Julius Wolff
Der Rattenfänger von Hameln
Julius Wolff

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XVII. Das Gericht
 

Ich schreie
Und feie
Für Freie
Und Knecht
Mit Grunde
Im Munde
Zur Stunde
Um Recht.

Ich frage
Und trage
Die Klage
Als Frohn,
Ich zünde
Und künde
Der Sünde
Den Lohn.«

            So mit ehern lauter Stimme
Rief die Glocke des Gerichtes.
Samstags Morgen war's, der Himmel
Wölbte sich so blau und heiter,
Und die Sonne schien so strahlend,
Als ob heut' sie alles Dunkle,
Wär's auch noch so fein gesponnen,
An den Tag zu bringen hätte.
Vor dem Thor auf eines Hügels
Flachem, weitgedehnten Rund
Stand ein Hagedorn, die Ält'sten
Kannten ihn grad so wie heute
Schon seit ihrer Kindheit Tagen.
Aber älter als der Baum noch
Und aus hartem Stein gehauen,
Nach der Sonne Aufgang schauend
Waren Sitz und Tisch darunter.
Das war die Gerichtsstatt Hameln's.
Abgesteckt durch Haselgerten
War ein Ring mit rothem Faden,
Mehr geschützt vor Volkes Andrang,
Als durch feste Eisenschranken,
Denn geheiligt war die Hegung.

In dem Ring, dem Sitz zur Rechten
Stand der Kläger mit den Zeugen,
Wichard Gruwelholt mit sieben
Eideshelfern, die als Gäste
Bei der Lautmerung gewesen.
Heribertus und Regina
Waren schnell versöhnt in Liebe,
Denn der Zauber war gebrochen,
Und Herr Wichard sah der Zukunft
Dieses Paars getrost entgegen.
Doch den fremden Rattenfänger
Hatte er dem Rath empfohlen,
Mit ihm den Vertrag geschlossen,
Ihm den Sold versagt und endlich
Ihn zur Lautmerung geladen.
Diese folgenschwere Kette,
Deren letztes Glied des Spielmanns
Nahes Ende werden mußte,
Lastete ihm auf der Seele,
Und der Freunde warmer Zuspruch
That ihm wohl; sie mahnten dringend
Ihn an die gekränkte Ehre
Als Geschlechterherr und Vater
Und erleichterten ihm sichtlich
Seine reuigen Bedenken.
Zu des Richterstuhles Linken
War die Bank der sieben Schöffen.
Sie auch trafen nacheinander,
Herrn vom Rath und Gildemeister,
Auf der Stätte ein, der Ersten
Einer war Herr Ethelerus;
Bald den Einen, bald den Andern,
Wie sie kamen, nahm bei Seit' er,
Auf sie ein mit Nachdruck redend;
Doch sie schüttelten die Köpfe.
Hinterm Schöffensitze hielt sich
Isfried Rhynperg, in den Zügen
Tiefen Ernst; er war gekommen,
Um des Glaubens letzte Tröstung
Dem verlornen Mann zu spenden.
Ganz abseiten, rings gemieden
Lag der Henker mit den Knechten.

In den Ring jetzt trat der Schultheiß,
Grüßte schweigend, sprach mit Niemand,
War geharnischt und behandschuht,
Hielt den weißen Stab in Händen,
Zog sein Schwert und legt' es vor sich
Auf den Tisch, ließ dann sich nieder
Auf den Stuhl und schlug nach Vorschrift
Übers linke Bein das rechte.
Nun zum Zeichen, daß Beklagter
Auf dem Weg sei zum Gerichte,
Klang zum zweiten Mal die Glocke.

»Ich lade
Zum Pfade
Der Gnade
Und Huld,
Ich zwinge
Und bringe
Zum Dinge
Die Schuld.

Ich hege
Und lege
Zu Wege
Den Rath,
Ich schlichte
Und richte
Zu nichte
Die That.«

      Auf dem Hügel um den Ring
Hatten die Bewohner Hameln's
Sich zu Tausenden versammelt.
Nicht ein müßig Schauspiel galt es,
Nur um sich den armen Sünder
Anzusehn, wie seit Uralters
Manchem hier der Spruch gefällt war
Jeder Einzelne, der heute
Auf der Schöffen Urtheil lauschte,
Fühlte selber sich beleidigt
Und begehrte nun Vergeltung;
Soviel Harrende zur Stelle,
Soviel Kläger auch und Gegner
Standen einig wider Hunold;
Denn sie frugen sich und meinten,
Welches Bürgers Frau und Tochter
Sei vor Höllenkünsten sicher,
Die selbst ein Geschlechterfräulein
In des Spielmanns Arm geliefert.
Wie auch Neid und Schadenfreude
Über Wohl und Weh der Reichen
Sich im Volke manchmal kundgab,
Gegen dieses Fremden Unthat
Hielten in geschlossnen Reihen
Vornehm und Gering zusammen,
Allen für die Ehre Hameln's
Galt sein Tod als einz'ge Sühne.

Und jetzt kam er; Ketten tragend,
Von Gewappneten umgeben,
Schritt er klirrend durch die Menge,
Die ihm scheu und finster auswich.
Bleich, doch ungebrochen aufrecht,
Einsam, keinen Freund zur Seite
Stand er nun im Ring vorm Richter.
Jetzt zum Anfang des Gerichtes
Klang zum dritten Mal die Glocke.

»Ich banne
Die Schranne
Und spanne
Die Bank,
Ich drohe,
Die Hohe,
Mit Lohe
Und Strang.

Ich härte
Dem Schwerte
Zu Werthe
Den Muth,
Ich stehe
Und gehe
Mit Wehe
Ans Blut.«

                          Todtenstill ward's, als der Schultheiß
Nun mit dem Gerichtsstab klopfte
Und er sprach mit lauter Stimme:
»Schöffen auf der Bank, ich frage:
Ist es jetzt an Jahr und Tag,
Weil' und Zeit, Gericht zu hegen?«
Antwort kam von Ethelerus:
»Ja, es ist so hohen Tages,
Und es steht so hoch die Sonne,
Daß, wenn Ihr von Gott die Gnade
Und vom Kaiser die Gewalt habt,
Ihr gerechtes Ding mögt hegen.«
»Ist die Bank gespannt? genugsam
Auch der Stuhl besetzt zur Hege?«
»Ja, der Stuhl ist ganz, wie Nothdurft
Es zur rechten Hegung fordert.«
»Also bann' ich und gebiet' ich
Hiermit des Gerichtes Frieden!
Kläger, schreie deine Klage.«
Gruwelholt trat vor nun, legte
Die geschnitzte Bilsenwurzel
Auf den Tisch und sprach: »Ich klage,
Klage, klage! dort der Fremde
Hat mit diesem Liebeszauber
Und verfluchten Hexenkünsten
Meiner Tochter Leib und Seele
Frevelhaft verführen wollen;
Leugnen kann er's nicht, hier stehen
Sieben unbescholtne Zeugen,
Stabt den Eid uns, wir beschwören's.«
Da erhob sich Ethelerus:
»Woher wißt Ihr denn so sicher,
Daß den Zauber aus der Wurzel
Just der Fremde hier geschnitzt hat?«
»Daher,« sprach der Bürgermeister,
»Daß er nachts, bevor es wirkte,
Ist auf meinem Hof gewesen,
Denn da hing am frühen Morgen
Schon der todte Rattenkönig,
Und kein Andrer konnt' ihn fangen.«
»Selber war ich Zeuge, Kläger,«
Sprach der Richter, »wie der Zauber
Auf der Lautmerung die Jungfrau
Ganz umstrickte, daß dem Fremden
Sie zu eigen werden mußte. –
Hunold Singuf,« sprach er weiter,
»Schein ist blickend, That ist handhaft,
Wie wollt Ihr von solcher Sünde
Euch vor Gott und Menschen rein'gen?«
Hunold schwieg, stand unbeweglich.
»Laßt den Wasenmeister machen,
Thut ihm weh mit scharfer Frage!«
Sprach ein Schöffe, »Gottesurtheil!
Feuerprobe!« riefen andre;
»Umgestülpt laßt eine Schüssel
Auf den bloßen Leib ihm binden,
Rieth ein Dritter, »und darunter
Setzet ein lebendig Mäuslein,
Gebt mal Acht, wie bald er losdrückt!«
Hohnerfüllten Blickes wandte
Hunold sich zur Bank, als dächt' er:
»Wenn ihr nur ein Mäuslein hättet!«
Da erkannt' er in dem Sprecher
An der Schmarre im Gesichte
Seinen Todfeind Wulf; aufzuckte
Ihm der Arm, die Ketten klangen.
»Zeugen, wollt den Eid Ihr schwören?«
Frug der Richter, – »Ja, wir wollen!«
Und der Richter stabte ihnen
Gegen die allseh'nde Sonne
Nun den Eid; die Sieben legten
Hut und Waffen nieder, knieten
Auf die Erde hin und schwuren.
Wieder sprach jetzt Ethelerus:
»Habt Ihr Sieben auch geschworen,
Doch behaupt' ich, daß der Spielmann
Nicht der Jungfrau Leib und Seele
Hat zu Grunde richten wollen.
Wie Ihr den bedungnen Sold ihm
Für den Rattenfang geweigert,
Da erbat er einen Kuß nur
Von des Bürgermeisters Tochter,
Und als ihm auch der verwehrt ward,
Wollt' er mit besondern Künsten
Ihn erzwingen; er gebrauchte
Zauberkräfte, aber weiter
Ging nicht seines Herzens Trachten,
Als mit dem Triumph des Kusses
Sich an Edlem Rath zu rächen.«
»Schöffe Ethelerus,« sagte
Ernst und streng der greise Schultheiß,
»Was in Menschenherzen vorgeht,
Der Allwissende nur weiß es;
Er in seiner ew'gen Gnade
Möge Wunsch und Willen prüfen,
Doch der Richter hier auf Erden
Wägt die Schuld und rächt Gescheh'nes.
Schöffen auf der Bank, ich frag' Euch:
Ist der Mann da vor Euch schuldig,
Mit geheimen Hexenkünsten
Nach der Bürgermeisters Tochter
Herz und Sinn gezielt zu haben?«
»Schuldig!« sprachen sechs von sieben,
Ethelerus einzig schwieg.
Da vom Sitz stand auf der Richter
Unterm Hagedorn; mit Würde
Nahm er seinen Hut vom Haupte,
Und die Tausend auf dem Hügel
Fielen alle auf die Knie,
Während er das Urtheil kundgab,
Nur die Schöffen blieben sitzen.
Also sprach Herr Sunneborne:
»Singuf, höre deinen Spruch jetzt;
Nennst dich Hunold, Unhold bist du!
Ich verfehme und verführe
Dich in Königsbann und Wette,
Friedensbrecher du! ich werfe
Aus dem Frieden dich in Unfried,
Setze dich aus allen Rechten
In das allgemeine Unrecht,
So daß Niemand an dir frevelt
Und wo Alle Frieden haben,
Sollst du keinen Frieden haben,
Nicht zu Wasser, nicht zu Lande,
Nicht zu Schiffe, nicht zu Klippe,
Nicht zu Fuße, nicht zu Rosse,
Nicht im Hause, nicht im Grabe.
Ich vermaledei' und künde
Dich von heut' auf ew'ge Tage
Ehrlos, wehrlos, echtlos, rechtlos,
Soweit über grüner Erde
Sonne auf- und untergehet,
Mond scheint, Regen sprüht und Schnee schmilzt,
Reif starrt, Donner rollt und Blitz fährt,
Schiffe schreiten, Schilde blinken,
Feuer brennt und Feder flieget,
Wasser geht zur See und Männer
Korn sä'n in die braune Scholle,
Soweit Kind schreit nach der Mutter,
Mutter Kind gebiert, der Himmel
Hoch sich wölbt, die Welt gebaut ist,
Föhre wächst und Habicht flieget,
Und am langen Frühlingstage
Unter beiden seinen Flügeln
Steht der Wind, der graue Wald
Auf den Bergen braust im Sturme,
Krummer Bach im Thale rauschet,
Rost'ger Spieß trifft, Mann daher kommt,
Christenmenschen gehn zur Kirche,
Heidenleut' im Tempel opfern,
Sterne wandeln, Erde feststeht. –
Ich verdamme dich zum Tode,
Auf dem Holzstoß sollst du brennen,
Deinen Leib soll Feuer fressen,
Gott sei deiner Seele gnädig!«

»Gnädig!« rief zurück das Echo
Durch die stille Morgensonne
Und das athemlose Schweigen.
Hunold wankte, seine Knie
Bebten ihm; da aus der Menge
Drängte sich ein Weib und stürzte
In den Ring hinein zu Hunold.
Gertrud war es; ihre Rechte
Auf des Spielmanns Schulter legend
Rief sie laut hinan zum Stuhle:
»Er ist mein! gebt mir sein Leben!
Als mein gutes Recht hier fordr' ich's!«
Heldenmüthig stand das Mädchen
Plötzlich wie empor gewachsen
Über ihres Leibes Größe;
Heftig auf und nieder stürmte
Ihr die Brust, mit offenen Lippen,
Todesangst im stieren Blicke,
Sah sie auf den strengen Richter.
Lautes Murren brach und rollte
Mächtig schwellend aus der Menge.
Doch den Stab erhob der Schultheiß:
»Ruhe!« donnerte der Alte,
»Weh und Waffen, wer den Frieden
Des Gerichts zu stören wagte!
Wißt, in ihrem guten Rechte
Ist die Magd, sie kann das Leben
Des Verdammten billig fordern,
Und nach König Karl's Gebot
Kann ich nimmer ihr es weigern,
Doch sie nimmt die Missethat
Mit aufs eigene Gewissen.
Forderst, Mädchen, du das Leben
Und die Freiheit dieses Mannes?«
Gertrud nickte bloß. – »Dann, Singuf
Bist du frei; in Kaisers Namen
Sprech' ich dich der Strafe ledig,
Und es darf bei Bann und Buße
Niemand sich an dir vergreifen;
Doch Urfehde sollst du schwören;
Schub und Tag will ich dir geben
Bis zum dritten Hahnenkraht;
Wer danach dich trifft, der könnte
Dich erschlagen ohne Rüge;
Willst du dich von hinnen schwören?«
»Ja!« sprach Hunold; da umschlang ihn
Gertrud, und nach einem langen,
Thränenüberströmten Blicke
Rief sie: »Fahrewohl auf ewig!« –
Eilend schwand sie im Gedränge;
Hunold wollte sie wohl halten,
Doch ihn fesselten die Ketten,
Die man langsam nun ihm abnahm.
Gegen die allseh'nde Sonne
Stabte ihm den Eid der Richter,
Nach dem dritten Hahnenkraht
Hameln's Bild und Bann zu meiden.
Den Gerichtsstab warf der Schultheiß
Auf den Tisch, das Schwert dann steckt' er
In die Scheide, und zu Ende
War die Hegung, frei der Spielmann.

Hin zu seinem guten Engel,
Seiner Retterin, zu Gertrud
Trieb es ihn auf heißen Sohlen,
Ihr auf seinen Knien zu danken
Und mit seiner ganzen Liebe
Ihr die stolze That zu lohnen.
Neu geschenkt war ihm das Leben,
Offen lag die Welt jetzt vor ihm,
Einen Strich durch das Vergangne!
Und nur fort von hier mit Gertrud,
Um des oft geträumten Glückes
Seligkeit in weiter Ferne
Mit des Vaters frommem Segen
Zu erringen, zu genießen.
O wie schlug das Herz dem Spielmann!
O wie trank die Luft der Freiheit
Er mit tiefen Athemzügen
In dem Sturmschritt zur Geliebten!

Doch des Fischers Haus und Garten
Waren leer, nicht in der Laube,
Nicht im Stübchen fand er Gertrud;
Da durchzuckt ihn bange Ahnung, –
»Fahrewohl auf ewig!« rief sie, –
»Ach! Sie liebt dich ja, und Alles
Klärst du ihr nun auf,« so sprach er
Zu sich selber, »Alles wendet
Sich zum Guten, – fliege, Hoffnung,
Wie der Falke über Wolken!« –

Schritte nahen; an der Pforte
Tritt der alte Fischermeister
Ihm entgegen, trägt auf Armen
Wassertriefend seine Tochter,
Die er aus des Stromes Wellen
Aufgefischt, zu spät, als Leiche. –
Wie vom Blitz gerührt steht Hunold,
Schreckensstarr, das Ungeheure
Nicht begreifend, faßt zur Stirne:
Gertrud todt! und deinetwegen,
Deinetwegen starb sie, glaubte
Untreu dich – der Liebeszauber
Und Regina's Kuß – o Irrthum,
Welch' ein Meisterstück der Hölle!

Aus des alten Mannes Armen,
Der mit leisem Wimmern machtlos
Ganz zusammenbrach im Schmerze,
Nimmt der Spielmann die Geliebte,
Legt auf Gras und Klee sie nieder;
Doch kein Laut, kein Ton der Klage
Kommt von seinen bleichen Lippen,
Wie er über sie gebeugt liegt.
Endlich aber, endlich rafft er
Sich empor auf seine Knie,
Und mit schrecklichem Gesichte
Gertrud's Hand in seine nehmend
Droht er mit der Faust zur Stadt hin:
»In die Hand der Todten schwör' ich
Rache dir, verfluchte Stadt!
Hast mein Liebstes mir genommen,
Nehmen will ich dir dein Liebstes!«


 


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