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Zehntes Kapitel

 

18. Pat kämpft mit Adda. Der Plakatentwurf.

Aber sich selbst fragt Adda in diesen Tagen mit zunehmender Heftigkeit: Muß das wirklich sein? und: Was kann man tun?

Ann hatte mit einigen Frauen, deren Männer in Korea stehen, Hunderte Telefonanrufe organisiert, die tags und nachts mit ihren Protesten die Luftabwehrstelle in Atem hielten. Ein Teil der Presse nahm sogar davon als einer gewissen Sensation Kenntnis; so erfuhren die Menschen wenigstens, daß durchaus nicht alle Bürger des Landes die Kriegspolitik der Regierung billigten. Aber konnte diese eine Maßnahme das Räderwerk der gigantischen Kriegsmaschine hemmen?

Vielleicht hatte Pat, der Student und Autoschlosser, recht, daß man in einer größeren Massenorganisation wie der Friedensbewegung, der Arbeiterjugend und der Progressiven mitwirken müsse? Ja, wenn jeder da mitmachte? Aber weshalb macht eigentlich bei einer so klaren Sache nicht jeder mit? Stundenlang liegt Adda nachts und quält sich mit ihren Gedanken. Wie verschieden die Menschen sind, die eigentlich doch eines gemeinsam haben: daß sie leben und nicht sterben wollen.

Doch da ist Donald, der Fliegeroffizier, ein Mensch, und eigentlich schlimmer als ein Tier. Diese Woche hat er sogar hier im Park abends versucht, sie sich zu Willen zu machen. Nur ihre Kraft und Entschlossenheit haben seine Angriffe abgeschlagen; sie wird sich wohl ein kleines Zimmer in der Stadt nehmen müssen, schon um Ruhe zu haben für ihr Studium.

Mit Gene ist jetzt wenig anzufangen. Er hat sie nur einmal kurz aufgesucht, wußte aber wegen des Transportes der Stafettenbotschaft noch keinen Rat; sie merkt, daß auch Gene sich mit etwas quält; er tut ihr leid, sie möchte ihm gern helfen, weiß aber nicht wie. Damals, als sie vor Wochen auf dem Hügel am Meer waren und er fragte: was sie wohl vor hundert Jahren als Indianerin mit ihm gemacht hätte, und er dann zweifelte, ob sich heute das Leben überhaupt noch lohne – auch da hätte sie ihm gern eine hilfreiche Antwort gegeben; sie entsinnt sich bloß nicht, ob sie darauf wartete, daß er ihr entgegenkam und sie umarmte, oder ob sie ihn abschlug? Gene ist stets so zurückhaltend; das ist angenehm und doch erschwerend; sie wünschte ihn entschlossener.

So wie Pat.

Sie hat Pat nicht in der Werkstatt angerufen; aber er hat ihr zwei Broschüren geschickt: eine über die Warschauer Friedenstagung und die andere über die Konferenz des Berliner Weltfriedensrates mit der Rede des Reverend John Darr. Er hat sie also nicht vergessen. Und sie erinnert sich, wie er noch einmal nach dem Alarm zurückkam und sagte: »Wir müssen uns sprechen!«

Ob Pat sie respektiert?

*

Und dann erwartet Pat sie wirklich an der Abendschule. Sie ist erschrocken, oder erfreut?

Er nimmt ihre Mappe und schlägt irgendeine Kneipe vor, weil er selbst von einer Versammlung komme und noch nichts gegessen habe. Man findet in der Ecke eines Restaurants einen kleinen runden Tisch, den sie behüten soll, während er am Büfett das Essen holt. Adda wundert sich, daß Pat gar nicht gefragt hat, was sie wünsche? Tatsächlich kommt Pat mit zweimal der gleichen Portion kalten Koteletten mit Kartoffelsalat und Mixed Pickles zurück, und danach noch mit zwei Gläsern Bier.

Adda erklärt ihm todernst, sie sei Vegetarierin; er müsse jetzt beide Kotelette essen!

»Oh, Verzeihung!« Er springt auf und will zum Büfett.

Sie hält ihn. »Sie haben mich ja wieder nicht gefragt. Ich sehe, Sie besitzen wenig Erfahrung mit jungen Frauen.«

»Wann hätte man dazu Zeit in diesem Leben?«

Adda lächelt und beruhigt ihn. »Nun, bleiben Sie schon! Ich werde das Kotelett essen und Ihnen zuhören.«

Pat scheint wirklich hungrig zu sein. Er ißt schweigend und mit Genuß. Adda gefällt diese Ungeniertheit; dabei beobachtet sie, wie Pat beim Essen immer wieder innehält und offenbar über eine Sache nachdenkt. Er hat das letzte Gürkchen der Mixed Pickles mit einem Knack zerbissen, schaut sie an und fragt: »Sie haben noch während des Alarms die Wolldecke vom Fenster gerissen und die Abdunklung mißachtet; war das ein Protest?«

»Ich wollte meine Schwester wärmen.«

»Das war alles?«

Adda blickt ihm mitten in die Augen.

Und wieder bemerkt Pat den trotzigen Ernst dieses Mädchens, und wieder bemerkt er die angespannten Wülste über den Augenbögen in dem bronzefarbenen, herben Gesicht.

»Ich glaube«, erwidert sie, »damals erwähnten Sie den Satz eines französischen Schriftstellers: daß diejenigen, die ein Unrecht zulassen, ebenso schuldig seien wie die, welche es tun. Ich habe in letzter Zeit öfters daran denken müssen.«

»Wirklich?«

»Damals rannten bei dem Alarm die Kinder allein in die Nacht, und heute …«

»Was ist heute?«

Adda schweigt einen Augenblick; dann sagt sie leiser: »Heute ist es meine Schwester Beß; sie blieb letzte Woche zwei Nächte fort.«

»Aus Angst?«

»Wenn Sie es so nennen wollen. Sie war mit dem jungen Robby aus Ihrer Werkstatt zusammen, bevor er eingezogen wurde; sie ist heute mehr tot als lebendig.«

Pat fühlt Addas Spannung und Schmerz; er hält sich zurück, er will sie nicht drängen; hier ist etwas in Bewegung, das sich hindurchbohren muß; er schweigt. Und Adda nähert sich ihm, als könne sie aus ihm etwas herausholen; sie beugt sich zu ihm, daß sie in dem geräuschvollen, dunstigen Lokal mit diesem Menschen allein sei und leiser sprechen könne. »Das greift jetzt immer tiefer in unser Leben … und wir können nichts dagegen tun? Unerträglich!«

Pat schweigt.

»Wie hat denn der Robby sich Ihnen gegenüber verhalten?« fragt Adda gereizt. »Ich meine, man muß sich von seinen Kollegen doch verabschieden? Wie ist das?«

»So wie es bei den meisten von uns ist, Adda. Wir sind dann verlegen, wir ahnen, daß wir eine riesige Dummheit begehen, daß man uns vielleicht zum Tode abholt wie ein Tier zur Schlachtbank, und das wollen wir uns natürlich nicht eingestehen; das wäre doch eine Schande, geradezu zum Sichschämen, so was bis zu Ende zu denken.«

»Vielleicht denkt man dann überhaupt nicht?«

»Doch, Adda, doch! Der Robby wußte genau, worum es ging. Er schenkte mir sein bißchen Privatwerkzeug: den Zündkerzenprüfer, einen Satz Spezialschlüssel für die Türen und so. Er sagte: ›Nimm das, Pat; ich brauch es nicht mehr.‹«

»Das ist furchtbar.«

»Ja, Adda, es ist furchtbar, wie feige der Mensch ist – weil nämlich viel mehr Mut dazu gehört, nicht in den Krieg zu gehn, als in den Krieg zu gehn. Sehen Sie, Adda, wir mußten im Dezember 1944 einmal als schnell zusammengerafftes Häufchen der Autokolonnen mit der Infanterie gegen eine deutsche MG-Stellung anrennen. Das war gewiß kein Zuckerlecken; kaum einer, dem nicht die Zähne klapperten. Aber dann später, nach dem Waffenstillstand, da stand ich einmal unserm Major gegenüber, ich ganz allein, in der Hand einen Essenkübel mit dicker Bohnensuppe, die in unsrer Küche übriggeblieben war; die wollte ich den deutschen Kriegsgefangenen und meinem Freunde Hans Böttger bringen. Der Major fuhr mich nun an, ob ich nicht wisse, daß dies verboten sei? Er gab dem Blechkübel einen Tritt, daß die Suppe überschwappte und in den Dreck floß.

»Und was taten Sie?«

»Sehen Sie, Adda, das war der Moment! Ich zögerte und wollte den Essenträger wieder zurückbringen. Ich stand ja allein, und der Major stand drohend vor mir; aber dann nahm ich allen Mut zusammen und sagte: ›Es kann nicht verboten sein, Herr Major, hungernden Menschen Essen zu bringen!‹ Und ich nahm den klirrenden Essenkübel und ging, ohne des Majors Antwort abzuwarten, weiter auf den Stacheldraht zu …«

»Und der Major?«

»Ich dachte, daß er mich zurückruft, vielleicht sogar, daß er schießt. (Damals saßen die Patronen noch verflucht lose im Lauf.) Aber sosehr ich anfangs allen meinen Mut bis zur letzten Reserve hatte zusammenkratzen müssen – hundertmal mehr als beim Angriff auf die deutschen MGs –, jetzt nach dem Entschluß war mir plötzlich ganz leicht, ich kümmerte mich den Teufel um den Major, ich ging einfach auf die Lagerpforte zu.«

»Sie denken, dies alles sei eine Frage des Muts?«

»Des Erkennens und des Muts.«

»Gut. Aber was hätte Robby dann tun sollen?«

»Was bereits hunderte Jungens getan haben in New York, Chikago und Boston: den Einberufungsbefehl zerreißen.«

»Hören Sie, Pat«, sie dämpft ihre Stimme noch mehr, »Beß erzählte mir, daß die F.B.I.-Burschen Robbys Vater unter Druck gesetzt haben wegen seiner Verhaftung auf der Polizeiwache und vor allem wegen seines Umgangs mit Ohm Ernest und mit Ihnen.«

»Mit mir?«

»Ja.«

Pat überlegt.

»Sie sollten selbst etwas vorsichtiger sein, Pat!« sagt Adda. »Sie wissen besser als ich, wie schnell man die Menschen als ›Subversive‹ und ausländische Agenten verhaftet.«

»Ich weiß!« fährt er los. »Natürlich weiß ich, daß sie am liebsten uns alle vor Gericht ziehen und zu fünf Jahren verdonnern möchten …«

Adda stößt ihn an; sie legt ihren Arm um seine Schulter und redet unsinniges Zeug auf ihn ein von Filmen, vom Baseball, von der Abendschule; sie lacht laut auf. Pat macht das Spiel mit. Er geht zum Büfett und kommt mit einer Flasche Malaga zurück.

»Sind Sie wahnsinnig?« fragt Adda.

»Kriegsspesen.«

»Damit müssen Sie nun allein fertig werden.«

»Dann muß ich wohl meinem Herzen allein und nicht zu knapp Luft machen«, erklärt Pat und schenkt in die beiden Gläser den schweren Wein. »Sie sind jetzt mein Partisan, Adda; wir haben das Wichtigste noch zu besprechen!« sagt er leise und stößt mit ihr an: »Auf das Unsere!« Er trinkt das Glas durstig leer, während Adda nur einen Schluck tut. »Es ist die alte Sache, Adda; tausend und zehntausend kann man ganz gut verhaften, aber hunderttausend und eine Million schon nicht mehr. Es bleibt also die nicht einfache Frage: Wie kommen wir zu dieser Million? Nicht zu der Million, die ihre Unterschrift hergaben, sondern zu der Million, die auch ihre Verhaftung nicht fürchten?«

»Ja, das ist die Frage.«

» Sie können diese Frage beantworten helfen, Adda.«

»Deshalb wollten Sie mich sprechen?«

»So ist es, Adda.«

»Und was wäre für mich zu tun?«

Pat schenkt sich nochmals sein, als müsse er sich zu dem Folgenden Mut machen; er erklärt dem großen Mädchen, das ihm mit ganzer Aufmerksamkeit zuhört, daß sie sich der Liga der Fortschrittlichen anschließen könne oder der Arbeiterjugend; es handle sich hier nicht um eine allgemeine Unterschriftensammlung etwa für den Berliner Appell, sondern um eine direkte Protestbewegung gegen den Koreakrieg und gegen die Zwangsrekrutierung.

Und worin ihre Verpflichtung bestehe?

Vor allem an den Versammlungen gegen den Koreakrieg und die Einberufungen der Achtzehnjährigen teilzunehmen.

»Auch Flugblätter verteilen?«

»Auch das.«

»Und wenn man mich verhaftet? Ich habe noch nie darüber nachgedacht, Pat; es kann sein, daß ich das nicht fürchte. Aber wenn man mich als ›ausländische russische Agentin‹ bezeichnet und dann auch meine Schwester entläßt«, fragt Adda erregt, »und vielleicht meinen ganz ahnungslosen Vater aus dem Häuschen wirft?«

»Glauben Sie nicht, Adda, daß mindestens die Hälfte unsrer Mitbürger die gleichen oder ähnliche Gründe anführen können, um dem wirklichen Kampf für den Frieden fernzubleiben?«

Beide schweigen.

Pat schaut durch den Dunst, der sich an der Decke des Raums verdichtet, zu einer Lichtkuppel; sie ist wie eine imaginäre Sonne umgeben von einem leuchtenden, sie langsam umkreisenden Ring, ähnlich der Sonnenkorona auf der Kreuzigung Grünewalds. Der Kunststudent Pat Dutt muß auch an die Sonnenringe auf den Holzschnitten Frans Masereels denken; auch dort gibt es junge Menschen, die im Kampf zusammenstehn. Vielleicht hat er sich in dieser Adda getäuscht und soll den ganzen Versuch abbrechen? In seiner Mappe stecken noch zwei Zeichnungen, seine Entwürfe für ein Plakat, und auch der Brief seines Bonner Freundes, des deutschen Geschichtsstudenten. Er späht schräg hinüber zu Adda, die mit einer dunkelroten Spur des vergossenen Malagaweins auf dem weißen Marmortischchen seltsame Figuren zieht; sie spürt seinen Blick und schaut ihn an: »Gewiß sind Sie über mich enttäuscht?«

»Ich war wohl zu ungeduldig.«

»Lassen Sie mir etwas Zeit, Pat!«

Er atmet auf und bittet sie, doch auszutrinken. Sie hebt ihr Glas, nickt ihm zu und stößt mit ihm an. »Auf den Mut!« sagt sie.

Sie leeren die Gläser.

Dann fragt Pat in unbeschwertem Ton, ob er ihr einen Plakatentwurf zeigen dürfe?

Wie? Er zeichne?

Ein Kunstwissenschaftler müsse schließlich auch etwas vom Handwerk verstehn, so wie ein Dirigent einige Instrumente spielen müsse. Er holt aus seiner Mappe einen großen Zeichenblock und schlägt das Deckblatt zurück. Da ist der Plakatentwurf: zweiteilig, schwarz-weiß, mit Tusche und einer groben Feder schnell hingeworfen – auf der linken Seite eine koreanische Frau, die aufschreiend ihren Säugling durch eine brennende Stadt mit kleinen zerbombten Häusern trägt; auf der rechten Seite aber rennt eine verzweifelte amerikanische Mutter mit ihrem kleinen Kind auf dem Arm durch eine brennende Straße, über der die Wolkenkratzer zusammenbrechen. Über der koreanischen Mutter steht: HEUTE!, über der amerikanischen: MORGEN?

Der Entwurf, so einfach er ist, so zwingend ist er in seiner klaren Formsprache. Adda betrachtet ihn lange; dann legt sie ihn etwas schräg, als müsse sie ihn auch aus einer andern Perspektive prüfen. Jetzt reicht sie den Zeichenblock Pat zurück, indem sie schnell sich über die Augen fährt. »Verzeihen Sie, es war wegen Beß. Da habe ich Ihnen noch die Zeichnung verdorben.«

Auf dem Blatt sind nun einige Flecke wie Tintenkleckse oder Spuren von Tränen. Adda – vielleicht um den Eindruck ihrer Schwäche zu beseitigen – meint jetzt aggressiv: »Ihre Zeichnung appelliert stark an das Gefühl; aber ist sie auch richtig?«

»Wie?«

»Ich meine, ob sie auch wahr ist? Eine halbe Wahrheit ist keine Wahrheit.«

»Und wo ist da die halbe Wahrheit?«

»Die halbe Wahrheit besteht darin, daß Sie den furchtbaren sichtbaren Zustand der brennenden Stadt und der gehetzten Mutter exakt aufzeigen; Sie zeigen jedoch nicht den andern, unsichtbaren Teil der Wahrheit: die Urheber dieser Kriegsbestie.«

»Muß ich wirklich noch den Mann von Wallstreet dahinter zeigen?«

»Nur diesen?«

»Was soll das?« fragt Pat erregt.

»Weshalb verlangt die Sowjetunion von den Nordkoreanern jetzt nicht, daß sie zwanzig Kilometer nördlich des achtunddreißigsten Breitengrades den Waffenstillstand abschließen?«

»Mein Gott, Adda, sind Sie wahnsinnig? Ist das Ihr Ernst? Glauben Sie wirklich, daß die Sowjetunion auf die Koreaner in ihrem Kampf um Sein oder Nichtsein einen derartigen und dazu noch unsinnigen Druck ausüben könne?«

»Ein totalitäres System kann alles!« stößt Adda hervor. Sie erschrickt selbst vor dem Wort; sie erschrickt vor sich selbst; aber sie kann und will nicht mehr zurück. Es gibt Momente, da man gegen sich selbst redet und handelt, da gewissermaßen ein andrer aus einem spricht, der Mund des Gegners, die unterdrückte Stimme nicht zu Ende gedachter Zweifel und Gedanken. Und wie Pat sie wortlos anblickt, hält sie dies für Hochmut und steigert sich in einen bittern Zorn: »Jawohl, euer totalitäres System! Das geht bis ins Kleinste und Persönlichste! Haben Sie mich vorhin etwa gefragt, was ich essen möchte? Sie haben mir das gebracht, was Ihnen schmeckte. Haben Sie mich gefragt, ob ich Wein trinken will? Sie haben ihn einfach gebracht, weil es Ihnen so gefiel. Sehen Sie, ihr mißachtet den Geschmack und die Meinung des andern im großen wie im kleinen; können Sie es leugnen?«

 

19. Tote Katzen übern Zaun. Der Brief aus Deutschland.

Pat steckt wortlos den Zeichenblock in seine Mappe. Was soll er dazu sagen?

Adda hält seine Hand fest. Sie nimmt sinnlos die Mappe an sich. Die hellen Augen in ihrem dunklen Gesicht phosphoreszieren. »Und hochmütig seid ihr dabei auch!«

»Ihr?«

»Jawohl – ihr!« Dann aber fährt sie ruhiger fort: »Sie wissen ganz gut, Pat, daß ich alles andre bin als ein Feind der Sowjetunion, daß ich dies Volk bewundre, seine Künstler, die Musik, die Bücher, die ergreifenden Filme; ich bewundre auch seine weitblickenden Staatsmänner, die solch ein riesiges Land ohne Streiks und Verwirrungen zum Wohlstand führen. Aber eines lehne ich strikte ab, daß alles dort unbedingt richtig sei, bloß, weil es dort geschieht, diese Unfehlbarkeit, dieses Diktatorische, dieses totalitäre System, mit einem Wort diesen den menschlichen Willen vernichtenden Kommunismus!«

»Das ist ein bißchen viel auf einmal«, erwidert Pat.

»Sie spotten, weil Sie nichts zu antworten wissen!«

»Oder weil es mehr ist, als Sie an einem Abend in sich aufnehmen können.« Pat, der sich mit diesem hoffnungslosen Fall schon nicht mehr beschäftigen wollte, ist plötzlich entschlossen, Adda rücksichtslos auf den Nerv zu fühlen. »Totalitäres System – Diktatur – Kommunismus? Fremdworte sind Glückssache, Adda! Verzeihen Sie; aber ich behaupte, Sie verstehen von diesen Worten genausoviel wie ein Star der Metropolitanoper oder wie Mr. Truman. Man merkt, Sie haben Zeitungen gelesen – bloß was für Zeitungen? Danach ist jeder, der links von Ludwig dem XIV. steht, ein Kommunist! Danach ist der Kommunismus noch immer jene Teufelslehre, die erlaubt, daß Männer und Frauen kreuz und quer unter einer Wolldecke schlafen, daß ohne Stalins Genehmigung niemand auf die Welt kommen, heiraten oder sterben darf, und daß ein kluger Mensch dort den gleichen Lohn erhält wie ein Idiot.«

»Sie wollen mich wohl selbst wie einen Idioten behandeln, Pat; ist das fair?«

»Darf ich Sie dann fragen, was Kommunismus ist?«

»Man hat doch Augen im Kopf!«

»Ist das eine faire Antwort?«

»Und was sind Sie selbst?«

»Gut; so erklären Sie mir bitte: Worin besteht mein Kommunismus?«

Adda schweigt.

»Sie sind kein Einzelfall, Adda. Zehntausende, Hunderttausende, Millionen Menschen in unserm Lande sind in Ihrer Lage, sind gedankenlose, aber darum nicht weniger gefährliche Ignoranten. Bernhard Shaw, dem Sie vielleicht mehr glauben als mir, hat einmal gesagt: die Menschen wüßten einfach nicht, was dies Wort Kommunismus bedeute; sie würfen es ihrem Gegner an den Kopf, wie streitsüchtige Vorstädtler einander tote Katzen übern Zaun würfen. Ein Mensch aber – so sagt Shaw –, der nicht im Grunde Kommunist ist, sei kein zivilisierter Mensch.«

»Shaw ist ein großer Spötter; das ist bekannt«, sucht Adda auszuweichen. »Doch ich bin überzeugt, auch er lehnt das totalitäre System ab.«

»Bestimmt, Adda, bestimmt lehnt er es ab, gedankenlos solche Worte zu gebrauchen; er sagt sogar, daß eine dieser ›toten Katzen‹ gerade sich ›totalitäres System‹ nenne, eine andere ›Polizeistaat‹, eine dritte ›russische Aggression‹, und daß es eine traurige Tatsache sei – auch das erklärte er kurz vor seinem Tode –, daß alle diese toten Katzen von uns gerade in dem Augenblick übern Zaun geworfen würden, in dem wir selbst unsre beste Arbeitskraft in dies sinnlose Rüsten steckten und unsre produktive Friedensindustrie abwürgen ließen; kann man das etwa bestreiten?«

»Man sagt, wir müssen stark sein, uns zu verteidigen.«

»Die tote Katze, Adda, die tote Katze!« Pat spürt, wie Adda mit dem Rücken gegen die Wand kämpft; es kommt darauf an, daß dieses ernste, starke und nachdenkliche Mädchen jetzt die Waffen streckt. »Uns verteidigen, Adda? Deshalb bauen wir für Milliarden riesige Flugzeugstützpunkte in England, Italien, Deutschland, Afrika und der Türkei? Deshalb machen wir im Atlantikpakt, der weitere Milliarden verschlingt, ganz Europa zu einem einzigen Heerlager und lassen in Deutschland die alten Nazigenerale eine neue deutsche Armee mit unserm Geld bewaffnen? Hier, bitte, lesen Sie, was ein deutscher Student aus Bonn am Rhein an mich schreibt!« Er hat aus seiner Brieftasche ein Papier hervorgezogen, entfaltet es vor Adda auf dem Tisch und beginnt – mit dem Zeigefinger einzelne Stellen unterstreichend und langsam übersetzend – ihr vorzulesen:

 

… wenn Du jetzt zu uns an den Rhein kämst, lieber Pat, Du würdest dich wundern, d. h. Du würdest Dich gar nicht wundern, weil es Dir nämlich scheint, Du bist überhaupt nicht von hier weggewesen; überall steht wie je munter Eure Army und der Tommy; auch die edlen Nazis findest Du allerorts wieder in verschiedenster Preislage in den Grenzschutzformationen, in der Polizei und in den neu aufgestellten Einheiten, wo sie auf den Kasernenhöfen Griffe bimsen und von Euren Sergeanten gebührend durch den Kakao gezogen werden – our temporary way of life. Die Sache geht also in Ordnung. Was aber kann dabei solch ein Vögelchen wie ich machen? Schicksal nimm deinen Lauf! Oder wie Hamlet sagt: Es fällt ohne die Vorsehung kein Sperling vom Dach – doch mit der Vorsehung fallen sogar ganze Divisionen. Nun aber zu mir. Du fragtest, Patty, wie mein Studium vorwärtsschreitet? Nun, zur Zeit schreitet es nicht, sondern es steht Gewehr bei Fuß, um in der gewohnten Sprache zu bleiben; oder neuzeitlicher ausgedrückt: Wer soll denn das bezahlen? Damit meinen wir nicht etwa die paar Dutzend läppischer Milliarden für Eure herrlichen Boys und die noch herrlicheren Offiziere samt Damen, Kinderchen und Bedienung, ferner deren Wohnungen mit Punsch-, Wein- und Sektgläsergarnituren, sondern die etwa hunderttausend Mark Stipendien für uns Studenten …

 

»Weshalb arbeitet er denn nicht wie Sie als Werkstudent?« fragt Adda lebhaft. »Wie kann er sonst weiterstudieren?«

»Wie und warum und warum nicht, hören Sie!« Pat deutet, während ihre Köpfe im Eifer des Lesens aneinanderstoßen, weiter übersetzend mit dem Finger auf die Zeilen:

 

… siehst Du, Patty, da war ich grade beim Mommsen in der Geschichte des alten Rom – schreiben kann der Bursche! Aber meines Erachtens zu sehr verliebt in den antiken Typ des civis romanus, vor dem die ganze andre Welt ein Häufchen Mückendreck ist. Dafür sind jetzt der altfranzösische Roland und Tristan meine ganze Wonne … d. h. aus ist's! Drei Wochen war ich Nachtportier in einem Hotel in Köln; dann hat mich ein stellenloser junger Arzt dort hinausgedrängt; jetzt bleibt nur noch Gelegenheitsarbeiter, Schieber in »echten« alten Holländern à la Teniers, van Delft oder Brueghel, auf die Eure Offiziere scharf sind wie Hechtsuppe, oder rein in die neuen Formationen! Es wird Dich interessieren, bloody old boy, daß grade wir alten Flieger stark gefragt sind. Gewiß, der Iwan will keinen Krieg, das weiß jeder …

»Der Iwan?« Adda ist ganz erhitzt. »Das ist doch der Russe?«

»Natürlich. Also weiter!«

 

… aber Mr. Eisenhower habe erklärt, man müsse diesmal Schluß machen mit dem totalitären System und den Sowjets …

Pat blickt seitlich auf Adda, die gespannt auf die engen Zeilen des Briefes starrt, den Pat Satz für Satz übersetzt.

 

Nun, Mr. Eisenhower hat auch ein ganz nettes System: Viele Dörfer werden jetzt bei uns dem Erdboden gleichgemacht, genau wie im Krieg. Wozu? Als Flughäfen, Schießplätze, Truppenübungsplätze für die Army. Tausende Bauern, deren Väter und Großväter schon dort wohnten, müssen wandern. Überall siehst Du Aufschriften: »Ami go home!« An allen großen Flüssen werden Sprenglöcher in die Brücken gebohrt, die Rheinstraße an der Lorelei ist unterminiert; unsre Jugend mauert die Sprenglöcher zu und schreibt an die Brückenbogen und Felsen: »Ami go home!« Und werden sie verurteilt, so steht an den Gefängnissen: »Ami go home!«

»Wir müssen die Botschaft der Friedensstafette endlich befördern! Wir müssen Gene hinzuziehen!« fordert Adda erregt. »Hören Sie, Pat, auch er muß diesen Brief lesen!«

»Bitte sehr!« sagt Pat, und fährt fort:

 

… da gibt's natürlich auch bei uns noch eine andre Jugend, Patty, sozusagen made in USA, unsre Pin-up-girls und Taxigirls, unsre »Veronikas« von fünfzehn bis fünfunddreißig Jahren. Letzthin brachte sogar die Münchner Illustrierte ein SOS »Kinder in Gefahr« mit dem meiner Meinung nach unangenehmen Bild einer solchen halbnackten Fünfzehnjährigen. Darunter stand, daß bei uns die Jugendkriminalität rapide ansteige, daß in unsrer Bundesrepublik zweihunderttausend Jugendliche ohne Lehrstellen seien, und ähnliches. Wo soll das hin, Patty? Glaubst Du, diese Mädels und Jungens sind auf die Dauer begeistert von den wackeren GI-men? »Ami go home!« steht an allen Mauern und Wänden.

»Kann ich den Brief abschreiben, Pat?«

»Ich möchte ihn erst beantworten.«

»Und ich möchte, daß Gene das alles liest!«

»Und welche Konsequenz wird er daraus ziehen?«

»Sie trauen ihm nichts zu?« fragt Adda. »Verstehen Sie doch, man muß Gene helfen!«

»Richtig, Adda, man muß ihm helfen, bis zu einem gewissen Grade; richtig! Aber das Entscheidende muß der Mensch doch selbst tun; sonst ist es nicht sein Leben, sondern das des Helfers; an einem bestimmten Punkt – denke ich – muß der Mensch sich selbst helfen, sich selbst entscheiden, sich selbst emporreißen.«

»Und wenn er auf halbem Weg stehenbleibt?«

»Wenn Sie ihm dort helfen, wird er nie gehen lernen, wird er das nächste Mal wieder auf halbem Wege stehenbleiben und sich mit einer halben Wahrheit begnügen. Die halbe Wahrheit ist aber, wenn man es dabei beläßt, nicht einmal eine halbe Wahrheit«, erklärt Pat leidenschaftlich, »sie ist gar keine Wahrheit!«

»Auf jeden Fall müssen wir ihm den Brief zeigen!« beharrt Adda. »Schließlich kämpfte auch er gegen die Deutschen und wurde an der Front schwer verwundet; aber Sie glauben, nur Sie allein sind zu allem fähig.«

Pat schaut sie nachdenklich an und erwidert: »Wenn ich auch manchmal etwas aufdrehe, Adda, glauben Sie mir, auch ich habe nicht immer gute Zeiten; dann frage ich mich, weshalb es in diesem Land so schwer ist, nur einem einzigen Menschen zu sagen, was wirklich bei uns geschieht. Sehen Sie, was hier mein Freund Böttger schreibt; auch ihm ist das aufgefallen:

 

Und wie denken die Menschen eigentlich bei Euch, Patty? Da müßte doch auch bei einigen der Groschen fallen? Oder nicht? Die amerikanischen Bücher, die wir hier zu lesen bekommen, sind wie die Hollywoodmärchen: entweder die unerhört neuen dreieckigen Problemchen der piekfeinen Leute mit einem reichlichen Schuß Perversität oder philosophisch parfümierter Weltuntergang in verschiedener Preislage. Wobei ich immer an unsern gemeinsamen Theaterbesuch vor Deiner Abreise denken muß, weißt Du noch: Thornton Wilders »Wir sind noch einmal davongekommen«. Ich finde, Patty, wir sind gar nicht davongekommen, sondern eigentlich wieder mittendrin – allerdings ohne die Arche Noah. Und dann die faule Mystik Eures Saroyan oder Norman Mailers Südseebrunst unterm MG, dafür kaufe ich mir hier weder ein paar Stiefel noch 'nen Teller warme Suppe.

»Vielleicht verstehen wir den deutschen Studenten besser«, meint Adda aufmerksam, »als uns Amerikaner untereinander.«

Pat lächelt. »Wissen Sie, Adda, wir haben uns zu sehr an die gleichen Eindrücke tagtäglich auf der Straße, in den Cafeterias, in unsrer Redeweise gewöhnt. Wir müßten es einmal so machen wie die Maler; um ›das Auge abzuwaschen‹, bücken sie sich tief und schauen die Welt von unten durch die Knie; alles sieht da plötzlich ganz anders und neu aus. Vielleicht könnte ein Fremder unser Land richtiger sehen als wir selbst. Auf etwas Ähnliches will auch mein Freund hinaus, wo er am Schluß von Büchern schreibt:

… klar, daß Ihr auch andre Burschen habt! Weißt Du noch, Patty, Du gabst mir einmal durchs Drahtverhau die fabelhafte antifaschistische Sache »The cross and the arrow« von Albert Maitz. Teufel, wie der Bursche über Deutschland mit allem Drum und Dran Bescheid wußte, ohne je hier gewesen zu sein – allerhand! Ich glaube, Patty, das Wichtige ist: die Grundbestände richtig zu sehen. Es gibt ja sowieso im Zeitalter des Funks keine Entfernungen, und was so ein richtiger Schriftsteller ist, der stellt die Welt sich überall her, der hat den Röntgenblick in der Pupille und seine Radiomembran im Ohrchen, und, wie schon gesagt, die Grundbestände im Köpfchen; damit schafft er's.

Also, Patty, schick mir doch einmal ein Buch, aber bitte nicht diese ewigen Kriegsgruselschmarren von Whisky, Mord, Weibern und Tropenhölle wie »The Naked and the Dead«; hat mir wenig imponiert. Da waren übrigens Jungens von uns letzthin über der Elbe, haben sich in Berlin und im roten Sektor die Uni angesehn; einer ist gleich drüben geblieben. Ein andrer, Kommilitone von mir, hat da ein Stück über Eure USA gesehen, von einem Russen geschrieben, »Die Stimme Amerikas« oder so, sei toll gewesen, alles haargenau, saß wie Haut. Aber ich möchte von Dir selbst was hören! Also, Patty, heraus mit dem Pfefferkuchen!

Schicke mir ein paar gute Bücher, nicht bestsellers, sondern snipers of the reality! Und reiße Dir umgehend einen ebenso langen Riemen von der Seele, wie es mit diesem Brief tat

Dein getreuer, z. Z. cand. phil. a. D.
Heinz Böttger


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