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4. Eigenleben und Eigenschaffen

Neues, ungeahntes, wenn auch in meinen Jünglingsjahren in der Mitte zahlreicher jüngerer, um mich heranwachsender Geschwister in anderer Art vorausempfundenes Leben umsproß meine geliebte Lebensgefährtin und mich, als unser 1886 geborenes Töchterchen Helene und unser 1888 geborener Sohn Ernst in unserem behaglichen Hause, dessen Innentreppe von zwei hohen, spätklassischen ionischen Säulen getragen wird, und in unserem lauschigen, bald nur allzu schattigen Garten unter unseren Augen gesund und fröhlich aufwuchsen und unversehens zunahmen an »Alter, Weisheit und Verstand«.

Als ich am Ende dieses Zeitraums aus meinen Ämtern schied, war unsere Tochter zur blonden nordischen Jungfrau gereift, immer noch der Stolz und die Freude unseres Hauses, während unser Sohn es bis zum Reserveleutnant in Dresden und zum Gerichtsreferendar in Hamburg gebracht hatte, wo er, da ich zwar meine Rechtsanwaltschaft, nicht aber mein Bürgerrecht in meiner Vaterstadt aufgegeben hatte, als einheimisch anerkannt worden war. Was wir in diesem Vierteljahrhundert mit unseren Kindern und durch sie daheim und draußen erlebt haben, war nichts, was nicht tausend Eltern erlebt hätten. Aber es selbst erleben, es zum ersten Male erleben, es zu erleben zu einer Zeit, in der wir es kaum noch gehofft hatten, empfanden wir als eine Quelle von Freuden und Sorgen, der nichts auf Erden gleicht.

Eine größere Freude gibt es wirklich nicht, als im Seelenleben seiner Kinder die allmähliche Entwicklung aller jener geistigen Gaben zu beobachten, die den Menschen zum Menschen machen, im Leben eines lieben Töchterchens Knospe auf Knospe sich öffnen zu sehen, bis der Blütenstrauch in voller Frühlingspracht dasteht, den Charakter eines Sohnes sich im Kampfe mit sich und mit anderen stählen zu sehen, bis er zum männlichen Jüngling gereift ist. Schon in den frühen Spielen unserer Kinder sahen wir ihre gemeinsamen und ihre verschiedenen Anlagen sich entwickeln, die sich im reiferen Kindesalter in den Gedankengängen widerspiegelten, die sie bei dieser oder jener Gelegenheit zum besten gaben.

Die Konfirmation bildete, wie im Leben aller Deutschen lutherischen Bekenntnisses, einen wichtigen Abschnitt auch im Leben unserer Kinder. Wir hatten nicht versucht, sie vorzeitig dem Kirchenglauben zu entfremden. Meine Frau und ich waren auch in dieser Beziehung eines Sinnes. Sie war in ihrem Elternhause in der Weltanschauung groß geworden, die ich mir in dem meinen in schwerem innerem Kampfe erringen gemußt. Aber wir waren beide überzeugt, daß es für die große Mehrheit der Menschen ein unentbehrliches Glück sei, sich von überlieferten Glaubenslehren leiten zu lassen, bis man aus eigener Erfahrung zu der Auffassung hindurchdringe, daß jedes besondere religiöse Bekenntnis nur ein schwacher Abglanz der außerirdischen, menschlichem Forschen unzugänglichen Wahrheit sei.

»Aufschrein hätt' ich mögen vor Schmerzen,
Als ich der Kindheit Himmel verlor,
Tausend Rätselfragen im Herzen,
Starrt' ich zur glühenden Sonne empor.
Antwort heischt' ich mit bangem Lauschen
Von des Waldes, des Meeres Rauschen,
Antwort heischt' ich aus schwindelnder Ferne
Von dem stummen Walten der Sterne;
Abend für Abend erglänzte ihr Licht;
Aber Antwort erhielt ich nicht.

Doch allmählich kehrte der Frieden
In die zerrissene Brust mir zurück.
Daß uns »nichts zu wissen« beschieden,
Fühlt' ich als reines, menschliches Glück.
Gab's in der Erde blühenden Gauen
Doch genug zu ergründen, zu schauen,
Gab's in der Menschheit Erntebezirken
Doch genug zu schaffen, zu wirken,
Gab's in der eigenen Brust doch genug,
Das sein Glück in sich selber trug.

Aber mit allen den Rätselfragen,
Denen entflohn ich in frommer Scheu,
Quälen in sonnigen Sommertagen
Meine Kinder mich nun aufs neu:
Plaudernd, mit lachendem Purpurmunde,
Heischen von Gott und Welt sie Kunde,
Rufen mit großen, strahlenden Augen,
Die in den Himmel zu schaun noch taugen,
Flehend zurück mich zur Vaterpflicht,
Wenn ich sage: »Das weiß ich nicht!«

Sieh', da erzähl' ich den kleinen Wichten,
Halb im Traume, mir selbst entrückt,
Alle die lieben, frommen Geschichten,
Die in der Kinderzeit mich beglückt.
Wie sich der Kleinen Blicke verklären,
Wenn sie lauschen den Wundermären!
Wie die Erde sich ihnen erweitert,
Wie der Himmel sich ihnen erheitert!
Wie mir die heilige Jugendglut
Selig wieder durchflammt das Blut!«

Ein inneres Erlebnis war es uns daher auch, als wir nach der Konfirmation unserer Kinder mit ihnen, zum erstenmal seit langen Jahren, am Abendmahlstische erschienen. Wir wollten uns seelisch nicht von unseren Kindern trennen und glaubten es auch nicht nötig zu haben. »Solches tut zu meinem Gedächtnis« hatte Jesus, wie Lukas und Paulus berichten, gesagt; und von ganzem Herzen und aus aufrichtigem Gemüte konnten wir uns an dem Liebesmahle zum Gedächtnis des reinsten und größten aller Religionsstifter beteiligen.

Ach, und dann die lieben kleinen und für sie doch so großen Erlebnisse der erwachsenden Kinder, die die Herzen der Eltern als ihre eigenen mitempfinden! Die erste Tanzstunde, der erste Musikunterricht, die erste Reitstunde, die ersten Gesellschaften, die Besuche des Theaters und der Konzerte! Mit nicht ganz ungeteilter, aber doch stolzer Freude sahen die Eltern ihr Töchterchen in lichten Gewändern und Blumen im Haar in den Armen schmucker Jünglinge durch den Ballsaal dahinfliegen. Man liebte damals noch die raschen Gleittänze, die heute ruhigeren Schreittänzen Platz gemacht haben. Höher klopfte das Vaterherz, wenn er der Tochter, in ritterlicher Begleitung hoch zu Rosse, im Walde begegnete. Ach! und die Stunden gemeinsamen Genießens der Kunstschöpfungen aller großen Meister der Welt in den Museen, den Theatern, den Musiksälen, aber auch im eigenen Hause, wo ich, wie einst meiner geliebten Großmutter in deren Heim, jetzt meiner Frau und meiner Tochter aus den Dichtungen aller Zeiten und Völker vorzulesen liebte! Und die Stunden gemeinsamen Umherschweifens in der schönen Umgebung Dresdens, in allen deutschen Landschaften und auf Reisen in der größeren Natur gesegneterer Länder!

Welches Miterleben aber auch, dem reifenden Sohn im Geiste durch alle Schul-, Universitäts- und Militärprüfungen zu folgen! Welche Freude, wenn er, in den Universitätsferien von Heidelberg, München und Leipzig heimkehrend, dem Elternhause sprudelndes Leben und mannigfache Anregungen brachte! Welches Glück für das Vaterherz, wenn sich in dem Verhältnis zu dem oft ermahnten Sohne allmählich das Blättchen wendet und aus dem Zögling der Freund wird, der ihm mindestens so viel bringt und bietet, wie er von ihm empfängt! Das Leben am heimischen Herde, mit den Menschen, die ihm die liebsten auf Erden sind, will dem Glücklichen, dem es beschieden, als der Kern des Menschendaseins erscheinen, an den alles Weitere sich, von außen kommend, ansetzt.

 

Nur die stille, schöpferische Arbeit am Schreibtisch im eigenen Heim kam dem Frieden gleich, den mir das Leben mit meiner Frau und meinen Kindern am heimischen Herde beschied. Bildete jene Arbeit oder dieses Leben den eigentlichen Kern meines Menschenseins? Ich glaube, im Grunde ist der Schaffensdrang, der Selbsterhaltungstrieb über unseren Tod hinaus in diesem wie in jenem Fall der gleiche. Auch die Freude am eigenen Schreibtisch-Schaffen, mag man sich über ihre Bedeutung auch täuschen, wie über die Bedeutung der eigenen Kinder, ist zeugende Vaterfreude, die uns beglückt.

Ja, köstlich ist es, offenen Auges und Herzens alle Wunder der Schöpfung und ihres beseelten Spiegelbildes in allen Künsten in sich aufzunehmen. Köstlicheres aber gibt es auch nicht, als, wenn auch noch so bescheiden, selbstschaffend mitzuweben an dem weiten, bunten Gewande, mit dem der Menschengeist, selbst ein Stück von ihr, die nackte Schöpfung bekleidet.

Wohler habe ich mich wirklich nie gefühlt, als wenn es mir vergönnt war, im stillen Gemach bei mild einfallendem Sonnenschein oder traulichem Lampenlicht in mich gesammelt an meinem Schreibtisch zu sitzen, die gelehrige Feder über die glatte weiße Fläche dahingleiten zu lassen, Erlauschtes und Erträumtes, vor allem aber in der weiten Welt des Seins und des Scheines Beobachtetes, von innen heraus neu geschaffen, wieder erstehen zu lassen und einzeln und zu verschiedenen Zeiten Erlebtes zu einem neuen gegenwärtigen Erlebnis zusammenzufassen.

 

Aber mein bescheidenes poetisches Schaffen in den Jahrzehnten, von denen hier die Rede ist, habe ich bereits berichtet. Meine Gedichte entstanden zumeist auf einsamen Wanderungen in Wald und Flur, nur ihre Feile erhielten sie am Schreibtisch. Die Wissenschaft, der ich mich verschrieben, beherrschte mein Dichten und Trachten wie mein Schaffen.

Auch in der Gemäldegalerie saß ich jede freie halbe Stunde am Schreibtisch. Waren die neuen Gemäldeverzeichnisse, von denen der große beschreibende und wissenschaftlich erörternde Katalog zu den ausführlichsten und umfangreichsten »Catalogues raisonnes« der Welt gehörte, auch 1887 vollendet und der Öffentlichkeit übergeben, so bedeutete das doch kaum eine Atempause. Machte die große Nachfrage doch rasch aufeinanderfolgende neue Auflagen nötig und erforderte jede neue Auflage angesichts der Neuerwerbungen, der Umhängungen und vor allem der Fortschritte der Forschung in bezug auf die Einzelbilder, ihre Meister und deren Lebensgeschichte, doch eine Umarbeitung der vorhergehenden, die mühsamer und zeitraubender war, als es den Anschein haben mochte.

In steigendem Maße erfreute mein Katalog sich von Auflage zu Auflage der freiwilligen Mitarbeit zahlreicher Dresdner und auswärtiger Fachgenossen und Freunde, von denen z. B. das Vorwort der fünften, 1901 erschienenen Auflage mit herzlichem Danke für mündliche oder schriftliche Beiträge meine Dresdner Freunde Seidlitz, Lehrs, Sponsel und Singer, meinen alten, wunderlichen Inspektor Gustav Müller, meinen trefflichen Restaurator Otto Nahler und meinen treuen Oberaufseher Gerlach nannte, dann aber auch eine Reihe der namhaftesten meiner auswärtigen Fachgenossen dankbar hervorhob. Namentlich der verdienstvolle holländische Forscher und Kenner Abraham Bredius unterließ niemals, mir seine neuen urkundlichen Entdeckungen zur Lebensgeschichte der holländischen Maler noch vor ihrer anderweiten Veröffentlichung mitzuteilen. Über mangelnde Teilnahme meiner Fachgenossen an meiner Arbeit konnte ich mich wahrlich nicht beklagen; und die Nachfrage der Besucher nach den Verzeichnissen steigerte sich, als sie seit der dritten Auflage von 1896 mit 100 Abbildungen der beliebtesten Gemälde geschmückt wurden.

Ein gutes Stück meiner Lebensarbeit steckt in diesen Bilderverzeichnissen; und auch diese Arbeit war mir eine wirkliche Freude. Brachte sie mir doch alle Meister, die kleinen wie die großen, die mir alle ihr besonderes Gesicht und ihre eigene Seele zeigten, nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich näher; und wuchs mir jedes ihrer Bilder, wenn es echt und aufrichtig war, doch ans Herz, als gehörte es zu meinem eigensten Besitze!

Schwieriger als die Gemälde war es, die Handzeichnungen richtig zu »bestimmen«. Hatte Giovanni Morelli, der berufene Italiener, doch bei seiner ersten Bearbeitung der italienischen Zeichnungen unserer Sammlung fast alle anders bestimmt als bei seiner späteren Rückkehr nach Dresden. Das Verzeichnis unserer Zeichnungen, an dem ich arbeitete, schien mir daher auch im Ganzen noch lange nicht druckreif zu sein. Nur die besten und am sichersten erkannten von ihnen vereinigte ich in den 10 Mappen des großen Hanfstaenglschen Werkes, das 1896 bis 1898 in München erschien.

 

Ganz im Sinne meines großen Dresdner Katalogs, im wesentlichen aber schon daheim am eigenen Schreibtisch, schrieb ich im Laufe des Jahres 1891 das wissenschaftliche Verzeichnis der 300 Gemälde alter Meister der Galerie Weber in Hamburg. Dieses Verzeichnis zu schreiben war mir Herzenssache. War ihr Gründer und Sammler, mein Oheim Eduard F. Weber, mir doch von klein auf nahe befreundet gewesen. Verdankte ich seiner Begeisterung für die Kunst und ihre Geschichte doch ein gutes Stück der meinen. Hatte ich seine Galerie doch von ihren ersten Anfängen an bis zu ihrer damaligen Reife und Fülle werden und wachsen sehen, und hatte ich doch jedes ihrer Bilder von seiner Aufhängung in dem großen, schönen Weberschen Wohnhause an der Alster bis zu seinem Einzug in das neue, von bewährtem Meister erbaute Galeriegebäude verfolgt, das aus dem eigens zu diesem Zweck erworbenen Nachbarhause erstand! Ihr erstes Bild, das Pantheon in Rom von der Hand Bernardo Bellottos oder eines verwandten Meisters war 1864, ihr damals letztes Bild, Rembrandts köstlicher, später leider gegen ein zweifelhaftes Spätbild des Meisters eingetauschter heiliger Jakobus als Pilger von 1661, ein allgemein anerkanntes Meisterwerk, war 1891 erworben worden. Kenner wie Bode, Eisenmann, Habich, Morelli und der Münchner Restaurator Alois Hauser waren meines Onkels Berater gewesen. Manche der großen Bilderversteigerungen Europas hatte er selbst besucht. Auf allen hatte er für sich bieten lassen. Ich selbst aber hatte an der Entstehung der Galerie in ihrer damaligen Gestalt keinen Anteil gehabt. Um so unbefangener konnte ich an die wissenschaftliche Prüfung und Bestimmung ihrer Bilder herantreten; und Eduard Weber war ehrlich und klug genug, keine verwandtschaftlichen oder anderen Rücksichten von mir in der Bewertung der von ihm gesammelten Gemälde zu erwarten.

Die Aufgabe war mir um so willkommener, als sie mich für den ganzen Februar des Jahres 1891 in mein Elternhaus, dem meine Mutter und meine unverheiratete, ganz den Künsten lebende Schwester Marie Behaglichkeit und geistiges Leben verliehen, und in den ganzen großen, durch Neffen und Nichten sich mächtig erweiternden Kreis meiner Hamburger Verwandten zurückführte, dem sich alles anschloß, was ich in meiner Vaterstadt an alter und neuer Freundschaft besaß. Von meinen Geschwistern stand mein Bruder Adolph, dessen begabten Töchtern erster Ehe seine zweite Gattin bereits zwei stämmige kleine Brüder als Stammhalter des Hauses gesellt hatte, in der Blüte seiner Jahre, seiner Arbeitskraft und seiner Lebensfreude. Mein Bruder Eduard, der jüngste von uns allen, der, schon verlobt, in nächster Zeit Hochzeit mit Jeannette Bertheau feierte, war noch unser lieber Hausgenosse bei seiner Mutter, die uns eine so liebreiche zweite Mutter war. Von meinen in Hamburg ansässigen Schwestern war die jüngste, Linda von Hoßtrup, die allzufrüh Witwe geworden war, in ihrem behaglichen Hause von drei lieblich heranblühenden Töchtern umgeben. Mein Schwager Gustav Ritter, der Pastor an der großen Michaeliskirche war, aber lebte noch liebend und wirkend an der Seite meiner ältesten Schwester Henny, die ihm sechs prächtige Kinder geboren hatte; und mein Schwager Eduard Bohlen, der der Woermannschen Dampfschiffreederei vorstand, und meine Schwester Lulu, denen ein tüchtiger Sohn und drei reizende Töchter erwuchsen, wetteiferten mit meinem Bruder Adolph und seiner Gattin, eine weitgehende gesellige Gastfreiheit zu entfalten. Es herrschte damals ein trauliches, durchgeistigtes und doch reiches und behäbiges Leben in diesem ausgedehnten Familienkreise meiner Hamburger Geschwister.

siehe Bildunterschrift

Eduard Woermann (1905) 42 Jahre alt

Besonders erfreute mich aber auch der tägliche Umgang mit dem alten Freunde meiner römischen, neapolitanischen und pompejanischen Jugendzeit, dem Maler Hieronymus Christian Krohn, der durch die hellenistischen Wandgemälde, die er für mich in Rom, in Neapel und in Pompeji kopierte, so viel zu meiner wissenschaftlichen Entwicklung beigetragen, später in Hamburg die Häuser einiger meiner nahen Verwandten mit Wandgemälden versehen, auch das Webersche Galeriegebäude raumkünstlerisch geschmückt hatte und jetzt, da er die genaue Wiedergabe der Bilderinschriften für meinen Katalog übernommen hatte, wieder, wie in der schönen Jugendzeit, täglich mit mir zusammen arbeitete. Es waren in jeder Beziehung genuß- und inhaltsreiche Wochen, in denen Erinnerung und Leben, Vergangenheit und Gegenwart, von goldenen Fäden durchzogen und verbunden, einander beglückend die Hände reichten.

Die Webersche Galerie hatte an Vielseitigkeit, fast möchte ich sagen Allseitigkeit, unter den Privatsammlungen Europas nicht ihresgleichen. Nur nach künstlerischen Grundsätzen waren die Gemälde moderner Meister, einschließlich der großen Engländer der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Eduard Webers Wohnhause gewählt und verteilt. Seine Galerie alter Maler aber war mehr nach kunstgeschichtlichen als nach künstlerischen Gesichtspunkten gesammelt. Weber hatte den Ehrgeiz, von den alten Meistern oder doch Schulen so viele wie möglich vertreten zu sehen, was natürlich nicht tunlich war, ohne darauf zu verzichten, nur eigenhändige Bilder bester Qualität zu erwerben. Echte, bezeichnete Bilder kaum bekannter oder doch wenig bedeutender alter Maler wurden ebenso willkommen geheißen, wie die Schöpfungen der weltberühmten großen Meister, ja manchmal wurden absichtlich zweifelhafte Bilder erworben, deren »Bestimmung« kunstgeschichtlich lehrreich schien.

Aus diesem Grunde weigerte sich später auch Lichtwark nicht mit Unrecht, als die Gemälde nach dem Tode Webers verkauft wurden, die Erwerbung der ganzen Sammlung, wie sie war, für die Hamburger Kunsthalle anzustreben. Brach sich damals doch die Anschauung Bahn, daß für Bilder von Meistern dritten oder vierten Ranges, wenn sie auch noch so sicher beglaubigt und kunstgeschichtlich lehrreich sein mochten, in erlesenen öffentlichen Galerien kein Raum sei. Wurde gelegentlich doch sogar – sicher zu einseitig – ausdrücklich betont, daß die großen öffentlichen Sammlungen nicht der Kunstgeschichte, sondern der Kunst zu dienen haben. Daß schon die Raumfrage, besonders seit man die Bilder so weitläufig hängen zu müssen meinte, wie heute, zu dieser Auffassung drängte, liegt auf der Hand. Abgesehen von der Raumfrage aber gehörten für mich, der ich nun einmal in der Kunstgeschichte groß geworden war, zu dem herrlichen, magisch fesselnden Eindruck des gesamten Sternenhimmels der Kunst die kleinen so gut wie die großen Sterne, ja, lösten auch die kleinen manchmal seelische Sonderempfindungen aus, die ich nicht missen möchte; und jedenfalls wäre es ein Verlust für die Wissenschaft, wenn es neben den eigentlichen, reinem und hohem Genuß gewidmeten Kunsthallen keine öffentlichen kunstgeschichtlichen Sammlungen mehr geben dürfte.

Mir war die Aufgabe, auch dem Schein der kleinen Sterne auf den Grund zu gehen, durchaus nicht zuwider. Aber auch an großen Sternen fehlte es der Galerie Weber nicht, die unter anderem echte Bilder von Rubens und Rembrandt, von Ruisdael und Pieter de Hooch, von Hans Holbein dem Älteren, Hans Burgkmair und Hans von Kulmbach, von Guardi, von Moretto, von Tiepolo, ja, als ich 15 Jahre später, nachdem ich auf der Versteigerung Habich mich auch selbst an der Vermehrung der Sammlung beteiligt hatte, die zweite Auflage des Katalogs herausgab, auch bedeutende Schöpfungen von Mantegna und Credi, von Murillo und Goya, von Paul Potter und Adriaen van de Velde, von Martin Schaffner und Hans Baldung besaß.

Die erste Auflage des Weberschen Katalogs erschien 1892, die zweite 1907, gleich nach dem Ableben meines Oheims. Mit der regsten Teilnahme hatte der rüstige, geistig noch völlig jugendfrische Siebenundsiebzigjährige, dessen Herzenseigenschaften nur würdigen konnte, wer ihm und seiner feinfühligen Gattin Liszy Gossler nahe gestanden, die Ausführung des Textes der zweiten Auflage und den Druck der ersten Bogen verfolgt, als ihn am 19. September 1907 ein unerwarteter sanfter Tod den Seinen und dem Kunstleben Deutschlands entriß.

 

Wissenschaftliche Bilderverzeichnisse, » catalogues raisonnés«, wie der alte französische Ausdruck lautete, zu schreiben, gaben mir in diesem Zeitraum noch zwei von mir selbst im Rahmen der Großen Dresdner Kunstausstellungen veranstaltete Sonderausstellungen Anlaß. In beiden Fällen handelte es sich um sächsische Meister, die mir ans Herz gewachsen waren. Meine Cranach-Ausstellung, die sich 1899 der »Deutschen Kunstausstellung« in Dresden einfügte, wollte zunächst ein zusammenhängendes und richtiges Bild vom Kunstschaffen eines tüchtigen, ehrlich deutschen Meisters der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geben, der, neuerdings öfter unterschätzt als überschätzt, jedenfalls neben Dürer, Grünewald und Holbein der meistgenannte und einflußreichste deutsche Maler der Renaissancezeit ist und, wenn auch Franke von Geburt und Regensburger seiner künstlerischen Herkunft nach, als Führer, wenn nicht Begründer der sächsischen Schule gerade in der Hauptstadt Sachsens erneute Würdigung verdiente.

Die Ausstellung verfolgte aber auch besondere wissenschaftliche Zwecke. Sie wollte festzustellen suchen, ob sich noch sichere ältere Bilder des Meisters erhalten hätten als die berühmte, mit des Meisters Anfangsbuchstaben und der Jahreszahl 1504 bezeichnete Ruhe auf der Flucht, die sich damals im Besitze des Münchner Generalmusikdirektors Hermann Levi befand, heute aber – ich hatte vergebens versucht, sie für Dresden zu erwerben – zu den Perlen der Berliner Galerie gehört. Die Ausstellung wollte auch die eigenhändigen Bilder der späteren Zeit des Meisters, in der er selbst, als Bürgermeister von Wittenberg vielfach anderweit beschäftigt, auch Bilder, die seine Schüler gemalt hatten, mit seinem Werkstattzeichen, der Flügelschlange, bezeichnen ließ, von diesem Werkstattgut sondern helfen. Sie wollte aber vor allen Dingen die sogenannte Pseudogrünewald-Frage klären, in die ich, wie ich schon früher erzählt habe, stark verwickelt war. Ich wollte diese Frage endlich entschieden sehen, und ich freue mich, daß sie zu Scheiblers und meinen Gunsten entschieden worden ist.

Jede Zeit hat ihre eigenen wissenschaftlichen Aufgaben. Die Fragen, die ich damals in meiner Cranach-Ausstellung in den Vordergrund rückte, liegen der heutigen Kunstwissenschaft zum Teil wohl deshalb ferner, weil sie längst entschieden sind. Gerade die Bilder Cranachs und seiner Werkstatt, auf die wir damals kein Gewicht legten, die kleinen, zierlichen, glatten und gespreizten Bilder nackter Heidengötter und halbnackter neuzeitlicher Gruppen seiner Wittenberger Zeit werden heute als Sonderschöpfungen einer damals neuen Art bürgerlicher Kleinmalerei hervorgehoben; und ich las später eine abfällige Beurteilung meiner Cranach-Ausstellung von 1891, weil sie einem ganz anders gearteten Cranach gegolten hatte, als dem eben jetzt wieder hervorgeholten. Ich halte jenen Cranach seiner Jugendblütezeit noch heute für den künstlerisch wirksameren und kann nur nochmals betonen, daß eben jede Zeit ihre eigenen Anschauungen und Aufgaben hat. Damals nahm die ganze Kunstwissenschaft meine Cranach-Ausstellung dankbar auf.

Der zweite sächsische Meister, dem ich eine Sonderausstellung und einen wissenschaftlichen Katalog widmete, war Ludwig Richter. Die Ludwig-Richter-Ausstellung fand aus Anlaß des 100. Geburtstags des Meisters 1903 innerhalb der Sächsischen Kunstausstellung statt, die die Dresdner Kunstgenossenschaft ins Leben gerufen hatte. Ein Zimmer war den Ölgemälden des Meisters gewidmet, die ziemlich vollständig zusammengekommen waren. Das Hauptgewicht der Ausstellung lag aber natürlich auf den Wasserfarbenblättern und Zeichnungen Ludwig Richters, der gerade in ihnen sein Eigenstes und Bestes gegeben hat. Des Wagnisses, die zarten Blätter einer Hauskunst, die daheim in stiller Sammlung genossen sein will, an langen Wänden aneinanderzureihen und dem neuzeitlichen Ausstellungswesen einzugliedern, war ich mir wohl bewußt. Allein ein anderes Mittel, sie öffentlich zu zeigen, gab es doch nicht, und die Verkleinerung, Dreiteilung und raumkünstlerische Durchbildung des mir zur Verfügung gestellten Saales hatte unter den Händen des jungen Baumeisters Max Hans Kühne auch Räume von so häuslicher Wirkung und so zartem Ansehen geschaffen, wie sie einer Richter-Ausstellung geziemten.

Mit Ludwig Richter war es mir eigentümlich ergangen. In meinen Knaben- und Jünglingsjahren hatte ich jedes seiner Bücher fürs Haus mit Spannung erwartet und mit selbstverständlicher Begeisterung genossen wie die süßen Früchte unseres Gartens. Später, in meinen stürmischen Junggesellenjahren, in denen die Meister der breitmalerischen und saftigfarbigen Pinselführung beinahe für alleinberechtigt galten, verlor ich Richter aus den Augen und dem Sinne. Erst nachdem ich selbst an der Seite einer geliebten Frau in ruhig-häusliche Gleise zurückgekehrt war, fingen die Blätter und Bücher Ludwig Richters wieder an, mich warm und herzlich anzusprechen. Schon in Düsseldorf wußte, ehe ich nach Dresden übersiedelte, Hermann Wislicenus mich wieder ganz für den deutschesten, aber freilich auch kleinbürgerlichsten deutschen Meister einzunehmen.

So gehörte der alte Ludwig Richter denn zu den ersten Künstlern, die ich in Dresden besuchte; und dem eigenartigen Zauber, der die Persönlichkeit des fast Achtzigjährigen mit dem vom langen, glatten, greisen Haar umrahmten ausdrucksvollen Künstlerkopf umgab, konnte auch ich mich nicht entziehen. Es war alles so schlicht-offen, natürlich und herzlich, was er sagte. Wohl wissend, daß seine Kunst nicht als »malerisch« im neuzeitlichen Sinne, sondern nur als zeichnerisch galt, beklagte er, nicht etwa, daß er hier und da nicht für voll angesehen werde, sondern, daß er in der Tat in malerischer Beziehung nicht mehr mitkäme. Ich antwortete, eines schicke sich nicht für alle; und kein deutscher Kunstfreund würde ihn sich anders wünschen, als er sei. Oft sind wir uns nicht mehr begegnet. Er wurde bald leidend. Am längsten Tage des Jahres 1884 übergaben wir ihn auf dem malerischen alten katholischen Friedhof zu Dresden-Neustadt dem dunklen Schoß der heiligen Erde. Das schönste Denkmal hat er sich selbst durch seine Lebenserinnerungen gesetzt.

Schon ein Jahr vor der Richter-Ausstellung hatte ich in Dresden Gelegenheit gehabt, mich in Ludwig Richters Kunst zu vertiefen. Schon 1889 hatte sich ein Ausschuß gebildet, dem geliebten Dresdner Meister ein Denkmal auf der Brühlschen Terrasse zu errichten. Die Kunstgenossenschaft beschloß, zum Besten des Denkmals eine Richterfeier zu veranstalten. Lebende Bilder nach einigen seiner beliebtesten Holzschnitte sollten gestellt werden. Zum Schluß sollten Kinder, wie er sie und wie sie ihn geliebt, seine Büste bekränzen. Eine Rede Hermann Lückes, des trefflichen neuen Professors der Kunstgeschichte an der Dresdner Technischen Hochschule, der eine Zeitlang mein Nachfolger in Düsseldorf gewesen, jetzt aber auch Mitglied meiner Galeriekommission geworden war, sollte die Feier einleiten. Ein Prolog, der Richters Wesen zum Ausdruck brachte, sollte die Aufführung eröffnen. Ein poetischer Text in Versen sollte die einzelnen Bilder verbinden und erläutern. Ein Schlußgedicht sollte während der Bekränzung der Büste gesprochen werden. Die Kunstgenossenschaft übertrug mir die Ausführung der ganzen umrahmenden Dichtung. Ich konnte nicht ablehnen. Aus den Blättern, die die Kunstgenossenschaft als geeignet, in lebende Bilder verwandelt zu werden, ausgelesen hatte, wählte ich sieben aus, die sich, zugleich durch die Tages-, die Jahres- und die menschlichen Lebenszeiten führend, zu einem einheitlichen Gedankengang aneinanderreihen ließen. Sie waren den Folgen »Beschauliches und Erbauliches«, »Fürs Haus« und zu Schillers »Glocke« entlehnt.

Der Beifall, den meine Dichtung, in der ich mich der schlichten, volkstümlichen Art des Meisters zu nähern suchte, in der Kunstgenossenschaft fand, ermutigte mich, sie mit unserer Freundin, der Hofschauspielerin Fräulein Auguste Diacono, für die Öffentlichkeit einzuüben. Die Aufführung fand am 7. Januar 1890 statt. Durch die Grippe, die damals umging und auch mich gepackt hatte, wurde ich zu meinem großen Schmerze verhindert, ihr beizuwohnen. Schmerzlich für die Kunstgenossenschaft aber war es, daß auch Lücke, von der Krankheit ergriffen, die Einleitungsrede nicht halten konnte, und daß der Hof, dessen Gegenwart solchen Feiern das Gepräge der Vollgültigkeit zu geben pflegte, wegen des Todes der alten Kaiserin Augusta abgesagt hatte. Von meiner Frau, die die Aufführung gesehen hatte, und von anderen Seiten aber hörte ich zu meiner Beruhigung, daß alles gut verlaufen sei und daß Fräulein Diacono freundlichen Beifall für ihren anmutigen Vortrag meiner Verse gefunden habe.

Aus Anlaß der Richter-Ausstellung des Jahres 1903 aber schrieb ich in Ergänzung der Einleitung zu meinem Verzeichnis der ausgestellten Blätter einen ausführlichen Aufsatz über den Meister für die »Zeitschrift für bildende Kunst«; und eine besondere Freude war es mir, daß auch die Schriftleitung der Münchner »Jugend« mich aufforderte, Ludwig Richter zu seinem 100. Geburtstag in ihrem Blatte zu feiern. Es sei mir gestattet, die Eingangsworte dieses Festgrußes hier zu wiederholen:

»Er muß doch wohl etwas gekonnt haben, der Alte mit dem Jugendherzen in Dresden, der jetzt seit neunzehn Jahren unter den Rosen und Lebensbäumen des stillen Neustädter Friedhofs ruht. Er muß doch wohl etwas Besonderes, seinem eigensten Wesen Entsprungenes gekonnt haben, das künstlerisch bedeutsam genug war, einen Widerhall in tausend deutschen Herzen zu wecken. Wie würde sonst ganz Deutschland den Dresdnern helfen, ihren Ludwig Richter zu feiern, der doch so vieles von dem, was andere können und wollen, in seiner schlichten zeichnerischen Technik nicht gekonnt und nicht gewollt hat? In seiner Kunst hören wir nicht die Lawinen zu Tal donnern, lauschen wir nicht der brausenden Brandung des Weltmeers, vernehmen wir nicht das Heulen des Sturmes, der die schwarzen Wolken, in Drachengestalten verwandelt, vor sich herjagt; aber den deutschen Wald und den deutschen Strom hören wir in ihr rauschen, die Drosseln und Amseln hören wir in ihr schlagen, fröhliche Kinderstimmen hören wir lachen, Worte heiliger Liebe hören wir erklingen und die Kirchenglocken hören wir läuten. ›Auch einer‹ ist Richter jedenfalls; und wenn wir ihn nicht hätten, müßten wir mit Sehnsucht, ehe es vielleicht zu spät wäre, den Meister erwarten, in dessen Kunst, wie in der seinen, gerade die zarten, keuschen innigen und gemütvollen Seiten des Deutschtums widerklingen. Dem Deutschen sein Heim, das ihm heilig ist, in poesievoller Verklärung gezeigt zu haben, ist eine künstlerische Tat, die wir ihm nie vergessen werden.«

 

Auch die meisten der übrigen kunstgeschichtlichen Aufsätze, die ich in diesem Zeitraum veröffentlichte, entsprangen, soweit sie nicht unmittelbar im Dienste der Galerie oder des Kupferstichkabinetts entstanden, wie mein Artikel über J. D. de Heem im »Repertorium für Kunstwissenschaft«, an den sich eine merkwürdige Polemik mit einem Prager Kunstgelehrten knüpfte, wie meine Aufsätze über van Dycks frühe Apostelfolge im Dresdner Jahrbuch und meine »Dresdner Burgkmair-Studien« in der Zeitschrift für bildende Kunst, doch meist bestimmten Anlässen, die mir die Pflicht auferlegten, meine Meinung zu äußern. Als jener andere tschechische »Gelehrte« die unerhörte Behauptung aufgestellt hatte, die echte Sixtinische Madonna sei in Piacenza lange vor dem Ankauf des Bildes für Dresden zugrunde gegangen (S. 64), sah ich mich in Piacenza selbst nach dortigen Urkunden über das Bild und seine Veräußerung um; und dank dem Entgegenkommen des dortigen Archiprete Don Gaetano Tononi gelang es mir in der Tat, alles zusammenzutragen, was in Piacenza über das Bild und seine Fortgabe bekannt war. Den Aufsatz »Piacentiner Nachrichten und Urkunden zur Geschichte von Rafaels Madonna Sistina« veröffentlichte ich 1900 im Repertorium für Kunstwissenschaft. Andere Aufsätze oder kleine Schriften entsprangen Verlegeranregungen: so meine Arbeit über Hundert Jahre italienischer Bildnismalerei, die zuerst 1891 in der Deutschen Rundschau erschien, 1906 aber, erweitert und umgearbeitet, als besonderes Büchlein im Verlag von Paul Neff (Max Schreiber) in Eßlingen herauskam; so meine zusammenfassenden Erörterungen in Spemanns »Museum« über Velázquez, den großen Spanier, der trotz der Herabsetzung, die seine gesunde, aber echt künstlerisch gestaltende Naturnähe neuerdings zugunsten der visionär-nervösen Ausdruckskunst El Grecos gefunden, zu meinen ausgesprochenen Lieblingen gehörte und noch heute gehört.

Jusepe de Ribera widmete ich schon 1890 in der »Zeitschrift für bildende Kunst« aus keinem anderen Grunde eine ausführliche Arbeit, als weil ich auch für diesen großen spanischen Maler, der in der Dresdner Galerie mit der heiligen Agnes, einem seiner Hauptbilder, vertreten ist, eine gewisse Vorliebe hatte. Meine Aufsätze über Ismael und Raphael Mengs in derselben Zeitschrift erklären sich aus einem gewissen Pflichtgefühl, diesen zu ihrer Zeit in der ganzen Welt so hoch gefeierten sächsischen Meistern des 18. Jahrhunderts nachzugehen. Herzenssache aber waren mir zwei Aufsätze, die ich in der »Kunst für Alle« veröffentlichte. 1893 der Aufsatz über Rafaels Sixtinische Madonna, der ihren Anfeindungen durch Herrn Badrutt und durch jenen tschechischen Gelehrten noch vorausging, also noch ganz von ahnungsloser Begeisterung erfüllt war, und 1899 über »Goethe in der Dresdner Galerie«, den zu schreiben es mich schon seit Jahren gedrängt hatte. Goethe und die Dresdner Galerie! Beide bildeten einen unauslöslichen Bestandteil meines Innenlebens. Ich hätte nicht ich sein müssen, wenn mir ihr Verhältnis zueinander zu ergründen nicht am Herzen gelegen hätte.

Um 1893 aber regte sich in mir infolge des Widerstreits der Meinungen über den Wert der unter meiner Amtsführung teils durch die Pröll-Heuer-Stiftung, teils, den Vorschlägen der Galeriekommission entsprechend, durch die Generaldirektion der Sammlungen erworbenen Gemälde neuerer Maler das Bedürfnis, mir und anderen Rechenschaft über meine Beurteilung des künstlerischen Wertes von Gemälden zu geben.

Daß nur allzu oft des einen Eule des anderen Nachtigall war, trat mir in den Verhandlungen der Galeriekommission und des Akademischen Rates deutlich vor Augen. Ließen sich denn wirklich keine einigermaßen allgemein gültige Kennzeichen guter und schlechter Kunst feststellen? Freilich, daß keines der philosophischen Systeme der Ästhetik dazu ausreichte, war mir von Anfang an klar. Ich hatte sie so ziemlich alle gelesen, und mir war bei manchen von ihnen so dumm geworden, als ging mir ein Mühlrad im Kopfe herum. Auch die eigenen Bekenntnisse, die bedeutende Künstler veröffentlicht hatten, so wertvoll sie waren, genügten nicht, um anderen Künstlern gerecht zu werden. Die Naturnähe, in deren Bevorzugung ich groß geworden war, konnte erst recht nicht entscheidend sein. Ich kam zu dem Ergebnis, mich an meine eigene Erfahrung halten zu müssen. Die Kunstgeschichte selbst sollte mir Aufschluß geben.

Die subjektiven Kunstgeschichten, die die Umwertung aller Werte auf ihr Banner geschrieben, waren damals noch nicht aufgekommen. Die sachliche Kunstgeschichte, wie sie mir vorschwebte und wie sie die großen Kunstsammlungen aller Hauptstädte der Welt, die die Schöpfungen der alten Meister der verschiedensten Richtungen als gleichberechtigt behandelten, sie mir vor Augen stellten, schien sich darüber, was gute und was schlechte Kunst sei, doch ziemlich klar zu sein. Es waren doch dieselben Meister aller Völker und Zeiten, um die sich die großen Sammlungen von London und Paris, von Petersburg und Madrid, von Dresden, Berlin und München rissen.

Was waren denn nun die gemeinsamen Merkmale dieser von allen anerkannten Kunst? Daß Kunstwerke von bleibendem Werte zunächst ein hohes Maß technischen Könnens voraussetzten, daß Kunst, wie ihr deutscher Name besagt, Können, nicht nur, wie uns einzelne heute einzureden versuchen, Wollen sei, trat mir überall deutlich entgegen. Daß dieses Können aber von einem geistigen Hauche aus höherer oder tieferer, uns sonst verschlossener Welt, die gerade durch die Kunst zu uns spricht, beseelt sein müsse, war ebenso deutlich. Neben dem künstlerischen Können spielte das künstlerische Wollen, so unbewußt es in dem beseelten Künstler wirken mußte, in der Tat eine nicht minder wichtige Rolle. Auf die künstlerische Persönlichkeit von eigenem, selbständigem Wollen, die uns und anderen etwas mitzuteilen hatte, kam es an. Selbständigkeit aber setzte Bodenständigkeit voraus. Die künstlerischen Persönlichkeiten, die uns fesselten, wuchsen aus dem Boden ihres eigenen Volkes und ihrer eigenen Zeit hervor. Das mußte es sein.

Über Meister, wie die Niederländer der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die die Italiener der ersten Hälfte dieses Zeitraums nachahmten, ohne wie sie sehen und empfinden zu können, und über Schulen, die sich mit der äußeren Kleidung oder mit den mißverstandenen Grundsätzen vergangener Zeiten brüsteten, wie sie uns gerade im 19. Jahrhundert auf Schritt und Tritt begegneten, ging die Nachwelt mit Achselzucken hinweg. Die großen Meister aller Zeiten und Völker, die einander in unseren großen Sammlungen die Hand reichten, waren ganz sie selbst und daher auch echte Söhne ihrer Zeit und ihres Volkes gewesen. Wer den Besten seiner Zeit und seines Volkes genug getan, der hatte nicht nur für alle Zeiten, sondern auch für alle Völker gelebt.

Genießen und nachempfinden dürfen und können wir die Kunst aller Zeiten und Völker; und lernen können und sollen wir auch von der Kunst anderer Zeiten und anderer Völker, was sich an technischen Vorbedingungen und wohlerworbenen Geschicklichkeiten übertragen und verpflanzen läßt. Aber schauend und schaffend sollten wir sehr vorsichtig mit Versuchen sein, mit anderen Völkern und Zeiten in deren eigenstem Wesen, das sich nicht verpflanzen läßt, zu wetteifern. Es ist mit dem künstlerischen Erleben und Genießen schließlich wie mit jedem anderen. Gibt es etwas Köstlicheres als den Gravensteiner Apfel des Schleswigers oder die Orange des Sizilianers? Wird nicht dem Schleswiger die saftige Orange Siziliens und wird nicht auch dem Sizilianer die würzige Frucht des Nordens munden? Aber den Gravensteiner Apfel in Sizilien zu ziehen, wäre ebenso verlorene Liebesmühe, wie die Messina-Apfelsine im Norden anzupflanzen. Uns die Kunst anderer Zeiten und Völker nicht verleiden zu lassen, in unserem eigenen Schaffen uns auf uns selbst zu stellen und uns selbst zu geben, uns aber gleichwohl an dem Lichte der Sonne zu entzünden, die allen Sterblichen leuchtet und alle erwärmt, schien beglückende Ergebnisse einer zugleich künstlerischen und kunstgeschichtlichen Betrachtungsweise zu verbürgen.

Das ungefähr war der Inhalt der Schrift » Was uns die Kunstgeschichte lehrt«, die ich, unabhängig von Taines verwandter, doch auf anderem Boden erwachsener und anders umschriebener Milieutheorie 1894 bei Louis Ehlermann in Dresden erscheinen ließ. Von den einen mit Begeisterung, von den anderen mit sauersüßer Miene, aber auch von den Gegnern, die dabei blieben, die Kunst müsse international, nicht national sein, mit Achtung aufgenommen, erlebte sie rasch nacheinander vier Auflagen. Auch ins Polnische wurde sie übersetzt. Von einem späteren Neudruck riet ich dem geschätzten Verleger ab, da diese kleine Schrift aus den Voraussetzungen einer bestimmten Zeit, der sie auch ihre Beispiele entlehnte, geschrieben war und in dieser auch ihre Schuldigkeit getan hatte.

Eine Nutzanwendung aus ihr habe ich etwas später selbst in meiner 1907 bei Neff in Eßlingen erschienenen, für weiteste Kreise bestimmten Schrift »Von deutscher Kunst« gezogen.

 

Für mein ferneres Wirken und Schaffen wurde meine Schrift »Was uns die Kunstgeschichte lehrt« aber insofern von entscheidender Bedeutung, als sie mir den Auftrag des Meyerschen Bibliographischen Instituts in Leipzig und Wien eintrug, eine Kunstgeschichte aller Zeiten und Völker zu schreiben. Daß ich, ohne mich zu besinnen, zugestimmt hätte, kann ich nicht sagen. Ich fühlte mich zunächst Woltmanns und meiner großen Geschichte der Malerei gegenüber verpflichtet, ihr eine neue »vermehrte und verbesserte«, vor allem aber gleichmäßiger abgewogene und einheitlicher gestimmte Auflage zu widmen. Auch hatte ich seit langem den Wunsch gehegt, dem Leben und Wirken eines einzelnen meiner Lieblingskünstler – ich hatte an Ruisdael, aber auch an Ribera und an Salvator Rosa gedacht – ein erschöpfendes und in sich abgerundetes Buch zu widmen, wußte aber, daß ich diese Absicht endgültig aufgeben mußte, wenn ich den Meyerschen Antrag annahm. Da aber der E. A. Seemannsche Verlag in Leipzig mir schrieb, eine neue Auflage der Geschichte der Malerei von Woltmann und Woermann sei vor der Hand noch nicht nötig, überwand ich alle anderen Bedenken und nahm den Auftrag an, der mich nun rasch ganz erfüllte.

Der Gedanke, die ganze Kunst der Menschheit umfassen zu sollen und mich auch in die bisher notgedrungen von mir vernachlässigten Gebiete der Baukunst und der Bildnerei der Völker, zumal der immer noch von mir geliebten Griechen, vertiefen zu dürfen, berauschte mich. Der Vorschlag, die Ur- und Naturvölker sowie die Halbkulturvölker und die Kulturvölker des fernen Ostens hineinzubeziehen, ging von Hans Meyer selbst aus, dem jetzigen Professor der Leipziger Universität, dessen eigene, hochgeschätzte Arbeiten bekanntlich auf dem Gebiet der Erd- und Völkerkunde liegen. Doch war der Vorschlag Wasser auf meine Mühle. Die halb verblaßten Erinnerungen an meine frühen Reisen in Indien und im fernen Osten, die mich die Kunstwelten dieser Gegenden nur dunkel hatten ahnen lassen, nahmen wieder Gestalt an. War mein Streben nach Erkenntnis auf allen Gebieten, wenngleich immer vom Einzelnen ausgegangen, doch immer aufs Ganze gerichtet gewesen, und habe ich die Schöpfungen der Kunst aller Zeiten und Völker doch immer als die Lichtstrahlen empfunden, vielleicht die einzigen, die aus der Welt des Überirdischen in unser Erdendasein fallen!

In welchem Sinne ich die »Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker« zu behandeln dachte, brauche ich nach allem Gesagten nicht zu wiederholen. Im Vorwort zum ersten Bande, der 1900 erschien, betonte ich, »daß dieses Werk sich im Gegensatz zu neuerdings hier und da laut gewordenen, aber unter sich verschiedenen Forderungen nicht in den Dienst einer bestimmten geistlichen oder weltlichen, wirtschaftlichen oder schönwissenschaftlichen Lehre begeben, sondern, wie es die Kunst um der Kunst willen behandelt, so auch die Kunstgeschichte auf sich selbst stellen möchte«. Die Entwicklung des künstlerischen Geistes und der künstlerischen Formensprache der Menschheit zu verfolgen, bezeichnete ich als das Ziel meines Buches.

Wenn ich im Vorwort zum zweiten Bande, der 1905 herauskam, schrieb: »Die Entwickelung habe ich weniger durch lange Erörterungen über sie, als durch die Hervorhebung der Erscheinungen selbst in ihrer Reihenfolge klarzulegen versucht«, so wollte ich damit sagen, daß ich, immer im Sinne jener »epagogischen« Methode, zu der ich mich schon in meiner ersten Jugendarbeit bekannt hatte, von der Einzelbeobachtung ausgehend, die Ergebnisse für die Gesamtentwicklung mit vorsichtiger Zurückhaltung zusammenfassen wolle. Die Rückblicke auf die einzelnen Abschnitte holten in dieser Beziehung manches nach. Doch wundert es mich nicht, daß meine Scheu, meiner Meinung nach voreilig behauptete Zusammenhänge als Tatsachen anzuerkennen, nun andere reizte, diese Zusammenhänge in den Vordergrund zu rücken.

Im Vorwort zum dritten und letzten Bande, der 1911 erschien, verteidigte ich mich gegen Methoden, die zwischen Kunst- und Künstlergeschichte schärfer geschieden sehen wollten, als ich es in bezug auf die Zeiten, in denen fest umrissene Künstlergestalten in den Vordergrund treten, für möglich gehalten hatte. Doch stellte ich mich diesen Methoden, die mich fesselten, keineswegs feindlich gegenüber. Mußten beide Methoden der Kunstgeschichtsschreibung, wenn sie sich, wenigstens als Beispiele, an beobachtete Tatsachen halten und Ursachen und Wirkungen mit gleicher Sorgfalt gegeneinander abwägen, doch annähernd das gleiche, wenn auch von verschiedenen Seiten gesehene Gesamtbild ergeben. Ich selbst würde eine Kunstgeschichte, die von großen, an den Werken beobachteten Hauptzügen der Stilbildung, anstatt von der Entwicklung der Einzelkünstler ausginge, mit Freuden begrüßen; aber eines schickt sich eben nicht für alle; und ich glaube, daß, wenn solche unpersönliche Kunstgeschichtsschreibung Alleingeltung erhielte, alsbald wieder stürmisch nach einer Kunstgeschichte gerufen werden würde, die die künstlerischen Persönlichkeiten als Träger der künstlerischen Bewegungen in den Vordergrund rückte.

Auf alle besonderen Anschauungen, die ich vertreten habe, kann ich hier nicht eingehen. Nur daran möchte ich erinnern, daß ich, überzeugt von der Schädlichkeit mancher unerweisbaren und unwahrscheinlichen Beeinflussungs-, Ableitungs- und Zusammenhangstheorien, öfter und schärfer als andere betont zu haben glaube, daß gewisse Richtungen, eben weil dieselben Ursachen die gleichen Wirkungen haben, wenn die Zeit reif für sie ist, an verschiedenen Kunststätten, ja in verschiedenen Ländern, wie in unsichtbaren Keimen durch die Luft getragen, gleichzeitig zur Entfaltung gelangen.

Daß ich mir nicht einbildete, alles erreicht zu haben, was mir vorschwebte, brauche ich nicht zu sagen. Aber das Buch, auf dessen zweite Bearbeitung ich zurückkommen werde, hat seinen Weg gefunden. Wenn es von den Vertretern einer subjektiveren oder spekulativeren Richtung als Beispiel »materialistischer« Kunstgeschichtsschreibung hingestellt wird, so wird man das nur cum grano salis gelten lassen können. »Sachlich« höre ich es gern genannt. Es sollte und wollte zunächst ein sachliches Handbuch der Kunstgeschichte für Lehrende und Lernende, nicht aber ein Spiegelbild persönlicher Anschauungen sein. Daß sich trotzdem ein Stück meines eigensten Selbst in ihm spiegelt, ist selbstverständlich. Es war unvermeidlich und brauchte dem Buche nicht zum Schaden zu gereichen.

 

Wenn ich das herzliche und geistige Zusammenleben mit meinen nächsten Angehörigen und die schaffende Tätigkeit am Schreibtisch als den Doppelkern meines Daseins in der Stille meiner gartenumhegten Häuslichkeit empfand, so habe ich bei alledem das reiche, blühende Außenleben, das sich um diesen Doppelkern entfaltete, stets mit Bewußtsein erlebt und genossen. Ich müßte mein innerstes Eigenleben verleugnen, wenn ich mich nicht des lebhaften Anteils erinnern wollte, den ich, wie an dem staatlichen Leben meines Vaterlandes, so auch an dem Wohl und Wehe meiner Angehörigen in Hamburg und derer meiner Frau und der meinen draußen im Rheinland und in Westfalen nahm, mit denen wir durch gegenseitige Besuche stets in naher Verbindung blieben.

Mit Freuden erinnere ich mich der Besuche meiner jüngeren nahen Hamburger Verwandten, die es in gelehrten Berufen zu Ansehen gebracht hatten, wie meines Vetters Hans Hinrich Wendt des jüngeren, der als ordentlicher Professor der Theologie in Jena wirkte, meines Neffen Johannes Ritter, des trefflichen Arztes, der die große staatliche Lungenheilanstalt in Geesthacht bei Hamburg geschaffen hatte und mustergültig leitete, und meines Neffen Siegfried Weber, der sich als Dozent der Kunstgeschichte an der Züricher Universität betätigte. Mit besonderer Freude aber wurden stets meine mir im Alter am nächsten stehenden, mir durch frühestes Zusammenleben verbundenen Verwandten begrüßt, von denen einige, wie mein Bruder Adolph und mein Vetter Theodor von Möller, es im Wirtschaftsleben Deutschlands in noch weiteren Kreisen zu Ansehen gebracht hatten als wir armen Gelehrten in unserem Fache. Liebe und Freundschaft habe ich stets als unabhängig vom Berufsleben und den Verkehr mit allen unseren Geschwistern und näheren Blutsverwandten immer als natürliche Erweiterung und Bereicherung unseres Eigenlebens empfunden.

 

Familie und Vaterland fordern und ergänzen einander. Als mein Vaterland aber empfand ich in vollem Maße nur die Schöpfung Bismarcks, unser großes, damals durch seine neu erworbenen Kolonien immer herrlicher erblühendes Reich, das sich gerade während dieses Vierteljahrhunderts zur höchsten Höhe seiner Geltung erhob. Lag es auch nicht in meinem Wesen, tätigen Anteil am politischen Leben des Deutschen Reiches zu erstreben, so hielt das innere Miterleben der Erfolge, die es erzielte, und der Gefahren, die ihm drohten, mich doch stets in Spannung und mitempfindender Hoffnung.

Ich war mir ebenso klar darüber, daß mein eigenes Sein aufs engste mit dem meines deutschen Vaterlandes verwachsen war, wie darüber, daß ich es für verfassungsmäßige freiheitliche Einrichtungen für ebenso reif hielt, wie alle übrigen Länder der Welt, die diese besaßen. Die Meinung weiter rechts stehender Vaterlandsfreunde, daß gerade Deutschland und wohl gar nur Deutschland nicht reif für ein freies Verfassungsleben sein sollte, habe ich von jeher für eine Beleidigung meines Vaterlandes gehalten. Mit stolzer Freude hatte ich die Entwicklung des Reiches verfolgt, dessen Wahlrecht für den Reichstag das freieste der Welt war. An den Reichstagswahlen beteiligte ich mich, wie alle guten Deutschen, stets mit lebhaftester Hingabe.

In Dresden wurden 1890, dem Schicksalsjahr Deutschlands, mit großer Anstrengung die Sozialdemokraten, deren gesunden Forderungen kaum noch jemand widerstrebte, noch einmal geschlagen; aber die Nationalliberalen, für die ich am meisten übrig hatte, schnitten schlecht ab. Damals konnte es sich nur um eine konservativ-klerikale oder klerikal-freisinnig-sozialdemokratische Mehrheit handeln. Die Reichstagswahl hatte am 20. Februar stattgefunden. Einen Monat später, am 18. März, entließ der junge Kaiser den Fürsten Bismarck.

 

In jenen Tagen hielt der treffliche Großherzog Peter von Oldenburg, der zu den kunstsinnigsten, aber auch zu den unbefangensten deutschen Bundesfürsten gehörte, sich wochenlang in Dresden auf. Er brachte jeden Tag stundenlang in der Galerie zu und ließ mich merken, daß er es gern hatte, wenn ich mich ihm widmete. Wir unterhielten uns oft lange und eingehend nicht nur über die alten Bilder, sondern auch über alle anderen Fragen, die die Bilder oder die Tagesereignisse anregten. Am 20. März 1890 waren wir voll von dem Rücktritt Bismarcks, der, wie ich meinte, alle Welt überrascht, viele erschreckt, wenige erfreut habe. Der Großherzog Peter schien nicht ganz meiner Meinung zu sein. Er sagte, Bismarck sei unzweifelhaft ein großer Staatsmann und ein Meister der äußeren Politik gewesen. Von der inneren Politik aber habe er nichts verstanden. Die innere Politik verlange Männer, die das Volk verständen und seine Ideale teilten. Ich war einigermaßen erstaunt über diese offene Aussprache. In meinen Aufzeichnungen von jenem Tage finde ich dazu die Bemerkung: »Da Graf Eulenburg, der preußische Gesandte in Oldenburg, dem Kaiser besonders nahe steht, so ist anzunehmen, daß der Großherzog die Ansicht des Kaisers weitergab, und mir dadurch bestätigte, daß Meinungsverschiedenheiten in der inneren Politik zu Bismarcks Rücktritt geführt haben. Aber sei dem, wie ihm wolle. Ein schwerwiegendes Wetterzeichen ist seine Entlassung unter allen Umständen. Vielleicht ist es gut, daß Deutschland noch bei Bismarcks Lebzeiten, solange er jeden Augenblick zurückgerufen werden kann, der Welt beweist, daß es auch ohne ihn bestehen und seinen Weg weiterfinden kann; und dem alten Herrn ist sicher noch ein ruhiges Lebensjahrzehnt zu gönnen. Aber wer würde nicht darüber erschrecken, daß Deutschland seine Staatskunst, seine Erfahrung und seine Stärke missen soll?« Die unheilvollen Folgen seiner Entlassung konnte in ihrem vollen Umfang damals freilich niemand ahnen.

Durch seinen Rückzug nach Friedrichsruh im weiten, prächtigen Sachsenwalde, das Hamburg beinahe zu seinen Vororten rechnet, wurde Bismarck, der stammverwandte Pommer, gewissermaßen zum Hamburger; und mit Hamburger Familien knüpfte er nach dieser Zeit, wie bekannt, vorzugsweise gesellschaftlich-freundschaftliche Beziehungen an. Auch das Haus meines Bruders Adolph, der, wie ich schon früher erwähnt, seine zweite Frau, als er Reichstagsabgeordneter war, in Bismarcks Hause in Berlin kennengelernt hatte, gehörte zu den Häusern, in denen der Fürst und die Fürstin freundschaftlich verkehrten. Als diese zum ersten Male eine Einladung zum Mittagessen bei meinem Bruder annahmen, lud mein Bruder auch mich ein, dazu von Dresden nach Hamburg zu kommen. Daß ich mich damals wegen irgendeiner Abhaltung nicht entschloß, nach Hamburg zu fahren, um einen Abend mit Bismarck zu verleben, gehört zu den Dingen, die ich mein Leben lang bereut habe. Zum zweitenmal hat mein Bruder mich nicht mit ihm eingeladen. Daß ich niemals mit Bismarck gesprochen habe, ihn vielmehr nur einige Male von ferne gesehen habe, empfinde ich heute als Lücke in meinem Leben.

 

Mein Bruder Adolph gehörte während dieses ganzen Vierteljahrhunderts in Berlin wie in Hamburg zu den angesehenen und einflußreichen Männern. Das Handelshaus meines Vaters hatte sich unter seiner Leitung vollends zu einem Welthause entwickelt. Seine Reederei, in der die Woermann-Linie und die Ostafrika-Linie einander die Hand reichten, war eine der größten, wenn nicht die größte Privatreederei der Welt; und als die Linien sich so ausdehnten, daß sie in Gesellschaften verwandelt wurden, behielt mein Bruder, solange er lebte, doch immer einen Hauptanteil an ihrem Bestand und ihrer Leitung in Händen. Die Sonderleitung der Woermann-Linie hatte, wie gesagt, mein ausgezeichneter Schwager Eduard Bohlen, die Sonderleitung der Ostafrika-Linie mein lieber jüngerer Bruder Eduard übernommen. Die Pflanzungen und Handelsniederlassungen der Firma in den Küstenstrichen West- und Ostafrikas bildeten das Gerüst, um das die große Waren-Aus- und Einfuhr des Hauses und seine Reederei sich entfalteten.

Daß ich selbst schon während dieses ganzen Zeitraums keinen, auch keinen »stillen« Anteil mehr an den Geschäften meiner Hamburger Verwandten hatte, wurde meinen Dresdner Freunden, sooft ich es ihnen auch auseinandersetzte, merkwürdigerweise schwer, zu glauben. Die Verwechslung meiner Vermögensverhältnisse mit denen meiner Geschwister in Hamburg brachte mich daher oft genug in schiefe Lagen, die mich vorübergehend verdrossen, manchmal aber auch belustigten.

Eine große, schmerzliche Veränderung für uns alle aber bedeutete das Scheiden unserer lieben zweiten Mutter, die an einem der letzten Tage des Jahres 1908 ihre liebevollen Augen, die 48 Jahre lang so treu über jeden von uns gewacht hatten, für immer schloß. Am letzten Tage des Jahres geleiteten wir sie in langem, langem Wagenzuge zu der von immergrünen Bäumen beschatteten Familienruhestätte in dem schönen Ohlsdorfer Friedhofspark. Abends versammelten wir uns alle in meines Bruders Hause, blieben aber nicht, wie sonst, bis zum Anbruch des neuen Jahres beisammen. Es war die erste Nacht meines Lebens, in der ich mich mit dem Bewußtsein niederlegte, kein Elternhaus mehr zu haben.

Ein Abschluß folgte nun auf den anderen. Der letzte, der dritte Band meiner großen Kunstgeschichte aber war noch nicht erschienen, als ich, nachdem ich mein 65. Lebensjahr im Sommer 1909 vollendet hatte, also gerade im richtigen Alter, zum 1. April 1910 meinen Abschied von meinen Ämtern erbat, mit dem der letzte, an Freuden und Leiden reiche Abschnitt meines Lebens begann.


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