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In Wirklichkeit aber war etwas ganz anderes geschehen, das die Kinder als ihr großes Geheimnis bewahrten.
Ann Lee, deren Mann Mac in Korea vermißt wurde, hatte mit ihrer kleinen Tochter Ille oft über deren Vater gesprochen; sie hatte hierbei das Kind nicht mit leeren Worten vertröstet, sondern ihm richtig erklärt, worum es ging, und daß man jetzt auch um die Väter der anderen Kinder und um den Frieden kämpfen müsse. Bei dieser Gelegenheit bekam die kleine Ille auch Bilder vom Berliner Weltfriedensrat mit den amerikanischen Delegierten zu sehen und ein Blatt mit dem Aufruf. Natürlich verstand sie längst nicht alles; aber soviel wurde ihr klar, daß der Krieg ihr den Vater genommen hatte.
Ann tat nun die Aufrufe in Umschläge ohne Adresse, und Ille durfte mehrmals die »Briefe« frühmorgens unbemerkt in die Briefkästen der Häuser eines Nachbarviertels stecken. Das blieb ihr und ihrer Mutter Geheimnis. Jedenfalls war die kleine Ille mit Feuereifer bei der Sache.
Eines Tages sagte Mutter Ann zu Ille, sie müßten eine Zeitlang mit den »Briefen« aussetzen. Man habe einige Kollegen wegen Verbreitung des Friedensappells entlassen.
Die kleine Ille schien zuerst sehr traurig. In ihrer Phantasie rettete sie mit jedem der geheimen Briefe einen der mobilisierten Soldaten ihres Stadtteils vor dem Tode. Sie überlegte hin und her, was zu tun sei?
In diesen Tagen, da sie an Jimmys Bett saß und ihm Geschichten erzählte, kam ihr plötzlich ein Gedanke. Jimmy war auch ein Opfer des Krieges. Auch er hatte seinen Vater durch den Krieg verloren; er mußte sie verstehen!
Aber würde er den Mut haben, mitzumachen?
Sie ersann ein Experiment, ihn zu prüfen. Sie erzählte dem Jungen abends in einer Geschichte von ihren und Mutter Anns Taten, natürlich mit andern Namen. Jimmy war begeistert. Er fragte, wo das kleine tapfere Mädchen wohne? Doch Ille hielt noch zurück. Sie war auch etwas verlegen über Jimmys Lob. So erklärte sie, das kleine Mädchen sei jetzt verschwunden und das Ganze dürfe keinesfalls verraten werden.
Jimmy senkte seinen Kopf und schien heftig nachzudenken. Jetzt meinte die kleine sommersprossige Ille, indem sie sich ihre rötlichblonden Haare hinter den Kopfreifen zurückstrich: das Mädchen suche einen Kameraden, der ihr helfe, mit ihr die Zettel zu schreiben; aber bisher habe sie noch keinen gefunden, und sie werde wohl auch keinen finden.
Da sprang Jimmy mit einem Satz aus dem Bett; er packte die kleine Ille an den eckigen Schultern und rief: »Wo ist das Mädchen? Ich will ihr helfen!«
Ille hielt schnell ihre Hand auf den Mund des erregten Jungen; sie zog ihn an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Willst du mir wirklich helfen, Jimmy?«
Jimmy sah die Freundin begeistert an; er strahlte, als er fragte: » Du bist es?«
Ille nickte ernst. Sie brachte den Jungen wieder zu Bett, setzte sich neben ihn auf den Stuhl, als erzähle sie ihm eine fremde Geschichte und begann, ihm langsam den Plan zu entwickeln. So wurden die beiden nicht bloß Freunde, sondern auch Verschworene.
Nach der kleinen Ille Plan unternahmen die Kinder nun folgendes; sie entwarfen einen »Brief«, so wie Ille in andrer Form es von dem Berliner Appell wußte, nur hier in ihrer ganz persönlichen Art:
Liebe Mütter und Väter!
Wir bitten euch keine Menschen unsrer Stadt mehr in den Krieg nach Korea ziehen zu lassen auch keinen andern Krieg mehr zu dulden wir sind in großer Sorge
Zwei Kinder
die im Krieg ihren Vater verloren haben
Ille, die mittags dem Großvater warmes Essen in die Werkstatt brachte, gelang es, aus dem für einen Augenblick offenstehenden Büro des Bosses Pop Matthews einen ganzen Pack von Rechnungsformularen in ihre Markttasche zu stecken; sie schnitt den Firmenkopf ab, und nun schrieb der zwölfjährige Jimmy mit mühsamer steiler Blockschrift – somit den Schreiber verbergend – den Brief der »zwei Kinder«. Ille fand in der Schublade von Mutter Ann noch etwa dreißig Kuverts.
Also begann die Aktion der beiden Kinder.
Natürlich reizte neben der Sache auch das Abenteuer. Sie mußten einen Nachmittag abpassen, da Betty Jones zum Einkauf fuhr und Old Ray am Fluß beim Angeln saß. Sie nahmen sich zwei Wohnviertel vor. Diesmal konnte einer den »Brief« in den Türschlitz oder Briefkasten schieben, während der andere am Treppenabsatz Wache stand. Das Ganze war nicht so einfach, da in den letzten Wochen die Polizei, der staatliche Geheimdienst und auch halbfaschistische Bewohner ihre Aufmerksamkeit erhöhten. Dennoch wollte Jimmy stets das gefährlichere Einwerfen der Briefe übernehmen. Es lag ihm daran, seinen Mannesmut vor der kleinen Ille zu zeigen, aber auch den durch die Bomben getöteten Vater zu rächen. Einige Male erschwerten innen bellende Hunde den Einwurf. Doch Jimmy bewies, daß seine Hand nicht zitterte und daß er »Manns genug« war. Nach zwei Nachmittagen war die Aktion mit den dreißig Kinderbriefen beendet und sie begannen neue herzustellen.
Mutter Betty Jones wunderte sich, wie ihr Jimmy plötzlich zu essen begann wie ein Scheunendrescher, wie sein Gesicht wieder Farbe bekam und wie er nun schon viele Nächte ohne aufzuschrecken durchschlief.
»Das macht die gute Flußluft«, erklärte Old Ray. Betty Jones aber war der Meinung, die große Entfernung von den europäischen Kriegsschauplätzen und das Heraushalten der Kinder aus der Politik habe die Besserung bewirkt.
*
Inzwischen erregten diese primitiven rührenden »Kinderbriefe« überall Aufsehen. Einer wurde sogar in einer Abendzeitung als Sensation im Faksimile abgedruckt. Dr. Boyle trug den Ausschnitt in seiner Brieftasche; er wartete ungeduldig auf die Gelegenheit, ihn zu zeigen.
Die beiden Kinder aber hingen immer mehr aneinander. Einmal verband die kleinen Verschwörer ein ernstes, mit Gefahren verknüpftes Ziel, an dem ihre Phantasie und ihr kindlicher Gerechtigkeitssinn sich entfalten konnten – fühlten sie sich doch als Rächer ihrer im Krieg gemordeten Väter und somit auch als Friedenskämpfer. Dann war in den beiden eines der schönsten und reinsten menschlichen Bündnisse entstanden: das der Freundschaft, die grade unter Kindern ein ganzes junges Leben erfüllen kann. Und wie ein zarter Glanz lag darüber noch ein geheimnisvolles Unbestimmtes, wenn die kleine hellhaarige Ille immer noch am Bett ihres zwölfjährigen Freundes saß und seine Hand in der ihren hielt, bis er eingeschlafen war.
Ist es verständlich, daß dem feinnervigen Jimmy seine Freundschaft mit Ille und ihr beider Verschwörerglück mehr Kraft gaben als alle noch so kunstvollen Kniffe und Pfiffe der Medizinmänner.
Jetzt berieten nun die beiden Kinder, wie sie ihre ersparten Cents zusammenkratzen und sich davon einen der primitiven kleinen Stempelsetzkästen mit auswechselbaren Lettern kaufen konnten? Ihre Phantasie und die wachsende Gefahr trieben sie, in ihre Arbeit eine neue Note zu bringen und zugleich die Aktion zu erweitern, ohne sich durch die Handschrift und das herbeizuschaffende Papier zu verraten. Sie stellten also aus den einzelnen Gummilettern einen Stempel her:
Gebt Frieden!
Die Kinder eurer Stadt |
Es war nicht schwierig, diesen Stempel bei vielen Gelegenheiten unauffällig an die weißen Wände der Hausflure zu drücken, auf die Bänke im Park, auf alle möglichen Briefumschläge, auf die in der Schule herumliegenden Hefte und Bücher anderer Klassen. Die beiden waren Feuer und Flamme von ihrer Idee. Sie beschlossen, in den nächsten vierzehn Tagen, sobald Jimmy wieder die Schule besuchen durfte, ihren Plan auszuführen.
»Jetzt mußt du aber schlafen!« befiehlt die kleine Ille.
»Gut; doch du bleibst noch ein bißchen.« Jimmy nimmt wie immer Illes Hand, streckt sich lang, legt den Kopf zurück und schließt die Augen.
Von draußen hört man nur noch die durcheinanderschwirrenden Geräusche der Radiogeräte in den Nachbarhäusern, das ferne Tuten der Schiffe auf dem Fluß und die von alldem überdeckten Stimmen der Menschen auf der sommerlichen Straße. In dem Zimmer selbst dämmert nur ein Widerschein des dunkelgrünen Abendhimmels. Auch die kleine Ille ist recht müde; sie legt ihren Kopf auf Jimmys Hand.
*
Inzwischen haben sich in Ohm Ernests Geburtstagsstube wieder zwei Gruppen gebildet. Die eine befindet sich am obern Tischende mit Old Ray, dem bibelkundigen Invaliden, als Mittelpunkt und Mom Rose, der Schwiegertochter Ann und Betty Jones als Hörerrunde, während Ohm Ernest, Dr. Boyle, Adda, Gene und der Werkstudent Pat unten beim Radio sitzen.
Die Frauengruppe mit Old Ray lauscht des alten Invaliden seltsamem Gedankengang: ob die junge Beß mit ihrem Robby inmitten einer waffenstarrenden Welt zu Recht den »Pfad des Mondfriedens« drunten am Fluß wandle, ob diese Frage Krieg oder Frieden nur eine längst gestellte Unterfrage der Hauptfrage sei, nämlich: ob das neunköpfige feuerspeiende Tier Wissenschaft das Herz des einzelnen Menschen verzehren könne?
»Und wenn dann ein Kind kommt«, fährt Mom Rose los, »nicht auf deinen Mondpfad, aber auf die rußige Heizplatte, auf der wir hier leben?«
Und Betty Jones: »So wie mein Jimmy!«
Und Ann: »Ja, noch kann ich verdienen für meine Ille und mich; aber wenn ich nicht mehr die Zähne aufeinanderklemmen mag wegen dieses verfluchten Koreaschwindels und sie mich hinausfeuern …«
»Der Herr wird die Stühle der Großen zerschmeißen wie Ton«, psalmodiert Old Ray.
»Wenn wir bis dahin nicht alle Ton und Dreck geworden sind.«
»Für alle kann ich nicht sorgen, Ann; aber für dich und Ille wird Old Ray auch noch Platz haben.«
Was soll man gegen den Alten sagen? Allerdings ist Old Ray gar nicht so ein Einzelgänger in diesem Land. Vielmehr durch die Kanäle von hunderten religiösen Sekten, unsichtbar gesteuert von den großen Kapitänen der Industrie, breitet sich jetzt diese Sache des »Casework« aus. Überall geistern diese Apostel als »Lotsen der im Winde treibenden Menschen« umher. So propagieren die Caseworker auch die individuelle Einzelhilfe bei Streiks und Aktionen »des Massenmenschen«. Natürlich hat Old Ray sich seine eigene hilfsbereite Philosophie gezimmert; aber die Keime der Sekten schwängern weit und breit die Luft.
»Wir werden ja sehen!« meint Ann und verschränkt ihre starken Hände, daß die Knöchel knacken; sie denkt daran, wie letzte Woche der Werkleiter Cowley sie ins Büro rufen ließ und ihr einen Aufseherposten bei fast doppeltem Lohn versprach. »Sie sind eine intelligente und energische Person«, hatte er gesagt, »und sie kennen die Leute. Wenn sie da und dort etwas hören, was die Burschen untereinander sprechen, so wäre es gut, wenn auch wir das wüßten; das ist alles. Sie wissen, wir sind da nicht kleinlich«, meinte er und grinste dabei.
Richtig, in solchen Dingen sind die Herren nicht kleinlich, das lassen sie sich etwas kosten. Aber ihr Mac in der Erde Koreas würde mit seinen schwarzen Augenhöhlen sich erheben und vor ihr ausspucken … nein, auch für tausend Dollar kein solches Wort gegen einen Kollegen Friedenskämpfer und lieber hundert Tropfen Schweiß hier als einen Tropfen Blut in Korea! Doch was wird geschehn, wenn der Werkleiter sie weiter bedrängt?
*
Während dieser Gespräche und Überlegungen am oberen Tischende ist die Männergruppe mit Adda damit beschäftigt, die letzten Nachrichten über die Kämpfe am achtunddreißigsten Breitengrad abzuhören. Nun ergibt sich eine seltsame Situation. Ohm Ernest hat den Studenten Pat aus der Reparaturwerkstatt eingeladen und ebenso den jungen Robby, der draußen mit Beß im Mondschein wandelt … zwei Burschen, die wohl aus derselben Schüssel löffeln, aber miteinander kaum ein rechtes Gespräch führen können. Auch Dr. Boyle, dem heute manches unter den Nägeln brennt, weiß nicht, wie es weitergehen kann. Er möchte gern den »Kinderbrief« vorlesen und daran anknüpfen; bloß, ist das hier der richtige Kreis?
Ähnlich empfindet der Student Pat. Er erhielt dieser Tage ein sehr interessantes Schreiben von einem deutschen Studenten der Romanistik und Geschichte aus Bonn am Rhein. Dieser Student, Hans Böttger, den er in Deutschland als Kriegsgefangenen in einem Camp kennenlernte, blieb auch später mit ihm in Verbindung, und nun juckt ihn dessen Brief wie Nesselfieber in der Brusttasche. Bloß, mit wem hat er es hier zu tun?
So beginnt Pat mit der sokratischen Methode, indem er das Gegenteil von dem sagt, was er eigentlich meint … man könne den achtunddreißigsten Breitengrad doch nicht einfach aufgeben; denn wenn man hier schwach werde, so sei die nächste Forderung der Nordkoreaner, die ganze Halbinsel zu räumen, und das bedeute eine endlose Verlängerung des Krieges.
Adda – noch erregt von dem Gedicht des amerikanischen Kriegsgefangenen und dem Erlebnis der Friedensstafette – erwidert: wieviel amerikanische Jungens denn noch in Korea zugrunde gehen müßten? Und was die Soldaten der USA 5000 Meilen von ihrer Heimat entfernt in Ostasien zu suchen hätten?
Dr. Boyle sucht Adda mit Blicken zu warnen; da sie nicht reagiert, greift er zu der bewährten Methode, ihr unter dem Tisch auf den Fuß zu treten, wobei allerdings Pat zusammenzuckt und etwas maliziös meint: »Oh, entschuldigen Sie, Doktor!«
Der Doktor ist nun ebenfalls gezwungen, die dialektische Methode zu bemühen, um Pat aus dem Bau zu locken; er wendet sich zu Adda: die Welt sei heute ein Ganzes; ob 5 oder 5000 Meilen, das spiele da keine Rolle, und selbst wenn innerhalb eines Landes ein Bürgerkrieg ausbreche, so kämpften da heute nicht zwei Parteien miteinander, sondern zwei Systeme. Die Vertreter der entsprechenden Systeme der angrenzenden Länder oder Ozeane aber würden dann von dem Verlauf eines solchen Konfliktes genauso berührt.
Auch Gene ist der Ansicht, daß ein Konflikt sich heute nicht lokalisieren lasse, sondern daß es lediglich darauf ankomme, der Stärkere zu sein; das sei die einzige Möglichkeit, einen Krieg schnell zu beenden.
»Meinen Glückwunsch!« sagt Ohm Ernest. »Dann habt ihr ja noch die Chance, wieder mitmachen zu können, du, Gene, und du, Pat.«
Jetzt, da das Blindekuhspiel seinen Höhepunkt erreicht hat, reißt Pat die Binde herab und platzt los: »Himmlische Trompeten! Sagen Sie das Ihrer Großmutter, Mann, aber nicht mir! Wenn man mir die Einberufung schickt …«
»Was dann?« fragt Adda in die Pause.
Pat blickt sie unsicher an.
Adda zieht ruhig aus ihrer Aktentasche die Metallkapsel der Stafette. Gene greift jetzt über den Tisch und sucht ihre Hand zu fassen. Doch sie ist zur Seite getreten. Der Ernst ihres bronzenen Gesichtes mit der steilen Stirn, dem kräftigen Nasenansatz und den breiten indianischen Backenknochen drückt solche Kampfentschlossenheit aus, daß Gene sie läßt.
»Wir haben keinen Grund und kein Recht, zu allem zu schweigen«, erklärt Adda; sie zieht aus der Kapsel zwei Zettel.
»Woher?« fragt der Doktor leise.
»Zufall!« meint Gene, nachdem er den Vorfall kurz geschildert hat.
Und Adda: »Es ist wohl Zufall, daß diese Kapsel den Cops nicht abgegeben wurde, daß diese Papiere jetzt hier sind, und daß wir die Botschaft weitersenden werden?«
»Welche Botschaft?«
»An die Weltfestspiele der Jugend …«
»Nach Berlin?«
»Unmöglich!«
»Zeig!«
»Was ist das? Lies!«
Adda hat behutsam den einen Zettel entfaltet; sie erkennt, es ist nicht das Gedicht; sie hat den andern Zettel noch nicht gelesen, sie glättet ihn, beugt sich näher zur Lampe und beginnt:
Ich hoffe, Mutter …
Der amerikanische Kriegsgefangene Tom Thomas schrieb aus einem nordkoreanischen Gefangenenlager an seine Mutter in San Pablo, Kalifornien:
Mutter!
Es gibt nichts Gutes in diesem Krieg, und man kann ihn nicht anders darstellen als das grausame Ermorden vieler unschuldiger Menschen. Mutter, habt Ihr schon jemals an diese armen unschuldigen Kinder hier gedacht? Habt Ihr schon eine Mutter mit ihrem Säugling durch die brennenden Straßen irren sehen, halb wahnsinnig, mit ihrem blutenden Kind auf dem Arm? Ich habe das hier gesehen. Schande über uns! Mutter, in diesem Kriege verbluten unsre Jungens, die zu Hause nützliche Arbeit leisten könnten, und das alles nur, weil eine Handvoll geldgieriger Menschen es so will. Ich habe gehört, daß die Mütter in Kalifornien eine Kampagne begonnen haben, um den Krieg beenden zu helfen und ihre Söhne aus Korea zurückzubekommen. Ich hoffe, Mutter, daß Du eine von ihnen bist!
Dein Sohn Tom.
Adda schweigt und streicht über das als Faksimile gedruckte Papier. Dann nimmt es Dr. Boyle und liest es nochmals, als müsse er es genau auf die Richtigkeit prüfen; über des Doktors Schultern lesen es Pat und Gene mit. Danach faßt Ohm Ernest das Blatt; auch er studiert es förmlich, während er es zwischen dem Daumen und Zeigefinger leicht hin und her bewegt. Also gibt es auch dort eine Welle, die ihre Ausläufer über 5000 Meilen bis hierher sendet? Also geht bei den Boys da drüben etwas vor trotz allem Tamtam? Also erwarten die Söhne in den fernen Sümpfen, den Felsenschluchten, den rauchenden Städten und Dörfern Asiens, daß wir hier nicht bloß Pasteten essen, Gin und Scotch Whisky trinken und den Wochenlohn heimbringen. Also ist es Zeit?
Ohm Ernest schaut in der Stille zur Zimmerdecke zu den drei Glühbirnen, die als Eicheln in einer billigen Fassung von metallenem Blattwerk umrahmt sind. Sein blanker, rotgebrannter Schädel ist mit Schweißperlen bedeckt. Er weiß, daß der Doktor auf ihn blickt und von ihm eine Äußerung erwartet. Doch wie steht es mit dem Studenten Pat und wie mit dem Fliegerfunker? Gewiß, in Chikago sind vor kurzem 5000 Delegierte zu einer Art Friedenskongreß zusammengetreten; aber das waren meist kleinbürgerliche Gruppen. Die wenigen Arbeiter flogen danach so oder so aus den Betrieben. Inzwischen ändert sich die Lage von Woche zu Woche, verschärft sich unter dem McCarran-Gesetz der Terror von Tag zu Tag. Wem wäre also damit gedient, wenn …
»Ich denke«, sagt jetzt Adda, »wir müssen die Botschaft sofort weiterbefördern, damit sie noch ihr Ziel erreicht.«
Und Pat, fasziniert von dem kühnen Gesicht des Mädchens und ihren klaren Worten, Pat unterstützt begeistert diese Worte: »Stimmt! Wir haben keinen Tag zu verlieren! Nicht bloß, daß täglich Tausende sinnlos in Korea kaputtgehen und wir alle mit jedem Tag tiefer im Blutsumpf des heutigen und eines kommenden Krieges versinken; dieser Stafettenbrief ist auch für uns eine besondere Sache. Wir müssen also eine Delegation finden, die in Kürze nach Berlin fährt …«
»Sie können sich wohl vorstellen, wie diese Delegationen bis aufs Hemd visitiert werden«, sagt der Doktor. »Meiner Meinung bleibt nur ein Weg …«
Und Pat schnell: »Also der illegale … etwa durch den sympathisierenden Matrosen eines Europadampfers; wenn Sie erlauben, werde ich mich bemühen …«
Aber da prallt er auf Gene, der sich wie ein dummer Junge vorkommt, während der lange Werkstudent mit Adda bereits eine »Mannschaft« bildet; soll er, der eigentlich die beste Karte in der Hand hält, sich außer Kurs setzen lassen? »Unsinn!« haut er dazwischen. »Der schnellste Weg ist das Flugzeug.«
Adda schaut erstaunt auf. Bisher hat Gene fast ängstlich jede Verbindung über den Flugplatz vermieden, jeden telefonischen Anruf, jeden Brief, jedes Gespräch über seinen Dienst. Und jetzt will er diese Stafettenpost illegal durch ein Flugzeug befördern helfen?
»Keine Übereilung!« mahnt der Doktor. »Schnelligkeit ist gut; aber Sicherheit ist besser. Wir dürfen heute möglichst keinen Mann und kein Material verlieren.«
»Richtig; bloß, wo Gefahr ist, ist der Mut ihr natürlicher Bruder!« entgegnet ihm Pat, der aus Addas Hand die Stafettenkapsel schon wie bei einem Übergabewechsel nehmen will. »Wenn unser alter Emerson vor über hundert Jahren sagte, die Sache des Friedens sei nichts für Memmen, sondern müsse von tapferen Menschen getragen werden, so gilt das erst recht für uns. Wenn ihr also einverstanden seid, dann bin ich der nächste Mann der Stafette.«
Doch Adda, die Pat heute zum erstenmal sieht, faßt impulsiv das andre Ende der Kapsel, während Ohm Ernest seinerseits jetzt eingreift: »Moment, Kinder … einig sind wir, daß dieser Gruß weitergehen soll; nun gibt es zwei Vorschläge für den Transport: per Schiff oder per Luft? Ich denke, wir lassen Adda das Material, bei der es am sichersten ist, so lange, bis Gene oder Pat uns genaue Angaben machen können. Falls es dann mit dem Flugzeug wirklich klappen sollte …«
Und Pat dazwischen: »Eine höchst unsichere Sache!«
Und Gene: »Es gibt nichts Sichereres!«
»Schon die wöchentlichen Aviokatastrophen …«
»Wir haben Piloten, die über 1 Million Flugkilometer verzeichnen können …«
»Und bei 1 Million und einem Kilometer …«
»Mann, es verlangt ja niemand, daß Sie mitfliegen …«
»Gene!« – Das ist Addas Stimme, doch sie kommt aus dem Dunkel.
Überall ist das elektrische Licht ausgegangen. Schon heulen die Sirenen. Was ist los?
Von der Straße hört man Fluchen, Rennen, Türen- und Fensterschlagen. Nur wenige Bewohner des Vororts haben die Morgenansage im Radio mitbekommen oder ernst genommen, daß heute abend um 22 Uhr ein Probealarm gegen einen Atombombenangriff stattfinden solle.
Und nun heulen von den Polizei- und Feuerwehrstationen die Sirenen und rennen von Haus zu Haus aufgeregte Männer als Luftschutzwarte, die brüllen: »Fenster schließen! Alles in die Keller und Unterstände!« Als ob es in diesen Häuschen Luftschutzräume oder überhaupt gewölbte Keller und Unterstände gäbe? Das Ganze wirkt wie der reine Hohn!
Natürlich sind da viele, die in wilder Panik Fenster und Läden zuschlagen und mit Wassereimern, Kerzen und Säcken in die Souterrains stürzen, wo sie die Luftlöcher mit zusammengeknüllten Säcken abzudichten suchen. Doch während sie gerade mit Sack und Pack, mit Bettzeug, Broten und schreienden Kindern in die engen Katakomben hinabgestiegen sind, hat sich plötzlich die Nachricht verbreitet, die Atombombengase seien »schwere Gase«, sie würden am Boden entlangkriechen und vor allem in die Keller dringen. Also heraus aus den Kellern und möglichst hoch hinauf auf die Dachböden!
Auch die Panik hat in der menschlichen Psyche ihr System. Die bisherige Logik ist über Bord geworfen. Das Widersinnige wird das Wahrscheinliche. Die Vernunft treibt wie eine hin und her geschleuderte Planke im Wellenschaum des Gerüchts. In einem Haus will man vor dem plötzlichen Dunkel noch den rotgelben mächtigen Feuerschweif einer Fliegenden Untertasse am Osthimmel gesehen haben, dem sofort in weiter Ferne ein grelles Aufblitzen der Atombombe folgte. In diesem Haus fand man am nächsten Morgen einen alten Mann, der sich im Klosett erhängt hatte.
Es gab auch Existenzen, die das Ganze anders auffaßten. In einem Tabakladen waren sämtliche Gefächer ausgeräumt; in manchen Wohnungen fehlten nach der Entwarnung um Mitternacht die besseren Kleidungsstücke, ferner Radioapparate, Schmuck und Alkoholika. So kam das Gerücht auf, eine Gangsterbande habe den Alarm bewerkstelligt. Doch das war ein Irrtum. Die Anordnung war auf Grund der Richtlinien der für die Sicherheit der Bürger zuständigen Stelle ordnungsgemäß ergangen.
Hierher gehört allerdings noch eine kleine Variante, die in den Gesamtkomplex der Übung mit eingebaut war: Mit Zustimmung der »Evening Post« wurde ein Überfall »Roter Fallschirmtruppen« auf das Redaktionsgebäude der örtlichen Filiale in Szene gesetzt. Mit Handscheinwerfern und MPs drangen »die Roten« in das Büro der Zeitung ein, fesselten und knebelten das anwesende Personal, das zu dieser Zeit nur aus dem Pförtner, zwei Reinemachefrauen, einem Lokalreporter und dem fünfundsechzigjährigen Redakteur Drinkwater bestand, und schlossen sie in den dunklen Packraum ein. Auch dem Bürgermeister dieses Vororts, James Botton, erging es nicht viel anders; er wurde zudem noch gezwungen – und das war, wie sich später herausstellte, nicht in die Übung eingeplant –, dem »Roten Kommandeur« die Schlüssel zu den Büros und dem Kassensafe auszuhändigen. Dann ließ der »Rote Kommandeur« den Bürgermeister auf einen staubigen Fußballplatz führen, um dort – auf dem »Roten Platz« – die Machtübergabe der Scheininvasion zu vollziehen; hierbei hielt der »Rote Kommandeur« dem Bürgermeister die Pistole ins Genick, während dieser die Schlüssel mit den Worten: »Gott hat es gewollt!« auslieferte.
Als nach zwei Stunden der Probealarm abgeblasen wurde, stellte es sich heraus, daß der fünfundsechzigjährige Filialleiter der »Evening Post« an einem durchaus echten Schlaganfall verschieden und der Kassenbestand der Filiale wie auch des Bürgermeisteramtes verschwunden war. Hier handelte es sich also doch um die erstklassige Arbeit eines Gangs. Wobei sich natürlich nicht nachweisen ließ, inwieweit der offizielle Teil der Veranstaltung mit dem inoffiziellen in Verbindung stand.
*
Immerhin hatte man während der plötzlichen Abdunkelung und der einsetzenden Panik zwar nicht die Kassenräuber verhaftet, wohl aber etwa zwei Dutzend »verdächtiger kommunistischer Individuen«. Es waren dies vor allem Liebespärchen, die an dem heißen Sommerabend, nur mit sich selbst beschäftigt, Gott und die Welt vergaßen; sie wurden am Flußufer, auf stillen Gassen oder in den Gärten ergriffen und in den Kohlenbunker der Polizeiwache gebracht. Unter ihnen befanden sich auch Robby und Beß. Es ist klar, daß sie in völliger Verkennung des Ernstes des Überfalls der »Roten Fallschirmspringer« ihrer Verhaftung sich widersetzten und damit ihre Lage nicht gerade verbesserten.
Ferner wurden in den Kohlenkeller eingeliefert solche Personen, die während des Alarms diesen Vorort verlassen und fluchtartig die Untergrundbahn erreichen wollten. Hier gab es Verdächtige »mit russischem Akzent« wie den jungen Bauarbeiter Tino Alfieri und seine Freundin Rositta, aber auch den fünfzigjährigen Versicherungsbeamten Billy Brown, der mit lauter Stimme das Ganze für ein reines Gangsterunternehmen erklärte; da dies unglücklicherweise nahe dem Posten des Gangs, der gerade bei Ausräumung der Kasse des Bürgermeisteramtes Schmiere stand, sich ereignete, wurde Mr. Brown von dem Gangsterposten als »russischer Agent« niedergeschlagen und darauf von einer erregten, durch die Straßen irrenden Menge ebenfalls auf der besagten Polizeiwache abgeliefert.
Kurzum, es befanden sich in dem Polizeikeller, dessen Raum von einem mächtigen Kohlenberg fast ausgefüllt war, außer Robby und Beß, den beiden jungen Italienern und Mr. Brown noch etwa zwanzig ähnliche »russische Agenten«. Eigentlich widersprach es jeder Logik, zugleich mit dem Abwurf der Atombombe auch die feindlichen Fallschirmtruppen zu landen. Aber entsprach es der menschlichen Logik, daß die Bullen der Polizeiwache auf das verzweifelte Pochen der Eingeschlossenen gegen die verriegelte Eisentür die Wasserhydranten im Keller öffneten?
Da nun das Wasser im Keller schnell zu steigen begann, brach eine kaum vorstellbare Panik unter den Todesgefährdeten aus. Sie flüchteten beim flackernden Schein eines Taschenlämpchens auf den Kohlenberg, der natürlich oben keinen Platz bot für über zwanzig halbwahnsinnige Menschen.
Dennoch suchte jeder den Gipfel des Berges mit seinen Nächsten zu erklimmen; dabei rutschten einige mit der gleitenden schwarzen Masse wieder in die Tiefe. Gellende Schreie ertönten von unten aus dem Wasser.
Der Tod schien unvermeidlich.
Der junge Italiener hatte seine Freundin fast auf dem Gipfel des Kohlenberges in eine Mulde gebettet; er wandte sich jetzt bei dem schwachen Glühen des Taschenlämpchens zu den andern: »Freunde, vielleicht haben wir nur noch wenige Minuten; sterben wir als Menschen …«
Ein Schrei von unten, daß der ganze Berg zu wanken droht: »Nicht sterben! Die Türe auf! Schlagt die Hundesöhne draußen zu Brei!«
Schwere Kohlenbrocken donnern gegen die Eisentür. Billy Brown, der Versicherungsbeamte, steht unten bis zur Brust im Wasser. »Ich habe Mörder und Wahnsinnige versichert«, redet er vor sich hin. »Mörder und Wahnsinnige! Weshalb soll ich gerettet werden? Um wen zu versichern?«
In dem huschenden dünnen Licht scheinen die kohlenverschmierten Gesichter wie Teufelsmasken. Dazwischen hört man schreckliche Geräusche – Stöhnen und Fluchen von Kämpfenden, Stöhnen der im aufgewirbelten Kohlenstaub Halberstickten, Stöhnen der Liebenden.
Robby hat Beß den Berg hinaufgezogen. Sie fassen Fuß auf einer schmalen Steinborte, die als Gesims um die Kellerwand läuft; dort stehen sie aneinandergepreßt Brust an Brust.
»Oh, Robby …«, klagt Beß, und dann sehr leise: »Küsse mich noch einmal, liebe mich!« Wie eine Sterbende klammert sie sich an ihn. »Mein Gott, warum …« Er kann ihren Wunsch nicht erfüllen; er muß seine ganze Kraft aufbieten, die Geliebte, die wegzusinken droht, auf der schmalen Steinkante fest in den Armen zu halten.
Der junge italienische Maurer Tino Alfieri hat wohl auch mit dem Leben abgeschlossen; doch er will die Minuten dieses Daseins noch einmal mit ganzer Wonne ermessen; er, der sich in dem von schwarzen Wassern umspülten Berg eine Mulde grub, er zwingt jetzt seine Freundin Rositta, deren Bluse von Wasser und Schweiß durchnäßt an ihr klebt, in seine Arme; aufgepeitscht von dem letzten Impuls ihrer jungen Leiber umarmen sich die beiden Menschen; sie vermögen die Spannung ihrer Muskeln auch nicht zu lösen, wie der Berg von vielfachem Kampf schichtenweise abzubröckeln beginnt, so daß sie mit vielen andern hinab in das Wasser rollen.
Der Tod!
Aber wie sie aneinander sich hochziehen, steht das Wasser ihnen kaum bis zur Brust. Doch es wühlt, ringt, stöhnt und schreit drunten um ihre Knie.
Das Jüngste Gericht.
An der Kellerdecke leuchtet die Glühbirne.
Draußen klirrt der Eisenriegel der Tür. Ein Bulle steckt den Kopf durch den Spalt. »Könnt ihr Viecher euch nicht ruhig verhalten?« ruft er zu dem schwarzen Menschenknäuel, und als bestehe zwischen dem Tumult in dem Bunker hier und dem Folgenden ein Zusammenhang, fährt er fort: »Das Wasser läuft durchs Kellerloch schon auf die Straße! Die ganzen Kohlen schwimmen draußen! Schweinerei so was!«
Tatsächlich war das Wasser durch die niederen Kellerluken auf die Straße geflossen und hatte das weitere Steigen des Wassers im Bunker verhindert. Zudem wurde durch den kleinen, über das Trottoir dahinbrausenden Wildbach die Aufmerksamkeit der Straßenpatrouillen erregt. So konnten die im Kohlenkeller der Polizeiwache unter Wasser gesetzten Menschen gerettet werden.
Bald nach Beginn des Alarms ist Betty Jones mit Ann und Old Ray in dessen Haus gerannt, um nach den Kindern zu sehen. Aber beide – Jimmy und Ille – sind verschwunden. Sie mußten die Wohnung gerade verlassen haben; denn überall knallen noch die offenen Türen im Wind gegen die Rahmen und Schlösser. Betty schreit wie besessen durchs Haus: »Jimmy, mein Liebling, wo bist du? Hörst du nicht deine Mamm? Wo bist du?«
Doch niemand antwortet.
In dem völlig dunklen Haus ist es gar nicht einfach, mit einem Taschenlämpchen vom Keller bis zum Dach alle Winkel abzusuchen. Betty nimmt an, daß Jimmy bei der Verdunklung und dem Sirenengeheul wieder einen seiner früheren schweren Anfälle mit Krämpfen und Ohnmacht erlitten habe und nun bewußtlos in irgendeinem Winkel liege. Nachdem man immer wieder das Haus vergeblich durchstöbert hat, bricht Betty völlig zusammen. »Mörder! Mörder!« schreit sie. »Jimmy, mein armer Junge!« Wie eine Rasende rennt sie zur Tür. Ann kann sie gerade noch fassen. Die beiden Frauen ringen im Dunkel miteinander, bis Betty erschöpft zu Boden sinkt.
»Es kann nichts Schlimmes sein, Betty!« redet Ann ihr zu. »Ille ist ja bei ihm.«
»Vielleicht hat man beide verschleppt oder getötet?« schluchzt Betty.
*
Mit den Kindern verhielt es sich aber so.
Sie hatten gerade überlegt, wie sie die noch restlichen zwanzig »Briefe« in den nächsten Tagen verteilen könnten, da ertönt der Alarm. Ille spürt, wie Jimmy sich im Dunkel an sie klammert, daß seine Glieder wie vom Fieber geschüttelt werden. Sie preßt ihren kleinen Freund mit aller Kraft an sich, damit das Zittern nachläßt; zugleich flüstert sie ihm ins Ohr: »Fein, Jimmy, ich hab's! Jetzt werden wir alle sofort los! Wir gehn in die Keller – hörst du mich, Jimmy –, dort, wo ein tolles Gedränge ist, und da stecken wir unsre Briefe den Leuten direkt in die Taschen. Hast du Mut, Jimmy?«
»Und ob! Gib mir meine Hälfte!«
»Nimm erst fünf!«
»Zehn will ich!«
»Wenn sie dich mit soviel schnappen …«
»Ah, du möchtest als Mädel nachher renommieren, daß du die meisten angebracht hast?«
»Unsinn; aber du weißt doch …«
»Was weiß ich?«
»Nun … du bist so aufgeregt, hast eben wieder gezittert.«
»Wo zittre ich denn, du Dummes? Faß doch meinen Arm hier … meine Muskeln! Was zittert da? Na also! Ich will's diesen Hundesöhnen schon zeigen, die Vater umgebracht haben! Los, gib her, zehn!« Er weiß, Ille trägt die Briefe in einem Umschlag unter dem Leibchen; er sucht sie herauszuziehen.
Ille wehrt sich. »Auch meinen Pa haben sie kaputtgemacht; du, ich hab auch ein Recht; laß mich!«
Wie sie noch miteinander streiten, tönt plötzlich von unten eine Frauenstimme: »Jimmy, mein Liebling, wo bist du? Hörst du nicht deine Mamm?«
»Wir müssen durchs Fenster!« flüstert Ille.
»Hier an der Hauswand ist 'ne Leiter; halt dich an mich!« Im Nu ist Jimmy auf der Fensterbrüstung und zieht Ille hinter sich her. Vorsichtig klettern sie die Leiter hinab und schleichen durch die Gärten in der Richtung des Flusses, während die jammernde Betty mit den andern das Haus durchsucht.
Die Kinder aber hocken bereits einige hundert Meter weiter in einem der Gärtchen und verschnaufen sich. Ille hat jetzt den Umschlag mit den Briefen hervorgezogen; sie gibt Jimmy zehn davon. Denn sie muß feststellen, daß er von dem Augenblick, da eben wieder ihr »Feldzug zur Rache der Väter« begann, völlig ruhig geworden ist. Keine Spur mehr von Angst und Zittern. Ille ist stolz auf ihren Kameraden. Fest umgreift sie seinen Arm mit ihrer kleinen sehnigen Hand: Freundschaft und Vertrauen! Zugleich denkt sie nach, was nun zu geschehen hat.
»Wir müssen ein Zeichen ausmachen, Jimmy, falls wir auseinanderkommen, keinen Pfiff, sondern was Unauffälliges.«
»Husten?«
»Das ist zu wenig.«
»Also doch ein Signal?«
»Halt, ich hab's! Wenn einer den andern im Dunkeln oder im Gedränge nicht mehr findet, schreit er: ›Au, au, mein Arm!‹ – Gut?«
»Gut! Und der andre, falls er umsonst sucht, darf noch rufen: ›Macht doch mehr Licht!‹ Dann weiß der mit dem Arm, wo der andre steckt; ja?«
»Ja, und los!« sagt Ille.
Sie schleichen noch ein Stück weiter durch die Gärten. Der Mond ist irgendwo hinter den Häusern untergegangen. Die Sterne hängen groß wie Metallstücke am Himmel. Die vom Alarm aufgescheuchten Vögel flattern noch durch die Büsche. Von der Straße hört man Schimpfen und Pfeifen der Luftschutzwarte.
»Jimmy?«
»Ja, hier … au, au, mein Arm!«
Ille hat Jimmy an der Hand gefaßt, sie zieht ihn zu einer Mauer; dann setzen sie in ein paar Sprüngen zur andern Straßenseite hinüber und schnüren wie zwei Füchse um eine Hauswand.
»Da schreit jemand im Keller?«
Ille hält Jimmy mit ihrer Hand den Mund zu. Lauschen.
Aus dem Kellerfenster dringt schwaches Licht. Die beiden tasten ein Steintreppchen hinunter; da wird eine Luke aufgestoßen: »Ambulanz! Doktor! Hilfe!« schreit eine junge, rothaarige Frau und will hinaus. Aber ein dicker Mann in Hemdärmeln und hohen Schnürstiefeln reißt sie zurück: »Schon gemeldet! Tür zu! Licht weg!«
»Soll meine Mutter denn krepieren, Mr. Berry?« heult die Frau. »Holen Sie meinetwegen ein Rettungsboot …«
»Okay, wir werden wegen des Beinbruchs Ihrer Mama unsre Torpedobootsflottille alarmieren.«
»Hätten Sie bloß nicht diesen blöden Alarm gemacht«, faucht ihm die Rothaarige ins Gesicht und klammert sich an die Türfassung, »dieses blöde Theater …«
»Blödes Theater sagen Sie?!«
»Was denn sonst?«
»Maul halten!«
»Vor einem Abwässerstrategen, einem Kloakenkontrolleur?«
Drinnen stöhnt laut die Alte, die während der Panik und Dunkelheit die Treppe hinunterfiel: »Mein Bein, mein Bein … oh, wo ist denn die Atombombe … sie wäre die Erlösung!« Sie schreit und wimmert unaufhörlich, diese Mutter der Rothaarigen, die drunten in dem mit Menschen vollgepackten Keller auf zwei umgestülpten großen Kartoffelkisten liegt und ihr mit einem Besenstiel geschientes Bein zu fassen sucht.
In dem Moment nun, da der schnürstiefelversehene Mr. Berry die junge Frau endlich in den Keller zerrt, sind auch Ille und Jimmy mit hineingeschlüpft. Der Raum ist durch eine zischende Azetylenlampe erhellt.
Plötzlich kommt es den beiden gar nicht mehr so einfach vor, ihre Briefe anzubringen. Zwar kümmern sich die lärmenden Menschen in dem überfüllten Steinkubus nicht um sie; doch für das Einstecken der Briefe in die Rocktaschen ist es viel zu hell. Die Sache aufgeben? Weder Ille noch Jimmy denken daran; sie beobachten vielmehr mit äußerster Aufmerksamkeit die einzelnen Personen nach ihrer Eignung.
Da ist der alte Schreiner Wood von der andern Seite der Straße. Wood, ein großer, hagerer Mann mit einer kleinen Shagpfeife zwischen den Zähnen, stellt fest, daß jenes gebrochene Bein dauernd vom Besenstil herunterrutscht und daß man eine Latte von der Kartoffelkiste losmachen und als breite Schiene benutzen muß.
»Sind Sie vielleicht ein Arzt?« protestiert Mrs. Webster, die Gemüsehändlerin und Besitzerin des Kellers und der Kisten. »Wissen Sie, daß Sie mit Ihren unsaubern Händen hier Wundfieber erzeugen können? Und wer erlaubt Ihnen, über meine Kisten zu verfügen? Gehören Sie etwa auch zu den Kommunisten?«
»Das nicht«, meint der alte Schreiner. »Aber schließlich kann man der Frau die Schmerzen etwas erleichtern, und da ist ein Mensch wohl mehr als 'ne Latte.«
»Es geht hier um das Prinzip!« belehrt ihn Mr. Berry, der Beamte der Kläranlagen. »Wo kämen wir zum Beispiel hin, wenn bei noch mehr Verletzungen jeder eine Latte aus den Kisten brechen wollte?«
»Und ich breche sie heraus!« schreit jetzt die junge Rothaarige. »Ich breche sie heraus mit Ihrem Prinzip, Sie Arschlappen!« Und damit hat die Frau mit wilder Gewalt tatsächlich eine neue Latte losgerissen.
»Räuberpack!« kreischt Mrs. Webster und wirft sich auf die Rothaarige, während die Stimme der Alten dazwischen klagt: »Laß, Katrin, laß …, komm zu mir, Katrin!«
In dem Tumult sind Ille und Jimmy sechs ihrer Kinderbriefe losgeworden, und zwar je einen in des alten Schreiners Tasche, in die Manteltasche der jungen Rothaarigen, in die Strickjackentaschen von noch zwei Frauen und zwei in die Rocktaschen des Abwässerbeamten Mr. Berry; ihn hatten Ille und Jimmy gleich von zwei Seiten attackiert und ihm je einen Brief zugesteckt; war er auch nicht zu überzeugen, so sollte er wissen, daß über ihm das Schwert hing.
Inzwischen hat der alte Schreiner Wood mit einer Handaxt die Latte nach der Länge des Beines der Verletzten zurechtgehauen und beginnt sie über der Axtschneide zu glätten. »Es könnte alles so einfach sein, wenn die Menschen nicht selbst aus dem Geraden Krummes machten«, philosophiert er. »Wir könnten jetzt in unsern Gärten sitzen, und die Frau könnte noch ihr gesundes Bein haben. Wozu der ganze Zimt?«
»Zimt – nennen Sie die Luftschutzübung?« knallt Mr. Berry dazwischen. »Zimt?!«
»Hallo, verzeihen Sie«, mischt sich jetzt ein hageldürrer älterer Herr mit einer Baskenmütze auf einem feingeschnittenen Kopf ein, »verzeihen Sie, man könnte an Stelle von Zimt auch Betrug sagen.«
»Betrug?!« donnert Mr. Berry.
»Exakt«, erwidert der Baskenmützenmann höflich. Es ist Mr. Watches, auch »Mr. Rockefeller« genannt, obwohl oder weil er blutarm ist; doch gab es vor dem großen Krach 1929 eine Zeit, da Mr. Watches Inhaber des kleinen altrenommierten väterlichen Bankhauses war, das auf dem soliden Prinzip des »Sparens und Bewahrens« beruhte. »Hallo, mein Herr, Sie kennen mich vielleicht noch nicht«, wendet er sich jetzt an den Kläranlagenbeamten, »Mr. Watches, vor 1929 ein achtbarer Bankier; mein Prinzip bestand darin: Viel Klein macht ein Großes, oder Millionen Sandkörner geben einen Berg – auch ein Betrug.«
»Wieso – auch?« fragt Mr. Berry noch immer gereizt.
»Weil man den Zeitfaktor unterschlagen hat, mein Herr, weil der Einzelmensch nicht eine Million Jahre lebt, um das Ergebnis noch persönlich zu sehen und zu genießen.«
»Laßt mich sterben, laßt mich sterben!« stöhnt die Alte.
Und die junge Rothaarige zu Mr. Watches: »Haben Sie nicht ein Taschentuch zum Verbinden, aber ein großes?«
»Hallo, bitte sehr!« erwidert der verkrachte Bankier und beginnt es selbst um Latte und Fußfessel zu binden.
»Früher hätten Sie das nicht gemacht?« meint der alte Wood.
»Vor 1929 – kaum. Man hatte mir schon als Knaben John D. Rockefeller als leuchtendes Vorbild hingestellt, hallo, John D., dessen Millionenreichtum damit begonnen habe, daß er als armer kleiner Junge leere Streichholzschachteln sammelte und zwanzig Stück zu 1 Cent verkaufte …«
»Und Sie haben die wohl auch gesammelt?«
»Kaum. Eher Zehncentstücke als Junge und Aktienpakete als Mann; aber die Sache stimmte so und so nicht, Sie wissen – hallo, beim Krach 1929 war alles hin, weil die Haifische das Goldfischchen schluckten.«
»Und jetzt hat er einen Tabakladen«, sagt eine Frau.
»Ganz gut, daß er merkt, wie es tut!« bemerkt eine andre.
»Er merkt's, richtig«, erklärt der Verkrachte, »aber merkt ihr's?«
»Was?«
»Wie sie heute nicht Aktien, sondern Menschen schlucken.«
»Ich habe Sie schon einmal gewarnt!« droht Mr. Berry.
»Was ist hier zu warnen?« meint der alte Tischler Wood. »Sollten Sie lieber unsre Jungens in Korea warnen. Da inserierte die Autovermietung Barlett & Co. in ›The Evening Post‹: ›Sagen Sie uns, wo Sie sind, und wir befördern Sie sicher und bequem, wohin Sie wollen.‹ – Wenige Wochen später erhielten Barlett & Co. einen Brief, darin stand: ›Wir Unterzeichneten, vier Soldaten des 16. Regiments, 8. Kompanie, liegen an einer Straßenböschung in Korea, 10 Kilometer südlich von Kaesong, im dritten Graben rechts von der Hauptnachschubstraße, an dem großen Reisfeld; wir bitten Sie, befördern Sie uns so bald wie möglich nach Hause!‹«
»Sie sind wohl Kommunist!« brüllt ihn Mr. Berry an.
»Mann, ich höre noch gut«, sagt der alte Schreiner, »und ich bin der Vater des Obermaats George Wood des Ostasiengeschwaders; vielleicht haben Sie auch 'nen Sohn da draußen?«
»Davon ist nicht die Rede!«
»Grade davon, Mann! Denn ich habe das größte Interesse, daß mein George heimkommt und mir in meiner Bude hilft und nicht in die Luft fliegt für 'nen Boß, der auf die Kobalt- und Mangangruben in Nordkorea Appetit hat.«
»Sie scheinen ja mächtig informiert?«
»Wenn Sie in den Zeitungen die Berichte unsres Senats ein bißchen genau lesen, dann können Sie's ebenso sein.«
»Hallo, gut gesagt!« akklamiert ihm Mr. Watches.
»Hallo, gut gesagt!« echot eine helle Stimme.
»Was hast du denn hier zu suchen, du Rotznase?« erbost sich Mr. Berry und holt aus, um Jimmy eine zu knallen. Aber wie eine Katze ist die kleine Ille hochgesprungen und hat sich in seine Hand gekrallt: »Pfui, ein Kind zu schlagen!« Sie reißt Jimmy schnell mit weg in den Kartoffelverschlag, wo sie unter der ersten Bretterlage im Halbdunkel niederkauern.
»Da hast du ja was Schönes angestellt, Jimmy!« sagt sie leise.
»Der Alte hat's der blöden Blutwurst fein gegeben; oder nicht?«
»Ja, Jimmy; aber wo wir die Briefe haben … wieviel hast du noch?«
»Noch sechs; jetzt müssen wir woandershin, hier ist's zu hell.«
»Kannst du denn, Jimmy?«
»'ne Frage!«
Ille hat Jimmy an der Hand gefaßt; sie spürt das leiseste Vibrieren seiner Muskeln, wenn der Junge sich überanstrengt hat oder wenn ein Anfall droht. Aber Jimmys Hand ist ganz ruhig und trocken; freundschaftlich preßt sie Ille.
In diesem Augenblick ruft die junge rothaarige Frau: »Das ist ja großartig … das ist mutig … zwei Kinder, die ihren Vater im Krieg verloren haben, schreiben uns da einen Brief!«
»Einen Brief …«
»Von Kindern …«
»Woher?«
Ille und Jimmy lauschen mit angehaltenem Atem. Wenn es jetzt schon herauskommt? Es sind kaum sonst noch Kinder im Keller. Wenn es bloß nicht so hell wäre! Wenn man zu der Azetylenlampe könnte, die da droben auf einer Zeitung steht! denkt Ille.
»Geben Sie den Wisch sofort her!« befiehlt Mr. Berry.
»Der Teufel geb Ihnen seine Hörner! Das ist ein Brief an mich!« sagt die Rothaarige und beginnt zu lesen:
Liebe Mütter und Väter!
Wir bitten euch keine Menschen unsrer Stadt mehr in den Krieg nach Korea ziehen zu lassen auch keinen andern Krieg mehr zu dulden wir sind in großer Sorge
Zwei Kinder
die im Krieg ihren Vater verloren haben
»Wie Kinder sowas sagen!« meint der alte Schreiner gerührt.
Und der verkrachte Bankier: »Haben oft mehr Verstand als wir alten Füchse.«
»Das ist ein Trick! Das sind die Roten! So schreiben keine Kinder!« tobt Mr. Berry.
»Weshalb schreiben so keine Kinder, Mr. Kanalgeruch?« entgegnet ihm die Rothaarige. »Im übrigen sind es ja nicht die einzigen Kinder, die ihren Vater verloren haben. Wer gibt ihnen den wieder? Da hilft auch keine Rente. Vater ist Vater, und Mensch ist Mensch!«
Jimmy hat zu schnaufen begonnen, er zieht das Wasser durch die Nase hoch. Ille hört es. Wenn sie bloß hier wegkönnten! Doch es ist zu hell und die Lampe steht zu hoch. Allerdings steht sie auf einer Zeitung, deren eines Ende herunterhängt. Wenn man an der Zeitung plötzlich zöge. Mut gehört dazu. Mut gehört zu allem; das weiß die kleine Ille schon; hätte sie sonst mit Jimmy die Sache mit den Kinderbriefen gewagt?
»Die Bande muß hier in meinem Keller stecken!« kreischt jetzt Frau Webster, die Gemüsefrau, und hält ein Blatt Papier hoch. »Auch in meiner Tasche steckte so ein Wisch!«
»Alle Taschen untersuchen!« kommandiert Mr. Berry.
Und eine ältere Frau: »Wie? Sind wir in 'ner Kaserne?«
»Wer den Kinderbrief noch nicht hat, kann ihn von mir bekommen!« ruft die Rothaarige.
Die kleine Ille ist schon bei dem Geschrei der Gemüsefrau zur Mauer gekrochen, ohne Jimmys Hand mit ihrer Linken loszulassen; jetzt nimmt sie allen Mut zusammen, richtet sich blitzschnell auf und reißt mit der herunterhängenden Zeitung die Azetylenlampe herab, die zischend verlischt.
»Die Kommunisten!«
»Ruhe hier!«
»Gas! Ich ersticke!«
»Tür auf …«
Ein Menschenwirbel wuchtet gegen die Tür. Das Schloß kracht aus dem Holz. Im Dunkel stieben die Kellerinsassen ins Freie, mit ihnen die beiden Kinder Ille und Jimmy.