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3. Im friedlosen Frieden

Kein Fußbreit deutscher Erde war von fremden Truppen besetzt gewesen, als die gewaltige Übermacht unserer Feinde, deren unser Heer sich in beispielloser Tapferkeit und Zähigkeit über vier Jahre erwehrt hatte, ihm jenen Waffenstillstand aufnötigte, der die natürliche Folge der schließlichen Niederlagen unseres Heeres, der jeden Widerstand lähmenden Umwälzung im Inneren des Reiches und der Voraussichtslosigkeit der deutschen Staatskunst vor dem Kriege und während des Krieges war. Hatten wir, abgesehen von den vorübergehenden Einfällen Rußlands in Ostpreußen, während der ganzen vier Kriegsjahre innerhalb unserer Reichsgrenzen, trotz aller Entbehrungen und Beschränkungen, die unsere Absperrung von der übrigen Welt uns auferlegte, fast so ruhig und unbehelligt dahingelebt wie im Frieden, so begannen wir erst jetzt alle Schrecken der Zeit am eigenen Leibe mitzuerleben. Von allen Seiten rückten die feindlichen Heere, anfangs nur bis zu den vorgesehenen Grenzen, bald aber unter immer neuen Vorwänden weit über diese hinaus in Deutschland ein, und Aufruhr auf Aufruhr folgte im Reiche.

Am aufregendsten waren die fünfviertel Jahre, die zwischen dem Waffenstillstand und dem angeblichen Friedensschluß am 10. Januar 1920 verflossen. In diese Zeit fallen die blutigen Tage von Berlin, Hamburg, Bremen, Leipzig und München. Von München aus versuchte damals die rote, wie einige Jahre später die weiße Diktatur, Deutschland zu erobern. Bei uns in Dresden ging es trotz der Ermordung des mehrheitssozialistischen Kriegsministers Neuring durch seine weiter links stehenden Genossen im April 1919 verhältnismäßig ruhig zu. An Schießereien hat es freilich auch hier nicht gefehlt. Bruderblut ist auch hier geflossen; aber der ruhige Bürger, der sich nicht tätig und tätlich in den Streit der Parteien mischte, war hier, wie übrigens in den meisten deutschen Städten, während aller Schreckenstage in den vier Wänden seines Hauses und auf Wanderungen in der Umgebung der Stadt seines Lebens fast so sicher wie vor dem Ausbruch des Krieges.

Waren in Berlin eine Zeitlang Raubzüge, Plünderungen und Straßenmorde an der Tagesordnung, wurden in Leipzig wie in Plauen i. V. herrschaftliche Wohnhäuser eingeäschert und in Trümmerhaufen verwandelt, wurden in München ruhige Bürger aus ihren Häusern geholt und erschossen, waren in Hamburg die meisten meiner eigenen wohlhabenden Verwandten einschließlich meines Bruders Eduard in ihren eigenen Häusern von Einbrecherbanden heimgesucht worden, so haben wir in Dresden, so drohend die Aufrührer auch hier ihr Haupt erhoben, von alledem eigentlich nichts oder so gut wie nichts erlebt.

Aber freilich: Die unerfüllbaren Friedensbedingungen, die unser öffentliches Vermögen weit über die Grenzen der Möglichkeit hinaus in Anspruch nahmen, die Wohnungsnot, die sich nach der Zurückflutung unseres Volkes in Waffen in seine Heimatsorte, da der Krieg alle Neubauten verhindert hatte, in kaum geahnter Weise fühlbar machte, die Arbeitslosigkeit Hunderttausender, die sich trotz des Wiederaufschwungs unserer Fabriktätigkeit nur allzubald als ein Pfahl in unserem Fleische erwies, und die rasche, wenngleich zunächst nur als Teuerung empfundene Entwertung unseres Geldes machten sich im täglichen Leben jedes einzelnen von uns bald genug härter bemerkbar, als es jemals während des Krieges der Fall gewesen war.

Um allen ihren inneren Aufgaben gerecht zu werden, blieb dem Reiche, den Ländern und den Gemeinden nichts anderes übrig, als Papiergeld und immer neues Papiergeld drucken zu lassen.

Wie sagte doch Mephistopheles?

»Ein solch Papier an Gold und Perlen Statt
Ist so bequem; man weiß doch, was man hat!«

Und was antwortete Goethes Kaiser?

»Und meinen Leuten gilt's für gutes Gold?
Dem Heer, dem Hofe g'nügt's zu vollem Sold?
So sehr mich's wundert, muß ich's gelten lassen.«

Es war eine Schraube ohne Ende. Natürlich stiegen infolgedessen alle Preise, Löhne und Gehälter allmählich, aber sicher ins Ungemessene.

Die Folgen waren dieselben wie die der französischen Assignatenwirtschaft zur Zeit der großen Revolution. Wer kein Geschäft oder keine eigene Erwerbsarbeit hatte, kein Gehalt oder Ruhegehalt bezog, verarmte mit Riesenschritten und konnte schließlich sein Leben nur durch den Verkauf seiner sachlichen Habe oder durch das Börsenspiel mit dem An- und Verkauf von Aktien fristen, die scheinbar stiegen und stiegen, in Wirklichkeit aber, da ihr Steigen doch nicht mit dem Mehrdruck von Papiergeld Schritt hielt, fielen und fielen.

Alles das legte unsereinem, dessen Ruhegehalt früher nur einen Bruchteil seines Gesamteinkommens ausgemacht hatte, jetzt aber, wenn auch erhöht, so doch nicht entfernt der Entwertung unseres Geldes entsprechend erhöht wurde und schließlich, auf einen Bruchteil seines Friedensbetrages herabgesunken, beinahe sein einziges Einkommen bildete, die größten, früher nicht für möglich gehaltenen Entbehrungen auf, die man – ach wie gern! – getragen hätte, wenn man nur gesehen hätte, daß sie dem Vaterlande zugute gekommen wären, anstatt dem vergeblichen Versuche zu dienen, den unersättlichen Rachen unserer Todfeinde zu füllen.

 

In den ersten Jahren des angeblichen Friedens – der doch nur ein bewußter Nachkrieg war – blieben die Preise der Lebensmittel, der Kleidungsstücke und merkwürdigerweise auch der öffentlichen Verkehrsanstalten noch so weit hinter der Entwertung unseres Geldes zurück, daß sich noch einigermaßen durchkommen ließ. Zog die unverhältnismäßige Billigkeit aller Nahrungs- und Sachwerte und namentlich auch der Verkehrsmittel in dieser Zeit doch Hunderttausende von Fremden nach Deutschland, die bei uns weit billiger lebten als in ihren eigenen Ländern, unsere Waren auf- und auskauften und fast umsonst auf unseren Eisenbahnen fuhren. Konnte im November 1922, wie ich damals zufällig Anlaß hatte, auszurechnen. ein Amerikaner doch für einen Dollar mehr als dreimal in der ersten Klasse zwischen Hamburg und Dresden hin- und herfahren.

Daß diese unverständliche Reichsfinanzwirtschaft sich bald genug bitter auch an jedem einzelnen rächte, war wahrlich kein Wunder. Jeder von uns hat es nur allzu rasch am eigenen Leibe erfahren.

Am schlimmsten waren unsere unvergleichlichen Hausfrauen daran, die trotz aller Lasten, die sie drückten, bemüht blieben, uns himmlische Rosen ins irdische Leben zu flechten. Oft war es, zumal ein empfindlicher Mangel an Hausangestellten eintrat, kaum möglich, ihnen eine Bürde abzunehmen, ohne ihnen dadurch eine andere noch schwerere aufzulegen; und wenn die Aufopferungsfähigkeit, Anpassungsgabe und Seelenstärke unserer Frauen uns mit stolzer Bewunderung erfüllten, so trieben sie uns doch auch oft genug die Schamröte darüber ins Gesicht, daß wir ihnen nicht helfen konnten.

Aber was bedeuteten alle die Unbequemlichkeiten und Einschränkungen unseres leiblichen Lebens, die die Zeit uns auferlegte, gegen die Herzensnöte und Seelenqualen, die die immer erneuten und immer verstärkten Demütigungen durch unsere Feinde, namentlich durch Frankreich, uns verursachten, dessen Forderungen von Jahr zu Jahr weiter über den Friedensvertrag von Versailles hinausgingen. Seine Furcht, daß wir uns wieder aufraffen könnten, war noch stärker als sein Haß gegen uns; und diese Furcht ließ es jede Anwandlung seiner früheren Ritterlichkeit und Gerechtigkeitsliebe vergessen. Von den anderen Völkern, die Krieg gegen uns geführt hatten, suchte wenigstens England, auf seinen Vorteil bedacht, ab und zu mäßigend auf Frankreich einzuwirken; aber es gelang Frankreich, das die stärkere Rüstung für sich hatte, im entscheidenden Augenblick immer wieder, England zu seiner Auffassung der Nachkriegsführung hinüberzuziehen.

Daß wahrhaftig kein ritterlicher Mut dazu gehörte, ein wehr- und waffenlos gemachtes Volk immer weiter zu zertreten, werden alle anständigen Franzosen, derer es natürlich genug gibt, gefühlt haben und immer wieder fühlen. Aber die Furcht, die blind macht, übertönte bei ihren Machthabern jede andere Regung; und, um ihr Vorgehen vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen, setzten sie der Schmach, die sie uns antaten, die Krone auf, indem sie einem großen, in der Kulturarbeit für die Menschheit erstarkten Volke wie dem unseren nicht nur jedes Verdienst auf jedem Gebiete des Lebens, der Kunst und der Wissenschaften, sondern beinahe auch die Menschenrechte absprachen.

Daß nicht alle Franzosen so denken, weiß ich. Ich selbst habe nach dem Kriege wissenschaftliche Gefälligkeiten, die ich nicht erbeten hatte, von Franzosen empfangen; aber die meisten Franzosen dachten eben so, wie die Poincarésche Politik es verlangte.

Ich bin in einer gewissen Liebe zu Frankreich und der Bewunderung auch des französischen Volkes, seiner Kunst und seiner Gesittung groß geworden. Wie schwer es mir ward, in dieser Beziehung umzulernen, brauche ich nicht zu betonen. Die Franzosen, die Poincaré folgten oder ihn leiteten, waren aber nicht die Franzosen, deren Geist und deren Kunst wir bewundert und deretwegen wir Frankreich geliebt haben.

 

Ach! wie oft wünschte man sich Flügel der Morgenröte, um sich aus dem schweren Dunstkreis der kleinlichen Tagessorgen und der großen Demütigungen in höhere, hellere Sphären zu erheben! Wie oft befiel mich eine heiße Sehnsucht, vergessenheitsdurstig unterzutauchen in dem Meer der Künste, von deren Wogenschlag in Dresden die großen Theater diesseits und jenseits des Zwingers ertönten, oder mich ganz mit fortreißen zu lassen von den Farbenfluten und den Formenrhythmen, deren Gestaltungen mir in den hohen Hallen und Sälen der Dresdner Sammlungen so zeitlos menschlich und göttlich ins Auge blickten.

Der Krieg und die Revolution hatten der Dresdner Oper nur geringen, dem Dresdner Schauspiel keinen Eintrag getan. In der Oberleitung unseres Theaterwesens war eine Zeitlang Georg von der Gabelentz unserem großsinnig künstlerisch wirkenden Nikolaus Grafen von Seebach an die Seite getreten. Ernst von Schuch, unser großer Generalmusikdirektor, war freilich gestorben; aber die Hofkapellmeister August Hagen und Hermann Kutzschbach wirkten erfolgreich weiter. Fritz Reiner, der an Schuchs Stelle trat, erwarb sich Freunde und Gegner. Erst als Fritz Busch nach Dresden berufen wurde, wehte ein Hauch alten und zugleich neuen Lebens durch unsere Operndarstellungen, die zu besuchen unsereins sich aber nur ganz ausnahmsweis, schließlich überhaupt nicht mehr leisten konnte.

Dem Konzertleben Dresdens versuchte Edwin Lindner einige Jahre neues Leben einzuhauchen. Aber wie vorher Nicodé, so konnte auch er der Übermacht der staatlichen Opernhauskonzerte auf die Dauer nicht standhalten. Daß unsereins überhaupt noch Musik zu hören imstande war, verdankte er fast allein den gastlich-musikalischen Sonntag-Vormittagen, zu denen Bertrand Roth stets einen erlesenen Kreis Dresdner Musikfreunde um sich versammelte. Wie manchen schönen Morgen haben wir uns hier in schönere Zeiten zurückgeträumt. Roth, selbst ein ausgezeichneter Klavierspieler, ließ sowohl junge Vortragende wie junge Tondichter ihre Gaben ausstreuen, kehrte aber immer wieder begeisternd zu den großen Meistern zurück, die er selbst, teils allein, teils in Verbindung mit bewährten Geigern und Cellisten, Sängern und Sängerinnen eindringlich zu Gehör zu bringen verstand. Mit Vergnügen erinnere ich mich eines schönen Oktobersonntags, der den Dresdner Komponisten Reinhold Becker, der zu dem ältesten Bestande auch unserer Dresdner Bekannten gehörte, Felix Gotthelf, dem erst vor kurzem nach Dresden übergesiedelten frisch begabten Tondichter, und ihm selbst, dem Gastgeber, gewidmet war, dessen eigene Tonschöpfungen immer feinsinnig anziehend wirkten, wie sein ganzes Wesen. Ergreifend war die Beethovenfeier, die Roth am 6. Februar 1921 veranstaltete. Der treffliche Musikschriftsteller und Dichter Karl Söhle hielt den Festvortrag; und unter den Tonschöpfungen des großen Meisters, die wir an jenem Morgen zu hören bekamen, nahm uns als Seltenheit namentlich ein Trio für Klavier, Cello und Klarinette gefangen. Besonders genußreich aber war der Sonntagvormittag dem 10. Juni 1923, an dem Roth uns drei der eindringlichsten Sonaten Beethovens, die Mondschein-Sonate, die Pastorale (op. 28) und die Appassionata vortrug. Wahrlich, wir können Roths nicht dankbar genug dafür sein, daß sie uns in Zeiten tiefster Verstimmung immer wieder hochzustimmen verstanden; und der erlesene Bekanntenkreis, der sich zu ihren Darbietungen einzufinden pflegte, erhöhte die Behaglichkeit der schönen Morgenstunden im gastlichen Hause. Fein aber waren auch die musikalischen Abendtees, die Karl Fehling, ein anderer hervorragender Pianist Dresdens, und seine liebenswerte Gattin, meine Landsmännin, in ihrem gastlichen Heim zu veranstalten pflegten. Fehling selbst wuchs als Klavierspieler, wie uns schien, von Jahr zu Jahr; und die besten seiner zahlreichen Schüler, denen er an solchen Abenden Gehör verschaffte, weckten warme Teilnahme für seine Erfolge als Lehrer.

Der erfolgreichste der Musiker unseres Kreises aber blieb unser Freund Jean Louis Nicodé. In so tiefe äußere und innere Bedrängnis ihn das frühzeitige Hinscheiden seiner einzig geliebten Lebensgefährtin gebracht hatte, seine Kunst und seine Freunde halfen ihm nach Möglichkeit doch über verzweifelte Stimmungen hinweg. Seine Schaffenskraft regte sich wieder. Eine Reihe von Liedern und Weihegesängen entquollen noch seiner klingenden Seele. Seine alltäglichen Lebenssorgen nahmen ihm mit rührender Aufopferungsfähigkeit namentlich zwei junge Langebrücker Damen, Fräulein Johanna und Gertrud Thiel ab, die mit ihrer Mutter Nicodé gegenüber wohnten und seiner Frau in treuer Verehrung zugetan gewesen waren. Sie haben das ihre dazu getan, ihn wieder zu sich selbst kommen zu lassen.

Öfter als früher hatten wir in dieser Zeit Gelegenheit, auch in der Öffentlichkeit uns von den Rhythmen seiner eigenen großen Tonschöpfungen, wie den symphonischen Variationen, des »Meeres«, der »Gloria« und des »Deutschen Gebetes« hinreißen zu lassen. Aber auch in seinem eigenen Hause in Langebrück empfing er uns nach wie vor mit Spenden aus seiner Fülle, bis er in einer Anwandlung von Verzweiflung und wirklicher Not einmal alle seine drei Flügel nacheinander veräußerte. Aus den Berliner Kreisen des Allgemeinen deutschen Musikvereins und der Genossenschaft deutscher Tonsetzer, zu deren Vorständen Nicodé gehörte, wurde ihm wenigstens leihweise Ersatz geschaffen.

Auch unser eigenes Haus blieb, solange Nicodé lebte, ein musikalisches Haus, in dem seine Musik unversehens zu unserer ward. Aber nur allzubald sollte sie verstummen. Der teure Meister und liebe Freund war schon seit zwei Jahren leidend gewesen. Eigensinnig und ärztefeindlich wie er war, ließ er sich nicht bewegen, sein nicht unheilbares Leiden nach allen Regeln der Kunst behandeln zu lassen, bis es zu spät war. Im Spätsommer 1919 verschrieb er sich selbst eine Kur in Kissingen, die schwerlich das Richtige für ihn war. Seine beiden Langebrücker Freundinnen, die ihn, wie wir, da er schon recht gebrechlich war, nur mit starker Besorgnis allein nach Kissingen reisen ließen, wählten, um ihm näher zu sein, für sich das kleine, malerisch gelegene Städtchen Berneck im Fichtelgebirge zum Erholungsaufenthalt. Von dem Kissinger Arzte der schweren Urämie wegen, an der er litt, nach Hause geschickt, erreichte er, schon dem Tode geweiht, Berneck mit Mühe und Not. Von hier telegraphierten die beiden Damen uns am 1. Oktober 1919, sie würden am 2. Oktober in aller Frühe mit ihm nach Langebrück zurückkehren. Am Dresdner Hauptbahnhof angekommen, befand er sich in einem verzweifelten Zustande, wünschte aber zunächst zu uns gebracht zu werden. Wie schmerzlich bewegt nahmen wir ihn in unser Haus auf! Wir schickten sofort zum Arzt, der uns doch riet, ihn in sein eigenes Haus nach Langebrück zu bringen. Der liebe Freund erklärte sich hiermit nur ungern einverstanden, und seine Züge verklärten sich erst, als er sah, daß meine Frau mitfuhr. An meiner Gartenpforte drückten wir uns zum letzten Male die Hände.

In Langebrück wachte meine Frau zwei Nächte bei ihm. In der Morgenfrühe des 4. Oktober sah sie ihn sanft entschlummern.

Auf dem Langebrücker Friedhof an der Seite seiner Fanny begruben wir den geliebten Meister. Die Trauerfeier fand am 7. Oktober in seinem vereinsamten Hause statt. Die erste Ansprache hielt der Langebrücker Pastor Teschner. Die Hauptrede, die mir aus tiefstem Herzen quoll, hielt ich. Im Namen des Dresdner Opernorchesters sprach Hermann Kutzschbach. Reden der Vertreter von Berliner und Dresdner Musikvereinen folgten. Frau Plaschke von der Osten sang, von Reiner selbst begleitet, Nicodés letzte Schöpfung, den ergreifenden Ruhegesang. Alles verlief schlicht und feierlich. Als der Sarg in die Grube versunken war, wir ihm drei Hände Blumen nachgeworfen hatten und der Pfarrer den Segen über ihm gesprochen hatte, kehrten wir tiefergriffen in sein Haus zurück.

Auch unser Haus in Dresden kam uns verödet vor, als wir es nach Nicodés Tode wieder betraten.

Im nächsten Jahre setzten wir dem trefflichen Meister und Freunde ein künstlerisches Denkmal auf sein stilles Grab an der Friedhofsmauer zu Langebrück. Die Mittel dazu lieferte die Sammlung der »Nicodé-Ehrung«, die ich unter seinen Verehrern schon früher für ihn veranstaltet hatte. Was dem Lebenden zugedacht war, kam nun dem Andenken des Verstorbenen zugute. Seine Erben gaben einen Zuschuß. Die Ausführung übertrug ich unserem Freunde Edmund Moeller. Dieser schmückte den stilvoll zwischen zwei Zypressen gestellten Grabstein mit der edel expressionistischen Reliefgestalt der Tonkunst. In die Saiten greifend, schwebt der Genius der Symphonie-Ode »Das Meer« über den streng und keusch nur durch das antike Wellenschema angedeuteten Wogen.

 

Im Schauspiel stand Dresden auch während der Nachkriegszeit in der vordersten Reihe der deutschen Bühnen. Die junge und jüngste Bühnendichtung, die hier schon unter der Oberleitung des ebenso vorurteilsfreien wie geist- und kenntnisreichen Grafen Seebach nicht vernachlässigt worden war, kam, seit unser teurer Paul Wiecke Schauspieldirektor geworden war, nur umso ergiebiger zu Worte. Hatte Karl Zeiß als Dresdner Hoftheaterdramaturg bis in die Kriegszeit hinein Bedeutendes geleistet, bis er uns nur allzubald entführt wurde, so gewann unser Theater in Karl Wollf einen neuen Dramaturgen von tiefgründigem Wissen, der sich auch im übrigen literarischen Leben Dresdens, namentlich durch seine geistvollen öffentlichen Vorträge, rasch einen Namen erwarb.

Auch an den Versuchen mit neuartig-expressionistischen Bühnenbildern beteiligte unser Schauspielhaus sich mit den wechselnden Erfolgen, die auf diesem Gebiete allein möglich waren. Nicht nur naturalistische, sondern wirkliche, natürliche Menschen in kubistisch oder expressionistisch zugestutzten Städtebildern oder Landschaften auftreten zu sehen, wird immer ein Widerspruch bleiben.

Ach! welchen Anteil ich innerlich an den Erfolgen unserer Bühne nahm! Wie beglückt ich gewesen wäre, mich gerade in unserem Schauspielhaus öfter über das ergraute Alltagsleben hinausheben zu lassen! Aber freilich auch hier dieselben Hindernisse, auch hier der unübersteigliche Stacheldrahtverhau der Entwertung aller unserer Einnahmen gegenüber der Verteuerung aller Ausgaben!

All die gewaltigen Dramen, die Trauer-, Schau- und Lustspiele, in denen das Außen- und Innenleben aller Zeiten und Völker sich widerspiegelt, konnten mich ja auch freilich daheim im behaglichen Eigenzimmer in ihren Bann ziehen und über die Zeit und mich selbst erheben; und wenn die Arbeitslast, die die Zeiten auch meiner Frau und Tochter auferlegten, auch kaum noch gestattete, uns gemeinsam an der Hand unserer Lieblingsdichter auf den Helikon geleiten zu lassen, für mich selbst fand ich doch noch stille Stunden, in denen ich die Hand der Dichterfürsten dankbar ergriff. In je entlegenere Welten sie mich entführten, desto dankbarer war ich ihnen. Nur fort, fort aus der zermürbenden Gegenwart, die uns umfing! Die letzten Stunden vor dem Schlafengehen pflegte ich nach getanem Tagewerk von jeher den Schöpfungen der Dichter zu widmen; und in keine Dichtungen vertiefte ich mich zu diesen Stunden jetzt lieber als in die Märchen von 1001 Nacht, die mich in ferne, fremde, wenn auch vielleicht nicht glücklichere Welten entführten.

 

Fester noch als die Musik und als die Dichtkunst waren und blieben die bildenden Künste mit den berufsmäßigen Lebensaufgaben verknüpft, die mir gestellt waren. Schmerzlich empfand ich es, daß mein Abschied vom Akademischen Rat, der jetzt auf viel breiterer Grundlage, als er bisher besessen, erneuert wurde, meine persönlichen Beziehungen zur Kunstakademie gelockert und mich, wohl im Verein mit der immer ungeselliger werdenden Zeit, verhinderte, persönliche Fühlung mit den neu an die Akademie berufenen bedeutenden Meistern der Malerei und der Bildhauerei zu gewinnen. Von diesen waren die Maler Ludwig von Hofmann und Otto Hettner, die jetzt zu ausgeprägten Künstlercharakteren gereift waren, in ihrer Jugend unserem Hause nicht fremd gewesen, und ich freute mich, ihnen und Karl Albiker, dem älteste und neueste Empfindung wirksam verschmelzenden Bildhauer, wenigstens gelegentlich einmal zu begegnen. Oskar Kokoschka aber, den eigenwilligen Meister, der nur einige Jahre in Dresden blieb, lernte ich auch hier nur in mystischem Fernennebel kennen.

Unmittelbarer als mit den lebenden Meistern gestaltete sich jetzt gerade auf dem Gebiete der bildenden Künste unser Verkehr mit den großen toten Meistern, deren befreiende Schöpfungen uns in allem Elend, das uns umgab, aus einer reineren, schöneren Welt zu sich heranwinkten.

In den Meisterwerken ihrer Künste wirken die Völker, die Haß und Krieg entzweit, einmütig zur Erhebung aller zusammen. Keine Schranken trennen uns von der hoheitsvoll milden Erscheinung der Gottesmutter und dem durchdringenden, Welterlöser-Geheimnisse verkündenden Blicke des Knaben auf ihrem Arm in Rafaels einzigem Bilde. Keiner Vermittlung bedarf das Verständnis von Tizians farbenglühendem, gedankensprühendem und doch so anspruchslos in sich selber blühendem Zinsgroschenbilde. Stammverwandt berührt uns die Vermählung kräftigen Wirklichkeitslebens mit überirdisch helldunkler Mystik in Rembrandts Opfer Manoahs. Unmittelbar scheinen die herrlichen Männer und Frauen, deren Bildnisse Rubens, van Dyck, Holbein und Dürer, vor allem aber immer wieder Rembrandt, gemalt haben, uns mahnend und ermutigend zuzusprechen. Überzeugend weht die Einheit des Schöpferwillens in Sturm und Sonnenschein, in wallenden Strömen und rauschenden Wipfeln, in Bergen und Tälern mit den empfänglichen Seelen der Menschen uns aus den Landschaften Ruisdaels, Hobbemas und des großen Lothringers an.

Lehrreich und anziehend trat uns aber auch die ganze Weiterentwicklung der Malerei während des neunzehnten und dann – wie neuartig spannend – die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts jetzt nicht nur bereits in den ihr gewidmeten Sälen der Gemäldegalerie, sondern auch in den großen Dresdner Sommerausstellungen entgegen, die sich allerdings während des Krieges und des Nachkrieges aus dem großen Ausstellungsgebäude zurückgezogen und zu den beiden kleineren Ausstellungen der alten ehrwürdigen Kunstgenossenschaft auf der Brühlschen Terrasse und der jungen Künstler-Vereinigung Dresden an der Lennéstraße entwickelt hatten. Und wie tapfer hielten auch die alten Kunsthandlungen von Ludwig Gutbier auf der Schloßstraße und von Emil Richter auf der Prager Straße, denen jüngere sich anreihten, während der bösen Kriegs- und Nachkriegszeit darauf, daß uns die Weiterentwicklung der Malerei, die unbekümmert um Not und Tod ihre Wege ging, vor Augen geführt wurde!

Von den großen auswärtigen deutschen Kunstausstellungen besuchte ich während dieser Jahre wenigstens die zu Berlin, zu Hamburg und zu Düsseldorf, auf denen ich namentlich die jüngste Entwicklung der Malerei verstehen zu lernen suchte, die uns freilich noch geschlossener und gewählter schon in der Nationalgalerie in Berlin, die ihre jüngeren Schulen im ehemaligen Kronprinzen-Palais glänzend vereinigte, in der Hamburger Kunsthalle, deren neuer Anbau während des Krieges fertig wurde, und in dem Osthaus'schen Folkwang-Museum zu Hagen entgegentrat, ehe es 1922 nach Essen übersiedelte.

Mit dieser jüngsten Malerei, zu der ich ja auch in der neuen Auflage meiner Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker Stellung nehmen mußte, ist es mir eigen ergangen. Daß die Abkehr der Malerei von der äußeren Natur, nachdem sie deren Wiedergabe einige Jahrzehnte lang als ihren Hauptzweck angesehen, ein natürlicher, ja notwendiger Schritt ihrer Weiterentwicklung war, leuchtete mir anfangs so wenig ein, wie den grundsätzlichen Anhängern des Alten und dem großen »Publikum«, das nur leichte Unterhaltung sucht. Daß die neue Richtung in Deutschland mit der Gründung der »Brücke« im Jahre 1906 eigentlich von Dresden ausgegangen, wenn auch einige Jahre später in München vom »Blauen Reiter« noch folgerichtiger weitergeführt wurde, hatte mich ihr nicht nähergebracht.

Erst als ich einsah, daß die jungen Vertreter dieser Richtung, von Haus aus gut geschult, auch im anerkannten Sinne malen konnten, wenn sie wollten, und daß es ihnen heiliger Ernst mit ihrer Sache war, fing ich an, Anteil an der Bewegung zu nehmen; und als das Gutbiersche Kunsthaus in Dresden 1914 eine gewählte Expressionisten-Ausstellung zur Anschauung brachte, konnte ich manchen ihrer Schöpfungen schon Geschmack abgewinnen.

Als dann die jüngere Kunstwissenschaft entschieden Partei für den Expressionismus und den Kubismus nahm, als nicht nur die großen Jahresausstellungen unserer Kunststädte und die grundsätzlich den jüngsten Entwicklungen zugewandten Sammlungen, wie das Folkwang-Museum in Hagen und das Dresdner Stadtmuseum unter der Leitung des begeisterungsfähigen jungen Paul Ferdinand Schmidt, die Bilder dieser Richtungen aufnahmen, sondern auch die vornehmsten Staatssammlungen Deutschlands ihnen eigene Säle einräumten, wurde mir vollends klar, daß hier wirklich eine bedeutsame Wandlung und entwicklungsgeschichtliche Wendung vorlag, die eine ernste Kunstgeschichte zu würdigen suchen müsse.

Sah man jetzt doch auch klar, daß Hans von Marées, der große Deutsche, Paul Cézanne, der geistvolle Franzose, Ferdinand Hodler, der zielbewußte Schweizer, und Vincent van Gogh, der leidenschaftliche Holländer, den man als den ersten Expressionisten bezeichnet hat, im Übergang von den Impressionisten und ihren Vorgängern zu den Kubisten und Expressionisten gestanden hatten. Verstand man nun doch auch, daß ohne Cézanne und seine Lehre Pablo Picasso, der Vater des eigentlichen Kubismus, ebenso unmöglich gewesen wäre wie Henri Matisse, der die Oberflächenreize des Impressionismus durch organische innere Gestaltung zu ersetzen suchte, und daß ohne van Gogh, der das innere Schauen des Künstlers an die Stelle der äußeren Nachahmung der Natur setzte, der ganze deutsche Expressionismus nicht verstanden werden könne.

Der Ruf nach Überwindung des Impressionismus durch neues Formen- und Liniengefühl war von Frankreich, die Losung »Los von der Natur« war von Deutschland ausgegangen. Nicht mehr die Erscheinungen der Außenwelt, sondern die Geheimnisse und Erlebnisse der Innenwelt des schaffenden Künstlers sollten das Darstellungsgebiet der Künste sein. Die Überwindung der Natur durch den Geist wurde als das Wesen jeder echten Kunst hingestellt; und die »Abstraktion« von der Natur führte einerseits zu der verstandesmäßig mathematischen Gestaltung des »Kubismus«, der alle organischen Formen in geometrische und stereometrische Formeln auflöst, anderseits zu der Mystik und Ekstase des Expressionismus, der statt eines Eindrucks der Außenwelt den Ausdruck einer Innenwelt wiederzugeben versuchte. Neigten die Franzosen, ihrer verstandesmäßigen Anlage entsprechend, mehr zum Kubismus, so waren die germanischen Meister, nebst den russischen, die eigentlichen Vertreter des Expressionismus. Auf beiden Gebieten sollte die Kunst, wie wenigstens die einseitigsten Heißsporne der Richtung meinten, nicht mehr gegenständlich bedingt, sondern »absolut« sein. Wie man in der Tonkunst die »absolute Musik« der Programmusik und gegenständlich schildernden Musik entgegensetzte, so sprach man jetzt auch im Bereiche der »bildenden Künste« von einer gegenstandsfreien »absoluten« Kunst.

Alles dies ließ sich hören, ließ sich in manchen Fällen auch sehen; aber die Verkünder und Propheten der neuen Richtung nahmen den Mund gerade in Deutschland so voll, hüllten ihre Theorien in solchen Schwall von Phrasen, spickten sie mit so vielen Fremdwörtern jener Art, die sich einstellen, wo die Begriffe fehlen, und verurteilten die ganze ältere, die reife griechische wie die ganze nachgotische Kunst und unsere neuere Kunstgeschichtsschreibung mit solcher Überhebung, daß es dem ruhigen, ehrlichen Beobachter außerordentlich schwer gemacht wurde, das Gesunde der Bewegung von dem Krankhaften, das sich vielfach in ihr vordrängte, zu sondern.

Manche Schöpfungen der neuen deutschen Kunst, von der allein ich hier reden will, konnte ich uneingeschränkt nachempfinden und mitgenießen, so namentlich die empfindungsschweren Gestaltungen Emil Noldes, die völlig gegenstandslosen farbigen Linienphantasien Wassily Kandinskys, die kubistisch durchgebildeten Stadtbilder Lyonel Feiningers und die von tiefster Liebe zur Tierwelt eingegebenen, in das Reich freier, durchgeistigter Linien- und Farbenrhythmen erhobenen Tierbilder Franz Marcs, dessen ganzer Entwicklungsgang von zarter, impressionistischer Naturnachahmung bis zur »absolut« und raumkünstlerisch gewordenen Linien- und Farbenschönheit uns die Sommerausstellung der Dresdner Künstler-Vereinigung von 1920 so anschaulich mit erleben ließ. Marcs' Hauptwerk, »Der Turm der blauen Pferde« in der Berliner Nationalgalerie, kennzeichnet schon durch seine Benennung seine völlige Loslösung von irgendwelchen naturalistischen Absichten. Es ist eine raumkünstlerische und zugleich vergeistigte Schöpfung hohen Ranges, die uns in eine erdenferne Traumwelt entrückt.

Daß diese ganze Richtung, die in der Dichtkunst oft nicht minder seltsam, aber selten so zerrbildhaft hervortrat wie in den bildenden Künsten, ein notwendiges Erzeugnis der wilden Kriegszeit sei, die vieles auf den Kopf stellte, meint man doch wohl mit Unrecht, denn sie begann mindestens ein Jahrzehnt vor dem Kriege. Eher könnte man bedauern, daß die geistige Richtung, der sie entsprang, mit ihrer betonten Abwendung von allen Äußerlichkeiten nicht rechtzeitig genug eingesetzt habe, um den Weltkrieg, der der Eifersucht und der Habgier der Völker entsprang, zu verhindern. Sie wäre dann allerdings vielleicht davor bewahrt worden, die »Karikatur« im eigentlichen Sinne des italienischen Wortes › caricatura‹, die man bis daher nur zu humoristischen oder satirischen Gestaltungen benutzte, so oft, wie sie es jetzt tat, in den Dienst heilig-ernsten Kunstschaffens zu stellen.

Darüber, daß die ganze jüngste kubistische, futuristische und expressionistische Richtung vorübergehen werde wie alle übrigen Richtungen, war ich mir, auch wenn ich sie zu verstehen und mitzuempfinden suchte, von vornherein klar. Schon heute hat sie gerade in ihren Ausgangsländern Frankreich und Italien eine entschiedene Schwenkung gemacht. Aber ihre Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte wird sie erfüllt haben. Eine Rückkehr zum reinen Naturalismus oder Realismus wird sie voraussichtlich noch auf lange Zeit hinaus verhindert haben. Natur und Geist, wenn sie überhaupt zwei verschiedene Dinge sind, werden sich wiederfinden und, innig verschmolzen, hoch und höher hinanstreben.

 

Sicherer noch als das Miterleben der Geistesschöpfungen anderer aber entrückt uns eigenes Schaffen oder Mitschaffen, so unbedeutend und verschiedenartig es sein mag, dem grauen Elend, das die Not der Zeit über uns verhängt. Ich empfand es als großes befreiendes Glück, wie während der Kriegszeit, so auch während der friedelosen Friedensjahre, die auf sie folgten, durch geistige Arbeit, die meine Gedanken und Kräfte beinahe völlig in Anspruch nahm, von dem Nachsinnen über das Furchtbare des Erlebten abgelenkt zu werden.

Dank dem Mute und der Umsicht der Verlagsanstalt konnte ich an der wesentlich umgestalteten und vergrößerten neuen Ausgabe meiner großen Kunstgeschichte unentwegt und unbehelligt weiterarbeiten. Daß ich für die letzten Bände, nachdem auch Zehder mich verlassen, keinen Mitarbeiter mehr hatte, kam mir kaum zum Bewußtsein. War der dritte Band 1918 erschienen, so folgte der vierte 1919, der fünfte 1920, der sechste und letzte, bis auf die Gegenwart fortgeführte 1922. Selbstverständlich hat auch die Kunstgeschichte jeder Zeit ihre besonderen Aufgaben. Haben wir, einerlei, ob wir von den Künstlern oder von der Kunst ausgingen, ohne den Zusammenhang der Kunstgeschichte mit der übrigen Geistesgeschichte zu übersehen, die Entwicklung der künstlerischen Formensprache betont, so ist es erklärlich, daß eine neuere, namentlich von Max Dvo&#345;ak glänzend vertretene Richtung in freilich kaum eingestandener Wiederanknüpfung an des alten Moritz Carrière »Kunst im Zusammenhang der Kulturgeschichte« die Kunstgeschichte vor allem als Geistesgeschichte aufgefaßt sehen will. Man kann diese Art der Kunstgeschichtsschreibung aufs wärmste begrüßen, ohne die Notwendigkeit zu verkennen, auch unsere Richtung fortzusetzen und weiterzubilden.

Inzwischen hatte die Verlagsanstalt, indem sie von dem ihr gleich in unserem ersten Vertrage eingeräumten Rechte, Sonderausgaben einzelner Abschnitte der Geschichte der Kunst zu veranstalten, Gebrauch machte, die Abschnitte des Hauptwerkes, die die klassische Kunst des 16. Jahrhunderts diesseits und jenseits der Alpen behandeln, 1921 unter dem Titel » Die Kunst zur Zeit der Hochrenaissance« als besonderes Buch in ihre Sammlung »Kultur und Welt« ausgenommen. Wenn dieser Auszug als ein in sich abgeschlossenes, abgerundetes Ganzes erscheinen sollte, durfte ich mich einer eingehenden Mitarbeit an ihm nicht entziehen. Manches mußte gekürzt, einiges hinzugefügt, anderes auseinandergenommen und in anderer Weise zusammengesetzt werden. Es ist schließlich wirklich ein kleines Buch für sich geworden.

Einige Monate entzog diese Arbeit mich der Vollendung des letzten, des sechsten Bandes der großen Kunstgeschichte. Kleinere Aufsätze verschiedener Art, die zu schreiben ich nicht immer ablehnen mochte, kamen hinzu. Um so eifriger aber kehrte ich nach solchen »Extratouren« zu meinem Lebenswerk zurück. Schon während des Druckes des sechsten Bandes trat dann aber sofort eine neue große Aufgabe, die ich als Abschluß meiner Lebensarbeit schon lange in Aussicht genommen hatte, an mich heran. Ich fühlte das Bedürfnis, mir die Erlebnisse und Ergebnisse meines reichen, vielseitig angeregten Lebens, ehe ich es verließ, im Zusammenhange zu vergegenwärtigen; und da meine Freunde und mein Verlag, das Bibliographische Institut, meinten, daß meine Lebenserinnerungen auch den Anteil weiterer Kreise erregen könnten, gab ich mich ohne Zögern der neuen Aufgabe hin, die ihrer Natur nach von vollstem und innigstem Miterleben getragen wurde.

Vorher aber wünschte der Verlag noch das letzte Buch des letzten Bandes meiner großen Kunstgeschichte, das die Abwendung der Kunst von der äußeren Natur behandelte, als Sonderdruck herauszugeben. Ich leugne nicht, daß ich an diesem Abschnitte meines Buches, der von Grund aus neu geschrieben werden mußte, vielleicht gerade, weil ich mich selbst erst in das Neue hineinfühlen mußte, mit besonderer Liebe gearbeitet hatte. Es reizte mich, gerade die Geschichte der jüngsten Kunst, soweit von einer solchen schon die Rede sein kann, zu einem Gesamtbilde zu gestalten; und ich folgte dieses Mal dem Wunsche der Verlagsanstalt mit um so größerem Vergnügen, mit je lebhafterer Spannung ich die Entwicklung verfolgt hatte. War der letzte Band des großen Werkes zu Weihnachten 1922 erschienen, so folgte dieser kleine Sonderband im Herbst 1923. Ich hatte auch diesen letzten Abschnitt meines Gesamtwertes, obgleich er unmittelbar in die Kämpfe der Gegenwart einzugreifen schien, etwas überarbeitet und weitergeführt, betonte aber im Vorwort, daß er nicht zu dem Zweck geschrieben sei, mich in den Streit der Parteien zu mischen, sondern eben als Teil einer sachlich gemeinten Geschichte der Kunst aller Zeiten verstanden sein wolle.

Daß ich die Entwicklung der jungen französischen Malerei, der die deutsche zu folgen pflegt, noch etwas über den Kubismus hinaus verfolgen konnte, verdankte ich den Mitteilungen meines Sohnes, der damals in schweren Zeiten Legationssekretär bei der deutschen Botschaft in Paris war und immerhin einige Fühlung mit dortigen Künstlerkreisen gewonnen hatte.

 

Im Winter 1919 hatte mein Sohn sich als Assessor in Hamburg beurlaubt, um am 1. März ins Auswärtige Amt in Berlin einzutreten. Nach einer Vorbereitungszeit von einigen Monaten wurde er Anfang Juni 1919 zum Attaché ernannt. Als solcher nahm er noch im Laufe dieses Jahres in Baden-Baden an den Verhandlungen mit den Franzosen über das Eigentum der ausgewiesenen Elsaß-Lothringer teil. Anfang 1920 wurde er, zum Legationssekretär befördert, der Friedensdelegation und nach deren Auflösung der deutschen Botschaft in Paris zugeteilt, wo er alles aus nächster Nähe miterlebte, was uns, einschließlich der Besetzung des Ruhrgebietes, angetan und zugemutet wurde, die leitenden französischen Persönlichkeiten, die uns nur als papierene Zeitungsgespenster entgegentraten, von Angesicht zu Angesicht kennenlernte, manchen Blick hinter die Kulissen der Weltbühne zu werfen imstande war, im übrigen aber, da er doch noch keine maßgebende Verantwortlichkeit hatte, unbehelligt die künstlerische Entwicklung des neuzeitlichen Kunstlandes verfolgen konnte. Natürlich hatten wir während dieser Jahre verhältnismäßig selten die Freude, ihn in Dresden zu sehen. Erst nachdem er im Sommer 1923 nach der Wilhelmstraße zurückversetzt worden, kehrte er wieder öfter bei uns ein. Es war mir ein Trost in trüber Zeit, unseren Sohn in geachteter Lebenstätigkeit zu wissen, die er sich durch eigene Kraft errungen hatte.

 

Bei uns im Hause wurde es in der Nachkriegszeit, wie in allen vormals wohlhabenden, jetzt aber verarmenden Kreisen, die auf die Zinsen eines nicht geschäftlich tätigen Vermögens angewiesen gewesen waren, allmählich zwar nicht ruhiger, aber doch gesellschaftlich stiller und eintöniger als je vorher. Unruhe neuer Art brachten schon die Mieter, eigentlich Untermieter, die wir an Stelle der »Zivileinquartierung« aufzunehmen gezwungen waren. Der Mangel an Hausangestellten, der den Hausbewohnern eine ungewohnte Arbeitslast auferlegte, und die ganze, auch durch die notwendige staatliche oder städtische Bevormundung erschwerte Lebensführung taten das ihre dazu, keine häusliche Behaglichkeit aufkommen zu lassen.

Hatten wir in den ersten Jahrzehnten unseres Dresdner Lebens hier keine uns blutsverwandte Familien gehabt, so hatten seither einige meiner lieben Hamburger Neffen und Nichten, die Sachsen geheiratet hatten, teils zeitweisen, teils dauernden Aufenthalt in Dresden genommen. Vor allem brachte uns neues und verwandtes Leben ins Haus, daß mein Neffe, der Mediziner und Rassenhygieniker Professor Philalethes Kuhn, dessen Gattin eine Tochter meiner ältesten Schwester war, aus Straßburg vertrieben, die ordentliche Professur für Hygiene an unserer Technischen Hochschule angenommen hatte; und nicht nur in unser Haus, auch in das wissenschaftliche Leben Dresdens brachte Philalethes Kuhn eine neue, frische Bewegung.

Von auswärtigen Künstlern kam ab und zu noch Eduard von Gebhardt, dessen köstlicher Humor aller Not der Zeit trotzt, von auswärtigen Musikern Heinrich Kaminski, dessen allmähliches Wachstum wir mit Freude verfolgten, und Wolfgang Bülau, der uns seine hochbegabte Schülerin Marion Hoffmann zuführte, von auswärtigen Dichtern unter anderen Hermann von Bötticher, der stark begabte junge Dramatiker, den unser Sohn uns zugeführt hatte. Von seinen lebens- und gedankenvollen Dramen aus dem Leben Friedrichs des Großen wurde das erste, »Der Kronprinz«, auch im republikanischen Dresdner Staatstheater erfolgreich aufgeführt.

Besonders lieb war uns der Besuch meines jungen Fachgenossen, unseres alten Freundes Gustav Pauli, des Direktors der Hamburger Kunsthalle, mit seiner Frau und seinen Kindern, die, wie wir vor 25 Jahren verabredet hatten, 1921 nach Dresden kamen, um in unserem Hause am 21. März ihre silberne Hochzeit zu feiern: damals konnten wir sie noch zu einem freilich nach früheren Begriffen einfachen, aber mit Freundschaft gewürzten Silberhochzeitsmahl einladen, bei dem die letzte Flasche Champagner meines Kellers eine würdige Verwendung fand.

Der Kreis unserer alten Dresdner Freunde – ich kann hier nur einige von ihnen nennen – hatte sich seit dem Beginn des Weltkriegs nur allzu rasch gelichtet. Auf Nicodés Hinscheiden brauche ich nicht zurückzukommen. Nacheinander waren in diesen Jahren August Niemann, der bekannte Dichter und sokratische Weltweise, Gotthard Kuehl, der bedeutende Freilichtmaler, Hermann Prell, der erfolgreiche Vertreter großer Wandmalerei, Georg Treu, der allbekannte hervorragende Archäologe, Paul Kießling, der geschmackvolle Bildnismaler und Sonettenschmied, Robert Diez, der kraftvolle Bildhauer realistisch-romantischer Richtung, Woldemar von Seidlitz, der mir nächst Pauli am nächsten von allen meinen Fachgenossen gestanden, und Hans von Tschammer, der deutsche Offizier des guten alten Schlages, davongegangen. Andere waren fortgezogen. Eugen Bracht hatte seine Lehrtätigkeit in Dresden noch einige Jahre vor seinem Tode mit freier Künstlerschaft in Darmstadt vertauscht. Karl Bantzer, der liebe Freund und feine Maler, aber war als Akademiedirektor nach Kassel berufen worden.

An neuen Freunden, mit denen besondere Beziehungen uns zusammenführten, und alten Häusern, die sich uns jetzt erst freundschaftlich öffneten, fehlte es nicht ganz. Die Musik Kaminskis führte uns z. B. der kunstsinnigen, geistig empfindenden Familie des Geheimen Justizrats Felix Bondi zu, der auch der juristische Vertreter Sachsens beim Pariser Schiedsgericht für den Ausgleich von Privatforderungen gewesen war und hier mit unserem Sohn zusammengesessen hatte. Die Freundschaft meines Sohnes mit Peter Reinhold, dem jetzigen sächsischen Finanzminister, machte uns mit dessen trefflichen Eltern bekannt, die eine aussichtsreiche Villa in Oberloschwitz bewohnten. Frau Reinhold, die Mutter des Ministers, hat sich durch liebenswürdige, naive Kindermärchen-Dichtungen bekanntgemacht.

Zu den »neuen Reichen« hatten wir keine Beziehungen. In unseren Kreisen hatten auch die Wohlhabenderen sich einen anderen Lebenszuschnitt als früher angewöhnt. An die Stelle üppiger Mittags- oder Abendmahlzeiten waren schlichte Nachmittags- oder Abendtees getreten. Wer es konnte, suchte der bescheidener und seltener gewordenen Geselligkeit eine geistige Würze zu geben. Aber man mochte sich drehen und wenden, wie man wollte, unversehens kehrte die Unterhaltung immer zu dem Drucke zurück, der auf allem und auf allen lastete.

 

Das beste Mittel, sich und die Seinen auf andere Gedanken zu bringen, als die heimischen Sorgen jeder Art sie bedingen, sind von jeher Reisen gewesen; und wie ausgiebig hatten auch wir bisher von diesem Befreiungsmittel Gebrauch gemacht! Aber gerade das Reisen war jetzt nicht so einfach. Die Länder, die der Krieg uns verschlossen hatte, blieben den Deutschen, abgesehen von wenigen Auserwählten, bis zu der großen Wertumstellung des Jahres 1924 nach wie vor schon aus geldlichen Rücksichten unzugänglich. Aber auch Reisen in Deutschland verboten sich unsereinem bei der stetig fortschreitenden Entwertung unseres Geldes von Jahr zu Jahr entschiedener. Selbst Gottleuba und die Bastei schieden allmählich aus. Nur ins Riesengebirge wagten meine Frau und meine Tochter sich einmal, als ich mich bei meiner Schwester in Travemünde aufhielt.

Die alten lieben Stätten, in die uns die Gastfreiheit besser als wir gestellter Geschwister und Vettern zog, kamen noch öfter an die Reihe als früher. Berlin, Hamburg, Travemünde, der Kupferhammer bei Bielefeld und Elverlingsen bei Altena in Westfalen, das Stammgut der Großeltern meiner Frau im schönen Lennetal, waren fast ausschließlich die Ziele meiner, in der Regel auch unserer kurzen Erholungs- oder Kunstreisen. Der Weg nach Elverlingsen, dem unser lieber Vetter Hermann Schmidt mit seiner jungen Frau neues Leben einflößte, führte stets über Hagen, wohin uns das Folkwang-Museum zog. Von Hagen aus aber besuchten wir zum letztenmal, kurz vor seiner Besetzung durch die Franzosen, unser liebes altes Düsseldorf. Wie schlug mein Herz vor Freude, den Rhein wiederzusehen, wie hoch aber auch vor Zorn und Scham, seine Brücke von belgischen Soldaten bewacht zu finden. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, daß ich feindliche Soldaten im Dienst gesehen. Aber das alte Düsseldorf war damals noch unbesetzt; und unsere Herzen konnten in der Erinnerung an schönere Zeiten schwelgen.

Die Alpen wiederzusehen hatte ich oft eine heiße Sehnsucht; aber die Schweiz war unerreichbar; und nach Bayern zog mich nichts. Mich als »Saupreußen« bezeichnen zu hören, hatte ich keine besondere Neigung. Erst im Spätsommer 1923 kamen wir wirklich wieder nach München, wo ich jetzt auch die neue Moderne Galerie mit großer Freude durchwanderte, kamen wir auch wirklich wieder in die bayrischen Alpen, wohin uns die Gastfreiheit einer guten Preußin, unserer lieben alten Düsseldorfer Freundin Frau Hedwig Kniffler, zog, die ein Gut mit neuem schloßartigen Hause in Achatzzwies am Fuße des Wendelsteins besitzt. Wieder Alpenluft zu atmen! Wieder Bergflüsse rauschen zu hören. Wieder beschneite Gipfel ragen zu sehen! Das war wirklich befreiend! Und das oberbayrische Volk gewann ich, trotz seiner Meinung, etwas viel, viel Besseres und Besondereres zu sein als wir armen Norddeutschen, doch rasch wieder ebenso lieb, wie ich es früher gehabt hatte.

Auch den Ozean wiederzusehen, dessen Odem mich vor einem halben Menschenalter zuletzt umhaucht hatte, brannte ich vor oft kaum zu bändigender Sehnsucht. War er doch meine erste Liebe gewesen, und kommen wir auf unsere ersten Lieben doch immer wieder zurück. Aber wie sollte es mir wohl ermöglicht werden, wieder auf die Fluten des Ozeans hinauszukommen? Und ich ergab mich stillschweigend darein, ihn nicht wiederzusehen. Ich konnte meine Liebe ihm, dem allumfassenden, ewigen, ja wie einem Abgeschiedenen, wie meinem Vater, meiner Mutter, meinen Brüdern bewahren, die ich auch niemals, niemals wiedersehen konnte.

Und dennoch! Trotz allem! Ich sollte das Wunder erleben. Ich sollte dem Ozean noch einmal wieder in seine strahlenden, stahlblauen Augen schauen. Ich sollte seine Wogenpfade noch einmal so gründlich durchfurchen, wie vielleicht nie vorher. Ich sollte in meinem 79. Lebensjahre nicht nur den Atlantischen, sondern auch den Indischen Ozean wiedersehen. Wie das Wunder geschah, will ich erzählen. Es ging schließlich ganz einfach und natürlich zu.

Die deutschen Reedereien waren durch den Versailler Frieden gezwungen worden, alle ihre über 1600 Tonnen großen Schiffe, so viele ihrer nicht schon während des Friedens weggekapert oder in den Häfen weggenommen worden waren, den Feinden auszuliefern. Durch Reichsgesetz aber war ihnen für den Wiederaufbau ihrer Handelsflotten mit größeren Schiffen eine Entschädigung gewährt worden, die wenigstens als annehmbarer Zuschuß gelten konnte.

Auch den Reedereien, die früher dem alten, von meinem Vater gegründeten Hamburger Handelshause gehört hatten, jetzt aber, als von diesem getrennte Aktiengesellschaften, von meinen Neffen Arnold Amsinck und Lothar Bohlen in Verbindung mit ihren Kollegen, Herrn Walter Fehling und dem Ingenieur-Professor Dieckhoff, in der alten Weise, unter den alten Flaggen und von den alten gemeinsamen Geschäftsräumen im Woermannschen Afrikahaus der Großen Reichenstraße aus geleitet wurden, auch den Reedereien der Woermann-Linie und der Deutschen Ostafrika-Linie war es durch diese Reichsunterstützung ermöglicht, ihre Flotten wenigstens teilweise wieder aufzubauen. Wenn die Dampfschiffe der Woermann-Linie vor dem Kriege, als ihre Anteile sich fast ausschließlich in den Händen der Woermannschen Familie befanden, fast alle Familiennamen trugen, während die Schiffe der Ostafrika-Linie nach den Würdenträgern des alten Reiches als Kaiser, König, Herzog, Feldmarschall, Bürgermeister usw. benannt waren, so wurden die neuerbauten Dampfschiffe, an denen die meisten Mitglieder unserer Familie, wie ich selbst, durchaus keinen Anteil mehr hatten, nach afrikanischen Land- und Völkerschaften benannt: die Schiffe der Woermann-Linie nach Negerstämmen, deren Namen mit Wa beginnen, wie Wangoni, Waganda, Wahehe, die der Ostafrika-Linie nach den Landschaften, deren Namen mit U anfangen, wie Ussukuma, Usaramo, Urundi usw.

Die neuen Schiffe waren teils Frachtschiffe mit einer kleinen Anzahl von Kajüten für Reisende, teils große Passagier- und Postdampfer, die, wenn sie natürlich auch Frachtgut beförderten, doch zunächst als Passagierschiffe erbaut und mit allen neuzeitlichen Einrichtungen versehen waren, die verwöhnte Reisende verlangen. Der größte und schönste neue Post- und Passagier-Turbinendampfer der Woermann-Linie, der auf der Werft von Blohm & Voß in Hamburg erbaut war, war im Herbst 1922 vollendet. Die Direktion hatte ihm den Namen Adolph Woermann, also zum ersten Male wieder einen Woermannschen Familiennamen gegeben, der jetzt aber nicht als solcher, sondern wegen der Persönlichkeit meines Bruders und seiner Weltbedeutung für den Handel und die Schiffahrt Hamburgs und Afrikas gewählt worden war. Gleichwohl sah auch die Direktion diese Taufe als ein Woermannsches Ereignis an und gestaltete die Probefahrt des neuen Prachtschiffes, die am 16. November 1922 stattfand, zu einem an Bord gegebenen Familienfest, zu dem natürlich auch meine Frau und ich eingeladen waren. Wir durften aus diesem Anlaß sogar einige Tage in dem herrlich am Neuen Jungfernstieg gelegenen Hotel zu den Vier Jahreszeiten wohnen, das, aus dem ehemaligen Stadthause meiner Großeltern Weber hervorgewachsen, tausend liebe Jugenderinnerungen in mir wachrief. Die Probefahrt und das Fest verliefen, obgleich wir kaum bis Kuxhaven kamen, glänzend. Als wir uns am Abend nach der Rückkehr bei den Direktoren für die uns gewährte Gastfreiheit bedankten und unser Bedauern darüber aussprachen, daß der Tag so schnell verflossen sei, geschah etwas Unerwartetes. Die Direktion lud uns ein, die ganze erste Reise des Adolph Woermann mitzumachen, die, da die Rundfahrten um ganz Afrika noch nicht wieder aufgenommen waren, durch den Atlantischen Ozean ums Kap der Guten Hoffnung nach Beira im portugiesischen Mosambik und auf demselben Wege zurück führen sollte.

Meine teure Gefährtin von so mancher herrlichen Reise mußte leider aus verschiedenen Gründen darauf verzichten, mitzufahren. Ich selbst aber besann mich keinen Augenblick, die großartige Einladung mit aufrichtiger Dankbarkeit anzunehmen. War sie doch feinfühlig als Ehrung des Familienältesten gedacht, der zugleich der ältere Bruder Adolph Woermanns war. Sollte sie mir doch von dem Abschied von meinem Hause in Dresden an bis zu meiner Rückkehr zu ihm durchaus keine Kosten verursachen; und sollten mir doch alle Bequemlichkeiten, die ein Passagierschiff ersten Ranges hergab, gewährt werden. Ich erhielt auf dem Adolph Woermann eine große, mit neuem Schreibtisch ausgestattete Kammer nebst eigenem Ankleide- und Baderaum, auf der Rückreise mit der Usaramo sogar eine Schlafkammer und eine Wohnkammer für mich allein; und wo wir landeten, stand in der Regel alsbald ein Auto mit ortskundigem Lenker für mich bereit, das mich so weit herumführte, wie die Zeit des Aufenthalts es erlaubte. Drei glückliche Monate lang merkte ich von meiner Verarmung nichts. Ich kam mir wie ein reisender Fürst vor; und die Liebenswürdigkeit der hochgebildeten Kapitäne und ihrer Offiziere, in deren Obhut ich mich so geborgen fühlte wie ein Kind im Elternhause, tat das ihre dazu, daß mir während der ganzen Reise, so sehnsüchtig ich oft meine Liebsten herbeiwünschte, niemals auch nur einen Augenblick der Gedanke der Verlassenheit oder der Vereinsamung kam.

Da man fürchtete, es sei in Beira zu heiß für mich, wurde beschlossen, daß ich nur bis Durban in Natal oder höchstens bis zur Delagoabai in Mosambik mit dem Adolph Woermann reisen, den der weltgewandte und treffliche Kapitän Ihrcke führte, zur Rückfahrt aber den uns dort entgegenkommenden Dampfer Usaramo der Ostafrika-Linie benutzen sollte, auf dem der kenntnisreiche und liebenswürdige Kapitän Michelsen gebot.

In meiner Jugend hatte ich Teile Asiens und Amerikas bereist. Daß ich, abgesehen von einem kurzen Aufenthalte in Ägypten im Jahre 1861, noch nie den afrikanischen Boden betreten hatte, empfand ich um so mehr als Lücke in meiner Anschauung, je enger meine nahen Hamburger Verwandten mit Afrika verwachsen waren. Jetzt sollte mir eine Afrikafahrt wie ein Göttergeschenk vom Himmel fallen. Und den Ozean, meine heiligste Jünglingsliebe, sollte ich wiedersehen!

Aufatmen! Vergessen! Wieder der Alte werden! Wieder jung werden! Wieder hinaus aufs Weltmeer!


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