicht mehr nach oben, weil soviel Dreck und Lüge daraufliegt …«
»Und wenn man einmal eine Mistgabel nähme?«
»Mit der Mistgabel gegen Banken, Stahltrusts, Geheimdienste … ach, Adda!« Er lächelt in ihr ernstes schönes Gesicht. »Aber vielleicht bist du klüger als wir Neunmalweisen. In Frankreich sagt man: un seul homme courageux fait une majorité, was bedeuten soll, daß ein einziger mutiger Mensch schon eine Majorität sei. Darin steckt ein Korn Wahrheit. Bloß, wir müssen heute mehr sein als einer oder zwei; wir müssen die Majorität, die wir ja sind, wirksam machen, damit das Gute so selbstverständlich wird wie das Brot. Aber dazu, Adda, gilt es, nicht bloß mutig zu sein, sondern auch klug.« Er beugt sich etwas vor. »Ich kenne deinen Onkel Ernest, Ernest Lee; ich glaube, auch du könntest zu uns gehören.«
Adda hält seinem Blick stand.
Der Doktor ist plötzlich nicht mehr der heitere, umgängliche Spaßvogel, der für jeden Patienten zu jeder Stunde dasein muß. Sein Gesicht zeigt jetzt eine große Traurigkeit und zugleich Entschlossenheit, als ginge es um Leben und Tod. »Ich habe dir vielleicht schon zuviel zugemutet, Adda?«
»Nein. Bitte!«
»Ich hoffe nicht, daß Ohm Ernest mich tadeln wird. Aber wenn ich die Menschen hier sehe, und was sie treiben, dann scheint es mir, daß wir auf einer sehr dünnen Eisdecke leben, die jede Stunde dünner wird; daß wir keinen Tag, keine Stunde mehr zu verlieren haben, und daß dennoch unser Hauptmut darin bestehen muß, nicht vorzeitig vor unserm Gegner die Brust aufzureißen und unser Herz zu zeigen, sondern vielmehr, klug zu sein, die Freunde zu erkennen und für einen notwendigen Augenblick bereitzumachen. Du verstehst mich, Adda?«
»Ja.«
»Was ist mit deinem Freunde Gene?«
»Er ist bei den Fliegern.«
»Ich weiß; liebt er die Fliegerei sehr?«
»Er fliegt nicht mehr, ist beim Bodenpersonal, Funker.«
»Und vorher?«
»Er war Autoschlosser.«
»Er bekam 45 einen Lungenschuß; er will nicht mehr.«
»Hat er das gesagt?«
»Ja.«
»Und ihr beide? – Nun sag schon!«
»Er … ist das so wichtig?«
»Verzeih mir, Adda – ja.«
»Er achtet mich.«
»Das ist gut, Adda, das ist sehr gut.« Der Doktor lehnt sich zurück; sein Gesicht ist entspannt, als habe er ein schwieriges Problem gelöst; er blickt nun auch zu den dunklen Baumkronen und meint: »Du hast da – vielleicht ohne es zu wissen – mit einem Satz alles gesagt, Adda: Er achtet mich. Denn darum geht es oder sollte es gehen. Im einzelnen wie im ganzen. Schau die nebenan, sie reden sich die Zungen lahm über Atomgeschosse, Geheimwaffen, ferngelenkte Flugzeuge, kosmische Energien oder einen Homunkulus; das ist allerdings nicht der leidende, liebende, andere achtende, rechttuende und sich wehrende Mensch; sie wollen jetzt hier den Krieg ohne Menschen führen, den Krieg mit Hunderttausenden Flugzeugen, mit Giftwolken radioaktiver Luft über ganze Länder, hundert Millionen Menschen wollen sie so in wenigen Stunden ausradieren, sie nicht in Gaskammern, sondern auf offener Straße verdampfen und mit geplatzten Lungen sich zu Tode krümmen lassen; ja, das wollen sie. Da sie aber wohl ahnen, daß kein Mensch dies macht, wenn er einem andern Menschen ins Auge sieht – seine Hand würde vorher erlahmen, sein Herz würde vorher stillestehn – so brauchen sie dazu Flugzeuge, die dies Geschäft aus 10 000 Meter Höhe verrichten, und Flieger mit Sauerstoffmasken vor dem Gesicht; das wäre dann der Krieg ohne Menschen gegen die Menschheit … so denken sie.«
»Das wird nicht sein!« Adda hat heftig des Doktors Hand ergriffen und preßt sie so, daß er hochfährt; sie läßt die Hand wieder los. »Nein, das wird nicht sein!«
»Still, Adda!« sagt der Doktor. »Vielleicht wird es nicht sein; denn trotz allem ist der Mensch die letzte Hoffnung, der Mensch, der sich wehrt, der es nicht zuläßt.«
»Sie können auf mich rechnen, Doktor.«
»Gut, Adda. Und du wirst warten, bis Onkel Ernest mit dir spricht.«
Adda steht auf und verschwindet durch den Speisesaal.