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Achtes Buch

Stürzen und Steigen

 

1. Sieben gegen Einen

Sieben gegen Einen. Am Anfang des Krieges waren es sechs gegen zwei; an seinem Schlusse waren es achtundzwanzig gegen vier, also sieben gegen Einen!

Rühmlich war der Sieg der unerhörten Übermacht nicht, und unrühmlich wurde er ausgenutzt. Tragisch aber ist das Verhängnis der Unterlegenen. Die Verschlingung der Fäden von Schuld und Schicksal ist auch in dieser Tragödie schwer entwirrbar. Zunächst von innen heraus, aber auch nur aus der klaren Erkenntnis der äußeren Möglichkeiten heraus kann unser Wiederaufstieg erfolgen. Müßte ich an ihm verzweifeln, so würde ich auch mein Leben als Trauerspiel begreifen.

Langsam, aber sicher, hatten die Gewitterwolken, deren Entladung nur ein Wunder verhindern gekonnt hätte, sich von allen Seiten über Deutschland zusammengezogen. Nur Blinde hatten es nicht gesehen, nur Verblendete nicht sehen gewollt.

Deutschland war reich und mächtig, seinen unersättlichen Nachbarn nur allzureich und allzumächtig geworden. Im Welthandel, in der Weltindustrie und in der Weltschiffahrt war es im Begriff, die meisten, wenn nicht alle übrigen Länder zu überflügeln. Daß unser Aufschwung den Franzosen ein Dorn im Auge war, wunderte uns nicht; aber lange mochten wir es nicht glauben, was jeder von uns von unseren Vettern jenseits des Ärmelkanals in freundschaftlichen Gesprächen bestätigt finden konnte, daß auch England, da es sich nicht überflügeln lassen könne, genötigt zu sein meinte, so leid es ihm tue, ein weiteres Anwachsen der deutschen Macht mit Waffengewalt zu verhindern.

Auf das ansehnliche, blühende Kolonialreich, das Deutschland im Westen wie im Osten Afrikas, im fernsten Asien wie in dem großen Inselmeere des Stillen Ozeans geschaffen hatte, warfen die Mächte, die sich bis dahin allein für befugt gehalten hatten, sich in fremden Weltteilen festzusetzen, um so begehrlichere Blicke, je schwerer es für uns schien, es zersplittert, wie es war, zu verteidigen, und je kärglicher die Mittel waren, die unser Reichstag ihm bewilligte.

Daß Deutschland tatsächlich »gesättigt« war, und nur daran dachte, sich zu behaupten, nicht sich zu vergrößern oder andere anzugreifen, war freilich eine weltgeschichtliche Wahrheit, die damals von allen friedliebenden Völkern und Menschen allgemein anerkannt wurde. Der junge deutsche Kaiser wurde gelegentlich sogar im Auslande wegen seiner Friedensliebe verspottet. Aber das gerade reizte die Begehrlichkeit der ausdehnungsdurstigen Mächte.

Man hätte während der letzten 40 Jahre vor dem Ausbruch des Krieges die Augen auch wirklich gegen alles, was im Auslande vor sich ging, verschließen müssen, um nicht zu sehen, wie unsere Gegner, denen wir im Wege waren, sich nach und nach, indem sie ihre Forderungen untereinander ausglichen, wider uns zusammenfanden und aneinander schmiedeten.

Frankreich, dessen Revanchegeschrei immer lauter und offener wurde, machte schon längst kein Hehl mehr daraus, daß es nur auf die Gelegenheit wartete, Elsaß-Lothringen zurück- und womöglich die Rheingrenze hinzu zu erobern. In Italien waren die »Irredentisten«, die Stücke von demselben Österreich losreißen wollten, mit dem Italien wie Deutschland ein Bündnis geschlossen hatte, kaum noch im Zaum zu halten. England drohte ziemlich offen mit Krieg, wenn Deutschland nicht aufhöre, seine Flotte zu vergrößern, wobei es nur die Kriegsflotte nannte, aber auch die Handelsflotte meinte. Rußland, dessen innere Zustände überdies eine Ablenkung nach außen erheischten, wußte, daß der Weg nach Konstantinopel, das es begehrte, nur über Berlin und Wien führte.

Alles dies sind weltgeschichtliche Binsenwahrheiten, die auch wir, die wir sie greifbar miterlebt haben, uns nur deshalb immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen müssen, weil die verlogene Tagesgeschichtsschreibung unserer Feinde, um uns die Schuld am Kriegsausbruch zuzuschreiben, immer wieder behauptet, Deutschland sei darauf ausgegangen, den Weltfrieden zu stören.

Eine umsichtige und feste Staatskunst, wie die Bismarcks, hätte es unzweifelhaft auch verstanden, anstatt sich an die längst unsicher gewordenen Bündnisse mit Österreich-Ungarn, dessen Hälfte von Anfang an auf Verrat sann, und mit Italien zu klammern, dessen Unzuverlässigkeit jeder Laie erkennen mußte, durch neue Bündnisse, die uns sogar angetragen wurden, unsere natürlichen Gegner auseinanderzuhalten und wenigstens zu verhindern, daß England und Japan sich mit Rußland und Frankreich wider uns verbündeten.

Aber man braucht auch nur die Zeit seit Bismarcks Entlassung offenen Auges miterlebt zu haben, um keinen Zweifel daran zu hegen, daß die völlige Unfähigkeit unserer nachbismarckischen Staatskunst die Hauptschuld an unserem Verhängnis trug.

Äußerte diese Unfähigkeit sich vor allem in den großen Zügen auf dem Schachbrett der europäischen Politik, so trat sie im einzelnen auch darin zutage, daß die verantwortlichen Ratgeber unseres zweifellos friedliebenden und vom besten Wollen beseelten, aber innerlich haltlosen Kaisers dessen oftmals hochfahrendes und taktloses Auftreten dem Auslande gegenüber nicht nur nicht zu verhindern wußten, sondern, wie sich immer mehr herausstellt, unterstützten, ja, manchmal sogar verlangten; und zu den Taktlosigkeiten, die uns verdächtig machten, gesellten sich Geschmacklosigkeiten, die uns lächerlich machten, wie die unerbetene Aufstellung von Standbildern deutscher Bildhauer in Ländern, die von unserer Kunst nichts wissen wollten.

Zu unserer Unbeliebtheit im Ausland trug aber auch das laute und herausfordernde oder kleinbürgerlich unerfahrene Auftreten halbgebildeter Einzeldeutscher auf Reisen das seine bei. Daß die große Mehrheit der gebildeten Deutschen sich wie die Gebildeten der übrigen Welt benahmen und kleideten, änderte an dem Urteil der Ausländer über die Deutschen nur wenig, weil eben nur jene anderen als Deutsche auffielen und halbgebildete oder gesellschaftlich unerzogene Gebildete keines anderen Landes, selbst Englands und Amerikas nicht, soviel in der Welt umherreisten wie Deutsche.

Weite Schichten unseres großen Volkes, dessen innerstes Wesen durch die Takt- und Geschmacklosigkeiten einzelner nicht berührt wird, ahnten und fühlten die nahende Gefahr und suchten ihr, jede in ihrer Art, zu begegnen. Die einen sahen die beste Abwehr in einer Verbrüderung der Völker und einer Verflüchtigung des vaterländischen Gedankens, ohne zu bedenken, daß dazu wenigstens die Hauptvölker der Erde wider die Natur ihrer Geschichte, ihres Bodens, ihrer Sprache und ihrer Sitten, willens sein mußten, ineinander aufzugehen. Die anderen sahen die erste Vorbedingung jeder Abwehr in einer Verstärkung unserer Waffenmacht zu Lande und zur See, die freilich, soweit sie durchgeführt wurde, ein Wettrüsten unserer Nachbarvölker zur Folge hatte, das, da die Rüstungen auf die Dauer untragbar waren, eine neue Kriegsgefahr heraufbeschwor. Aber auch die ideale Pflege des vaterländischen Gedankens wurde nicht vernachlässigt, die sich in den Gedenkfeiern der großen Tage von 1813 und 1870 und der Errichtung von steinernen und ehernen Riesendenkmälern der Helden jener Tage aussprach.

Eine Besonderheit des letzten Jahrzehnts vor dem Kriege waren die kernfesten, formenstarken Bismarckfeuertürme, die sich, größtenteils Schöpfungen unseres Wilhelm Kreis, auf ragenden Höhen ganz Deutschlands – bei Dresden z. B. je einer am linken und am rechten Elbufer – erhoben, um in ernsten Johannisnächten in gen Himmel lodernder Flamme das Bekenntnis des deutschen Volkes zu dem Erbe seines ersten Kanzlers zu erneuern; und weithin begeisternd klang im letzten Jahre vor dem Ausbruch des Krieges der Widerhall der Einweihungsfeier des wuchtigen Völkerschlachtdenkmals in Leipzig in den Herzen aller deutschen Vaterlandsfreunde nach.

Allein weder der Völkerverbrüderungsgedanke der einen, noch die vaterländische Begeisterung der anderen vermochte die wetterschweren Wolken zu verscheuchen, die sich um uns sammelten; und die Übermacht unserer Gegner, die von Jahr zu Jahr weiter anschwoll, war zu gewaltig, als daß wir uns auf die Dauer ihrer erwehren gekonnt hätten.

Nachdem Österreich Serbien wegen der Ermordung seines Thronfolgers in Serajewo am 28. Juli 1914 den Krieg erklärt hatte, waren alle wirklichen oder angeblichen Versuche der übrigen Staaten, den Weltfrieden zu retten, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Rußland mußte auf Serbiens, Frankreich auf Rußlands, England auf Frankreichs Seite treten. Unser schlimmstes Verhängnis war, daß die Staatsmänner des Deutschen Reiches im eingestandenen Bewußtsein ihres Unrechtes in den offenen Bruch des Völkerrechts willigten, den Durchmarsch nach Frankreich durch Belgien zu erzwingen, dessen Neutralität durch heilige Verträge verbrieft war. Von diesem Augenblick an gab es während des ganzen Krieges kein Völkerrecht mehr, und alles, was namentlich in bezug auf die Schonung des Privateigentums zu Lande und in vielen anderen Beziehungen bis dahin als Kriegsrecht gegolten hatte, wurde nun von Anfang an mit Füßen getreten. Daß unser damaliger Reichskanzler, wie es scheint, im Ernst glauben konnte, England würde den Einbruch in Belgien hinnehmen, ohne uns den Krieg zu erklären, war mir von Anfang an unbegreiflich.

Noch mehr aber als hierüber wunderte ich mich über die völlige Verkennung der Machtverhältnisse des englischen Weltreichs und der zähen Willenskraft und des vaterländischen Begeisterungsmutes der Briten, die mir damals in den Äußerungen staatlicher Würdenträger Deutschlands und alter und junger Offiziere, mit denen ich sprach, entgegentrat. Daß England uns den Krieg erklärt habe, hielten sie für völlig gleichgültig; und als ich die Ansicht aussprach, England würde, wenn es sich als notwendig erweisen sollte, auch vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht zurückschrecken, wurde ich einfach ausgelacht.

Als dann unser Kaiser mit etwas theatralischer Geste nach den Kriegserklärungen das Schwert mit den Worten zog, er werde es nicht wieder einstecken, ehe der Sieg erfochten sei, ging freilich, nicht dieser Geste wegen, sondern aus dem Gefühle, dem Ungeheueren gegenüber zusammenhalten zu müssen, eine plötzliche Welle ernster Kriegsentschlossenheit durchs ganze deutsche Volk. Keinen einzigen Deutschen schien es damals zu geben, der nicht der festen Überzeugung war, daß der Krieg uns durch unsere Feinde, die ihn seit Jahren vorbereitet hatten, aufgenötigt worden sei. Sogar der Vertreter des linken Flügels der Sozialdemokratie legte seine Rechte zum Treugelöbnis in die Hand des Kaisers.

Der Eindruck dieser nur allzubald verrauschten Einmütigkeit des deutschen Volkes hatte etwas unendlich Erhebendes und riß auch mich, obgleich ich verstandesmäßig von der Unmöglichkeit überzeugt war, England, Japan, Rußland und Frankreich zugleich »auf die Knie zu zwingen«, zu heller Begeisterung hin, die die Hoffnung auf den endlichen Sieg unserer gerechten Sache in sich schließen mochte, sich aber zunächst nur als Jubel über die Einmütigkeit des deutschen Volkes äußerte. Das Gedicht, zuerst in der Berliner »Täglichen Rundschau« veröffentlicht, wurde damals bei verschiedenen Veranstaltungen öffentlich vorgetragen:

»Seit meinen goldenen Jugendtagen
Hab', deutsches Volk, ich heiß dich geliebt,
Ich habe dich tiefer im Herzen getragen
Als alles, was es auf Erden gibt.

So stark, so rein und so edelblütig,
So herb und sinnig, so keck und so zart,
Bald derb, bald innig, bald übermütig,
Stets wahr und treu, das war deine Art.

Und gab es Schatten in deinem Bilde,
Die Sonne deckte die Schatten zu;
Ja ohne die Scharten an deinem Schilde
Nicht liebte so heiß ich dich, wie ich's tu.

Und nun, umstellt von der kläffenden Meute,
Erhobenen Hauptes stehst du da.
So stark und rein erscheinst du mir heute,
So wahr und treu, wie nie ich dich sah.

Verrauscht das Sorgen und Hasten und Hadern,
Verflossen der alte Parteienzwist!
Rasch rollt und rein dir das Blut durch die Adern,
Jetzt, da du fühlst, was du kannst und bist.

Jetzt, da sie alle dir wollen ans Leben,
Durchzuckt dich ein einziger Wille nur:
In aller Herzen ein zorniges Beben,
Auf aller Lippen ein heiliger Schwur.«

Ja! »Feinde ringsum!« Nicht in jubelnder Siegesgewißheit, sondern mit ernster Entschlossenheit zog das deutsche Volk in den ungleichen Kampf gegen die Übermacht hinaus. Die bange Spannung, die während der letzten Versuche der Mächte, den Frieden zu erhalten, sich bleischwer auf Stadt und Land gelegt hatte, machte einem fremdartigen Leben Platz, das die Straßen der Städte und des Landes durchzuckte, als Deutschland am 2. August genötigt war, Rußland den Krieg zu erklären und am nächsten Tage der gleiche Kriegszustand mit Frankreich wie von selbst eintrat.

Ein fieberndes Menschengewimmel füllte auch in Dresden Straßen und Plätze. Um die Anschlagsäulen, die die neuesten Nachrichten trugen, sammelte sich ein Gedränge, das es lebensgefährlich machte, sich ihnen zu nähern. Die Brücken waren bewacht und gesperrt. Fragte man, so wurde man mit befehlendem Rufe kurz abgewiesen. Die gleichmäßig hallenden Tritte der mit Blumen und Kränzen geschmückten Feldgrauen auf dem Straßenpflaster, die alten und neuen Kriegslieder, die oft begeistert, öfter noch mechanisch oder wie vom Galgenhumor erpreßt, aus tausend jugendlichen Kehlen in die Luft hinausschallten, wurden von dem Klappern der Pferdehufe der Schwadronen und dem Rasseln der schweren Wagen und Geschütze auf dem harten Pflaster übertönt.

Auf den Bahnhöfen entwickelte sich ein unerhörtes Menschengewühl der ankommenden Dienstpflichtigen, die sich in ihre Garnisonen begaben, der durchreisenden Flüchtlinge, die, aus Feindesländern ausgewiesen, ihre Heimat zu erreichen suchten, und der abrückenden Truppen und ihrer Angehörigen, die ihnen tränenden Auges und sorgenden Herzens das Geleite gaben.

Unser Haus füllte sich rasch, so weit der Raum reichte, mit jungen Verwandten, die sich in Dresden zum Militärdienst melden mußten, und ihren Angehörigen. Waren doch zwei meiner Hamburger Nichten an sächsische Reserveoffiziere verheiratet; und mußte unser eigener Sohn, der Referendar in Hamburg, aber Reserveleutnant bei den Dresdner Leibgrenadieren war, sich doch in Dresden stellen. Alles folgte Schlag auf Schlag! Jänichens aus Paris, die wir vor zwei Jahren in ihrem Künstleridyll zu Sceaux besucht hatten, trafen schon am 1. August ein. Sie hatten Paris noch mit dem letzten möglichen Zuge verlassen, ehe Hans Jänichen festgehalten worden wäre. Aber alle ihre Habe, ihren kostbaren Hausrat und ihre in Arbeit begriffenen Bildwerke haben sie zurücklassen müssen und niemals wieder zu sehen bekommen. Georg Hartmann, der Südwestafrikaner, traf in den nächsten Tagen aus seinem Schloß Rathstock im Oderbruch ein und schickte den Seinen, meiner Nichte Anna und ihren Kindern, da der Oderbruch gegen Russenbesuch nicht gefeit zu sein scheint, einen Kraftwagen, sie Hals über Kopf nach Dresden zu holen. Unser Sohn Ernst traf, mit Herzklopfen erwartet, schon am Morgen des 2. August ein, um sich zu seinem Regiment zu begeben.

In unserem Hause erhielten wir acht Soldaten aus Schlesien als Einquartierung. Wir taten natürlich das unsere, ihnen ihre wenigen Dresdner Tage so angenehm wie möglich zu machen. Aber auch auf dem Hauptbahnhof gab es sofort Frauendienst. Zunächst galt es, die befreundeten österreichischen Reservisten, die heimfuhren, um sich zu stellen, bei ihrer Durchfahrt mit Speise und Trank zu erquicken. Befreundete Damen holten unsere Tochter sofort dahin ab. Meine Frau folgte und sprang zunächst mithelfend ein. Beide kehrten am ersten Tag erst spät in der Nacht nach Hause zurück.

In den nächsten Tagen richtete sich alles in neuen Gleisen ein. Meine Nichten bezogen mit ihren Kindern eigene Wohnungen. Nur einige der Kinder blieben bei uns. Meine Neffen mußten ja hinaus ins Feld.

Unser Sohn wohnte die ersten acht Tage bei uns, wo wir abends seine und unsere Freunde um uns zu versammeln pflegten. Es waren in all der Aufregung angeregte, gesellig bewegte Tage. Am 9. August siedelte er in die Leibgrenadier-Kaserne über, wo er während der letzten Tage vor dem Ausmarsch zur Stelle sein mußte. Er war zum Bataillonsadjutanten ernannt worden und ritt uns, als wir ihn am Nachmittag vor seinem Ausmarsch dort besuchten, sein Adjutantenroß vor. Mit Sorge, Schmerz und Stolz zugleich erfüllte es uns, unseren Sohn in den Krieg ziehen zu sehen; aber es war uns eine Beruhigung, daß er, obgleich Infanterist, zu Pferde ausziehen durfte. Sein Regiment rückte nach dem Westen aus, und auf französischem Boden hat er, bald zum Regimentsadjutanten, eines neugebildeten Regiments befördert, den Krieg bis zu seiner letzten schweren Verwundung mitgemacht.

 

Tafel 10

siehe Bildunterschrift

Der archaische bronzene Wagenlenker im Museum zu Delphi

Am 15. August schlug die trübe Trennungsstunde. Als der Abend dämmerte, machten wir unserem Sohn unseren letzten Besuch in der Kaserne und leerten den Abschiedsbecher auf den deutschen Endsieg und ein heiles Wiedersehen. Dann begleiteten wir ihn abends zur Kommandantur auf dem Wiener Platz, wo ich mich mit bewegtem Herzen von ihm verabschiedete. Meine Frau und meine Tochter wollten es sich nicht nehmen lassen, unseren Ernst nachts vom Neustädter Bahnhof abfahren zu sehen. Bis halb sieben Uhr morgens hatten sie auf dem Bahnhof umherstehen gemußt, bis der Augenblick des Abschieds nahte. Erst um 9 Uhr am nächsten Morgen kamen sie nach Hause, mir seine Grüße zu bringen. Aus dem Felde hat unser Sohn uns so oft geschrieben, wie niemals früher. Wir waren zufrieden, alles mit ihm erleben zu dürfen, die erste Feuertaufe im Elsaß, die Schrecken der Kämpfe an der oberelsässischen Grenze und den siegreichen Vormarsch; aber auch seine Befürchtungen und seine Hoffnungen. Ich lernte seine scharfe Beobachtungsgabe und die Klarheit seiner Schlüsse schätzen; und es war mir wichtig, aus seinen Mitteilungen aus engem Umkreis auf die Vorgänge in weiterem Felde schließen zu können.

In den nächsten Tagen folgten Siegesnachrichten auf Siegesnachrichten. Sogar aus dem Osten trafen günstige Berichte ein. Am 17. August sollten bei Stallupönen die ersten 4000 russischen Gefangenen gemacht worden sein. Am 20. traf die Nachricht von der Einnahme Brüssels ein. Als am nächsten Tage ein großer Sieg an der ganzen lothringischen Grenze gemeldet wurde, war des Jubels in Dresden kein Ende. Die Glocken läuteten. Die Straßen prangten in festlichem Flaggen- und Fahnenschmuck. Festlieder wurden in den Straßen gesungen. Das Bismarckdenkmal wurde mit Kränzen und Blumen geschmückt.

Bei alledem will ich nicht verschweigen, daß ich am 22. August in meinen Tagesaufzeichnungen die Worte finde: »Ich kann mich dem Siegesjubel, der mir verfrüht erscheint, noch nicht anschließen. Ich habe das Gefühl, daß man uns manches verschweigt, wie es ja nachträglich auch zugegeben wird, daß die ersten Siegesnachrichten der Franzosen aus dem Oberelsaß der Wahrheit entsprachen.«

Ergreifend war die Fahnenweihe der Pfadfinder der Lukasgemeinde, der wir am 23. August beiwohnten. Pastor Keßler und Cornelius Gurlitt hielten Ansprachen. Die jungen Leute, die noch nicht im kriegsdienstfähigen Alter waren, sollten Gelegenheit genug suchen und finden, sich nützlich zu machen.

Dann trafen die ersten Hiobsposten über das Vorrücken der Russen in Ostpreußen ein, die uns aber nur einige Tage bedrückten. Am 29. August schon wurde Hindenburgs großer Sieg bei Ortelsburg und Tannenberg gefeiert. Dieses Mal gehörte ich zu den ersten, die ihre schwarz-weiß-rote Fahne hinaushängten. Aus den 30 000 russischen Gefangenen, von denen zuerst berichtet ward, wurden in den nächsten Tagen 90 000. Als sich dann, nachdem der erste Kriegsmonat verflossen, die französische Regierung aus Paris nach Bordeaux zurückzog, begann auch ich aufzuatmen und an die Möglichkeit eines Endsieges in dem ungleichen Zweifrontenkrieg zu glauben.

Die Nachrichten aus Österreich, die anfangs übertrieben günstig lauteten, stimmten mich freilich bedenklich. In bezug auf sie schrieb ich am 11. September: »Ich bereite mich auf unangenehme Neuigkeiten aus Österreich vor. Wo ist die isoliert vorgegangene Armee Auffenberg und Dankl geblieben? Die Russen erzählen von einem Siege mit 70 000 Gefangenen, den unsere Presse als Lügensieg bezeichnet.«

Dann folgten die Tage der bangen Spannung über den Ausgang der Marneschlacht oder der Schlacht vor Paris, wie wir sie damals nannten. Am Sedantage, als verlautete, daß die Deutschen sich Paris näherten, herrschte, wie in ganz Deutschland, so auch in Dresden ein Siegesrausch. Vom Bismarckdenkmal aus verkündete ein Redner, der genau Bescheid wissen wollte, in wenigen Tagen werden wir in Paris und damit am Ende des Krieges sein; und der Kaiser sprach, sein Heer zu ermutigen, die Worte: »Wenn die Blätter fallen, sind wir wieder zu Hause.«

Aber die Schlacht vor Paris tat uns nicht den Gefallen, sich zu unseren Gunsten zu wenden. Mitte September fing es an, uns zu dämmern, daß wir einen großen Rückzug im Westen angetreten hatten. Schon am 14. September erhielten wir eine Karte von Ernst, in der er schrieb, er begriffe nicht, weshalb sie, da sie doch von der oberelsässischen Grenze bei Saint Dié usw. überall siegreich vorgerückt seien, plötzlich nach Norden abschwenkten, am 21. einen Brief, von ihm aus der Gegend von Avricourt, daß ihr Abmarsch nach dort »fast« wie ein Rückzug aussehen könne; doch wolle er an einen solchen nicht glauben. Am 22. schrieb er, daß sie auf Saarburg zurückgegangen, dann aber auf deutschem Gebiet doch wieder südwärts abmarschiert seien.

Die amtlichen Kriegsberichte verbreiteten wohl keine Siegesnachrichten, die nicht wahr waren; aber sie verschwiegen uns alle Niederlagen, die wir erlitten. Als die Marneschlacht längst zu unseren Ungunsten entschieden war, ließ man uns noch lange im Glauben, daß sie noch unentschieden weitertobe. Erst Ende September fiel es allen wie Schuppen von den Augen.

Am 30. September schrieb ich: »Der zweite Kriegsmonat geht zu Ende. Wie anders ist heute die Stimmung als vor einem Monat. Damals überall Fahnen, Glockengeläute, Siegesrausch. Heute, nach starken Rückschlägen, die ein zu hastiges und einseitiges Draufgehen verursacht hat, nur noch dumpfe, wenngleich im ganzen noch zuversichtliche Erwartung. Man hat sich den Krieg gegen vier Großmächte und drei Kleinstaaten auf einmal doch wohl etwas zu leicht vorgestellt.«

Der Fall Antwerpens am 9. Oktober löste noch einmal hellen Siegesjubel aus. Noch einmal strahlte Dresden im farbigen Flaggenschmuck. Noch einmal tönten Festgesänge von Haus zu Haus.

Dann begann der lange, dumpfe, dunkle Schützengrabenkrieg. Eingegraben hinter Deckungen und Stacheldrahtverhauen lagen die feindlichen Truppenteile in langen, langen Linien, einander schwer beweglich gegenüber. Der Bewegungskrieg machte dem Stellungskrieg Platz. Aber der Tod, der auch den Schützengräben in jeder Gestalt nahte, hielt darum keine geringere Ernte.

 

Daheim wurde der freiwillige Hilfsdienst der Zurückgebliebenen, namentlich der Frauen, allmählich in Gang gebracht. Von dem Recht, sich freiwillig für die Aufnahme und Pflege verwundeter Offiziere zu melden, machten natürlich auch wir Gebrauch. Liebenswürdige junge Leutnants, die uns zugewiesen wurden, waren uns wochen- oder monatelang liebe Hausgenossen. Es gehörte das zu den entschiedenen Freuden des Krieges, die uns Alten zuteil wurden. Einige der jungen Leute fielen bald, nachdem sie uns verlassen; einige aber kehrten gesund zurück und bewahrten uns ihre Freundschaft. Erst als die Lebensmittel seit 1916 immer knapper und immer teurer wurden, hörte diese erfreuliche Art, Kriegsgastfreundschaft zu üben, nach und nach auch für uns auf.

Ein reiches Feld nützlicher Liebestätigkeit aber, das gleichmäßig bebaut werden mußte, so lange der Krieg dauerte, war die Speisung und Tränkung der hin und her durch die Großstadt ziehenden Truppenteile. An beiden großen Bahnhöfen Dresdens wurden anfangs aus Privatmitteln, bald aber, nachdem sich auch in dieser Beziehung alles geklärt und eingerichtet hatte, auf Kosten der Stadt Verpflegstellen für durchziehende, jetzt fast nur noch deutsche Truppen errichtet, in denen Kranke, Verwundete, Genesende, aber auch beurlaubte Gesunde und vor allem von einem Armeeteil zum anderen Verschickte Tag und Nacht von fürsorgenden weiblichen Händen gespeist und getränkt und gelegentlich auch mit Kleidungsstücken jeder Art versehen wurden. Außer den Damen, die sich dem Liebesdienst gewidmet hatten, fanden sich zum Bahnhofsdienst vor allem die jungen frischen Pfadfinder bereit, die den Frauen in jeder Beziehung hilfreich an die Hand gingen.

An der Spitze jeder der beiden Bahnhofsverpflegstellen stand eine verantwortliche Vorsteherin, die für alles zu sorgen hatte von der Beschaffung des Rohmaterials für die Speisung und Tränkung von Tausenden täglich bis zur Bereitung der Speisen und Getränke und ihrer Verteilung an die Soldaten. Am Neustädter Bahnhof hatte Frau Beck, die ausgezeichnete Gattin unseres damaligen Kultusministers, am Hauptbahnhof hatte meine Frau die Leitung übernommen, die die regste persönliche Teilnahme an allen nötigen Arbeiten einschloß. Gekocht wurde für den Hauptbahnhof teils in der Bahnhofsküche, teils in unserem eigenen Hause, teils im Europäischen Hof, dessen hilfsbereiter Wirt sich durch die völlige Uneigennützigkeit seiner Leistungen große Verdienste um das Liebeswerk erwarb.

Einen wahrhaft großen Anteil an dem Gelingen des Werkes aber hatte das Haus der Hofmühlenbesitzer Theodor und Erwin Bienert in Alt-Plauen, das während aller vier Jahre dieses Liebeswerkes beiden Verpflegstellen alle Brote für alle Soldaten unentgeltlich spendete.

Die Pfadfinder des Hauptbahnhofs waren vor allem die unermüdlichen Speiseträger, die den Verkehr zwischen dem Bahnhof und den Bereitungsstellen unterhielten. Ohne die hingebende Mitwirkung ihres Stabes von Pfadfindern und von treuen Mitarbeiterinnen, zu denen natürlich auch unsere Tochter gehörte, die außerdem im Dienst der städtischen Volksküchen tätig war, hätte meiner Frau das Werk nicht gelingen können. Den Nachtdienst, für dessen Notwendigkeit meine Frau sich, da er untersagt werden sollte, überzeugend einsetzte, besorgte sie zweimal in der Woche während der ganzen vier Jahre bis in die Revolutionstage hinein, von Pfadfindern unterstützt, ganz allein.

Die Verpflegung der Soldaten fand nicht, wie an anderen Orten, in den Bahnhofshallen an den Zügen, sondern oben in dem großen sogenannten Franz-Josefs-Saal statt, an dessen Eingang Wachen dafür sorgten, daß nicht Unbefugte sich eindrängten.

Ernst-fröhlich belebt, und durch Ansprachen von Geistlichen und Laien beseelt, pflegten die Weihnachts- und Silvesterfeiern in dem festlich geschmückten Saal zu verlaufen. Begabte Pfadfinder trugen Gedichte vor. Andere spielten ihre Zieh- oder Saiteninstrumente. Auch ich ergriff gelegentlich das Wort; und unser Freund, der große Musiker Jean Louis Nicodé, der eine stark volkstümliche Ader hatte, setzte sich bei solchen Feiern, von meiner Frau eingeführt, ans Klavier, erfüllte den Saal mit den kraftvollen bezaubernden Klängen, über die er verfügte, und begleitete und leitete vor allem die gemeinsamen Gesänge der Soldaten, in die die Pfadfinder und die Frauen herzhaft mit einstimmten.

Unvergeßlich sind mir die fünf Weihnachtsfeiern unter dem strahlende Riesentannenbaume des großen Bahnhofssaales geblieben, unvergeßlich aber auch die kleinen Weihnachtsfeiern, die für die Damen und die Pfadfinder der Verpflegstelle in Ermangelung anderer Räumlichkeiten, von städtischen Mitteln unterstützt, in unserem eigenen Hause stattfanden.

Natürlich entspannen sich zwischen manchen Vertretern unseres Volkes in Waffen, die am Hauptbahnhof verpflegt wurden, und meiner Frau, die ein mütterlich offenes Ohr für alle hatte, freundschaftliche Beziehungen, die ihr tiefere Einblicke in die Seele unseres Volkes gestatteten, als ihr unter anderen Umständen jemals möglich gewesen wäre. Ach! wie manche der Tapferen, die zwischen Kämpfen und Kämpfen, zwischen Grauen und Grauen, zwischen Fahrten und Fahrten froh waren, einige Stunden in behaglicher Ruhe sich pflegen zu lassen, haben ihr ihre Sorgen gebeichtet, ihre Erlebnisse erzählt, ihre innersten Gedanken verraten und ihr gequältes Herz ausgeschüttet. Da erzählt der Maschinist eines versenkten Unterseebootes, wie ihm zumute gewesen, als er, der allein Gerettete, in dem gurgelnden Schlunde versank, bis er, nur noch mit halbem Bewußtsein, die rettende Planke ergriffen. Da berichtete ein Soldat, wie der treue Kamerad, mit dem er gerade noch Gedanken über ihre Liebsten daheim ausgetauscht, im nächsten Augenblicke als unkenntliche Masse zu seinen Füßen gelegen habe. Da beichtet ein Fahrer schluchzend, wie er, todkrank, von Sehnsucht nach Weib und Kind verzehrt, heimgekehrt sei und sein Weib entehrt in den Armen des Verführers gefunden habe. Die Erzählungen gleichen sich alle, wiederholen sich in den Hauptzügen, bieten im einzelnen aber eine unendliche Fülle verschiedener und ergreifender Einzelheiten.

Manchmal besuchte ich meine Frau in ihrer aufopfernden Tätigkeit und mischte mich, um selbst zu hören und womöglich zu trösten, unter die Soldaten, die in den ersten Monaten des Krieges auch durchaus geneigt waren, unbefangen mit unsereinem zu verkehren. Manchmal brachte meine Frau auch einen besonders netten und natürlichen Leichtverwundeten mit nach Hause, wir ließen ihn – was man damals unter Umständen als selbstverständlich ansah, mit uns am Tische essen und uns bei einem Gläschen Wein von ihm erzählen; ich machte auch wohl einen Spaziergang mit ihm und lud ihn unterwegs zu einem Glase Bier ein.

Mit besonderer Freude erinnere ich mich eines jungen Mannes aus einfachster Magdeburger Schifferknechtsfamilie, der selbst Bauernknecht auf dem Lande gewesen war, aber mit so offenen und unbefangenen Augen alles beobachtete, was sich ihm darbot, so viel natürlichen Anstand zeigte und sich so kindlich anhänglich an meine Frau und mich anschloß, daß wir ihm beinahe so viele Rechte in unserem Hause und in unserem Herzen einräumten wie einem jungen Gelehrten oder Künstler, der uns empfohlen gewesen wäre. Als er, von leichter Verwundung hergestellt, wieder hinauszog, den Engländern entgegen, bat ich ihn, uns einmal zu schreiben, wie es ihm ergangen sei; und was und wie er uns schrieb, zeigt so viel Frische und so viel natürliche schriftstellerische Erzählungsgabe, daß ich aus seinen Briefen, ohne etwas an ihnen zu verändern, hier einiges mitteilen zu dürfen glaube:

 

La Pusseville, Weihnachten 1914
im Schützengraben.

»Es ist 7 Uhr morgens im Schützengraben. Die Nachtwache ist vorüber. Bitterkalt war die Nacht. Die Nässe von unten, verbunden mit der Nässe von oben, tat ihr Möglichstes, den Schüttelfrost herbeizuführen. Wir atmeten auf, als der Tag lichtete, denn mit dem Anbruch des Tages hört die Wache auf. Alles sehnte sich nach trockener Wäsche. Woher aber solche im Schützengraben bekommen?

»Sobald jemand den Kopf zur Deckung herauswagt, pfeifen die blauen Bohnen; denn die Engländer sind Scharfschützen, kriegsgewandte alte Leute, welche schon mehrere Kolonialkriege mitgemacht haben und mit allen Hunden gehetzt sind; alte Berufssoldaten, welche schon 5-15 Jahre dienen. Wir hingegen sind harmlose Soldaten, die nur für ihre Lieben und ihr Vaterland kämpfen. Viele, welche die Engländer nicht kennen, werden sie in ihrer Kriegsgewandtheit unterschätzen. Trotzdem glauben wir, daß unsere Kraft und unser alter Mut mit Gottes Hilfe die Oberhand behält. Wer mit einer festen Überzeugung kämpft, bleibt Sieger; und die feste Überzeugung haben wir alle.

»Wir waren in trübe Gedanken versunken, als es auf einmal im Schützengraben ganz still wurde, denn von rechts her, wo die bayrischen Jäger liegen, erklang ein Weihnachtslied. Ach richtig! Es ist ja Heiligabend; daran hatten wir gar nicht gedacht, und doch ist es unser schönstes Fest. Aber in einem Zeitraum von kaum fünf Minuten ertönten aus dem ganzen mächtig langen Graben Weihnachtslieder. Die trübe Stimmung schien gewichen.

»Aber nicht bei allen. Bei genauerem Hinsehen sah man viele, den Kopf an die kalte nasse Erde gedrückt, mit feuchten Augen, gewohnte und gehärtete Krieger, Tränen vergießen. Sie alle denken an die Lieben und die Heimat, und es schämt sich keiner der Tränen. Kommen sie ja von Herzen! Aber schon krachen die Granaten und schwirren die Schrapnells und die blauen Bohnen. Die Engländer wollen angreifen.«

 

Im Schützengraben, den 1. Januar 1915.

»Gestern Abend erhielt ich Ihren werten Brief, über den ich mich sehr gefreut habe. Bin gerne bereit, von meinen Kriegserlebnissen mehr mitzuteilen. Es fehlt allerdings oft die Gelegenheit zum Schreiben, und oft wird man auch durch Granaten am Schreiben gestört; und dann fehlt auch oft die Gelegenheit zum Waschen, so daß die Hände vom Dreck starren und man kaum Schreibpapier anzufassen wagt.

»Furchtbar tobte der Krieg am Weihnachtsheiligabend. Die englische Artillerie glaubte uns aus dem Schützengraben herausheben zu können. Sie hat aber die Rechnung ohne uns gemacht. Lang ausgestreckt lagen wir in Schlamm und Wasser, um uns vor den Granatsplittern und Schrapnellkugeln zu schützen. Unsere Beobachtungsspiegel hatten wir aufgestellt, so daß wir auch in liegender Stellung den Feind beobachten konnten.

»Gegen Abend kühlte der heiße Artilleriekampf sich ab. Unter dem Schutze der Dunkelheit und der Maschinengewehre schlichen die Engländer geräuschlos in Reihen hintereinander unserem Schützengraben zu. Sie werden geglaubt haben, der Michel schläft. Wir hatten aber von Anfang an alles bemerkt; denn unsere Horchpatrouille läßt sich auch durch das englische Maschinengewehr nicht einschüchtern. In aller Ruhe ließen wir die Engländer vor unseren Stacheldrahtverhauen anschwärmen. Als sie aber versuchten, über den Verhau hinwegzusetzen, konnten wir nicht länger an uns halten; und so begannen wir nun mit der Verteilung der Weihnachtsliebesgaben, die wir für die Engländer bereit gehalten hatten. Wollene Sachen waren es natürlich nicht, auch keine Eßwaren, sondern deutsches Blei. So wie die Würste im Fleischerladen hängen, so hängen die Engländer in unserem Stacheldrahtverhau. Nicht ein einziger von ihnen ist durchgekommen.

»Als die Ruhe nach dem Sturm eingetreten war, sang alles das schöne Lied »Deutschland, Deutschland über alles'. Und als das Lied verklungen war, sangen wir wieder Weihnachtslieder. Schaurig schön klangen die Weihnachtslieder auf dem Kampfplatz. Während wir sangen, bauten drei Mann einen Weihnachtsbaum. In einen Besenstiel wurden Löcher gebohrt und Tannenzweige hineingesetzt. Etwas Watte wurde vom Verbandszeug genommen. Ketten wurden von Papier gemacht, dann Lichter drauf befestigt, und der Baum war fertig.

»Die Witterung war uns günstig. Kein Luftzug wehte. Wir konnten den Baum brennend auf die Deckung stellen. Es schien, als ob die Engländer ihn respektierten, denn kein Schuß wurde auf den Baum abgegeben.

»Um 12 Uhr sangen wir Weihnachtslieder. Unser Erstaunen war groß, denn als wir den Gesang beendet hatten, klatschten die Engländer in die Hände. Gleich darauf näherte sich ein Engländer ohne Waffe unserem Graben und bat uns, nicht zu schießen. Sie wollten ihre Toten begraben, was auch bewilligt wurde.

»Am anderen Morgen kamen die Engländer ohne Waffen, nur mit Spaten vor die Front; und auch wir gingen auf unsere Deckung. Zum Andenken an diesen Tag, der doch wohl für uns der ereignisreichste des ganzen Krieges sein wird, tauschten wir gegenseitig Geschenke aus. Ich vertauschte meinen Kompaß mit einer herrlich geschnitzten Pfeife. So konnten wir nun in Ruhe Weihnacht feiern.«

 

Der Schreiber dieser anschaulichen Briefe hieß Franz Erich Wehling. Wir haben ihn nach Jahresfrist und später noch öfter als Verwundeten auf der Verpflegstelle des Dresdner Hauptbahnhofs wiedergesehn, auch noch ein weiteres Jahr lang gelegentlich Briefe von ihm erhalten. Später, wie das so zu gehen pflegt, haben wir ihn aus den Augen verloren. Er war nicht groß, eher untersetzt, aber gut gebaut und von hübschem Gesicht, mit sinnigen und treuherzigen braunen Augen.

 

Die nächsten zwei Jahre bis zum Anfang des Jahres 1917, in dem der Krieg in eine neue Phase trat, zogen sich in banger Erwartung endlos hin. Der Krieg, der schon seit dem Beitritt der Türkei zu Anfang des dritten Kriegsmonats als »Weltkrieg« bezeichnet wurde, nahm unser ganzes Denken und Empfinden in Anspruch. Überaus peinlich berührte mich im Mai 1915 die Kriegserklärung Italiens, das das Land meiner Liebe gewesen war. Daß Italien zu unseren Gunsten einschreiten werde, hatte ich trotz unseres Bündnisses mit ihm angesichts des Lärmens der »Irredenta« niemals geglaubt. Daß es aber offen auf die Seite unserer Gegner trat, sah ich für die größte Felonie der Weltgeschichte an. Es konnte vielleicht nicht anders; und jene »heilige Selbstsucht« ( sacro egoismo), die in den Beziehungen der Länder zueinander als völkische Tugend gilt, hat ihm die Früchte eingetragen, nach denen es schon längst die Hände ausgestreckt hatte. Schrecklich aber war die Lügensaat, die, um Stimmung gegen uns zu machen, von unseren Feinden ausgestreut wurde, gerade in Italien aufgegangen, wo sie freilich auch am nötigsten gewesen war, um die brüderliche Liebe, die jahrzehntelang zwischen Deutschen und Italienern geherrscht hatte, zu zerstören. Die Flugblätter mit den verlogenen bildlichen Darstellungen erfundener deutscher Schandtaten, unter denen die Kinder mit den abgehackten Händen eine Hauptrolle spielten, waren gerade in Italien am weitesten verbreitet worden und hatten gerade hier ihre stärkste Wirkung ausgeübt.

Weniger aufregend in bezug auf die Beeinflussung der Kriegslage als das Einrücken Italiens war der ein Jahr später erfolgte Eintritt Portugals in die Reihe unserer Feinde. Portugal war wohl wirklich bereits zu sehr englischer Vasallenstaat, als daß es sich dem Befehl Großbritanniens, dem es vor allem um die Zerstörung der deutschen Schiffahrt zu tun war, widersetzen gekonnt hätte, als ihm zugemutet wurde, die siebzig zum Teil ganz großen deutschen Dampfschiffe, die sich in den Hafen Lissabons und in andere portugiesische Häfen geflüchtet hatten, ohne weiteres wegzunehmen. Wie leid es den Portugiesen tat, den schnöden Bruch geheiligten Gastrechts auf Geheiß einer anderen Macht vollziehen zu müssen, konnte man von Portugiesen gleich damals und noch heute aussprechen hören. Natürlich beantworteten wir den Bruch mit der Kriegserklärung an Portugal. Der wirtschaftliche Schaden aber, den uns der Raub jener Schiffe zugefügt hat, war größer als die Vergeltung, die wir, nachdem auch unsere Kolonien geraubt waren, Portugal zufügen konnten.

 

Ende 1916 war der Krieg im Westen, wo Teilerfolge auf beiden Seiten den Mißerfolgen die Wage hielten, so unentschieden wie vor zwei Jahren; auch im Süden tobten die Kämpfe heftig hin und her. Im Osten aber, wo Warschau schon im August 1915, Brest-Litowsk, Grodno und Wilna drei Wochen später in deutschen Händen waren, schien der Ausgang zu unseren Gunsten nicht mehr zweifelhaft zu sein.

Mächtig wurde während dieser zwei Kriegsjahre an unseren Nerven gezerrt. Jeder glaubte, was er wünschte. Die »Pazifisten«, zu denen ich mich im üblich gewordenen Sinne dieses Wortes durchaus nicht zählte, schenkten den ab und zu völlig grundlos auftauchenden Friedensgerüchten immer wieder Glauben. Schon am 21. April 1915 rief uns der damalige verehrte Leiter des Leipziger Tageblattes aus Leipzig in unserem Hause an, um uns mitzuteilen, nach völlig sicheren Mitteilungen, die er erhalten habe, stünde der Abschluß des Waffenstillstandes unmittelbar bevor. Fast hätte ich nach dieser Mitteilung selbst daran geglaubt. Aber schon am nächsten Tage tobten die amtlichen Auslassungen von beiden Seiten gegen den Gedanken eines Friedensschlusses, ehe der Gegner völlig auf die Knie gezwungen sei.

Anderseits waren die unentwegten Draufgänger geneigt, jeden Teilsieg als Endsieg anzusehen, und sorgten dafür, daß durch Flaggen und Glockenläuten das Siegesbewußtsein aufrecht erhalten wurde. Doch prangten die Straßen allmählich immer seltener im farbigen Schmuck, und besondere Kriegsereignisse zu Wasser und zu Lande wußten den aufmerksamen und aufrichtigen Beobachter, der Selbsttäuschung nicht für den Ausfluß wirklicher Vaterlandsliebe hielt, ebensooft erschrecken, wie sie andere beglückten. Lebhaft erschreckte mich, so gerechtfertigt sie sein mochte, schon am 7. Mai 1915 unsere Versenkung der »Lusitania«, da ich vorauszusehen glaubte, daß sie uns den unversöhnlichen Haß der Vereinigten Staaten eintragen werde; meine besten Freunde verargten es mir damals, daß ich diese Besorgnis äußerte. Mehr noch als meine Freunde aber begeisterte mich nach so vielen unvermeidlichen Mißerfolgen unserer herrlichen Flotte ihr großer Haupterfolg im Skagerrak am 2. Juni 1916. Zwar schrieben die Engländer so gut wie die Deutschen sich auch in diesem Falle den Sieg zu; aber daß in Wirklichkeit, fast wie ein Wunder, wir den größeren Vorteil von dieser Seeschlacht gehabt, die den Engländern endgültig die Landung an unserer Nordseeküste verleidete, unterliegt auch heute noch keinem Zweifel; und dieses Mal war ich der erste, der die schwarz-weiß-rote Fahne vom Dache seines Hauses herabwallen ließ.

Das Entsetzen meiner Freunde aber teilte ich, als Preußen und Österreich Anfang November 1916 das Königreich Polen in dem Wahne wiederherstellten, daß es sich nun mit gegen Rußland wenden und aus Dankbarkeit seine 144 Jahre alten Ansprüche gegen Preußen und Österreich fallen lassen werde. Wie schwer dieser Wahn sich an uns gerächt hat, greifen wir heute mit Händen.

Der letzte große Siegesjubel brauste im Dezember 1916 über Deutschland dahin, als Bukarest nach raschem siegreichen Feldzug gegen Rumänien gefallen war. Auch in Dresden ertönte am 7. Dezember der Siegesdonner der Kanonen, läuteten die Glocken und glänzten die Straßen in buntester Flaggenpracht. Daß Rumänien, das, wie Italien, den Bund mit uns gebrochen, zwei Jahre später unter den Siegerstaaten mit über uns zu Gericht sitzen würde, hätte damals wohl keiner geglaubt.

 

In Dresden, wie allen deutschen Städten, merkte man in diesen Jahren kaum etwas von den Schrecken des Krieges. Stiller nur war es auf den Straßen und Plätzen. Sparsamer brannten nachts die Straßenlaternen. Bescheidener wurden die Mahlzeiten, zu denen man sich einlud; und die Nötigung zu dieser Sparsamkeit entsprang, abgesehen von dem selbstverständlichen Taktgefühl, nicht schlemmen zu wollen, wo viele unserer Besten draußen darbten, damals noch nicht sowohl aus Mangel an barem Gelde, den man noch kaum empfand, als aus dem tatsächlichen Mangel an Lebensmitteln, der eine natürliche Folge der Blockade unserer Häfen und der Besetzung aller unserer Grenzen war. Schon Anfang 1915 wurden die Brotkarten, im Frühling 1916 die Fleischkarten eingeführt; die Kohlen- und die Bekleidungskarten folgten. Im Laufe des Jahres 1916 fing der Mangel an allem Lebensbedarf allmählich an, empfindlich fühlbar zu werden.

Am sorgenvollsten verfolgten natürlich alle, die Gatten, Söhne oder Brüder im Felde hatten, die Wechselfälle der Schlachten und der Gefechte. Ach! wie bange klopften unsere Herzen, wenn wir von schweren Kämpfen in den Geländen lasen, in denen wir unseren Sohn wußten, oder von blutigen Gefechten, die das Regiment bestanden, dem er angehörte.

Unsere Tochter aber machte gleich im ersten Kriegsjahr eine lehrreiche Reise in das von uns im Osten besetzte Feindesland. In ihrer Eigenschaft als Vorstandsdame der sächsischen Vereinigung für die deutschen Verpflegstellen in Polen nahm General Barth sie am 14. Juni mit auf eine Besichtigungsreise zu den Verpflegstellen in Kalisch, Lodz und den benachbarten Orten. Unser Heer war schon weit über diese Plätze hinaus vorgerückt. Es stand bereits vor Warschau. Die zurückgelassenen Verwundeten und Kranken galt es zu pflegen und zu erquicken. Nach ihrer Heimkehr hatte unsere Tochter uns natürlich viel zu berichten. Sie erzählte von den Trümmern und Verwüstungen des Geländes, über das der Krieg dahingebraust war; von dem bequemen Leben und Treiben, das in der »Etappe« herrschte; von den Leiden der zurückgelassenen Verwundeten und ihrer sauberen und fürsorglichen Behandlung in den Pflegestätten; von der »polnischen Wirtschaft«, die sie hier und da mit eigenen Augen gesehen; aber auch von dem blühenden Kleinleben der deutschen Bauerndörfer bei Lodz, deren blonde, helläugige Kinder sich ihnen vertraulich plaudernd genähert hatten.

Unseren Sohn, der es nach Beendigung des Bewegungskrieges in gutem Quartier des hübsch gelegenen Städtchens Cirey nicht weit von Avricourt nicht schlecht hatte, sahen wir frisch und gesund im Juli 1915 wieder. Wir verbrachten einen Teil seines Urlaubs alle vier in der gastlichen Obhut meiner Schwester Lulu Bohlen in Travemünde, dem lieblichen Badeorte in der weiten Bucht, die im Südwesten von der holsteinischen, im Nordwesten von der mecklenburgischen Küste begrenzt ist. O wie lebendig war es hier trotz des Krieges! Zwar das Blinkfeuer des Leuchtturms, der sonst Abend für Abend den Strand in raschem Wechsel beleuchtet und beschattet hatte, war erloschen. Der schöne Ostseepfad am hohen Brotener Ufer war durch Wachen gesperrt; aber das Badeleben im üppigen Kurhaus, im aussichtsfrohen städtischen Kursaal und am weißen Sandstrande war reicher und bunter als je; und die Travemündung war, da wir in der Ostsee immer noch unbehindert Handel treiben konnten, belebter von ein- und ausfahrenden Dampfschiffen als vor dem Kriege.

Um sich von ferne als neutrale Schiffe zu kennzeichnen, hatten diese ihre ganzen Langwände mit senkrechten Streifen in ihren Landesfarben, die zahlreichen schwedischen Schiffe z. B. in Gelb und Blau bemalt, als seien sie mit großen Tüchern in diesen Farben behängt. Aufregend waren die Versuche mit einem unbemannten Rammboot, das, elektrisch vom Lande aus in Bewegung gesetzt, das Meer pfeilgeschwind, mit scharfer, Schaumstaub aufpeitschender Spitze durchschnitt, bis ihm, immer vom Lande aus, Halt und Umkehr geboten wurde. Besonderes Leben aber verliehen der Stille der Natur die Übungsfahrten der Flieger, die vom Priwall herüberschwirrend, tagaus tagein laut surrend, wie Riesenlibellen über Travemünde kreisten. Hier sah und merkte man doch etwas wie einen Abglanz der großen Weltbewegung, die sich draußen vollzog.

Was der deutsche Ostseestrand an Leben gewonnen hatte, hatte der deutsche Nordseestrand, der unmittelbar der Blockade unterworfen war, an Leben verloren. Wie nach Travemünde, dem seit meinen Knabenjahren geliebten, wohin mich während der Kriegsjahre meine Schwester Lulu jedes Jahr auf einige Wochen in ihre Strandvilla einlud, zog es mich während dieser Zeit alljährlich nach Hamburg, wo ich gastlicher Aufnahme bei meinem Bruder Eduard, der schwer unter dem Kriege litt, und bei jeder meiner dort noch lebenden Schwestern jederzeit gewiß war. Eine besondere Freude war es mir, einmal auch bei meiner jüngsten Schwester Linda von Hoßtrup wohnen zu dürfen, die es in besonderem Maße verstand, ihre Gäste ohne übermäßigen Aufwand fein und geschmackvoll zu bewirten. Mit der Reederei und den Geschäften des großen, von meinem Vater gegründeten Handelshauses fühlte ich mich innerlich eng genug verbunden, um jeden seiner Erfolge und jedes Mißgeschick, das es betraf, von ganzem Herzen mitzuempfinden.

In der Tat waren die großen Hamburger Handelshäuser und Reedereien, wie die meines Bruders, vom ersten Tage des Krieges an so gut wie völlig lahm gelegt. Ihrer großen Dampfschiffflotte beraubt, deren Schiffe, soweit sie nicht, altem Seerecht entsprechend, sofort von feindlichen Kriegsschiffen in Feindeshäfen oder auf hoher See gekapert worden waren, Zuflucht in neutralen, damals auch noch in nordamerikanischen, hauptsächlich aber in spanischen und portugiesischen Häfen gesucht hatten, und von ihren Handelsniederlassungen, Pflanzungen und Besitzungen, an deren völligen Verlust man angesichts des damals noch geltenden Schutzes des Privateigentums auf dem Lande lange nicht glauben wollte, von Anfang an völlig abgeschnitten, gerieten sie, zumal sich die gewaltigen Ausgaben für die Gehälter und Löhne ihrer Angestellten auf dem Lande und auf den Schiffen nicht sofort einschränken oder abstellen ließen, natürlich nur allzurasch in eine wenig beneidenswerte Lage. Die Geschäfte, die unser Haus nach den Ostseehäfen, wohin es auch einige seiner wenigen geretteten Schiffe durch den Nordostseekanal fahren ließ, zu machen versuchte, kamen gegenüber dem völligen Ausfall seiner afrikanischen Geschäfte kaum in Betracht.

Wie öde und verlassen lagen die weitgedehnten Hafenanlagen Hamburgs schon im Sommer 1915 da, als mein Bruder Eduard sie mit mir in seiner Barkasse durchfuhr! Unvollendet stand das damals größte Schiff der Welt, das, für die Hamburg-Amerika-Linie erbaut, auf den Namen Bismarck getauft war, auf seiner Werft. Untätig ruhten die großen Dampfer, die nicht ausfahren durften, in weiteren Abständen voneinander als sonst an den langgestreckten Kais von ihren rastlosen und gewinnbringenden Fahrten aus. Unheimlich weit und still erglänzten die Wasserstraßen des Hafens, die des Himmels Wolken, die Masten der Schiffe und die Bauten des Stadtufers widerspiegelten. Nie waren sie mir so lang und breit erschienen wie jetzt in ihrer großartigen, trostlosen Verlassenheit.

Schweren Herzens sahen wir unseren einzigen Sohn nach Ablauf seines ersten Urlaubs am 28. Juli 1915 von Hamburg mit dem Schnellzuge über Frankfurt wieder dem westlichen Kriegsschauplatz zueilen. Den Ehrgeiz, sich ihn im Kugelregen noch weiter auszeichnen zu sehen, hatten wir nicht. Es war uns ein Trost, ihn in Cirey in verhältnismäßiger Sicherheit zu wissen.

Aber lange dauerte es freilich nicht mehr. Zunächst nahte ihm ein innerer Feind. Am 5. September erhielten wir in Dresden die Nachricht, daß Ernst, wahrscheinlich infolge Ansteckung durch ein Kinderbett, in dem er geschlafen hatte, als einziger seines Regiments, am Scharlachfieber erkrankt sei. Zu unserer Verwunderung bat er nach drei Wochen, wir möchten ihm seine juristischen Handbücher schicken, er wolle arbeiten. Nach abermals drei Wochen schrieb er aus Hamburg, er beabsichtige, den kurzen Erholungsurlaub, der ihm nach überstandener Krankheit bewilligt worden sei, dazu zu benutzen, in Hamburg sein Assessorexamen zu machen. Am 25. Oktober bestand er es. Am 26. Oktober traf er als neugebackener Assessor zu unserer großen Freude auf einige Tage in Dresden ein. Am 31. Oktober 1915 schon reiste er wieder nach Cirey ab.

 

Der Bahnhofsdienst und der Volksküchendienst fesselten meine Frau und meine Tochter so an Dresden, daß wir uns nur ab und zu, wenn es dringend notwendig war, auf einige Tage ins benachbarte Gebirge zurückzogen, in dem, neben unserem alten, uns immer heimatlich anmutenden Standquartier auf der Bastei, der benachbarte »Brand«, jetzt aber als neue Entdeckung auch das herrlich gelegene und trefflich bewirtete neue kleine Berghotel auf dem Augustusberg bei Bad Gottleuba bevorzugt wurde.

Am 10. März 1916 bezogen wir, aufatmend, wieder einmal für einige Tage die Bastei. Hier erhielten wir am 12. abends beim Abendessen im Dianasaale eine telegraphische Depesche von Ernsts trefflichem Oberst Reichardt, daß unser Sohn verwundet sei. Eine große Aufregung bemächtigte sich unser. Nun also auch wir. Was Tausenden und Abertausenden von Eltern widerfahren, sollte es nun auch uns geschehen? Unsere nächsten Verwandten väterlicherseits, unsere Vettern Karl und Theodor Müller vom Kupferhammer hatten jeder schon einen Sohn ganz hingeben gemußt. Durften wir hoffen, verschont zu bleiben? Nach einer Viertelstunde traf eine zweite Depesche des Obersten Reichardt ein, wir brauchten keine Besorgnis zu haben: Ernst sei nach dem Reservelazarett I in Saarburg verbracht worden. Nach Dresden, wohin wir sofort zurückkehrten, telegraphierte uns am nächsten Tage die Oberleitung des Lazaretts: »Befinden befriedigend. Transport ausgeschlossen. Kommen erwünscht.« Es war also doch eine schwere Verwundung, wie sie auch in der amtlichen Verwundetenliste bezeichnet wurde. Abends schickte der Oberarzt des Lazaretts, Professor Ziemann, eine ausführliche Nachricht: Auf dem Rückweg von einer Beobachtung des Feindes, der, durch eine tiefe Schlucht von den Unseren getrennt, diesen gegenüberstand, hatte unser Sohn einen Schuß in den Rücken erhalten, der zur linken Schulter hinein, an der rechten Halsseite herausgegangen war. »Gottlob keine Lähmungen«, schloß das Telegramm, das uns nur halb beruhigte.

Am 15. März reiste meine Frau nach Saarburg, von wo wir nun täglich briefliche Mitteilungen über die langsame, leider recht langsame Besserung unseres lieben Verwundeten erhielten. Erst nach einem Monat, am 17. April 1916, kehrte meine Frau, nur halb beruhigt über die Zukunft unseres Sohnes, nach Dresden und in ihren anstrengenden Bahnhofsdienst zurück, in dem unsere Tochter sie vertreten hatte. Erst Anfang Mai folgte unser Ernst ihr. Ich bekam doch einen Schrecken, als ich ihn wiedersah: so dünn und bleich und matt blickte er drein. Die erste Nacht durfte er bei uns zubringen. Dann kam er ins Lazarett des städtischen Ausstellungsgebäudes, wo noch wiederholt an ihm herumgeschnitten wurde. Viel zu langsam besserte sich sein Befinden, bis er öfter zu uns herauskam. Unsere Nichte Hedwig Jänichen-Woermann, die sich, da sie ihre Bildhauerwerkstatt mit deren ganzem Inhalt in Paris eingebüßt, sich der Malerei, von der sie als Schülerin Mackensens ausgegangen war, zugewandt hatte, malte uns sein Bild, das uns noch heute zeigt, wie leidend und matt er damals aussah.

Je mehr seine Kräfte sich wieder hoben, desto dringender notwendig erwies sich eine gründliche Erholung für meine Frau, die Übermenschliches geleistet hatte. Sie beurlaubte sich abermals für vier Wochen, und wir begaben uns, Ernst in der Obhut seines Lazaretts zurücklassend, nach Hahnenklee im Harz, dessen Schönheiten voll zu genießen uns ununterbrochenes Regenwetter freilich hinderte. Am 2. August feierten wir hier den 60. Geburtstag meiner Frau, zu dem unser Sohn uns überraschte. Sein Befinden hatte sich nun wirklich gebessert. Wir verbrachten zu vieren fast in alter Glückseligkeit einen Tag im deutschen Walde.

Als Ernst aus dem Lazarett entlassen werden konnte, war er noch durchaus nicht wieder felddienstreif. Doch übernahm er zunächst eine Stellung beim Grenzdienst in Tetschen, wo er einmal ganz etwas anderes zu sehen bekam, sich aber nicht sonderlich an seinem Platze fühlte. Am 8. Oktober ließ er sich, nicht ganz der Überzeugung der Ärzte entsprechend, wieder für felddienstfähig erklären. Am 28. Oktober begab er sich wieder zur Westfront, wo er in seine früheren Stellungen allerdings nicht wieder eintreten konnte, sondern vor andere Aufgaben gestellt wurde, auch eine Kompanie zu führen bekam.

Auch die beiden klugen Töchter meines Bruders Adolph, die während des Krieges mit ihren Kindern in Dresden wohnten, brachten, jede in ihrer Art, neues Leben und vielfache geistige Anregung in unser Haus.

 

In unserem Hause fehlte es in diesen Kriegsjahren noch nicht an reichem geselligen und geistigem Leben. Von unseren alten nächsten Freunden traten namentlich Nicodés, die durch den Krieg rasch in eine bedrängte Lage gerieten, uns immer näher. Nicodés in ihrer Art tiefgründige Musik hatte ihm gerade in den letzten Jahren vor dem Krieg und in den ersten Kriegsjahren, nachdem sein »Gloria« zum erstenmal, sein »Meer« wiederholt auch in Dresden aufgeführt worden war, die Herzen immer weiterer Kreise erworben. Seine feine, durch einen neuen Musiksaal und einen stillen Kompositions-Pavillon in ihrem Garten vergrößerte Villa in Langebrück war der Mittelpunkt eines kleinen, musikalisch feinschmeckerischen Kreises geworden. Das Ehepaar Nicodé, das, obgleich seine Ehe kinderlos blieb, mustergültig aufeinander eingestellt war, war wie geschaffen, Verehrer und Freunde um sich zu sammeln und leiblich und seelisch zu laben.

Da Frau Nicodés ganzes Vermögen, von dessen Zinsen sie lebten, in England lag, und sie durch ihre Ehe Deutsche geworden war, wurde ihr nach Ausbruch des Krieges mit England ihr ganzes Einkommen gesperrt. Sie hatten, zumal Nicodé, um ganz seinen Tonschöpfungen zu leben, fast gar keinen Unterricht mehr erteilt hatte, bald so gut wie kein Einkommen mehr und waren auf die Unterstützung ihrer Freunde angewiesen. Es geschah natürlich, was in dieser Beziehung möglich war. Da der Krieg sich in die Länge zog und das Einkommen seiner Freunde sich auch von Jahr zu Jahr verminderte, war es oft nicht leicht, Rat zu schaffen.

Das glücklichste letzte Zusammensein hatten meine Frau, meine Tochter und ich mit Nicodé und seiner vornehm gesinnten Gattin am 2. Januar des Jahres 1916. Wir hatten uns, da Frau Nicodés Geburtstag war, zu einem einfachen Festmahl in Moritzburg zusammengefunden und wanderten dann mit ihnen durch dunkle Kiefernwälder, hinter denen die Sonne blutrot sank, zum »Wilden Mann« hinunter. Rüstig schritten Nicodé und ich nebeneinander aus. In einiger Entfernung folgten uns die Damen. Nicodé und ich sprachen uns über alles aus, was in der wilden Zeit unser Herz bewegte.

Wir sprachen von dem Grauen des endlosen Krieges, von dem wüsten und hohlen Treiben der Welt, das ihn vorbereitet hatte, von der Seelennot des einzelnen, der dem Treiben zu entrinnen trachtete, von der reinigenden Kraft, die das fürchterliche Blutvergießen haben müsse, von der Notwendigkeit einer völligen Umkehr und von unserer Hoffnung, daß eine lichtere, geistigere Welt aus dem großen Menschenwirrsal emporsteigen müsse.

Nach einer Pause, während der wir schweigend nebeneinander hergingen, sagte Nicodé, er beabsichtige, im Sinne unserer Zwiesprache eine große neue symphonische Tondichtung in vier Sätzen zu schaffen. Daß er später an dieser neuen Tonschöpfung zu arbeiten begonnen, weiß ich. Wieviel von ihr vor seiner letzten Krankheit Gestalt gewonnen hatte, kann ich nicht sagen. Mir aber gestaltete unser Gespräch sich zu einem vierstrophigen Gedichte, daß ich nach Nicodés Tode in der damals von Karl Wollf herausgegebenen Dresdner Zeitschrift »Der Zwinger« veröffentlichte.

Es war unser letztes Zusammensein mit den beiden geliebten Freunden. Die Herzbeschwerden, an denen Fanny Nicodé schon lange gelitten, verschlimmerten sich durch den ihr immer schmerzlicher werdenden Zwiespalt zwischen ihrer englischen Geburt und ihrem deutschen Herzen. In der Nacht vom 19. zum 20. Februar 1916 verschied sie in der Klinik unseres teuren Hausarztes. Nicodés Schmerz war beängstigend. Am 23. Februar fand die Beerdigung der Verstorbenen auf dem stimmungsvollen kleinen Langebrücker Friedhof statt. Es lag tiefer Schnee; und ein heftiges Schneegestöber vertiefte ihn von Stunde zu Stunde. Nur Nicodés nächste Freunde waren heraufgekommen. Wir waren unser nicht viel mehr als zwanzig, die vom Bahnhof durch den Schnee zu dem eine Viertelstunde entfernten Friedhof wanderten. Nur eine kurze Einsegnung fand in der kleinen kahlen Halle statt. Dann folgten wir dem Sarge auf dem verschneiten Pfade, der uns bis ans andere Ende des Friedhofes führte, an dem die stattlicheren Grabmäler winkten. Fassungslos schritt der Meister voran. Als der Sarg in der Grube versank, brach er mit einem Schrei zusammen. Tief erschüttert führten wir ihn in sein ach! so gastlich gewesenes Haus, in dem wir so manche glückliche Stunde verlebt hatten.

Die Regelung der Angelegenheiten meines Freundes, der wie ein Kind vor allen Fragen stand, in denen die Behörden ein Wort mitzusprechen hatten, fiel wie von selbst mir zu. Meine Kenntnis der englischen Sprache und meine Erinnerungen an die Monate, in denen ich vor einem halben Jahrhundert mich zu dem Zwecke, englisches Recht kennenzulernen, in London aufgehalten hatte, wiesen mir die Pflicht zu, mich mit den englischen Behörden wegen des Nachlasses der Frau Nicodé in Verbindung zu setzen. Eine Dresdner Rechtsanwaltsfirma zog ich aber doch zu Rate. Die Vermittlung des Verkehrs mit den englischen Anwälten und Behörden übernahm anfangs der amerikanische Generalkonsul in Dresden, dann einer meiner Freunde im Haag. Zunächst handelte es sich darum, das englische Testament der Frau Nicodé, in dem sie ihren Gatten zu ihrem alleinigen Erben eingesetzt hatte, aufzufinden. Erst nach vielem Hin- und Herschreiben erinnerte Nicodé sich des Namens des Londoner Solicitors, bei dem es hinterlegt worden war. Dann mußte über die Gültigkeit dieses Testamentes, die mit nichtigen Gründen bestritten wurde, eine richterliche Entscheidung in England herbeigeführt werden. Ich hatte den Standpunkt, den wir in dieser Frage vertraten, in langen rechtlichen Auseinandersetzungen zu verteidigen. Die Schreibereien, die ich in dieser Angelegenheit hatte, wollten kein Ende nehmen. Aber ich hatte die Genugtuung, daß der englische Richterspruch mitten im Kriege schließlich zu unseren Gunsten ausfiel, so daß Nicodé das Erbe seiner Frau gesichert wurde.

Auch mit Sir Hermann Weber, meinem Londoner Vetter, unterhielt ich während des ganzen Krieges einen lebhaften Briefwechsel, der zum Teil der Ausführung der Unterstützungen galt, die er schon vor dem Kriege seinen ärmeren oder verarmten deutschen Verwandten hatte zuteil werden lassen. Der Haager Vermittler dieses Briefwechsels aber war unser gemeinsamer Vetter, der holländische Staatsmann Graf Friederich von Bylandt, mit dem ich seit unserer Jugend keine Beziehungen mehr gehabt hatte. Für den Rest unseres Lebens wurden sie jetzt mit Herzlichkeit wieder aufgenommen.

Neues Leben brachten in unser Haus seit 1916 aber auch zwei junge Türken, für die ich, obgleich ich sie in Pensionen unterbrachte, die ganze Fürsorge übernehmen mußte, und dem Vater des einen von ihnen, Mehemed Faik Pascha zuliebe, der zuletzt Gouverneur von Damaskus gewesen war, auch gern übernahm. Mehemed Faik Pascha war in unserer Jugend als junger Türkenoffizier den Düsseldorfer Husaren zugeteilt gewesen. Von meinem Schwager, der, wie schon früher erwähnt, selbst General in türkischen Diensten und Pascha war, meiner Schwiegermutter empfohlen, hatte diese ihn, von seinem offenen, bescheidenen, ehrlichen und ritterlichen Wesen hingerissen, fast wie einen Sohn in ihr Haus aufgenommen, aus dem ihre eigenen Kinder bereits ausgeflogen waren. Auch wir gewannen uns lieb. Er nannte uns Bruder und Schwester und wir duzten uns. Wunderbar war, wie gut er noch jetzt die deutsche Sprache beherrschte. Mehemed Faik Pasch wünschte einen seiner Söhne in Deutschland die Technische Hochschule besuchen zu lassen und schickte ihn uns daher nebst dessen gleichalterigem Freunde. Es hielten sich damals wohl ein Dutzend junger Türken zu ähnlichen Zwecken in Dresden auf; und wir nahmen uns aller, insbesondere unserer beiden Pflegebefohlenen, nach Kräften an.

Bei ihrer mangelhaften Vorbildung, mit der sie sich gleichwohl auf die Oberrealschule für die Reifeprüfung vorbereiten sollten – vier Jahre älter als die Deutschen ihrer Klasse – und bei den von unseren so verschiedenen Verhältnissen und Anschauungen, in denen sie aufgewachsen waren, war es für sie und uns oft schwer genug. Aber Verdrießlichkeiten und Freuden hielten sich auch in diesen Beziehungen das Gleichgewicht. Jedenfalls füllten diese jungen Türken mit ihren Sorgen und Leiden, ihren Licht- und ihren Schattenseiten eine ganze Reihe von Blättern unserer Lebensgeschichte von 1916 bis 1919 aus; und jedenfalls wurden die Bande unserer Freundschaft mit Mehemed Faik Pascha, der mit seiner leidenden Frau, die keine europäische Sprache verstand, und seinen jüngeren Kindern jetzt oft Monate in Deutschland zubrachte, durch die Fürsorge, die wir für einen seiner Söhne und dessen Freund übernommen hatten, nur fester und inniger geknüpft. Faik war und ist ein seltener Mensch. »Den einzigen ehrlichen Türken« konnte man ihn, sicher mit Unterschätzung der Eigenschaften der übrigen Türken, in Konstantinopel nennen hören. In die Lichtseiten des türkischen Wesens hat uns gerade unsere Freundschaft mit ihm tiefe Blicke tun lassen.

 

Bei alledem, was diese Kriegsjahre uns an neuem, aufregendem Leben und immer wiederholter Unruhe ins Haus brachten, mußten meine Blicke fest auf das Ziel der Vollendung der neuen sechsbändigen Ausgabe meiner Kunstgeschichte gerichtet sein. Eines der alten Kapitel nach dem anderen in vielfach erneuertem und erweitertem Gewande aus der Stille des Schreibtisches hervorquellen zu sehen, war mir ein Trost inmitten des großen Zerstörungswerkes, dessen Krachen aus der Ferne zu uns herübertönte. Der erste Band erschien im Herbst 1915. Inzwischen war der zweite Band, an dem ich bei Ausbruch des Krieges arbeitete, so weit gediehen, daß ich das vollendete Manuskript schon im Februar 1915 nach Leipzig bringen und der zweite Band, kurz nach dem ersten, auch noch im Spätherbst 1915 ausgegeben werden konnte.

Als junger Mitarbeiter für die Bereitstellung der Zeitschriftenauszüge war an Hermann Hiebers Stelle, der in England »interniert« war, Max Loßnitzer, Lehrs' Direktorialassistent am Kupferstichkabinett, getreten, ein gesellschaftlich und wissenschaftlich feinfühliger, langaufgeschossener junger Mann, der gleich nach dem Ausbruch des Krieges als Reserveleutnant mit hinauszog. Beim Abschied sagte er: »Ich werde nicht wiederkommen. Ich bin weitaus der Längste in meiner Kompagnie. Da wird mich bald ein Kopfschuß treffen«; und so geschah's; am 30. September erhielt ich die Trauernachricht, daß Max Loßnitzer bei Châlons gefallen sei. Ach, könnte ich nur sagen, daß auch sein Opfertod zum Siege des Vaterlandes beigetragen habe!

Nachdem ich mich neun Monate ohne Beistand beholfen, nahm sich seit dem l. März 1915 unser junger, mit Bianca Segantini, der Herausgeberin der Briefe ihres Vaters Giovanni, verheirateter Hausfreund, der Balte Hugo Zehder, meiner Unterstützung an. Hugo Zehder, der Sohn eines Rigaer Großkaufmanns, war als Architekt Schüler Martin Dülfers in Dresden gewesen, hatte sich auch bereits als selbständiger Baumeister in Dresden niedergelassen und einen hübschen Entwurf für den Wettbewerb um die Galerie neuerer Meister geliefert, die am Zwingerteich errichtet werden sollte. Natürlich hatte er jetzt keine Aufträge als Baumeister und übernahm gern die Mitarbeit an meinem Buche in denselben Grenzen, in denen Hieber und Loßnitzer mir geholfen hatten. Zehders Gesichtskreis ging schon damals über diese Aufgaben hinaus. Seine Mitarbeit, die mir wegen seiner Beherrschung der russischen Sprache für die russischen Abschnitte besonders nützlich war, gereichte mir zu besonderer Freude; und ich konnte manches von ihm lernen. Auch er hatte sich damals schon in die jüngste Kunst eingefühlt und zog mich auf diesem Wege mit.

Um entschiedener seine eigenen neuen künstlerischen und politischen Wege zu gehen, die ihn in jeder Hinsicht der Umwälzung in die Arme trieben, trennte er sich 1918 in der freundschaftlichsten und offenherzigsten Weise von mir; aber es gelang uns noch einige Jahre, die weiteren, uns innerlich nahegehenden Wege Hugo und Bianca Zehders zu verfolgen. Ach! wie weit ist unsere doch so kleine von Menschen bewohnte Erdoberfläche! Man trifft sich zufällig, man gewinnt sich lieb, man wandert ein Stück Weges miteinander, wird dann aber, man weiß kaum wie, weit auseinandergerissen und sieht sich vielleicht niemals wieder.

Übrigens hätte ich mich nach meinem vollendeten 70. Lebensjahre gründlich verändert haben müssen, wenn nicht, wie von jeher alles, was mich innerlich bewegte, auch der Krieg meinen Empfindungen Rhythmen und Reime verliehen hätte; Kriegsgedichte regnete es damals in Deutschland. Die meinen, die nicht besser und nicht schlechter waren als die meisten von ihnen, entstanden zwischen dem Herbst 1915 und dem Herbst 1916. Zuerst in Zeitschriften oder Tagesblättern veröffentlicht, erschienen sie 1916 als besonderes Heft in der von Ottomar Enking herausgegebenen Folge »Kriegsdichtungen aus dem Sachsenlande«, die aus nicht weniger als 37 Heften von 23 sächsischen Dichtern und 14 sächsischen Dichterinnen bestanden. Das letzte dieser Hefte erschien 1917. Daß sie nichts Unwürdiges enthielten, verbürgt der Name ihres Herausgebers. Daß sie so viel Gutes brachten, wie es der Fall war, zeigt, wie tief und echt die Erregung war, die damals alles und alle ergriffen hatte. Nicht ihres dichterischen Wertes oder Unwertes willen, sondern wegen ihrer Bedeutung für mein Empfinden dem Krieg gegenüber teile ich aus ihnen hier die ersten Strophen des Gedichtes »Einst und jetzt« mit:

Als noch ich wandelt' im Knabengewand,
Warst, Deutschland, du das gelobte Land,
Das nur im Traume zu sehen.
Wir träumten vom neuen deutschen Reich
Und sahn es im Geiste, dem alten gleich,
Erblühen aus Sturmeswehen.
Ach! Deutschland, du hattest nicht Heer noch Schiff,
Warst Weisen und Toren ein Traumbegriff;
Und dennoch: du mußtest erstehen.

Als dann ich vom Jüngling zum Manne gereift.
Da hattest die Hülle du abgestreift.
Die Adlerschwingen entfaltet;
Da hattest, durch Arbeit stark und groß,
Du kämpfend errungen das herrliche Los,
Da blühtest du, prächtig gestaltet.
Und machtvoll hast du mit Flotte und Heer
Ein halbes Jahrhundert zu Land und Meer
Des köstlichen Friedens gewaltet.

Und nun ich ein Greis, bestürmt mich das Leid,
Daß stürzen dich will der Feinde Neid,
Vertilgen in blutigem Ringen.
Sie wollen zerschmettern dein tapferes Heer
Und deine Schiffe versenken ins Meer,
Dir Hunger und Armut bringen.
Ist's wirklich wahr denn? Noch fass' ich's kaum.
War all dein Glanz nur ein goldener Traum?
Ist's möglich, dich niederzuringen?


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